SONDERDRUCK - Zeitschrift für Germanistik Neue Folge
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Zeitschrift für Germanistik Neue Folge XXXI – 1/2021 Herausgeberkollegium Claudia Stockinger (Geschäftsführende Herausgeberin, Berlin) Mark-Georg Dehrmann (Berlin) Alexander Košenina (Hannover) Ulrike Vedder (Berlin) Gastherausgeberinnen Annika Bartsch (Jena) Jill Thielsen (Kiel) SONDERDRUCK PETER LANG Internationaler Verlag der Wissenschaften Bern · Berlin · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien
208 | Besprechungen Peter Braun Ilse Schneider-Lengyel. Fotografin, Ethnologin, Dichterin. Ein Porträt. Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 284 S. Peter Brauns Buch ist der Höhepunkt einer Lengyel kennen, den sie 1933 heiratet. Im selben kleinen, erfreulichen Forschungskonjunktur zum Jahr eröffnet sie in München ein eigenes Studio Werk Ilse Schneider-Lengyels, die seit einiger Zeit für Gebrauchsgraphik, dessen Typo klar den zu beobachten ist und an der der Autor bereits Bauhauseinfluss verrät. Von sich reden macht partizipiert hat.1 Kanonisiert war Ilse Schneider- sie aber zunächst mit einer opulenten Buchpu- Lengyel zuvor nur als berühmteste Gastgeberin der blikation, die 1934 im Münchner Piper Verlag frühen bundesrepublikanischen Literaturgeschich- erscheint: Die Welt der Maske. Das Buch gestaltet te. In ihrem Haus am Bannwaldsee bei Füssen sie vollkommen eigenständig, fotografiert Masken hatte 1947 eine Schriftstellerzusammenkunft unterschiedlicher Kulturen und Zeiten, schreibt stattgefunden, die sich später als das Gründungs- einen ethnologischen Essay über die Bedeutung treffen der Gruppe 47 herausstellte. Vermutlich der Masken im Ritual und übersetzt die Begleit- wäre ihr Name und auch ihr vielfältiges, in man- texte der Bilder ins Französische und Englische: cher Hinsicht symptomatisches Werk vergessen, ein Buch als Gesamtkunstwerk, die Summe hätte es dieses Treffen nicht gegeben, konstatiert ihrer Begabungen im Medienverbund. Die Art, Braun (S. 140). So aber hat sich ein Teilnach- wie sie die Masken fotografisch ins Szene setzt, lass der 1972 in einer psychiatrischen Klinik zeigt ersichtlich den Einfluss von Moholy-Nagys in Konstanz verstorbenen Autorin, Fotografin, Porträt- und Walter Heges Kunstfotografie. Eng Ethnologin erhalten, der dem hier vorgelegten sind die Masken kadriert, stoßen an den Bildrand, „Porträt“ zugrunde liegt. Peter Braun will sein Ver- sind keine starren, sondern kinetisch-dynamische fahren – einem Dokumentarfilmer gleich – als ein Gegenstände. Braun erkennt darin die bildkünst- „Erzählen nach Dokumenten“ (S. 12) verstanden lerische Entsprechung für das, was Carl Einstein in wissen. Zu groß seien die Lücken im Nachlass, um seiner Schrift zur Negerplastik (1915) die „fixierte dem Anspruch einer Werk-Biographie gerecht zu Ekstase“ der Maske genannt hatte. Wilhelm Hau- werden. Das erzählende Ich des Porträtisten ist senstein lobt das Buch in der Frankfurter Zeitung, dabei relativ präsent, aber auf eine bescheidene, aber auch der Verriss im Völkischen Beobachter gleichsam erzählethische Weise, vor allem um zu lässt nicht lange auf sich warten: Die Autorin markieren, wo Leerstellen innerhalb des Porträts sei dem „natürlichen Pathos des gefühlsbedingt spekulativ überbrückt werden oder weiterer Kon- Primitiven“ erlegen und ihr Buch eine „Vernei- text mobilisiert werden muss, um die Fragmente nung der urgegebenen Qualitätsunterschiede von dieses Teilnachlasses sprechend zu machen. Persönlichkeiten, Völkern und Rassen.