"So zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt und auch die Demokratie" - Gesellschaftlicher Zuisammenhang

 
WEITER LESEN
"So zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt und auch die Demokratie" - Gesellschaftlicher Zuisammenhang
Es ist fünf
Minuten vor
   Zwölf

               Alle Menschenrechte für alle Menschen
                                             BEPM 19.10 - Berlin, den 13.04.2019

               "So zerfällt der gesellschaftliche
           Zusammenhalt und auch die Demokratie"
 Sahra Wagenknecht im Interview mit der NOZ, erschienen am 06.04.2019
                                  Frau Wagenknecht. Sie haben ihren Rückzug
                                  aus der ersten Reihe der Linksfraktion
                                  angekündigt, nachdem sie zwischenzeitlich
                                  "ziemlich ausgebrannt" waren. Wie befreit
                                  fühlen Sie sich heute? Welche Last ist da von
                                  Ihnen abgefallen?
                                  Es geht mir sehr viel besser, der extreme Druck
                                  ist weg, auch wenn ich natürlich immer noch
                                  relativ viele Termine habe, denn noch bin ich ja
                                  Fraktionsvorsitzende. Und auch danach werde
                                  ich politisch aktiv bleiben, denn es ist mir
 natürlich nicht egal, wohin sich unser Land entwickelt. Ich möchte mich nur auf
 einer anderen Ebene einmischen, wieder mehr publizieren, neue Ideen in die
 Debatte bringen. Woran hat es gelegen, dass der Stress so groß wurde? Haben
 sie sich mit Fraktionsführung und der Gründung von "Aufstehen" übernommen?
 Oder haben die innerparteilichen. Machtkämpfe zu viel Kraft gekostet?
 Da kam viel zusammen. "Aufstehen" ist für mich eine sehr spannende Erfahrung
 gewesen, weil es etwas völlig Neues war und ich erlebt habe, wie viele
 Menschen, die sich teilweise noch nie politisch engagiert haben, sich plötzlich
 mit großer Leidenschaft einbringen. Deshalb hat diese Bewegung trotz aller
 Anfangsschwierigkeiten auch eine Perspektive. Aber, klar, es war auch viel
 Arbeit - zusätzlich zum Fraktionsvorsitz. Und hinzu kamen die zermürbenden
 Konflikte in der Partei. Irgendwann war ich so ausgebrannt, dass es einfach
 nicht mehr ging.
 Sie sagen, sie wollen ein "politischer Mensch" bleiben. Wo wird der
 Schwerpunkt Ihrer Arbeit liegen?
 Wenn man sich die Entwicklung unserer Gesellschaft ansieht, kann einem angst
 und bange werden, wie viele Zukunftsfragen verschlafen werden und an wie
 vielen Stellen die Weichen falsch gestellt sind. Das betrifft die digitalen
 Technologien, die derzeit so eingesetzt werden, dass sie einem gefährlichen
 Überwachungskapitalismus den Weg bereiten. Das betrifft die ungebrochene
 Verschwendung natürlicher Ressourcen durch die Wegwerfwirtschaft. Und es
 betrifft ganz zentral die soziale Frage. Jeder weiß: Die Gesellschaft ist tief
 gespalten, sozial, aber auch kulturell. Wir haben unterschiedliche Milieus, die
                                                                                1
"So zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt und auch die Demokratie" - Gesellschaftlicher Zuisammenhang
sich kaum noch begegnen und sich immer weniger zu sagen haben. So zerfällt
der gesellschaftliche Zusammenhalt und "So zerfällt der gesellschaftliche
Zusammenhalt und auch die Demokratie" - 08.04.2019 13:09 [Wagenknecht]
auch die Demokratie.
Sie haben unlängst in Hamburg auch Enteignungen von Immobilienbesitzern
gefordert. Warum so radikal?
Enteignung, das klingt nach Staatswillkür und Unrecht. Aber wenn man genau
hinguckt, haben wir heute im Immobilienbereich ständige Enteignungen,
nämlich der Mieterinnen und Mieter. Finanzinvestoren kaufen hunderttausende
Wohnungen auf und treiben die Mieten nach oben, um ihren Anteilseignern
zweistellige Renditen auszuschütten. Bei der "DeutscheWohnen" etwa liegt die
Rendite aktuell bei 18 Prozent. Bei den Häusern dagegen werden oft notwendige
Investitionen unterlassen, oder man setzt auf Luxusmodernisierungen, um
einkommensschwache Familien gezielt zu vertreiben. Das elementare Recht auf
Wohnen ist zu einem Spekulationsobjekt geworden. Das muss gestoppt werden.
