Sexualität in Film und Fernsehen - Verunsicherung oder Vergewisserung?
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http://www.mediaculture-online.de Autor: Dagmar Hoffmann. Titel: Sexualität in Film und Fernsehen. Verunsicherung oder Vergewisserung? Quelle: merz. medien + erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik, 54. Jahrgang, Nr. 3 Juni 2010, S. 10-17. Verlag: kopaed. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Dagmar Hoffmann Sexualität in Film und Fernsehen. Verunsicherung oder Vergewisserung? In Zeiten von Medienpluralismus und Crossmedialität wird die Bedeutung des Fernsehens insbesondere für Jugendliche zunehmend in Frage gestellt. Das Fernsehen hat als primärer Informationsträger, als Leit- bzw. Dominanzmedium zugunsten des Internets ausgedient, hört man bisweilen. Eine Leitmediendiskussion ist in vollem Gange (vgl. Müller/Ligensa/Gendolla 2009). Tatsächlich aber zeigen die letzten JIM-Studien vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs) und auch die Basisdaten der Media Perspektiven in Zusammenarbeit mit der SWR-Medienforschung keinen signifikanten Rückgang hinsichtlich der quantitativen Nutzung des Fernsehens. Sicherlich ist eine kontinuierliche Zunahme der Online-Zuwendungszeiten zu verzeichnen, allerdings bleibt in der Altersgruppe der 14- bis 19-Jährigen und 20- bis 29-Jährigen die TV- Sehdauer relativ konstant. Fernsehen hat immer noch eine große Reichweite und ist nach wie vor ein wichtiges und zuverlässiges Referenzmedium. Bestimmte Sendungen, Personen und Ereignisse muss man einfach im Jugendalter kennen, sonst kann man in den Gesprächen mit Gleichaltrigen keine Impulse setzen, kann nicht mitreden und kann seine Meinung nicht zum Besten geben. Online wird oftmals in Foren und Newsgroups, in Blogs und auf Fanportalen über populäre Formate und Personen diskutiert, finden sich zahlreiche Nutzerkommentare und auch Empfehlungen. Die Bindung an das Fernsehen wird somit beibehalten (mpfs 2009). 1
http://www.mediaculture-online.de Es kann angenommen werden, dass Themen wie Erotik und Sexualität in den Fernsehprogrammen anders aufbereitet und verhandelt werden als im Internet. Vergleichsanalysen sind aufgrund der unterschiedlichen Strukturen und Angebote beider Mediensysteme sowie der partiellen Referenzialität methodisch recht anspruchsvoll. Zu bedenken ist auch, dass in deutschen Fernsehprogrammen Jugendschutzrichtlinien einzuhalten sind und im Internet Rechtsrahmen keine vergleichbare Verbindlichkeit haben. Viele Jugendliche wissen darum und folglich gehen sie davon aus, dass die audiovisuellen Inszenierungen von Sexualität im Fernsehen eher auf einen gesellschaftlichen Konsens verweisen als viele Online-Angebote; zumindest scheint es sich bei TV-Darstellungen - noch dazu bei wiederkehrenden oder stereotypen - um gesellschaftlich legitimierte Verhandlungen von Intimitäten und durchaus übliches Sexualverhalten zu handeln. Ganz nach dem Motto: Was populär ist, kann ja bestimmt nicht verwerflich sein. Will man also im Jugendalter etwas über Liebes- und Sexualpraktiken erfahren, so sind die Präsentationen im Fernsehen von großem Interesse. Präferenz und Aneignung medialer Inszenierungen von Sexualität Vor diesem Hintergrund wurde von 2004 bis 2007 eine Triangulationsstudie an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ Potsdam-Babelsberg durchgeführt. Triangulationsstudien sind - verkürzt ausgedrückt - umfangreiche Untersuchungen, bei denen verschiedene Datensorten erhoben und systematisch in