SONDERDRUCK - Zeitschrift für Germanistik Neue Folge

 
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Zeitschrift für Germanistik
                      Neue Folge
                    XXXI – 1/2021

                   Herausgeberkollegium

Claudia Stockinger (Geschäftsführende Herausgeberin, Berlin)
              Mark-Georg Dehrmann (Berlin)
              Alexander Košenina (Hannover)
                   Ulrike Vedder (Berlin)

                   Gastherausgeberinnen

                    Annika Bartsch (Jena)
                     Jill Thielsen (Kiel)

        SONDERDRUCK

                      PETER LANG
           Internationaler Verlag der Wissenschaften
Bern · Berlin · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien
208 | Besprechungen

Peter Braun
Ilse Schneider-Lengyel. Fotografin, Ethnologin, Dichterin. Ein Porträt. Wallstein Verlag,
Göttingen 2019, 284 S.

Peter Brauns Buch ist der Höhepunkt einer              Lengyel kennen, den sie 1933 heiratet. Im selben
kleinen, erfreulichen Forschungskonjunktur zum         Jahr eröffnet sie in München ein eigenes Studio
Werk Ilse Schneider-Lengyels, die seit einiger Zeit    für Gebrauchsgraphik, dessen Typo klar den
zu beobachten ist und an der der Autor bereits         Bauhauseinfluss verrät. Von sich reden macht
partizipiert hat.1 Kanonisiert war Ilse Schneider-     sie aber zunächst mit einer opulenten Buchpu-
Lengyel zuvor nur als berühmteste Gastgeberin der      blikation, die 1934 im Münchner Piper Verlag
frühen bundesrepublikanischen Literaturgeschich-       erscheint: Die Welt der Maske. Das Buch gestaltet
te. In ihrem Haus am Bannwaldsee bei Füssen            sie vollkommen eigenständig, fotografiert Masken
hatte 1947 eine Schriftstellerzusammenkunft            unterschiedlicher Kulturen und Zeiten, schreibt
stattgefunden, die sich später als das Gründungs-      einen ethnologischen Essay über die Bedeutung
treffen der Gruppe 47 herausstellte. Vermutlich        der Masken im Ritual und übersetzt die Begleit-
wäre ihr Name und auch ihr vielfältiges, in man-       texte der Bilder ins Französische und Englische:
cher Hinsicht symptomatisches Werk vergessen,          ein Buch als Gesamtkunstwerk, die Summe
hätte es dieses Treffen nicht gegeben, konstatiert     ihrer Begabungen im Medienverbund. Die Art,
Braun (S. 140). So aber hat sich ein Teilnach-         wie sie die Masken fotografisch ins Szene setzt,
lass der 1972 in einer psychiatrischen Klinik          zeigt ersichtlich den Einfluss von Moholy-Nagys
in Konstanz verstorbenen Autorin, Fotografin,          Porträt- und Walter Heges Kunstfotografie. Eng
Ethnologin erhalten, der dem hier vorgelegten          sind die Masken kadriert, stoßen an den Bildrand,
