Konferenzberichte Auszeiten. Temporale Ökonomien des Luxus (Tagung in Genf als online-Veranstaltung v. 29.-31.10.2020) - Ingenta Connect

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pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXI (2021), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 196–201

Konferenzberichte

Auszeiten. Temporale Ökonomien des Luxus (Tagung in Genf als online-Veranstaltung v.
29.–31.10.2020)

Die interdisziplinär ausgerichtete Tagung mit                          Der Philosoph Lambert Wiesing stellte in
literaturwissenschaftlichem Schwerpunkt wid-                       seinem Vortrag Luxus und Zeit die Aussage ‚Zeit
mete sich den zeitlichen Dimensionen des Luxus                     gilt heute als der wahre Luxus‘ in Frage. Da Luxus
und wurde im Rahmen des SNF-Projekts Luxus                         immer Luxus für jemanden sei, müsse eine sozio-
und Moderne: Die Ambivalenz des Überflüssigen in                   logische Differenzierung vorgenommen werden,
Kulturkonzeptionen der Literatur und Ästhetik seit                 denn Luxusvorstellungen seien in hohem Maße
dem 18. Jahrhundert von Ruth Signer, Christine                     gruppenspezifisch. Dagegen sei aus phänomeno-
Weder und Peter Wittemann organisiert.                             logischer Perspektive die Aussage einer Einzel-
    Ausgehend von der Beobachtung, dass Zeit                       person, Zeit sei heute der wahre Luxus, durchaus
heutzutage häufig als der ‚wahre Luxus‘ bezeichnet                 denkbar. Es handle sich in dem Fall allerdings
wird, skizzierte das Organisationsteam einleitend                  eher um eine Aussage über die Wertmaßstäbe der
das Interesse der Tagung. In einem historischen                    sprechenden Person, die Zeit materiellen Dingen
Rückblick auf die mannigfaltigen Formen der Ver-                   vorziehe. Nur als bewusst gewählter Bruch mit der
knüpfung von Zeit und Luxus stellte Wittemann                      Zweckmäßigkeit sei es möglich, etwas als Luxus zu
vier Positionen vor, die sich im 18. Jahrhundert                   erfahren. Auszeiten seien demnach nur nach einer
ausbildeten: Die Verbindung von freier Zeit mit                    vorgängigen Beurteilung als unvernünftig und
der sozialen Sphäre, die sich in der Besorgnis der                 unzweckmäßig, mithin als Luxus zu qualifizieren.
Reichen über die Untätigkeit der Unterschicht                      Der (zeitraubende) Erwerb des für diese Beurtei-
ausdrückt; ein dem Effizienzdenken verpflich-                      lung notwendigen Wissens könne als zusätzlicher
tetes Arbeitsethos, von Benjamin Franklin auf                      Aspekt des temporalen Luxus betrachtet werden.
die Formel ‚Zeit ist Geld‘ gebracht; die positive                      Die Kulturwissenschaftlerin Gabriela Muri
Neubewertung von Muße als unbestimmte Pro-                         (Zwischen Verheißung und Luxus: Zur Dialektik
duktivität sowie sozialutopische Hoffnungen auf                    von Zeitfreiheit und Zeitzwang) stellte Zeit als ge-
eine Verkürzung der Arbeitszeit. Signer verwies im                 sellschaftlich bedingte oder relationale Kategorie
Anschluss an Adorno darauf, dass der „Doppelcha-                   dar. So erlebten wir Zeit namentlich als Ordnungs-
rakter des Luxus“ mit seiner systemstabilisierenden                prinzip im Alltag und als Institution sozialer Kon-
wie befreienden Seite insbesondere Kunst und Lite-                 trolle. Auszeiten spielten eine wesentliche Rolle bei
ratur betreffe. So seien sowohl ihre Produktion als                der Regulierung von Zeit im Alltag, wobei es aber
auch ihre Konsumtion zeitaufwendig und damit                       Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Zeitfrei-
ebenso negativ als Zeitverschwendung qualifizier-                  heit und Zeitzwang gebe. In einem historischen
bar wie – mit positiver Wertung – als Befreiung                    Rückblick präsentierte Muri unterschiedliche
von Effizienzimperativen und Zweckrationalität.                    Ausprägungen von Auszeiten wie bspw. die Ins­
Zeitliche Formen des Luxus bzw. damit assoziierte                  titution des ,Blauen Montags‘ in Birmingham,
Figuren – Langeweile und Muße sowie Müßig-                         einer durch Zünfte kollektiv regulierten Form der
gänger, Flaneure und Nichtsnutze – würden in                       Auszeit. Im letzten Teil des Vortrags widmete sich
der Literatur prominent und mit ambivalenter                       Muri dem Ideal eines „glücklichen und schönen
Qualifikation inszeniert. Systematisch wurde eine                  Lebens“, das heute unsere Freizeitgestaltung präge:
Unterscheidung zwischen Zeit als Luxus und zeit-                   So würden inflationär reproduzierte Kulissen und
lichen Aspekten des Luxus vorgeschlagen.                           Erfahrungsmuster von freier Zeit und glücklichen