Beziehung zueinander gesetzt werden. Mit diesem recht aufwendigen Verfahren beabsichtigt man, zum einen unterschiedliche Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand einzunehmen und zum anderen durch verschiedene Methoden und Daten einen möglichst großen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf soziale Phänomene zu erreichen (siehe ausführlich Flick 2004). Schon seit vielen Jahren werden von Medienforscherinnen und -forschern Mehr- Methoden-Untersuchungen eingefordert, die die Zuwendung zu bestimmten Medien und die Wirkung medialer Inhalte umfänglich erklären, deuten und interpretieren sollen (vgl. Hoffmann 2006). Dieser berechtigten Forderung sollte hier nachgekommen werden. Die vorliegende Studie beschäftigte sich mit den Fragen: 2
http://www.mediaculture-online.de Welche audiovisuellen Angebote von Sexualitätsdarstellungen haben die von Jugendlichen favorisierten Fernsehprogramme zu bieten? Inwieweit werden von Heranwachsenden audiovisuelle Inszenierungen von Sexualität rezipiert und angeeignet? Ausgehend von sozialpsychologischen und mediensoziologischen Theorien wurde der Versuch unternommen, die Akzeptanz ausgewählter Angebote zu bestimmen und spezielle Aneignungsprozesse von Jugendlichen im mittleren bis späten Jugendalter zu erfassen. Es galt herauszufinden, wie sich Jugendliche zu diesen Angeboten positionieren und welchen Nutzen sie aus der Rezeption entsprechender Bilder, Szenen und auch aus Filmen ziehen. Im Winter 2004/05 wurden dazu 30 themenfokussierte Interviews mit Jugendlichen im Alter von 16 bis 18 Jahren geführt. Ferner wurden im Winter 2006/07 mittels eines standardisierten Fragebogens 299 Jugendliche im Alter von 15 bis 25 Jahren im Klassenverband in Potsdamer Schulen (alle Bildungsniveaus) zu ihren Rezeptionsgewohnheiten im Hinblick auf die Darstellungen von Sexualität in Film und Fernsehen befragt. Erfolgt sind zudem umfangreiche Inhaltsanalysen von den von Jugendlichen favorisierten Fernsehprogrammen. Das Untersuchungsdesign sah wie folgt aus: Mehr-Methoden-Untersuchungen wie die hier vorliegende liefern viele Detailergebnisse. Im Folgenden sollen einige ausgewählte Befunde vorgestellt werden, wobei der Fokus der Analysen auf Verunsicherungs- und Vergewisserungsaspekte gelegt werden soll. Zu 3
http://www.mediaculture-online.de fragen ist, inwieweit sich in den Daten Hinweise darauf finden lassen, ob bestimmte Darstellungen von Sexualität in Film und Fernsehen junge Menschen im Erleben ihrer Sexualität und in ihrem sexuellen Handeln beeinflussen. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive kann davon ausgegangen werden, dass Jugendliche insbesondere der mittleren Adoleszenz Nackt- und Sexszenen in Film und Fernsehen besonders aufmerksam betrachten, da es für sie dringlich ist, die eigene Sexualität zu ergründen und auszuprobieren. Geht man von subjekt-handlungsorientierten Mediensozialisationstheorien aus, so werden sich Jugendliche Szenen mit erotischem Inhalt vermutlich nutzbringend und zweckorientiert aneignen. Die Rezeption kann unter Umständen auch normativen bzw. kultivierenden Charakter im Sinne einer Leitbildfunktion haben (Brosius/Rössler 1999; Kluge/Hippchen/Kauf 2000). Hier gilt zu bedenken, dass mediale und soziale Realitäten divergieren (können), was mitunter zu innerpsychischen Konflikten führen kann. Die Rezeption kann zudem der Wissensaneignung im Sinne von Aufklärung und Vergewisserung dienen und eine positive Auseinandersetzung mit dem eigenen körperlichen Erleben und der Geschlechtsidentität