„Porträt“ zugrunde liegt. Peter Braun will sein Ver-   sind keine starren, sondern kinetisch-dynamische
fahren – einem Dokumentarfilmer gleich – als ein       Gegenstände. Braun erkennt darin die bildkünst-
„Erzählen nach Dokumenten“ (S. 12) verstanden          lerische Entsprechung für das, was Carl Einstein in
wissen. Zu groß seien die Lücken im Nachlass, um       seiner Schrift zur Negerplastik (1915) die „fixierte
dem Anspruch einer Werk-Biographie gerecht zu          Ekstase“ der Maske genannt hatte. Wilhelm Hau-
werden. Das erzählende Ich des Porträtisten ist        senstein lobt das Buch in der Frankfurter Zeitung,
dabei relativ präsent, aber auf eine bescheidene,      aber auch der Verriss im Völkischen Beobachter
gleichsam erzählethische Weise, vor allem um zu        lässt nicht lange auf sich warten: Die Autorin
markieren, wo Leerstellen innerhalb des Porträts       sei dem „natürlichen Pathos des gefühlsbedingt
spekulativ überbrückt werden oder weiterer Kon-        Primitiven“ erlegen und ihr Buch eine „Vernei-
text mobilisiert werden muss, um die Fragmente         nung der urgegebenen Qualitätsunterschiede von
dieses Teilnachlasses sprechend zu machen.             Persönlichkeiten, Völkern und Rassen.“ Im selben
    Das Bild von Ilse Schneider-Lengyel, das           Jahr 1934 geht Ilse Schneider-Lengyel mit ihrem
auf diese Weise zustande kommt, erweist sich           jüdischen Mann nach Paris ins Exil. Es gehört zu
als ausgesprochen facettenreich. 1903 geboren,         den Ambivalenzen eines Exilschicksals, dass sie
entstammt sie einer wohlhabenden Münchner              die Existenz des Paares in Paris u. a. mit Fotobü-
Familie, die nicht nur über Seenbesitz im All-         chern im Münchner Traditionsverlag Bruckmann
gäu verfügt, sondern auch der Tochter in den           sichert, dessen Verleger schon in den 1920er Jahren
1920er Jahren ein Studium der Malerei in Paris,        zu den Förderern von Adolf Hitler gehört hatte.
der Kunstgeschichte in München (bei Wilhelm            Ihr Buch Das Gesicht des deutschen Mittelalters
Pinder) und Ethnologie in Berlin ermöglicht. In        von 1935 zeigt ‚deutsche Köpfe‘ von Romanik bis
der renommierten Photographischen Lehranstalt          Spätgotik, die sich auf Doppelseiten gegenüber-
des Lette-Vereins in Berlin absolviert sie überdies    stehen, ungewöhnlich randabfällig gedruckt sind
eine Lehre als Fotografin, die sie mit dem Bau-        und dadurch in bildrhythmischen, fast szenischen
haus und Laszlo Moholy-Nagy in Verbindung              Dialog zueinander treten. Einerseits sind die Bild-
bringt. In Berlin lernt Ilse Schneider auch den        unterschriften nun in der NS-konformen Fraktur
ungarischen Juden und Bauhaus-Schüler Laszlo           gehalten, andererseits wecken die fein abgestuften