“ Im selben Das Bild von Ilse Schneider-Lengyel, das Jahr 1934 geht Ilse Schneider-Lengyel mit ihrem auf diese Weise zustande kommt, erweist sich jüdischen Mann nach Paris ins Exil. Es gehört zu als ausgesprochen facettenreich. 1903 geboren, den Ambivalenzen eines Exilschicksals, dass sie entstammt sie einer wohlhabenden Münchner die Existenz des Paares in Paris u. a. mit Fotobü- Familie, die nicht nur über Seenbesitz im All- chern im Münchner Traditionsverlag Bruckmann gäu verfügt, sondern auch der Tochter in den sichert, dessen Verleger schon in den 1920er Jahren 1920er Jahren ein Studium der Malerei in Paris, zu den Förderern von Adolf Hitler gehört hatte. der Kunstgeschichte in München (bei Wilhelm Ihr Buch Das Gesicht des deutschen Mittelalters Pinder) und Ethnologie in Berlin ermöglicht. In von 1935 zeigt ‚deutsche Köpfe‘ von Romanik bis der renommierten Photographischen Lehranstalt Spätgotik, die sich auf Doppelseiten gegenüber- des Lette-Vereins in Berlin absolviert sie überdies stehen, ungewöhnlich randabfällig gedruckt sind eine Lehre als Fotografin, die sie mit dem Bau- und dadurch in bildrhythmischen, fast szenischen haus und Laszlo Moholy-Nagy in Verbindung Dialog zueinander treten. Einerseits sind die Bild- bringt. In Berlin lernt Ilse Schneider auch den unterschriften nun in der NS-konformen Fraktur ungarischen Juden und Bauhaus-Schüler Laszlo gehalten, andererseits wecken die fein abgestuften Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang
Besprechungen | 209 Grautöne der Objekte und die Lichtführung von wurden. Interessant, dass hier bereits in der ini- Ilse Schneider-Lengyels Fotografie nun Assozia- tialen Selbstbeschreibung der lyrischen Tätigkeit tionen an das französische Kino des poetischen jener Surrealismus-Bezug aufscheint, der später Realismus. Im Bruckmann Verlag erscheint noch – nachdem sie bei der Gruppe 47 gelesen hatte ein weiteres Buch mit Fotos griechischer Terra- und ihr Gedichtband september-phase in Alfred kotten. Danach darf Ilse Schneider-Lengyel „auf Andersch renommierter Buchreihe studio frankfurt Grund ihrer Verehelichung mit einem jüdischen erschien – mit ihrer Lyrik immer wieder identifi- Mann“ dort nicht länger publizieren. Dafür ver- ziert wurde. Braun führt diesen Einfluss plausibel öffentlicht sie jetzt auch im Umkreis der Pariser auf das Pariser Exilumfeld zurück. Während die Surrealistenszene, erhält sogar einen Fotopreis in Fotografin Schneider-Lengyel den reichsdeutschen Frankreich, geht andererseits für den Phaidon Ver- Buchmarkt mit Kunstfotografie beliefert, erfindet lag in Wien nach dem ‚Anschluss‘ Österreichs auf sie sich als Dichterin im Umfeld von Verve und Reisen durch Frankreich und nach Italien, foto- Minotaure, von Breton, Malraux und der poésie grafiert Rodin, Donatello und Michelangelo und pure Valerys, dessen Vorlesungen in der Ecole du veröffentlicht zwischen 1939 und 1941 insgesamt Louvre sie begeistert besucht. Die Tatsache, dass fünf Bände mit kunstreproduzierender Fotografie sie in Paris verbleibt und Zeugin eines befreiten auf dem reichsdeutschen Buchmarkt. Unterdessen Kulturlebens wird, dass sie den Aufstieg Sartres hat die deutsche Wehrmacht längst Paris besetzt. und der existentialistischen Bewegung