zur Folge haben (vgl. u. a. Buckingham/Bragg 2004, Gauntlett 2002). Das Angebot an Darstellungen von Sexualität im Fernsehen Zunächst beschäftigte sich die Studie mit der Erfassung der Quantität und Qualität von entsprechenden Bildern, Szenen und Filmen bei den von Jugendlichen favorisierten Sendern. Für die Auswahl der favorisierten Sender waren die Marktanteile bei der Altersgruppe der Zwölf- bis 19-Jährigen zur Primetime bestimmend. Die Primetime der Jugendlichen wurde über die Tagesverlaufskurven bzw. Hauptsehzeiten festgelegt und sehr großzügig erfasst, da auch die Altersrange der Befragten sehr weit ist. Demzufolge konnte das Zeitfenster wochentags von 15.00 Uhr bis 24.00 Uhr und am Wochenende von 11.00 Uhr bis 1.00 Uhr (Sa.) bzw. von 11.00 Uhr bis 0.00 Uhr (So.) als Primetime definiert werden. Die Auswahl der Sender für die Programmanalysen erfolgte sowohl anhand der Marktanteile, der Präferenzlisten (Angabe des Lieblingssenders) und der Quoten für einzelne Sendungen. Analysiert wurden im Jahr 2004 sieben Tage (künstliche Woche) der Programme von ProSieben, RTL, Sat.1 und VOX. Der Schwerpunkt der Programmanalysen richtete sich auf die visuellen Darstellungen von Nacktheit und 4
http://www.mediaculture-online.de Sexualität, so dass folglich nur Sequenzen codiert wurden, in denen überwiegend unbekleidete bzw. teilweise unbekleidete Menschen vorkamen sowie in denen sexuelle Handlungen vorgenommen wurden. Ein komplexes Codierschema mit insgesamt 28 Variablen regelte genau, welche Sequenzen des Programms zu erfassen sind. Ausgewertet wurden insgesamt 292 Programmstunden (73 Stunden pro Sender) von zwei Coderinnen und zwei Codern 1 Da der Fokus auf die Analyse des Visuellen gelegt wurde, ist auf das Erzählte und auch auf dramaturgische Formen und Strategien weitgehend verzichtet worden. Eine zu analysierende Codiereinheit war jeweils eine Sequenz. Die Sequenz konnte mehrere Schnitte enthalten, sollte aber möglichst aus einem Handlungsstrang bestehen, der nicht zu lange dauerte (max. 240 Sekunden). Charakteristisch für den Beginn und das Ende einer Sequenz war der Ort-Themen-Zeit- Wechsel und der Grad der Nacktheit. Wenn etwa das handlungsleitende Thema eines Ausschnitts in einem Film das Ausziehen der Kleidung (das Entkleiden) einer oder mehrerer Personen war, so wurde dieser Ausschnitt in mehrere Sequenzen unterteilt. Das entscheidende Kriterium für die Zäsur war der Grad der Nacktheit, der sich verändern konnte. Die jeweilige Zeitmessung bezog sich ausschließlich auf die visuellen Inhalte. Szenen, in denen Sexualität dargestellt wurde, beinhalteten sexuelle Handlungen bzw. alle Situationen, in denen sich Menschen erotisch berühren. Dazu zählten Küssen, das Berühren und Streicheln freier (eigener oder anderer) Körperteile. Abschiedszeremonien wie der Kuss auf die Wange oder ein Schulterklopfen sind nicht codiert worden. Dies sind zwar körperliche Berührungen, doch eher formaler Natur. Gespräche über Sexualität, wie sie häufig in Sex and the City oder den Daily Talks am Nachmittag erfolgen, auch anzügliche Bemerkungen, Liebesgeflüster am Telefon oder Berichte über Träume mit sexuellen Handlungen et cetera sind ebenfalls nicht codiert worden. Die Ergebnisse (siehe Tabellen) veranschaulichen, in welchen Sendungstypen Nacktheit und sexuelle Handlungen vorwiegend zu sehen sind und es lässt sich anhand der Dauer der Sequenzen einschätzen, wie groß bzw. gering der Anteil am Gesamtprogramm ist. Nackte Körper und sexuelle Handlungen finden sich demzufolge primär in der Werbung, besonders in der bei ProSieben, die kontinuierlich bei den privaten Sendern präsent ist, aber prozentual einen geringen Anteil am Gesamtprogramm hat. Mit Nacktheit und 1 Besonderer Dank gilt Anna Tasja Flügel, Maren Gäbel und Florian Krauß, die die Programmstunden aufgezeichnet und circa acht Monate mit Codierungen zugebracht haben. Für Nachcodierungen bedanke ich mich herzlich bei Kerem Ergün. 5