Grundgüter wie Wohnen, Gesundheit und Pflege gehören nicht in die Hände
hemmungsloser Renditejäger. Das sind öffentliche Aufgaben. Und wo Eigentum
zum Schaden der Allgemeinheit eingesetzt wird, sieht das Grundgesetz die
Übernahme in die Gemeinwirtschaft ausdrücklich vor.
Zu einem weiteren Streitthema: Sie haben in der Flüchtlingsdebatte von
Kapazitätsgrenzen gesprochen. Werden Sie - im Gegensatz zu vielen anderen
Linken - weiter für einen eher restriktiven Kurs in der Migrationspolitik
kämpfen?
Verfolgte haben Anspruch auf Schutz, dieses Asylrecht darf nicht ausgehöhlt
werden. Aber es ist eine große Lüge, dass man Armut in der Dritten Welt
bekämpft, indem man Migration fördert. Das Gegenteil ist der Fall. Denn es
verlassen nicht die Ärmsten ihre Länder, sondern eher die Mittelschicht und die
etwas besser Ausgebildeten. Das verstärkt die Armut vor Ort, während es den
Unternehmen bei uns billige Arbeitskräfte verschafft und so die Löhne unter
Druck setzt.
Und daraus folgt?
Statt zu sagen: Jeder, der möchte, kann nach Deutschland kommen, müssen wir
vor Ort helfen. Wir müssen aufhören mit unserer Agrar- und Handelspolitik die
Wirtschaft in Entwicklungsländern zu schädigen. Man kann übrigens auch nicht
einen starken Sozialstaat fordern und gleichzeitig jedem Erdbewohner freistelen,
dessen Leistungen in Anspruch zu nehmen. Und schließlich müssen die mit
hoher Zuwanderung verbundenen Probleme zumindest offen debattiert werden,
statt sie zu tabuisieren. Mit letzterem hat man die AfD groß gemacht.
Und ihre Partei geht da jetzt mit?
Es hat sich einiges bewegt. In der Asylfrage besteht ohnehin Konsens. Und in
der Frage der Arbeitsmigration teilen wir die Kritik des DGB, dass die
Einwanderung in den Niedriglohnsektor ein Problem ist, weil sie Lohndrückerei
erleic     tert.    Genau      darum     geht    es    ja   beim    sogenannten

                                                                              2
"So zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt und auch die Demokratie" - Gesellschaftlicher Zuisammenhang
Fachkräfteeinwanderungsgesetz, denn oberhalb eines bestimmten Einkommens
ist Zuwanderung in den Arbeitsmarkt schon heute problemlos möglich.
Es bleiben aber innerparteiliche Kritiker. So wird Ihnen AfD-Nähe vorgeworfen.
Solche Diffamierungen verhindern eine sachliche Debatte. Das ist ein
Phänomen, dass es bei weitem nicht nur in unserer Partei gibt. Wer jeden, der
eine differenzierte Sicht auf Migration einfordert, in die Nazi-Ecke stellt,
begreift nicht, dass er genau damit die rechten Parteien stärkt. Viele Menschen
fühlen sich durch solche Debatten verächtlich gemacht. Und wenn man ihnen
immer wieder einredet, dass sie mit ihrer Meinung "rassistisch" seien, dann
identifizieren sie sich irgendwann damit und wählen aus Wut tatsächlich AfD.
Haben die Linken noch genügend Basisnähe? Oder haben sie abgehoben?
Linke Politik muss in erster Linie Politik für Normalverdiener und die Ärmeren
sein: für Facharbeiter, kleine Selbständige, vor allem aber für die vielen
Millionen, die im Niedriglohnsektor arbeiten - auch für Menschen, die schlechte
Renten beziehen, oder Angst davor haben. Wenn die Linke diese Basis verliert,
verliert sie ihre Existenzberechtigung. Linkssein heißt, soziale Missstände zu
bekämpfen, und nicht etwa, einen bestimmten Lifestyle zu pflegen, der
womöglich sogar noch ziemlich elitär ist. Den Bioladen können sich nur
Gutverdiener leisten und wer eine Wohnung in teurer Innenstadtlage bezahlen
kann, hat es in
der Regel auch leichter, den Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad zu bewältigen.