© 2021 The author(s) - http://doi.org/10.3726/92169_196 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
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Augenblicken eine Eventisierung unseres Alltags        Reizüberflutung eine Beschleunigung erfahren.
begünstigen.                                           Demgegenüber stehe die Zeiterfahrung der Muße
    Ausgehend von der systematischen Überlegung,       des Philosophen, der gerade durch die bewusste
dass nicht nur die exzessive Verausgabung von          Entschleunigung glücklich werde. Dennoch werde
Zeit, sondern umgekehrt auch besonders kurze,          der Luxus nicht vollständig verdammt. Im Anhang
dafür aber umso (kosten-)intensivere Augenblicke       des Romans präsentiere Wieland die Republik des
als temporaler Luxus qualifiziert werden können,       Diogenes als Utopie des Müßiggangs. In dieser
widmete sich Christine Weder (Ein Feuerwerk            führten die Bewohner ein naturnahes Leben ohne
verpuffender Augenblicke: Flüchtigkeit als Luxus und   jeden materiellen Luxus. Unter modernen Be-
Kunst) der Ästhetik und dem literarischen Potential    dingungen, so mache der Text deutlich, sei diese
der Feuerwerkskunst. Unter Anknüpfung an eine          Utopie jedoch nie erreichbar und eine Welt ohne
Bemerkung des Komponisten und Radiomanns               Luxus eine durchaus fragwürdige Vorstellung, die
Ernst Schoen, die Adorno aufnahm, argumentierte        mit historischem Stillstand erkauft werde.
sie, dass am Feuerwerk der Luxuscharakter von              Anja Lemke (Müßiggang als ästhetische Res-
Flüchtigkeit sichtbar werde, wobei die Allianz         source: Zur Refiguration von Kunst und Arbeit im
zwischen Luxus und Flüchtigkeit für die Moderne        18. Jahrhundert) befasste sich mit der Selbstveror-
seit 1800 typisch sei. Das Feuerwerk als besonders     tung der Kunst im Spannungsfeld zwischen Arbeit
flüchtige Kunstform erscheine, da nur in anderen       und Muße bzw. Müßiggang. In der Antike wurde
Medien ‚haltbar‘, speziell für intermediale Be-        die Arbeit gegenüber der Muße und den mit ihr
ziehungen prädestiniert. Die Möglichkeiten der         liierten artes liberales als niedriger bewertet. Im
Literatur im Umgang mit Feuerwerk demonstrierte        18. Jahrhundert habe sich dieses Verhältnis nicht
Weder anhand einer kulturhistorisch informierten       nur umgekehrt, sondern zu einem vierpoligen Span-
Lektüre von Goethes Wahlverwandtschaften. Dabei        nungsfeld ausdifferenziert, wobei nun zwischen
zeigte sie auf, wie im Roman Luxusphänomene            guter und schlechter Arbeit (im kulturkritischen