http://www.mediaculture-online.de Sexualität soll die Aufmerksamkeit der Zuschauenden erreicht werden und nach dem Motto 'Sex sells' hofft man, dass ein Produkt im Kontext schöner Körper oder anzüglicher Posen besser vermarktet wird. Folgt man weiter den Analysen, so finden sich audiovisuelle Darstellungen von Nacktheit und Sexualität verstärkt in den Trailern zu bestimmten Sendungen und Filmen, wobei den Rezipientinnen und Rezipienten erotische Szenen komprimiert gezeigt werden, die in den realen Sendungen bzw. Filmen dann meist marginal präsentiert werden. Dies wird deutlich, wenn man den Anteil der Sequenzen in Trailern mit denen in Spielfilmen vergleicht. Bei ProSieben und Sat.1 sind die Anteile nahezu gleich, bei VOX werden dreimal so viele Sequenzen in Spielfilmen als in Trailern gezeigt. Wenn man jedoch bedenkt, dass 73 Programmstunden aufgezeichnet wurden, so ist eine Dauer von 552 Sekunden (= 9 Minuten) ein recht geringer Anteil. Gleichwohl sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer mittels erotischer oder vermeintlich erotischer Darstellungen verführt oder ,geködert' werden und erhalten über die Trailer womöglich den Eindruck, dass viele TV-Sendungen erotische Darstellungen beinhalten. Das aufgezeichnete Programm von RTL beinhaltet sogar weniger als eine Minute dargestellter Nacktheit bzw. Sexualität. Interessant ist der Befund, dass entblößte Körper und sexuelle Handlungen feste Bestandteile in den Beiträgen der bei Jugendlichen populären Boulevardmagazine sind. 2 Die meisten Sequenzen fanden sich hier bei den Boulevardmagazinen von RTL (Abb. 1) Explosiv und Exclusiv, bei Sat.1, das unter anderem Blitz ausstrahlt und im Programm von ProSieben, wo entblößte Körper und sexuelle Handlungen regelmäßig bei taff. zu sehen sind und im Untersuchungszeitraum auch in Sendungen wie Let's talk about: Sex ... and the City und Die nervigsten Dinge der 90er. Bei VOX findet sich unter Sonstige das Reportagemagazin Wa(h)re Liebe, das allein 126 Sequenzen (das entspricht fast 19 Prozent aller bei VOX vercodeten Sequenzen) zählt. Dieses einstündige Format, das erst ab 23 Uhr ausgestrahlt worden ist, ist drei Viertel der befragten Jugendlichen bekannt gewesen. 2 Extra spezial Live Brust-OP (RTL) wurde bei Sonstige und nicht bei Boulevardmagazinen eingeordnet. 6
http://www.mediaculture-online.de Die Auseinandersetzungen mit Sexualität in Film und Fernsehen Mehrheitlich beziehen sich Darstellungen von Sexualität in den von uns untersuchten TV- Programmen auf Kussszenen, Umarmungen und Berührungen des Körpers. Die meisten Handlungen erfolgen im Kontext von Liebe, Lust und Vergnügen und sie gehen mehrheitlich mit dargestellten Gefühlen einher. Geschlechtsverkehr wird in der Regel nur angedeutet und kaum entsprechend der aktuellen Jugendschutzkriterien explizit gezeigt. Die präsentierten sexuellen Handlungen konzentrieren sich äußerst selten auf Aktivitäten, die das Scham- oder Sittlichkeitsgefühl von Jugendlichen verletzen (könnten). Explizite sexuelle Handlungen finden sich allerdings in Pay-TV-Programmen und auch in Erotikfilmen, die vorzugsweise nach Mitternacht gezeigt werden. Inwieweit diese von der zu untersuchenden Altersgruppe nachgefragt werden, konnte nicht ermittelt werden. In unserer quantitativen Studie machten die 299 jungen Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren deutlich, 7