miterlebt Braun zeigt sich indigniert, dass der Nachlass eine und die Erneuerung des Surrealismus durch Bre- Publikation entbirgt, die Schneider-Lengyel, deren tons ethnographische Erfahrungen bei den Hopi jüdische Verwandte in Ungarn bald schon Opfer und auf Haiti, macht sie nach Kriegsende auch in des Holocaust werden sollten, in Gesellschaft von Deutschland interessant für die vom NS befreite Erna Lendvai-Dircksen, einer der berüchtigtsten Nachkriegspresse. Ab Ende 1946 schreibt Schnei- Fotografinnen während des ‚Dritten Reiches‘, der-Lengyel Paris-Feuilletons für die Süddeutsche zeigt. Eine Fotostrecke in dem illustrierten Wehr- Zeitung. Das macht Andersch und Hans Werner machts-Frontmagazin Luftflotte West stellt Schnei- Richter auf sie aufmerksam, die in ihr eine der für der-Lengyels Mittelalter-Köpfe Lendvai-Dircksens den Ruf und das Projekt einer Erneuerung Europas Porträts realer bäuerlicher Menschen gegenüber durch die junge Generation dringend benötigten („Tochter aus friesisch-niedersächsischem Blut“) – Kulturvermittlerinnnen erkennen (zudem eine mit nebst vaterländischen Ernst-Moritz-Arndt-Zitaten französischen Sprachkenntnissen, über welche die und einem propagandistischen Text von Wolf von gerade aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft Niebelschütz. Braun fragt nicht ohne Vorwurf, wie zurückgekehrten Sartre-Fans Richter und An- es dazu kommen konnte und warum Schneider- dersch seinerzeit nicht verfügten)2. Braun zitiert Lengyel dieses kompromittierende Dokument den Brief Richters an Ilse Schneider-Lengyel, in überhaupt aufbewahrt hat. Hier hätte man sich dem er ihr im Februar 47 eine ständige Mitarbeit – in diesem ansonsten überaus empathischen beim Ruf anbietet: „Dem Rufkreis fehlen noch ein Porträt – ein wenig mehr Ambivalenztoleranz paar gut schreibende Frauen, die keine sein wol- gegenüber einem Exilschicksal gewünscht. Unter len.“ (S. 123) Das junge Europa soll sein Gesicht den prekären Umständen einer Existenz ohne formen, das Geschlecht aber verleugnen (sofern reguläre Arbeitserlaubnis ließ sich im besetzten es weiblich ist): Frauen beim Ruf müssen schon Paris das gewünschte Publikationsumfeld gewiss echte Kerle sein.3 nicht immer garantieren. Wovon das Paar bis zur Als die Zeitschrift dann unter alliierten Zen- Befreiung von Paris durch die Amerikaner im surstress gerät und das Gruppe-47-Projekt sich August 1944 überhaupt lebte, gibt der Teilnach- abzeichnet, ist Ilse Schneider-Lengyel immer noch lass nicht zweifelsfrei zu erkennen. Wohl aber, dass dabei. Ihr Haus am Bannwaldsee bietet sich an für sich Ilse Schneider-Lengyel in dieser Zeit einer ein konstituierendes Treffen. Es gehört zu den Hö- für sie neuen Kunstform zuwandte: der Lyrik. Im hepunkten in Brauns Porträt, wie er dieses Grün- Nachlass hat sich eine Vielzahl von Gedichten dungstreffen beschreibt: einer Erniedrigung durch erhalten, die ab 1942 datieren und von ihr selbst Hans Werner Richters Gruppengeschichtsschrei- bereits unter dem Titel Capriole. Phantastische bung, die Ilse Schneider-Lengyel auf ihre Rolle Verse. Ein surrealistisches Brevier zusammengestellt als tüchtige Gastgeberin und Köchin reduziert Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