Auch lebt es sich leichter "weltoffen", wenn man die Welt kennt, weil man sie
bereisen kann. Wer statt dessen seine Kinder in einer Schule weiß, in der 80
Prozent der Erstklässler kein Deutsch spricht, empfindet Vielfalt vielleicht nicht
in jeder Hinsicht als Bereicherung. Die Grünen haben gerade vorgemacht, wie
erfolgreich eine Partei sein kann, wenn sie Grabenkämpfe beilegt und sich auf
gemeinsame Ziele fokussiert.
Brauchen auch die Linken neue Integrationsfiguren an ihrer Spitze?
Die Grünen führen ihre Kämpfe, die sie ja unverändert auch haben, intern. Das
ist eine kluge Entscheidung und in diesem Punkt kann die Linke von ihnen
lernen. Zugleich sind die Grünen inzwischen leider programmatisch völlig
beliebig geworden. Ihr Höhenflug resultiert nicht aus gelungener Profilierung,
sondern vor allem aus der Schwäche der anderen. SPD und Union sind für viele
Men- schen einfach nicht mehr wählbar, und für die großsstädtischen Milieus
bieten sich die Grünen als Alternative an. Wenn die SPD sich neu aufstellen
würde, mit
überzeugenden Köpfen an der Spitze, und wenn sie wieder glaubwürdig für
soziale Verbesserungen eintritt, wäre der Höhenflug der Grünen ganz schnell
vorbei. Sie haben einer rot-rot-grünen Zusammenarbeit bislang skeptisch bis
ablehnend gegenüber gestanden.
Sehen sie jetzt mehr Spielraum, da die SPD die Grundrente und eine Reform der
Hartz-IV-Gesetze vorantreibt?
Ich habe mir immer gewünscht, dass wir eine sozialere Regierung bekommen.
Und ja: Die SPD hat jetzt Schritte in die richtige Richtung gemacht. Die von ihr
                                                                                3
"So zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt und auch die Demokratie" - Gesellschaftlicher Zuisammenhang
geforderte Grundrente gab es übrigens schon einmal, damals hieß das "Rente
nach Mindestentgeltpunkten". Insofern ist das Theater, das die Union dazu
aufführt, ziemlich unehrlich. Es ist auch gut, dass die SPD endlich über die
Überwindung von Hartz IV diskutiert, das Millionen Menschen brutal enteignet
hat. Die SPD wird aber nach Meinung vieler Wähler erst dann glaubwürdig für
sozial gerechte Politik stehen, wenn Sie Personen an ihre Spitze bringt, denen
man solche Ziele abnimmt und die nicht mit jahrelanger groß-koalitionärer
Kungelei verbunden werden. Wenn man sich die Umfragewerte von SPD und
Linken ansieht, dann ist der Zeitgeist aktuell allerdings alles andere als links.
Wir haben auf jeden Fall einen sozialen Zeitgeist. Es gibt eine breite Mehrheit
für mehr sozialen Ausgleich, besser Löhne, höhere Renten. Allerdings haben die
Sozialdemokraten viele Jahre realpolitisch das Gegenteil umgesetzt. Und die
Linke hat sich von den ärmeren Schichten teilweise entfremdet, weil sie oft
nicht deren Sprache spricht und von ihnen als dern, damit wir eine linke
Mehrheit im Bundestag zurückgewinnen können.
Was wird jetzt aus "Aufstehen"? Zuletzt gab es Streit und den Vorwurf, die
Führung der Sammlungsbewegung habe versagt.
Einige haben mir verübelt, dass ich meinen Rückzug aus der Spitze nicht zuerst
intern diskutiert habe. Aber das war das Ergebnis meiner längeren Krankheit, es
gab einfach keine Möglichkeit dazu. Und unabhängig von meiner persönlichen
Situation bleibe ich dabei: Die Berufspolitiker sollten sich jetzt zurücknehmen
und Führungsverantwortung an die Aktiven an der Basis übergeben. Inzwischen
ist auch klar: die vielen tausend aktiven Mitstreiter bei Aufstehen glauben an das
Projekt und wollen weitermachen. Und ich werde die Bewegung natürlich
ebenfalls weiterhin unterstützen.
Oskar Lafontaine hat eine mangelnde Öffnung anderer Parteien für die
Sammlungsbewegung beklagt. Ist das jetzt nicht doch der Anfang vom Ende für
"Aufstehen"?