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)                                             Peter Lang
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Grautöne der Objekte und die Lichtführung von          wurden. Interessant, dass hier bereits in der ini-
Ilse Schneider-Lengyels Fotografie nun Assozia-        tialen Selbstbeschreibung der lyrischen Tätigkeit
tionen an das französische Kino des poetischen         jener Surrealismus-Bezug aufscheint, der später
Realismus. Im Bruckmann Verlag erscheint noch          – nachdem sie bei der Gruppe 47 gelesen hatte
ein weiteres Buch mit Fotos griechischer Terra-        und ihr Gedichtband september-phase in Alfred
kotten. Danach darf Ilse Schneider-Lengyel „auf        Andersch renommierter Buchreihe studio frankfurt
Grund ihrer Verehelichung mit einem jüdischen          erschien – mit ihrer Lyrik immer wieder identifi-
Mann“ dort nicht länger publizieren. Dafür ver-        ziert wurde. Braun führt diesen Einfluss plausibel
öffentlicht sie jetzt auch im Umkreis der Pariser      auf das Pariser Exilumfeld zurück. Während die
Surrealistenszene, erhält sogar einen Fotopreis in     Fotografin Schneider-Lengyel den reichsdeutschen
Frankreich, geht andererseits für den Phaidon Ver-     Buchmarkt mit Kunstfotografie beliefert, erfindet
lag in Wien nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs auf       sie sich als Dichterin im Umfeld von Verve und
Reisen durch Frankreich und nach Italien, foto-        Minotaure, von Breton, Malraux und der poésie
grafiert Rodin, Donatello und Michelangelo und         pure Valerys, dessen Vorlesungen in der Ecole du
veröffentlicht zwischen 1939 und 1941 insgesamt        Louvre sie begeistert besucht. Die Tatsache, dass
fünf Bände mit kunstreproduzierender Fotografie        sie in Paris verbleibt und Zeugin eines befreiten
auf dem reichsdeutschen Buchmarkt. Unterdessen         Kulturlebens wird, dass sie den Aufstieg Sartres
hat die deutsche Wehrmacht längst Paris besetzt.       und der existentialistischen Bewegung miterlebt
Braun zeigt sich indigniert, dass der Nachlass eine    und die Erneuerung des Surrealismus durch Bre-
Publikation entbirgt, die Schneider-Lengyel, deren     tons ethnographische Erfahrungen bei den Hopi
jüdische Verwandte in Ungarn bald schon Opfer          und auf Haiti, macht sie nach Kriegsende auch in
des Holocaust werden sollten, in Gesellschaft von      Deutschland interessant für die vom NS befreite
Erna Lendvai-Dircksen, einer der berüchtigtsten        Nachkriegspresse. Ab Ende 1946 schreibt Schnei-
Fotografinnen während des ‚Dritten Reiches‘,           der-Lengyel Paris-Feuilletons für die Süddeutsche
zeigt. Eine Fotostrecke in dem illustrierten Wehr-     Zeitung. Das macht Andersch und Hans Werner
machts-Frontmagazin Luftflotte West stellt Schnei-     Richter auf sie aufmerksam, die in ihr eine der für
der-Lengyels Mittelalter-Köpfe Lendvai-Dircksens       den Ruf und das Projekt einer Erneuerung Europas
Porträts realer bäuerlicher Menschen gegenüber         durch die junge Generation dringend benötigten
(„Tochter aus friesisch-niedersächsischem Blut“) –     Kulturvermittlerinnnen erkennen (zudem eine mit
nebst vaterländischen Ernst-Moritz-Arndt-Zitaten       französischen Sprachkenntnissen, über welche die
und einem propagandistischen Text von Wolf von         gerade aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft
Niebelschütz. Braun fragt nicht ohne Vorwurf, wie      zurückgekehrten Sartre-Fans Richter und An-
es dazu kommen konnte und warum Schneider-             dersch seinerzeit nicht verfügten)2. Braun zitiert
Lengyel dieses kompromittierende Dokument              den Brief Richters an Ilse Schneider-Lengyel, in
überhaupt aufbewahrt hat. Hier hätte man sich          dem er ihr im Februar 47 eine ständige Mitarbeit
– in diesem ansonsten überaus empathischen             beim Ruf anbietet: „Dem Rufkreis fehlen noch ein
Porträt – ein wenig mehr Ambivalenztoleranz            paar gut schreibende Frauen, die keine sein wol-
gegenüber einem Exilschicksal gewünscht. Unter         len.“ (S. 123) Das junge Europa soll sein Gesicht
den prekären Umständen einer Existenz ohne             formen, das Geschlecht aber verleugnen (sofern
reguläre Arbeitserlaubnis ließ sich im besetzten       es weiblich ist): Frauen beim Ruf müssen schon
Paris das gewünschte Publikationsumfeld gewiss         echte Kerle sein.3
nicht immer garantieren. Wovon das Paar bis zur            Als die Zeitschrift dann unter alliierten Zen-
Befreiung von Paris durch die Amerikaner im            surstress gerät und das Gruppe-47-Projekt sich
August 1944 überhaupt lebte, gibt der Teilnach-        abzeichnet, ist Ilse Schneider-Lengyel immer noch
lass nicht zweifelsfrei zu erkennen. Wohl aber, dass   dabei. Ihr Haus am Bannwaldsee bietet sich an für
sich Ilse Schneider-Lengyel in dieser Zeit einer       ein konstituierendes Treffen. Es gehört zu den Hö-
für sie neuen Kunstform zuwandte: der Lyrik. Im        hepunkten in Brauns Porträt, wie er dieses Grün-
Nachlass hat sich eine Vielzahl von Gedichten          dungstreffen beschreibt: einer Erniedrigung durch
erhalten, die ab 1942 datieren und von ihr selbst      Hans Werner Richters Gruppengeschichtsschrei-
bereits unter dem Titel Capriole. Phantastische        bung, die Ilse Schneider-Lengyel auf ihre Rolle
Verse. Ein surrealistisches Brevier zusammengestellt   als tüchtige Gastgeberin und Köchin reduziert