210 | Besprechungen („Gell, Ilse, du bist jeden Morgen um vier auf Ernst Schnabel oder Ruth Landshoff-Yorck, auch den See gefahren und hast gefischt“, sagt Richter Arno Schmidt und die Bachmann wurden hier 1965 im TV, und bis zum Umschnitt darf sie nur publiziert – lehnt Andersch ihre Idee für eine noch sagen: „Ja“ – und dass es Krebse und Zander Titelfotografie ab. Schneider-Lengyel wollte in gab…), stellt Braun eine Überhöhung durch den der Tradition surrealistischer Zeitschriften wie geistesaristokratischen Richter-Verächter Nikolaus Minotaure ihre Gedichte als Kommentare zu Sombart gegenüber, der Schneider-Lengyel als ge- ethnologischen Objekten verstanden wissen. Statt heimnisvolle, undinenhafte „Zauberin“ verkennt, diese für das Verständnis ihres Werks gewiss nicht die einer fremden „kosmopolitischen Kultursphä- unmaßgebliche Peritextidee der Autorin aufzugrei- re“ angehört habe und „aus dem Anderswo“ in fen, lässt Andersch das Buchcover lieber von seiner das verwüstete Nachkriegsdeutschland verpflanzt Frau Gisela entwerfen – wie im Übrigen alle Titel worden sei. (S. 149). Über ihre surrealen Gedichte, der Reihe studio frankfurt. Nur bei Ilse Schneider- die sie während dieses ersten Treffens vorlas und Lengyel ist der Autorinnenvorname weggestaltet: die zu der Prosa Wolfdietrich Schnurres und Wal- „schneider-lengyel / september-phase“. Wer ihren ter Kolbenhoffs einen irritierenden Kontrapunkt ersten Gedichtband in der Buchauslage sah, konnte abgegeben haben müssen, sagen beide bezeich- nicht erkennen, ob er von einem Mann oder einer nenderweise kein Wort. Welche ihrer Gedichte sie Frau geschrieben war: Peritext-Mikropolitik als In- auswählte, lässt sich aus den Quellen nicht mehr diz frühbundesdeutscher Geschlechterordnungen. rekonstruieren, lediglich ein Satz aus den Tage- Neuland der Forschung betritt Brauns Buch buchaufzeichnungen von Freia von Wühlisch ist dort, wo es aus dem Teilnachlass Schneider-Len- überliefert: „Frau Schneiders surrealistische Dich- gyels immense literarische Produktivität auch tung stieß auf Zweifel und Unverständnis, keiner jenseits der surrealistischen Nachkriegslyrik do- konnte sich aber einer gewissen dichterischen Kraft kumentiert: Sie kann – lange vor Hubert Fichte und Schönheit verschließen.“ (S. 144) Es gehört – als eine Pionierin der Ethnopoesie gelten, die zu den Vorzügen von Brauns Darstellung, dass sie dem Hanser-Verlag bereits 1956 anhand ethno- über den Fall Schneider-Lengyels hinaus Einblick linguistischer Quellen angefertigte Übersetzun- gibt in das frühe Urteilsregime der Gruppe 47 gen oraler Literaturen aus aller Welt anbot. Weil und darüber, welche Art von Literatur vielleicht sie ihre Arbeitsweise nicht offenlegt (die dafür gerade deswegen begünstigt wurde, weil sie sich minutiös von Braun rekonstruiert wird), stoßen besser bereden ließ, weil sie der Gruppe unter der ihre Texte, die explizit keine Nachdichtungen sein verabredeten Spontaneitätszumutung instantaner wollen, sondern sich einem ethnologischen Ethos mündlicher Kritik mehr Angebote machte. Vom verpflichtet wissen, auf Unverständnis. Sie parti- dritten Treffen der Gruppe 47 in Altenbeuren sind zipiert an der ‚Kampf-dem-Atomtod‘-Kampagne sowohl die setlist der von Ilse Schneider-Lengyel bundesdeutscher Schriftsteller und Intellektueller vorgelesenen Gedichte überliefert (von Und Gott mit einem apokalyptisch-avantgardistischen lachte bis hin zu dem später titelgebenden Text Drama Hier Welle Nullpunkt, das den Untertitel ihres ersten Gedichtbandes september-phase) als „Achtung