Nein. Wir brauchen eine soziale Bewegung. Die Vorhaben sind ja nicht erledigt,
im Gegenteil. Natürlich war es enttäuschend, dass die Parteien sich eingemauert
haben. Statt die Chance, die mit einer Bewegung von 160 000 Menschen
verbunden ist, zu nutzen, sehen die Parteiführungen offensichtlich keinen
Bedarf, sich neu aufzustellen, obwohl sie große Teile ihrer einstigen
Wählerschaft nicht mehr erreichen. Das ist traurig.
"Aufstehen" kann also immer noch zu einer neuen politischen Mehrheit
beitragen?
Ich hoffe das. Und ich hoffe auch, dass es Aufstehen perspektivisch gelingt,
mehr Menschen auf die Straßen zu bringen, so wie in Frankreich die
Gelbwesten. Dann wäre auch der Druck viel stärker - auf die Parteien und auf
die Politik.
Noch ein Blick über die Grenzen. Migration und Nationalismus sind auch große
Themen im Vorfeld der Europawahl. Welche Strategien empfehlen Sie? Die EU
muss sich endlich selbst hinterfragen. Wenn viele Menschen die Europäische
Union in erster Linie als Interessenverband für große Unternehmen und Banken
                                                                                4
"So zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt und auch die Demokratie" - Gesellschaftlicher Zuisammenhang
wahrnehmen, ist es nicht erstaunlich, dass sie sich abwenden. Wir brauchen eine
EU, die soziale Sicherheit und naturverträgliches Wirtschaften fördert, statt ein
Motor für Privatisierungen, Sozialabbau und Lobbywirtschaft zu sein. Die EU
hat es unterstützt, dass die Banken in der letzten Krise Milliarden bekommen
haben, aber wenn eine Gemeinde die Ticketpreise im Nahverkehr
subventionieren möchte, wird das als verbotene Beihilfe verfolgt. Aber viele
Politiker haben nichts begriffen. Frau Kramp-Karrenbauer etwa meinte unlängst,
was der europäische Zusammenhalt heute brauche, sei ein deutsch-französischer
Flugzeugträger für künftige gemeinsame Kriege. So viel Realitätsverlust kann
einen sprachlos machen.
Anmerkung der BüSGM-Redaktion
Wir bedauern, dass sich Frau Wagenknecht bei all ihren wichtigen
Aufgaben physisch übernommen hat und wünschen ihr nach ihrer
Genesung für die Zukunft gute Gesundheit. Wir achten auch
Entscheidungen, die ein Leben begründen, das zukünftige
gesundheitliche Schäden möglichst vermeiden.
Wenn sich jedoch die Gründerin und „Gallionsfigur“ einer Bewegung
zurückziehen muss, wenn also die „vereinigten Linken“ in einer
kapitalistischen Gesellschaft“, wie Sahra Wagenknecht und Oskar
Lafontaine, keine Lust oder Kraft mehr haben, für ihre Ideen
weiterzukämpfen, sind auch 170.000 Sympathisanten ratlos.
Wir teilen die politischen Analysen von Frau Wagenknecht im
Wesentlichen und bedauern, dass sie sich Direktangriffen als
Fraktionsvorsitzende der Linken entziehen will und damit die
Möglichkeit verschenkt, die Linken im Bundestag an vorderster Stelle
zu vertreten. Wir vermuten, dass die Aufstehen-Bewegung ohne die
Gründerin sang- und klanglos vom kapitalistischen Wind verweht
wird.
Verteiler
Allgemeine Veröffentlichung
   Das BüSGM gibt seine Erklärungen, Informationen und Aufrufe Dritter jeweils zu aktuellen
     politischen und gesellschaftlichen Ereignissen, gegebenenfalls mit oder ohne eigenen
  Kommentar als Pressemitteilung heraus. Nachdruck ist nur vollständig gestattet. Auszüge
     bedürfen der Genehmigung des BüSGM. Die in namentlich gekennzeichneten Artikeln
  geäußerten Ansichten müssen nicht immer mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.
      Redaktion und verantwortlich für die Veröffentlichung ist der Vorstand des BüSGM:
                    Gert Julius (V.i.S.d.P), Peter Dietrich, Lothar Nätebusch

                                                                                              5
"So zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt und auch die Demokratie" - Gesellschaftlicher Zuisammenhang "So zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt und auch die Demokratie" - Gesellschaftlicher Zuisammenhang "So zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt und auch die Demokratie" - Gesellschaftlicher Zuisammenhang
Sie können auch lesen