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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(„Gell, Ilse, du bist jeden Morgen um vier auf         Ernst Schnabel oder Ruth Landshoff-Yorck, auch
den See gefahren und hast gefischt“, sagt Richter      Arno Schmidt und die Bachmann wurden hier
1965 im TV, und bis zum Umschnitt darf sie nur         publiziert – lehnt Andersch ihre Idee für eine
noch sagen: „Ja“ – und dass es Krebse und Zander       Titelfotografie ab. Schneider-Lengyel wollte in
gab…), stellt Braun eine Überhöhung durch den          der Tradition surrealistischer Zeitschriften wie
geistesaristokratischen Richter-Verächter Nikolaus     Minotaure ihre Gedichte als Kommentare zu
Sombart gegenüber, der Schneider-Lengyel als ge-       ethnologischen Objekten verstanden wissen. Statt
heimnisvolle, undinenhafte „Zauberin“ verkennt,        diese für das Verständnis ihres Werks gewiss nicht
die einer fremden „kosmopolitischen Kultursphä-        unmaßgebliche Peritextidee der Autorin aufzugrei-
re“ angehört habe und „aus dem Anderswo“ in            fen, lässt Andersch das Buchcover lieber von seiner
das verwüstete Nachkriegsdeutschland verpflanzt        Frau Gisela entwerfen – wie im Übrigen alle Titel
worden sei. (S. 149). Über ihre surrealen Gedichte,    der Reihe studio frankfurt. Nur bei Ilse Schneider-
die sie während dieses ersten Treffens vorlas und      Lengyel ist der Autorinnenvorname weggestaltet:
die zu der Prosa Wolfdietrich Schnurres und Wal-       „schneider-lengyel / september-phase“. Wer ihren
ter Kolbenhoffs einen irritierenden Kontrapunkt        ersten Gedichtband in der Buchauslage sah, konnte
abgegeben haben müssen, sagen beide bezeich-           nicht erkennen, ob er von einem Mann oder einer
nenderweise kein Wort. Welche ihrer Gedichte sie       Frau geschrieben war: Peritext-Mikropolitik als In-
auswählte, lässt sich aus den Quellen nicht mehr       diz frühbundesdeutscher Geschlechterordnungen.
rekonstruieren, lediglich ein Satz aus den Tage-           Neuland der Forschung betritt Brauns Buch
buchaufzeichnungen von Freia von Wühlisch ist          dort, wo es aus dem Teilnachlass Schneider-Len-
überliefert: „Frau Schneiders surrealistische Dich-    gyels immense literarische Produktivität auch
tung stieß auf Zweifel und Unverständnis, keiner       jenseits der surrealistischen Nachkriegslyrik do-
konnte sich aber einer gewissen dichterischen Kraft    kumentiert: Sie kann – lange vor Hubert Fichte
und Schönheit verschließen.“ (S. 144) Es gehört        – als eine Pionierin der Ethnopoesie gelten, die
zu den Vorzügen von Brauns Darstellung, dass sie       dem Hanser-Verlag bereits 1956 anhand ethno-
über den Fall Schneider-Lengyels hinaus Einblick       linguistischer Quellen angefertigte Übersetzun-
gibt in das frühe Urteilsregime der Gruppe 47          gen oraler Literaturen aus aller Welt anbot. Weil
und darüber, welche Art von Literatur vielleicht       sie ihre Arbeitsweise nicht offenlegt (die dafür
gerade deswegen begünstigt wurde, weil sie sich        minutiös von Braun rekonstruiert wird), stoßen
besser bereden ließ, weil sie der Gruppe unter der     ihre Texte, die explizit keine Nachdichtungen sein
verabredeten Spontaneitätszumutung instantaner         wollen, sondern sich einem ethnologischen Ethos
mündlicher Kritik mehr Angebote machte. Vom            verpflichtet wissen, auf Unverständnis. Sie parti-
dritten Treffen der Gruppe 47 in Altenbeuren sind      zipiert an der ‚Kampf-dem-Atomtod‘-Kampagne
sowohl die setlist der von Ilse Schneider-Lengyel      bundesdeutscher Schriftsteller und Intellektueller
vorgelesenen Gedichte überliefert (von Und Gott        mit einem apokalyptisch-avantgardistischen
lachte bis hin zu dem später titelgebenden Text        Drama Hier Welle Nullpunkt, das den Untertitel
ihres ersten Gedichtbandes september-phase) als        „Achtung Stickstoff. Ein Atomdrama“ trägt und
auch ihre Notizen zu den (dürren) Reaktionen           von ihr als „magisches Tonrelief mit Elektronen-
aus der Gruppe: „Kritik: Französisch gedacht           musik“ bezeichnet wird. Kein Sprechtheater,
– nur für einen kleinen Kreis – französisch vor-       sondern ein „kultisches Theater früherer Kulturen“
gelesen, mit der Hebung der Stimme am Ende             schwebt ihr vor, in dem die „sechs Phasen“ zwi-
// Begriffen: von Soehring, Brenner u. Görtz /         schen dem Abschuss einer Atombombe und der
Gegner: Kolbenhoff, Eich, Müller, Richter und          Zerstörung der Erde dargestellt werden. Sie liest
sämtl. Übrigen“) (S. 151). Und wieder eine subtile     daraus auf dem Treffen der Gruppen 47 in Ulm,
Verleugnung, Zurückweisung in dem Moment,              wo passenderweise die radiophonen Formen der
als man denkt, Schneider-Lengyel habe es als Au-       Literatur im Zentrum stehen. Das Atomthema
torin nun wirklich geschafft: Als Andersch ihrem       indes hatte dort schon seinen zeitaktuellen Zenit
ersten Gedichtband 1952 einen Auftritt in seiner       überschritten, als der Nato-Rat der BRD die schon
nachmals legendären studio frankfurt-Buchreihe         vom Bundestag beschlossene Atomaufrüstung
verschafft – im Umkreis von Texten wie von Böll,       einfach verbot. Es sollte Ilse Schneider-Lengyels