Stickstoff. Ein Atomdrama“ trägt und auch ihre Notizen zu den (dürren) Reaktionen von ihr als „magisches Tonrelief mit Elektronen- aus der Gruppe: „Kritik: Französisch gedacht musik“ bezeichnet wird. Kein Sprechtheater, – nur für einen kleinen Kreis – französisch vor- sondern ein „kultisches Theater früherer Kulturen“ gelesen, mit der Hebung der Stimme am Ende schwebt ihr vor, in dem die „sechs Phasen“ zwi- // Begriffen: von Soehring, Brenner u. Görtz / schen dem Abschuss einer Atombombe und der Gegner: Kolbenhoff, Eich, Müller, Richter und Zerstörung der Erde dargestellt werden. Sie liest sämtl. Übrigen“) (S. 151). Und wieder eine subtile daraus auf dem Treffen der Gruppen 47 in Ulm, Verleugnung, Zurückweisung in dem Moment, wo passenderweise die radiophonen Formen der als man denkt, Schneider-Lengyel habe es als Au- Literatur im Zentrum stehen. Das Atomthema torin nun wirklich geschafft: Als Andersch ihrem indes hatte dort schon seinen zeitaktuellen Zenit ersten Gedichtband 1952 einen Auftritt in seiner überschritten, als der Nato-Rat der BRD die schon nachmals legendären studio frankfurt-Buchreihe vom Bundestag beschlossene Atomaufrüstung verschafft – im Umkreis von Texten wie von Böll, einfach verbot. Es sollte Ilse Schneider-Lengyels Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang
Besprechungen | 211 letzter Auftritt bei der Gruppe 47 werden. von den Nazis zurückgepfiffen, als Kunstfotogra- Das Stück bleibt ungedruckt und unaufgeführt. fin heimatlos zwischen reichsdeutschem Bücher- In den sechziger Jahren kommt Ilse Schneider- markt und Pariser Avantgarde, als surrealistische Lengyel in große finanzielle Schwierigkeiten. Lyrikerin zur falschen Zeit am falschen Ort (im Von ihrem Mann Laszlo ist sie längst geschieden. Männerbund der bundesdeutschen Spontankri- Sie muss ihren geliebten Bannwaldsee, an den tik), als Vorreiterin der Ethnopoesie gescheitert sie nach der Rückkehr aus Paris zurückgezogen und enttäuscht aus der Gruppe 47 ausgeschieden, ist, verkaufen. Wohnrecht im oberen Stock ihres kurz bevor sie 1964 in Sigtuna in Hubert Fichte Hauses bleibt ihr gewährt, das Untergeschoss wird auf einen ersten wirklichen Vertrauten innerhalb zur Ferienwohnung. Umgeben ist sie von da ab der Gruppe hätte stoßen können. Kultisches Atom- von einem riesigen Campingplatz, der auch heute Theater in einer Zeit, als auf bundesdeutschen noch den Bannwaldsee prägt. In dieser Atmo- Bühnen eher die Biedermänner Brände stifteten. sphäre entsteht 1964 noch das Manuskript eines Zuletzt eine ersichtlich verbitterte Gartenzwerg- „experimentellen Kurzromans“ Der Gartenzwerg Prosa als (vergebliches) Spiegelgefecht mit den (242 S.), der die surreale Begegnung eines Garten- Zeitläuften und dem ihrer Produktivität gegen- zwerges mit der Pygmäenkultur schildert. Darin über akkumulierten Unverständnis. Brauns Buch erweist sie einer spekulativen Theorie der frühen legt nahe, dass es heute anders sein könnte. Man deutschen Ethnologie erzählerische Referenz, wünschte sich jetzt eine kleine, gediegene Werk- die in den Pygmäen die menschliche Ur-Kultur edition, in dem die verstreut publizierten und die zu erkennen vermeinte. In der Prosa Schneider- aus dem Teil-Nachlass gehobenen Werkbestand- Lengyels ist es dann ein Pygmäen-Publizist, der teile zusammengeführt und kommentiert würden nach dem Muster von Montesquieus Persischen (am besten von Peter