generell mit Flüchtigkeit assoziiert werden.           Sinne von unentfremdeter und entfremdeter Arbeit)
    Von einer ähnlichen Beobachtung ging Matt          sowie zwischen positiv gewerteter Muße und negativ
Erlin (Luxus und Beschleunigung um 1800) aus,          gewertetem Müßiggang unterschieden werde. An
der konstatierte, dass in den Diskussionen um          diesem Umcodierungsprozess seien Kunst und
1800 Luxus in zeitlicher Hinsicht häufig als Phä-      Literatur an vorderster Front beteiligt gewesen, was
nomen der Beschleunigung verstanden worden sei.        Lemke an zwei Beispielen exemplarisch vorführte.
In seinem Vortrag argumentierte er, die Liaison        Schillers Lob auf den Müßiggang in den Briefen
von Luxus und Beschleunigung in literarischen          über die ästhetische Erziehung des Menschen sei als
Texten um 1800 begünstige bestimmte rhetorische        eine Art der kontrollierten Muße durch die und in
und narrative Verfahren. An Textbeispielen von         der ästhetischen Arbeit zu verstehen, während Fried-
Georg Christoph Lichtenberg, Goethe und E.T.A.         rich Schlegel in der Idylle über den Müßiggang im
Hoffmann führte Erlin vor, wie die literarische        Sinne der progressiven Universalpoesie die vier Pole
Repräsentation von Luxusgütern mit rhetorischen        in Frage stelle und das antike Konzept der Muße als
Mitteln und Erzähltechniken, die ein Gefühl            genuin poetische Erkenntnisform wieder aufgreife.
narrativer Beschleunigung evozieren, bewerk-               Luisa Banki (Leseluxus. Weibliche Lektüre
stelligt wird. In Auseinandersetzung mit Reinhart      und bürgerliche Zeitökonomie um 1800) zeigte in
Koselleck beurteilte Erlin die in diesen Texten zum    ihrem sozialgeschichtlich orientierten Vortrag,
Ausdruck kommende Beschleunigungserfahrung             dass Lesen, sofern es auf eine exzessive Weise be-
als spezifisch modern.                                 trieben wird, um 1800 mit Luxus assoziiert ist.
    Christopher Meid (Tugend, Zeit und Mü-             Insbesondere die weibliche Romanlektüre werde in
ßiggang: Zum Luxusmotiv in Christoph Martin            jener Zeit als zeitverschwenderischer „Leseluxus“
Wielands Diogenes-Roman [1770]) zeichnete die          kritisiert, da sie sich im Urteil der Zeitgenossen
temporalen Formen des Luxus in Wielands Dio-           dem Ideal von Nutzen und Zweckmäßigkeit wider-
genes nach. So kritisiere der Text die unproduktive    setze und eine Herausforderung für die bürgerliche
Existenz der Reichen, deren Zeit im Luxusleben         Geschlechterordnung darstelle. Einerseits werde
absorbiert wird. Diese würden durch ständige           moralisch gegen die empfindsam-einfühlende