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)                                             Peter Lang
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letzter Auftritt bei der Gruppe 47 werden.             von den Nazis zurückgepfiffen, als Kunstfotogra-
Das Stück bleibt ungedruckt und unaufgeführt.          fin heimatlos zwischen reichsdeutschem Bücher-
In den sechziger Jahren kommt Ilse Schneider-          markt und Pariser Avantgarde, als surrealistische
Lengyel in große finanzielle Schwierigkeiten.          Lyrikerin zur falschen Zeit am falschen Ort (im
Von ihrem Mann Laszlo ist sie längst geschieden.       Männerbund der bundesdeutschen Spontankri-
Sie muss ihren geliebten Bannwaldsee, an den           tik), als Vorreiterin der Ethnopoesie gescheitert
sie nach der Rückkehr aus Paris zurückgezogen          und enttäuscht aus der Gruppe 47 ausgeschieden,
ist, verkaufen. Wohnrecht im oberen Stock ihres        kurz bevor sie 1964 in Sigtuna in Hubert Fichte
Hauses bleibt ihr gewährt, das Untergeschoss wird      auf einen ersten wirklichen Vertrauten innerhalb
zur Ferienwohnung. Umgeben ist sie von da ab           der Gruppe hätte stoßen können. Kultisches Atom-
von einem riesigen Campingplatz, der auch heute        Theater in einer Zeit, als auf bundesdeutschen
noch den Bannwaldsee prägt. In dieser Atmo-            Bühnen eher die Biedermänner Brände stifteten.
sphäre entsteht 1964 noch das Manuskript eines         Zuletzt eine ersichtlich verbitterte Gartenzwerg-
„experimentellen Kurzromans“ Der Gartenzwerg           Prosa als (vergebliches) Spiegelgefecht mit den
(242 S.), der die surreale Begegnung eines Garten-     Zeitläuften und dem ihrer Produktivität gegen-
zwerges mit der Pygmäenkultur schildert. Darin         über akkumulierten Unverständnis. Brauns Buch
erweist sie einer spekulativen Theorie der frühen      legt nahe, dass es heute anders sein könnte. Man
deutschen Ethnologie erzählerische Referenz,           wünschte sich jetzt eine kleine, gediegene Werk-
die in den Pygmäen die menschliche Ur-Kultur           edition, in dem die verstreut publizierten und die
zu erkennen vermeinte. In der Prosa Schneider-         aus dem Teil-Nachlass gehobenen Werkbestand-
Lengyels ist es dann ein Pygmäen-Publizist, der        teile zusammengeführt und kommentiert würden
nach dem Muster von Montesquieus Persischen            (am besten von Peter Braun).
Briefen eine Ethnographie der bundesdeutschen
Kultur der 1960er Jahre schreibt: „Alle Männer
sind gleich gekleidet /mit ausgestopften Schultern     Anmerkungen
und ganz ohne Farbe /ein ganz klappriger wird ein
breitschultriger Riese /und ein kugeldicker sieht      1   Vgl. Ulrike Leuschner: Ilse Schneider-Lengyel, die