Braun). Briefen eine Ethnographie der bundesdeutschen Kultur der 1960er Jahre schreibt: „Alle Männer sind gleich gekleidet /mit ausgestopften Schultern Anmerkungen und ganz ohne Farbe /ein ganz klappriger wird ein breitschultriger Riese /und ein kugeldicker sieht 1 Vgl. Ulrike Leuschner: Ilse Schneider-Lengyel, die schlank aus wie ein Strich /das sind die Künste der Frau „aus dem Anderswo“. In: Treibhaus 6 (2010), berühmten Schneider / es kann aber manchmal zu S. 125–157; Peter Braun: „Die kleine gebliebene Enttäuschung unter den Frauen führen“ (S. 237). Hoffnung ist ein Anfang“. Hans Werner Richter und Ilse Schneider-Lengyel. In: C. Gansel, W. Nell Wolfgang Weyrauch, der Lektor des Rowohlt (Hrsg.): „Es sind alles Geschichten aus meinem Verlages, lehnt das Manuskript ab, weil es für ein Leben“. Hans Werner Richter als Erzähler und „Epos in freier rhythmischer Prosa“ keinen Markt Zeitzeuge, Netzwerker und Autor. Berlin 2011, gebe. 1969 wird Ilse Schneider-Lengyel verwirrt S. 211–223; Felix Thürlemann: Erkenntnisse des in Konstanz aufgegriffen und in die dortige Lan- Auges. Ilse Schneider-Lengyel und Ludwig Gold- despsychiatrie verbracht, wo sie drei Jahre später scheider verwandeln Michelangelos Skulpturen stirbt. In der Zwischenzeit werden ihre Biblio- in ein Buch. In: C. Hirschi, C. Spoerhase (Hrsg.): thek und die Kunstschätze in ihrer Wohnung am Bleiwüste und Bilderflut. Geschichten über das Bannwaldsee geplündert (ein Picasso-Original geisteswissenschaftliche Buch. Wiesbaden 2015, soll darunter gewesen sein). Braun reist sogar in S. 161–182; Alfons Maria Arns, Heike Drummer: Ich bin als Rebell geboren. Ilse Schneider-Len- das Archiv der Psychiatrie, um ihre Kranken- gyel. Fotografin, Kunsthistorikerin, Ethnologin, akte einzusehen: vergeblich. Auch diese Akte ist Dichterin … und die Gruppe 47 in Schwangau. verschwunden (nach der zuvor nur der Allgäuer Hrsg. v. der Gemeinde Schwangau 2017; Kay Wol- Schriftsteller Gerhard Köpf, ein später Vertrauter finger: september-phase surreal. Thesen zur Lyrik und selbst ernannter ‚Schüler‘ Schneider-Lengyels, Ilse Schneider-Lengyels. In: Treibhaus 13 (2017), gesucht haben soll…).4 S. 137–151; Wiebke Lundius: Die Frauen in der Insgesamt zeichnet das Buch das anrührende Gruppe 47. Berlin 2017, darin: S. 135–152. Bild einer beschädigten, unvollendeten Produktivi- 2 Vgl. Jörg Döring: Westdeutscher Nachkriegsexisten- tät (das ist die Kunst des Werkbiographen und Por- tialismus im Frühwerk von Alfred Andersch. In: S. trätisten Peter Braun): als ethnologische Fotografin Braese, R. Vogel-Klein (Hrsg.): Zwischen Kahlschlag Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
212 | Besprechungen und Rive gauche. Deutsch-französische Kulturbe- Jörg Döring ziehungen 1945–1960, Würzburg 2015, S. 125–152. Universität Siegen 3 Alfred Andersch: Das junge Europa formt sein Ge- Germanistisches Seminar sicht. In: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Hölderlinstr. 