http://www.mediaculture-online.de dass ihnen die Angebote des Fernsehens, die es gibt, im Hinblick auf die Vermittlung von Wissen über Sexualität eigentlich recht wichtig sind. Das Fernsehen liefert demzufolge 31 Prozent der Befragten wichtige Informationen über Sexualität, das Internet nur 27 Prozent. Pornomagazine und -filme werden von 21 Prozent als informativ erachtet, ebenso wie Modemagazine (21 Prozent), in denen sich zuverlässig in jeder Ausgabe Liebes-, Sex- und Verführungstipps finden lassen. Während Modemagazine von Mädchen (33 Prozent) eher als von Jungen (7 Prozent) favorisiert werden, ist der Zugriff von Jungen (34 Prozent) auf Pornomagazine und -filme selbstverständlicher als für Mädchen (10 Prozent). Aufklärungsliteratur ist nur für sechs Prozent der Befragten zur Wissensaneignung in Sachen Sexualität wichtig. Jugendmagazine wie Bravo spielen in der späten Adoleszenz kaum eine Rolle (10 Prozent der Befragten), um sich Informationen über Sexualität zu beschaffen. Die Eltern werden von 23 Prozent der Heranwachsenden zum Thema Sexualität zu Rate gezogen. Interessant ist der Befund, dass zwei Drittel (66 Prozent) aller befragten Jugendlichen sich in erster Linie an ihre Freundinnen und Freunde wenden, wenn sie sich über Sexualität informieren. Hier drängt sich die Frage auf, woher diese ihr Wissen über Sexualität haben und welches Wissen sie vermitteln. In unserer Befragung wollten wir genauer wissen, ob sich Jugendliche durch Sendungen im Fernsehen wirklich gut über Sexualität und Erotik informiert fühlen, ob sie das Berichtete und Gesehene für ihre Entwicklungsbelange gebrauchen können. Nur gut ein Drittel der Befragten hat angegeben, dass im Fernsehen Berichte rund um Liebe, Sexualität und Erotik kommen, die für sie von Interesse sind. Auch nur ein Drittel fühlte sich durch die Sendungen im Fernsehen gut über Sex und Erotik informiert. Und nur 26 Prozent können die Berichte über Erotik und Sexualität gut gebrauchen. Es sind prinzipiell 8
http://www.mediaculture-online.de eher die männlichen als die weiblichen Befragten, die angegeben haben, einen Nutzen aus den TV-Sendungen zu ziehen. Wichtig zu wissen ist, dass allgemein die Nachfrage nach Inszenierungen von Sexualität und Erotik bei den Befragten - entgegen der öffentlichen (inklusive medialen) Debatten - recht verhalten ist. Eher sind es die männlichen Befragten und weniger die weiblichen, die diesbezüglich Schaulust einräumen. Dies mag eventuell daran liegen, dass es Frauen immer noch weniger gesellschaftlich zugestanden wird, Gefallen an Erotik finden zu dürfen. Die heranwachsenden Mädchen unserer Studie haben angegeben, eher gewöhnliche bzw. konventionelle Darstellungen wie Kuss- und Verführungsszenen (jeweils zwei Drittel der Mädchen) zu akzeptieren, wobei sie die Verführung einer Frau von einem Mann deutlich besser finden als die eines Mannes von einer Frau. Autoerotische Inszenierungen von Frauen lehnen sie im Gegensatz zu den männlichen Befragten vehement ab, 80 Prozent wünschen so etwas nicht zu sehen. Jungen und junge Männer im Alter von 15 bis 25 Jahren zeigen insgesamt eine stärkere Affinität als Mädchen und junge Frauen zu sexuellen Darstellungen in Film und Fernsehen, wobei es für sie mehr ,zur Sache' gehen darf: Beischlafszenen sehen 73 Prozent der männlichen Befragten gern, mit sexuellen Reizen spielende Frauen präferieren 82 Prozent und sich entkleidende Menschen mögen 68 Prozent. Junge Männer sehen es auch lieber, wenn ein Mann von einer Frau verführt wird (68 Prozent), als wenn der Mann die aktive Rolle der Verführung übernimmt (50 Prozent) (siehe ausführlicher Hoffmann 2008). Reportagen oder Ratgebersendungen zu Themen rund um Sexualität, noch dazu der von Jugendlichen, sind in Deutschen Fernsehprogrammen kaum zu sehen. Das wöchentliche Magazin Wa(h)re Liebe wurde 2004 nach zehn Jahren eingestellt. Das Jugendmagazin Bravo TV wechselte mehrfach den Sender (Sat.1, RTL ll, ZDF) und auch die Moderatorinnen und Moderatoren und wurde 2007, nachdem der Erfolg ausblieb, eingestellt. Diverse mehrteilige Sendungen über das Sexualverhalten der Deutschen wurden 2008 ausgestrahlt, so etwa die fünf Folgen umfassende Reportage auf ProSieben mit dem Titel Sexreport 2008. Auch im ZDF gab es Specials zum Thema Sexualität etwa in Abenteuer Wissen. In diesen Sendungen versuchten Sexualforscherinnen und -forscher aber auch Populärwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, das sexuelle Verhalten der Deutschen zeitgeschichtlich aufzuarbeiten und nicht nur jungen, sondern auch älteren 9
http://www.mediaculture-online.de Menschen Ratschläge für ein gesundes, erfülltes Sexualleben zu geben. Wie diese Sendungen bei Jugendlichen ankamen, ist nicht bekannt. In unserer quantitativen Studie haben wir einige Sendeformate auf ihre Akzeptanz hin abgefragt, in denen es mehrheitlich direkt oder auch indirekt um Sexyness, also um sexuelle Attraktivität und um erotische Körperdarstellungen geht. Und auch hier zeigen sich zumeist große geschlechtsspezifische Unterschiede. Wa(h)re Liebe wurde zum Befragungszeitpunkt von den weiblichen und männlichen Befragten als gleichermaßen gut befunden, wobei die Bewertungen knapp unter dem Durchschnitt (2,0) liegen. Ansonsten sind die Präferenzen im Hinblick auf die abgefragten Sendungen recht unterschiedlich: Die weiblichen Heranwachsenden können eher als die männlichen etwas mit Bravo TV anfangen, wobei sie dem Format altersmäßig wohl eher entwachsen sein dürften. Sport Clips und Sexy Night, in denen vorwiegend wenig bekleidete Frauen (vermeintliche) Sportübungen machen, tanzen oder sich unter anderem in Sportkontexten in Pose bringen, sind Männerformate und bei den jungen Frauen entsprechend unbeliebt. Sport Clips ist weitgehend bekannt und wird von den männlichen Befragten mehrheitlich positiv bewertet. Populär ist auch die Dating-Show DisMissed, die ebenso wie Liebe, Sex & Video (kurzzeitiges Magazin bei VIVA), mehrheitlich von den weiblichen Befragten favorisiert wird. 10
http://www.mediaculture-online.de Verunsicherung oder Vergewisserung durch TV-Erotik In den themenfokussierten Einzelinterviews mit 15 Jungen und 15 Mädchen von 16 bis 18 Jahren wurden Filmausschnitte, Beiträge aus Boulevardmagazinen (taff. und Blitz), Werbesendungen (für 0190 Nummern) und Sport Clips thematisiert. Es fiel auf, dass Jugendliche genau differenzieren, was sie gesehen haben, was sie sehen wollen, was für sie akzeptabel ist und was nicht. Auch haben sie sich dazu geäußert, was für sie schambehaftet, moralisch-ethisch grenzwertig und eventuell sexistisch ist. Vor allem die Mädchen mögen es nicht, wenn Frauen als Ware, als reines Lustobjekt dargeboten und auf ihre sexuellen Reize reduziert werden wie in 0190-Werbespots oder in den Sport Clips. Die männlichen Befragten