schlank aus wie ein Strich /das sind die Künste der        Frau „aus dem Anderswo“. In: Treibhaus 6 (2010),
berühmten Schneider / es kann aber manchmal zu             S. 125–157; Peter Braun: „Die kleine gebliebene
Enttäuschung unter den Frauen führen“ (S. 237).            Hoffnung ist ein Anfang“. Hans Werner Richter
                                                           und Ilse Schneider-Lengyel. In: C. Gansel, W. Nell
Wolfgang Weyrauch, der Lektor des Rowohlt
                                                           (Hrsg.): „Es sind alles Geschichten aus meinem
Verlages, lehnt das Manuskript ab, weil es für ein         Leben“. Hans Werner Richter als Erzähler und
„Epos in freier rhythmischer Prosa“ keinen Markt           Zeitzeuge, Netzwerker und Autor. Berlin 2011,
gebe. 1969 wird Ilse Schneider-Lengyel verwirrt            S. 211–223; Felix Thürlemann: Erkenntnisse des
in Konstanz aufgegriffen und in die dortige Lan-           Auges. Ilse Schneider-Lengyel und Ludwig Gold-
despsychiatrie verbracht, wo sie drei Jahre später         scheider verwandeln Michelangelos Skulpturen
stirbt. In der Zwischenzeit werden ihre Biblio-            in ein Buch. In: C. Hirschi, C. Spoerhase (Hrsg.):
thek und die Kunstschätze in ihrer Wohnung am              Bleiwüste und Bilderflut. Geschichten über das
Bannwaldsee geplündert (ein Picasso-Original               geisteswissenschaftliche Buch. Wiesbaden 2015,
soll darunter gewesen sein). Braun reist sogar in          S. 161–182; Alfons Maria Arns, Heike Drummer:
                                                           Ich bin als Rebell geboren. Ilse Schneider-Len-
das Archiv der Psychiatrie, um ihre Kranken-
                                                           gyel. Fotografin, Kunsthistorikerin, Ethnologin,
akte einzusehen: vergeblich. Auch diese Akte ist           Dichterin … und die Gruppe 47 in Schwangau.
verschwunden (nach der zuvor nur der Allgäuer              Hrsg. v. der Gemeinde Schwangau 2017; Kay Wol-
Schriftsteller Gerhard Köpf, ein später Vertrauter         finger: september-phase surreal. Thesen zur Lyrik
und selbst ernannter ‚Schüler‘ Schneider-Lengyels,         Ilse Schneider-Lengyels. In: Treibhaus 13 (2017),
gesucht haben soll…).4                                     S. 137–151; Wiebke Lundius: Die Frauen in der
    Insgesamt zeichnet das Buch das anrührende             Gruppe 47. Berlin 2017, darin: S. 135–152.
Bild einer beschädigten, unvollendeten Produktivi-     2   Vgl. Jörg Döring: Westdeutscher Nachkriegsexisten-
tät (das ist die Kunst des Werkbiographen und Por-         tialismus im Frühwerk von Alfred Andersch. In: S.
trätisten Peter Braun): als ethnologische Fotografin       Braese, R. Vogel-Klein (Hrsg.): Zwischen Kahlschlag