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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weibliche Lektürepraxis argumentiert, wenn auf         der Muße im Zusammenhang mit der Festkultur
die angeblich fragwürdigen und das Eheleben            des 18. Jahrhunderts in Texten von Rousseau.
zersetzenden Romaninhalte verwiesen werde. An-         Während in der Lettre à d’Alembert das Theater
dererseits werde ein zeitökonomisches Argument         als luxuriöse Institution aus zeitökonomischen
ins Feld geführt, wonach exzessive Romanlektüre        Gründen abgelehnt werde, würden in der Nouvelle
Frauen von ihren ‚natürlichen‘ Pflichten in Haus-      Héloise ländliche Festpraktiken positiv geschildert.
halt und Erziehung ablenke.                            Das Theater als Zeitvertreib gehe mit einer für
    Antonia Eder (Ruhen, dämmern, tagträumen.          Rousseau problematischen Beschleunigung einher,
Vom Luxus der Müdigkeit als Auszeit und Zwischen-      wohingegen Glückseligkeit nur im genügsamen,
raum in der Literatur) untersuchte die Müdigkeit       objektlosen Selbstgenuss möglich sei. Dieses be-
als einen möglichen Zustand von Muße. Der mit          ständige Glück werde schließlich in den Rêveries
der Langeweile, dem Müßiggang und der Melan-           du promeneur solitaire zu einem dauerhaften Zu-
cholie verwandten Müdigkeit sei eine kritische         stand radikalisiert. Dennoch stehe Rousseaus Lob
Potenz zu eigen: Während die Anthropologen der         des Müßiggangs in den Rêveries in Kontinuität
Aufklärungszeit vor dem „Zwischenzustand“ der          zu seiner früheren Kritik an demselben, denn die
Müdigkeit warnten, würden sich Literaten und           wahre Muße sei in der Zufriedenheit mit sich selbst
Philosophen für das in ihr verborgene poetische        begründet, die wiederum eine Beständigkeit in der
Potential begeistern. Mit Rousseaus Rêveries du        Zeit voraussetze.
promeneur solitaire und dem 7. Kapitel aus Musils          Ber nd Bl a schk e (Auszeiten- Systeme –
Mann ohne Eigenschaften fokussierte Eder zwei li-      500/1870/2015. Zeitexzesse als theatralischer Lu-
terarische Texte, bei denen sich die Müdigkeit auch    xus von der Antike bis zu Frank Castorf) fragte
im Textduktus niederschlage. Rousseau halte in der     danach, inwiefern sich besonders lange Formen
Natur spazierend seine Schwelgerei als Protokoll       des Theaters als luxurierende Kunst beschreiben
in einer Art proto-écriture automatique fest. Musil    lassen. Ausgehend von der Überlegung, dass Kunst
dagegen löse bei der Schilderung des sich in einem     aus biologischer Perspektive per se als Luxus zu
„Zustand der Schwäche“ befindenden Ulrich die          begreifen sei, charakterisierte er überlange Thea-
Eigenzeit des Protagonisten durch den Einschub         terabende und andere Formen der duration art als
von Zwischenräumen und Zwischenzeiten auf.             „forcierten Luxus“. Jedoch verlören Kunst und
    Robert Krause („alles darbieten, was auch der      Theater ihren Luxuscharakter, sobald ihnen von
ausschweifendste Luxus verlangen kann“. Das Palais     einer Gesellschaft eine Funktion oder ein Sinn
Royal als Passage zwischen aristokratischer Muße       zugeschrieben werde und sie damit zur Notwen-
und bürgerlichem Müßiggang) widmete sich dem           digkeit erklärt würden. In diesem historisch va-
Palais Royal als paradigmatischem Ort des Über-        riablen Spannungsverhältnis diskutierte Blaschke
gangs von der aristokratischen Muße im 17. und         als Schlaglichter auf die lange Geschichte solcher
18. Jahrhundert zum bürgerlichen Müßiggang des         Kunst die antiken Dionysien, Richard Wagners in
19. Jahrhunderts. Insbesondere der Garten vor dem      den 1870er Jahren lancierten Festspiele sowie die
Palais sei als Schwellenraum zu begreifen, in dem      überlangen Theaterabende Frank Castorfs aus der
sich im Vorfeld der Revolution von 1789 die private    Zeit seiner Intendanz an der Berliner Volksbühne.
und öffentliche Sphäre zunehmend vermischten.              Maximilian Bergengruen (Müßiggang und
Anhand von zahlreichen kulturhistorischen und          Warenverkehr. Bewegungsökonomien in Gottfried
literarischen Quellen von Denis Diderot über           Kellers „Die Leute von Seldwyla“) stellte eine ökono-
den Juristen Georg Friedrich Rebmann, Balzac           mische Lektüre von Gottfried Kellers Novellenzy-
und Heine bis Walter Benjamin zeigte Krause die        klus Die Leute von Seldwyla vor und rekonstruierte
intrikaten und politisch brisanten Verbindungen        dabei zwei Perspektiven, die der Text in Bezug
von Luxus, Muße und Müßiggang, die die Faszi-          auf das ambivalente Phänomen des Müßiggangs
nationskraft des Palais ausmachten.                    einnehme. Müßiggang erscheine in Kellers Text
    Yashar Mohagheghi (Zwischen Muße und               als Laster, wenn er sich als nur scheinbare Ge-
Zeitverschwendung. Diätetik der Zeit und Selbst-       schäftstätigkeit verkleide und dabei auf schnells-
zufriedenheit bei Rousseau) untersuchte die unter-     tem Weg in den Bankrott führe. Dieser Form des
schiedlichen Bewertungen des Müßiggangs bzw.           Müßiggangs, so konstatierte Bergengruen, hingen