zeigen sich allgemein offener, einige fühlen sich aber auch verlegen und diskriminiert, möchten nicht als Voyeure, potenzielle Kunden oder als jene angesprochen werden, die nur an Sex denken und an Triebbefriedigung interessiert sind. Sexualität ist trotz aller Kommerzialisierung eine sehr persönliche und wertvolle Angelegenheit. Die meisten Befragten zeigen sich recht empfindsam, wenn es um ihre Vorstellungen von Liebe, Sexualität und um ihr sexuelles Verhalten geht. Demzufolge finden viele es schade, dass durch stereotype Darstellungen von Sexualität diese wenig besonders, sondern eher gewöhnlich scheint. Sie sind in der Selbstfindungsphase, haben ihre persönlichen Wünsche und Träumereien und möchten offensichtlich nicht desillusioniert werden. Weder in der qualitativen noch in der quantitativen Befragung finden sich Hinweise auf einen Mehrbedarf Jugendlicher an sexuellen Inhalten. Es finden sich auch keine Belege, dass die TV-Angebote zu Sexualität und Erotik zu Vergewisserungen für die eigene Sexualität führen. Hier trennen die Jugendlichen meist sorgfältig. Sie lassen sich mitunter inspirieren, aber nicht in ihrem Handeln beeinträchtigen. Bestimmte Bilder dienen nicht nur physiologischer Erregung, sondern eben auch sozial-kognitiver Anregung und Empörung. Hier und da gab es besorgte Stimmen, die durch die Darstellungen eine Veralltäglichung von Sexualität befürchteten, so dass die „schönste Sache der Welt" entwürdigt würde. Im Hinblick auf kommerzielle Inszenierungen von Sexualität in Film und Fernsehen zeigten sich die Heranwachsenden wenig überrascht, irritiert oder verunsichert. Es kann angenommen werden, dass die Ansprache und Involviertheit in das Gesehene je nach Anmutung des Dargestellten variiert und von sexuellen Entwicklungsbedürfnissen und 11
http://www.mediaculture-online.de intimen Erfahrungen abhängt. In der qualitativen Befragung gaben die Mädchen und Jungen an, dass sie um ihre Schamgrenzen wissen und diese artikulieren können. Sie haben mehrheitlich während der Rezeption geprüft, wie sie das Gesehene wahrnehmen und was es mit ihnen emotional und kognitiv macht. Einige - nicht alle - haben im Interview ihre eigene Sexualität mit der gezeigten in Beziehung gesetzt. Befragten mit Beziehungserfahrungen fiel dies leichter und sie konnten besser darüber reden. Einige Mädchen betonten in den Einzelinterviews, dass es ihnen bei der Präsentation von Sexualität in Film und Fernsehen in der Regel wichtig wäre, dass diese in einen Handlungsstrang, in eine Geschichte eingebettet sei und dass ausreichend Raum für die eigene Fantasie bleiben müsse. Die interviewten Mädchen präferierten ,realistische' Darstellungen von Sexualität und einige betonten, dass sie es nicht mögen, wenn Sexualität ins Lächerliche gezogen wird. In der quantitativen Befragung haben 40 Prozent der Befragten angegeben, dass sie häufig über filmische Darstellungen von Sexualität lachen müssen. Knapp ein Drittel findet Sexszenen unrealistisch und peinlich. Nur 28 Prozent räumten ein, dass sie genau verfolgen, was in Sexszenen passiert. Dass eine Sexszene mal nicht aus dem Kopf gegangen ist, haben 36,5 Prozent der Befragten zugegeben. Alles in allem distanzieren sie sich aber von den Inszenierungen in Film und Fernsehen. 58 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass sich Sex, so wie er wirklich ist, nicht in Filmen darstellen lässt. 