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
212 | Besprechungen

    und Rive gauche. Deutsch-französische Kulturbe-                                           Jörg Döring
    ziehungen 1945–1960, Würzburg 2015, S. 125–152.        Universität Siegen
3   Alfred Andersch: Das junge Europa formt sein Ge-       Germanistisches Seminar
    sicht. In: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen     Hölderlinstr. 3
    Generation, 1. Jg. (1946/47), H. 1 (15.8.1946).
                                                           D–57068 Siegen
4   Vgl. Gerhard Köpf: Eine Asphodele. Über Ilse
    Schneider-Lengyel. In: Literatur für Leser 1 (1996),
                                                           
    S. 32–45.

Axel Dielmann, Stefan Schöttler (Hrsg.)
Victor Otto Stomps als Schriftsteller. [Gesamt-Ausgabe]. Bd. 1: Prosa; Bd. 2: Romane; Bd. 3:
Gedichte und Dramen; Bd. 4: Essays und Portraits. Axel Dielmann Verlag, Frankfurt a. M.
2020, 376, 320, 352, 640 S.

Unter Verlegern war er ein rückwärtsgewandter              Drucken rabenflügelartig erscheinenden Hebeln
Avantgardist und unter Literaten ein bekannter             von Stomps Handpresse. Die Zeitschrift Der
Unbekannter: Victor Otto Stomps (1897–1970),               Fischzug (1926), in der auch Texte von Benn und
nach seinen Initialen allgemein VauO genannt,              Brecht erschienen, führte den programmatischen
stand noch lange an seinen Handpressen, als der            Untertitel „Monatsblätter zur Förderung werden-
Offsetdruck schon längst den Bleisatz abgelöst             der Literatur“. Und Der weiße Rabe. Zeitschrift für
hatte. Handwerklich gediegen verlegte er so Ador-          Vers und Prosa brachte zwischen 1932 und 1934
no, Eich, Huchel, Kolmar, Loerke, Wohmann,                 Beiträge von Werner Bergengruen, Max Hermann-
Zech und viele andere, anfangs noch unbekannte             Neiße, Peter Huchel, Gertrud Kolmar oder Paul
Autorinnen und Autoren. Eigene Texte, die seine            Zech. Auch die 1949 in Frankfurt gegründete
Freunde jetzt zum 50. Todestag in vier umfangrei-          Eremiten-Presse, die 1954 nach Stierstadt im Tau-
chen – mit Bibliographie und Register versehenen           nus ins „Schloss Sanssouris“ umzog (‚ohne Mäuse‘
– Bänden edierten, wollte er hingegen nur selten           wohl im Sinne schmaler Mittel), sowie die Neue
selbst herausbringen. Denn erstens hatte er sich der       Rabenpresse ab 1967 in Westberlin verschrieben
Entdeckung und Förderung junger Talente ver-               sich dem gleichen Ziel – sie brachten junge Au-
schrieben, wozu er sich selbst nicht mehr rechnen          toren wie Dieter Hoffmann, Christoph Meckel,
durfte; und zweitens wusste er als Verleger, „daß          Ernst Meister, Hans Neuenfels, Klaus Staeck oder
es keinem Schriftsteller nützt, wenn man merkt,            Guntram Vesper in die Öffentlichkeit.
daß hinter dem Anlaß, ihn zu bringen, anderes                  Als Stomps 1965 den Fontane-Preis der Stadt
steckt als die Bewertung seines Manuskriptes.“             Berlin erhielt – unmittelbar nach Arno Schmidt
(IV, S. 535) In einem alphabetischen Poesie-Al-            und vor Walter Höllerer – wunderte sich ein
bum für Verleger (1965) heißt es dazu unter dem            Kritiker über das kaum sichtbare, relativ schmale
Buchstaben V: „Sei als Verleger vielerlei, / verant-       literarische Werk. Tatsächlich waren da neben
wortungsverbissen, / von Vorurteilen völlig frei, /        zwei Erzählbänden, Fabeln und Gedichten in
gewohnt, dich zu verpissen. / Sinnt ein Verfasser          Kleinstauflagen kaum mehr als zwei längere Pro-
wie ein Vieh, / dann sag dir selbst, ihm vis à vis: /      satexte erschienen. In der ziemlich eigenwilligen
friß Vogel oder stirb.“ (III, S. 171)                      „poetischen Biographie“ Gelechter (1962), die sich
    Entsprechend existiert Stomps in der öf-               auch „Roman“ nennt, spielt die dialogische Aus-
fentlichen Wahrnehmung – gespiegelt etwa in                einandersetzung mit Peter Lech, einer Art Alter
Walther Killys Literaturlexikon – nur noch als             Ego, die Hauptrolle. Dieser „Kerl, der mich seit
Verlegerpersönlichkeit. Mit der 1926 in Berlin am          Jahren in meinen Träumen verfolgte“ (II, S. 15),
Spittelmarkt – so Günter Eich im gleichnamigen             trägt passend zum Titel Gelechter Namen wie
Gedicht – gegründeten Rabenpresse eröffnete                Lechler, Lechlein, Lechze, Lechelmyer, Lechini,
er ein neues Forum der Literaturszene. Der Ver-            Slechszgodda. Stomps setzt seine Wegbegleiter und
lagsname verdankt sich den beim nächtlichen                Freunde zu diesem facettenreichen Traumgesicht

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)                                                 Peter Lang
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