3 Generation, 1. Jg. (1946/47), H. 1 (15.8.1946). D–57068 Siegen 4 Vgl. Gerhard Köpf: Eine Asphodele. Über Ilse Schneider-Lengyel. In: Literatur für Leser 1 (1996), S. 32–45. Axel Dielmann, Stefan Schöttler (Hrsg.) Victor Otto Stomps als Schriftsteller. [Gesamt-Ausgabe]. Bd. 1: Prosa; Bd. 2: Romane; Bd. 3: Gedichte und Dramen; Bd. 4: Essays und Portraits. Axel Dielmann Verlag, Frankfurt a. M. 2020, 376, 320, 352, 640 S. Unter Verlegern war er ein rückwärtsgewandter Drucken rabenflügelartig erscheinenden Hebeln Avantgardist und unter Literaten ein bekannter von Stomps Handpresse. Die Zeitschrift Der Unbekannter: Victor Otto Stomps (1897–1970), Fischzug (1926), in der auch Texte von Benn und nach seinen Initialen allgemein VauO genannt, Brecht erschienen, führte den programmatischen stand noch lange an seinen Handpressen, als der Untertitel „Monatsblätter zur Förderung werden- Offsetdruck schon längst den Bleisatz abgelöst der Literatur“. Und Der weiße Rabe. Zeitschrift für hatte. Handwerklich gediegen verlegte er so Ador- Vers und Prosa brachte zwischen 1932 und 1934 no, Eich, Huchel, Kolmar, Loerke, Wohmann, Beiträge von Werner Bergengruen, Max Hermann- Zech und viele andere, anfangs noch unbekannte Neiße, Peter Huchel, Gertrud Kolmar oder Paul Autorinnen und Autoren. Eigene Texte, die seine Zech. Auch die 1949 in Frankfurt gegründete Freunde jetzt zum 50. Todestag in vier umfangrei- Eremiten-Presse, die 1954 nach Stierstadt im Tau- chen – mit Bibliographie und Register versehenen nus ins „Schloss Sanssouris“ umzog (‚ohne Mäuse‘ – Bänden edierten, wollte er hingegen nur selten wohl im Sinne schmaler Mittel), sowie die Neue selbst herausbringen. Denn erstens hatte er sich der Rabenpresse ab 1967 in Westberlin verschrieben Entdeckung und Förderung junger Talente ver- sich dem gleichen Ziel – sie brachten junge Au- schrieben, wozu er sich selbst nicht mehr rechnen toren wie Dieter Hoffmann, Christoph Meckel, durfte; und zweitens wusste er als Verleger, „daß Ernst Meister, Hans Neuenfels, Klaus Staeck oder es keinem Schriftsteller nützt, wenn man merkt, Guntram Vesper in die Öffentlichkeit. daß hinter dem Anlaß, ihn zu bringen, anderes Als Stomps 1965 den Fontane-Preis der Stadt steckt als die Bewertung seines Manuskriptes.“ Berlin erhielt – unmittelbar nach Arno Schmidt (IV, S. 535) In einem alphabetischen Poesie-Al- und vor Walter Höllerer – wunderte sich ein bum für Verleger (1965) heißt es dazu unter dem Kritiker über das kaum sichtbare, relativ schmale Buchstaben V: „Sei als Verleger vielerlei, / verant- literarische Werk. Tatsächlich waren da neben wortungsverbissen, / von Vorurteilen völlig frei, / zwei Erzählbänden, Fabeln und Gedichten in gewohnt, dich zu verpissen. / Sinnt ein Verfasser Kleinstauflagen kaum mehr als zwei längere Pro- wie ein Vieh, / dann sag dir selbst, ihm vis à vis: / satexte erschienen. In der ziemlich eigenwilligen friß Vogel oder stirb.“ (III, S. 171) „poetischen Biographie“ Gelechter (1962), die sich Entsprechend existiert Stomps in der öf- auch „Roman“ nennt, spielt die dialogische Aus- fentlichen Wahrnehmung – gespiegelt etwa in einandersetzung mit Peter Lech, einer Art Alter Walther Killys Literaturlexikon – nur noch als Ego, die Hauptrolle. Dieser „Kerl, der mich seit Verlegerpersönlichkeit. Mit der 1926 in Berlin am Jahren in meinen Träumen verfolgte“ (II, S. 15), Spittelmarkt – so Günter Eich im gleichnamigen trägt passend zum Titel Gelechter Namen wie Gedicht – gegründeten Rabenpresse eröffnete Lechler, Lechlein, Lechze, Lechelmyer, Lechini, er ein neues Forum der Literaturszene. Der Ver- Slechszgodda. Stomps setzt seine Wegbegleiter und lagsname verdankt sich den beim nächtlichen Freunde zu diesem facettenreichen Traumgesicht Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021) Peter Lang
Sie können auch lesen