61 Prozent haben im Fragebogen vermerkt, dass sie recht gut wüssten, was Spaß beim Sex und Befriedigung für beide bringt; 34 Prozent sind eher unsicher (5 Prozent haben die Frage nicht beantwortet). Es sind jedoch nicht mediale Darstellungen, die sie verunsichern, sondern ihre mangelnden Erfahrungen, denn hier finden sich vor allem jene wieder, die noch keine partnerschaftlichen sexuellen Erfahrungen (Geschlechtsverkehr) gemacht haben (das sind 30 Prozent der Gesamtstichprobe, Altersmittelwert 17,5). Abschließend sollen zwei Interviewauszüge 3 die Vorstellungen sexuell erfahrener Jugendlicher (beide zum Befragungszeitpunkt Single) über mediale Präsentationen von Sexualität veranschaulichen: 3 Es handelte sich jeweils um gleichgeschlechtliche Interviews, die Maren Gabel und Florian Krauß führten. 12
http://www.mediaculture-online.de Interviewer: Was wäre denn ein seriöser Erotikfilm? Kannst du das beschreiben? Johnny4, 18 Jahre, Gymnasiast „Dass man Busen zeigt, die Berührung (...), das Gesicht in bestimmten Stellungen, aber nicht diese Hardcore-Stellungen, wo sie sich richtig bewegt und schreit und stöhnt. Stellungen, wo man erkennt, dass sie sich lieben und einverstanden sind, was sie da tun. Ab einer bestimmten Stelle würde ich einfach nur aufhören, vielleicht nicht länger als fünf Minuten. So würde ich das machen. Nicht dass mar wirklich die komplette Stellungsaufnahme sieht oder die komplette Stellung und das mindestens zehr Minuten lang Frontalkamera, oh ja, guck dir das an, Junge! So was nicht!" Interviewerin: Wie sieht eine perfekte Sexdarstellung für dich aus? Alina, 18 Jahre, Gymnasiastin: „Eine perfekte Sexdarstellung kann unterschiedlich sein. Also es kommt auf den Ort drauf an, es könnte zuhause im Bett sein, ganz klischeemäßig. Dann könnte es aber auch am Strand sein, im Auto sein und es könnte im Bad sein, solche Sachen. Aber perfekt ist einfach für mich, wenn es langsam anfängt und man nicht alles sieht, wenn man vielleicht nur schemenhaft sieht oder den Rücken sieht, also überhaupt hinten, also man kann auch den Po sehen, aber von hinten finde ich, hat man meistens eine schönere Ansicht. Wie gesagt, wenn man nicht alles sieht, wenn man es erahnen kann, wenn man Geräusche hört, aber nicht konkret jetzt den Geschlechtsakt sieht." Literatur Brosius, Hans-Bernd/Rössler, Patrick (1999). Die soziale Realität in einfacher Pornografie und Softsex-Filmen. In: Rundfunk und Fernsehen, 47. Jg., H.1, S. 25-42. Buckingham, David/Bragg, Sara (2004). Young People, Sex and the Media: the facts of life? Basingstoke: Palgrave. Flick, Uwe (2004). Triangulation. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag. Gauntlett, David (2002). Media, Gender, Identity: An Introduction. London: Routledge. 4 Namen wurden geändert. 13
http://www.mediaculture-online.de Hoffmann, Dagmar (2006). Die Mediennutzung von Jugendlichen im Visier der sozialwissenschaftlichen Forschung. In: merz 50/4, 5. 15-21. Hoffmann, Dagmar (2008). Aufklärung oder Verklärung? Das Wissen um Erotik, Sexualität und Pornographie im Jugendalter. In: deutschejugend 56/4, S. 158-165. Kluge, Norbert/Hippchen, Gisela/Kaul, Melanie (2000). Das Körperkonzept der Deutschen. Die neue Körperlichkeit in ihren Auswirkungen auf Einstellungen und Verhaltensweisen. Frankfurt/M.: Peter Lang. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2009). JIM-Studie 2009. Jugend, Information, (Multi-) Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart. Müller, Daniel/Ligensa, Annemone/Gendolla, Peter (Hrsg.) (2009). Leitmedien. Konzepte - Relevanz - Geschichte. Band 2. Bielefeld: transcript. 14
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