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)                                              Peter Lang
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die alteingesessenen Seldwyler an. Im Falle von      u. a. die Hypothese, wonach dem Luxus seit seiner
Figuren von außen wie Frau Regel Amrain oder         ökonomischen und anthropologischen Aufwer-
dem Schneidergesellen Wenzel Strapinski erweise      tung im 18. Jahrhundert eine erhöhte Ambiva-
sich Müßiggang hingegen als eine Tugend. Bei         lenz zu eigen ist, weiter differenziert und auf die
diesen Figuren verpuffe die müßiggängerische         temporalen Implikationen bzw. Dimensionen des
Energie nicht, sondern werde in wirkliche öko-       Luxus ausgedehnt werden. Insbesondere die mit
nomische Bewegung und wirtschaftlichen Erfolg        zeitlichem Luxus assoziierten und in literarischen
umgewandelt.                                         Texten häufig reflektierten Figuren von Muße und
    Peter Utz (Auszeiten in der Zeitung. Zur         Müßiggang, erweitert um solche von Beschleuni-
Zeitökonomie im literarischen Feuilleton) widmete    gung und Flüchtigkeit, entpuppten sich als überaus
sich dem literarischen Feuilleton im ersten Drit-    komplexe und auch historisch keineswegs einseitig
tel des 20. Jahrhunderts als Form der Auszeit in     negativ oder positiv konnotierte Phänomene.
der Zeitung. Das Feuilleton sei als eine luxuriöse       Das Onlineformat erwies sich als der produkti-
Rubrik zu begreifen, da es sich innerhalb der In-    ven Diskussion keineswegs abträglich und öffnete
formationsökonomie der Zeitung nicht funktiona-      die Tagung für ein geographisch weit verstreutes
lisieren lasse und als Ort der Verschwendung von     Publikum, so dass die Veranstaltung sehr gut be-
Lese- und Lebenszeit angesehen werden könne. Als     sucht war. Eine Anschlusstagung zu ortsbezogenen
publizistische Auszeit von der hektischen Tagesbe-   Aspekten des Luxus findet im Rahmen desselben
richterstattung sei das Feuilleton daher besonders   SNF-Projektes vom 25.–27.03.2021 in Lausanne
zeitsensitiv und hege eine spezielle Affinität zur   statt. Die Publikation der Beiträge ist für 2021/22
Zeitreflexion. Diese Affinität komme bspw. in        zum Auftakt der Reihe Luxus und Moderne bei de
Feuilletons zum Tragen, die sonntägliche Parksze-    Gruyter vorgesehen.
nen als zeitlichen und räumlichen Gegensatz zum
Alltag beschreiben. Aber auch die Imagination von                     Maria Magnin, Raphael J. Müller
Zeitmaschinen oder das Experimentieren mit den       Université de Lausanne
literarischen Möglichkeiten der Zeitlupe zeugten     Faculté des lettres
vom zeitreflexiven Potential des Feuilletons.        Section d’allemand
    In ihrer je spezifischen Fokussierung auf die    Bâtiment Anthropole
Korrelation zwischen Luxus und Zeit offenbarten      Quartier UNIL-Chamberonne
die Vorträge der Tagung die enorme Bandbreite        CH–1015 Lausanne
und Vielschichtigkeit dieses von der Forschung       
bislang wenig beackerten Feldes. Dabei konnte        

West-östliche Konstellationen. Paul Celan zum 100. Geburtstag (Internationale Tagung als
hybride Veranstaltung in München sowie online v. 8.–9.10.2020)

Anlässlich des 100. Geburts- sowie 50. Todestags     Vorträger*innen per Kamera aufgenommen und
Paul Celans in diesem Jahr wurde unter der Orga-     war ebenfalls in einem eigenen Zoom-Panel zu
nisation von Markus May und Erik Schilling           betrachten.
die Tagung zu west-östlichen Konstellationen in         Ausgehend von Paul Celans Lebensweg stellte
Celans Werk durchgeführt. Die Konferenz fand als     die Tagung Fragen nach der Topographie und
hybride Veranstaltung zum Teil im Lyrik-Kabinett     Topologie in dessen Werk. Der intensive Dialog
in München, zum Teil über die Online-Plattform       der europäischen Kulturräume von Ost und West
Zoom statt. Die über Zoom zugeschalteten Teil-       in Celans Lyrik bedingt vielfältige Auseinander-
nehmer*innen waren vor Ort im Lyrik-Kabinett         setzungen mit den geographischen sowie mit den
auf einer großen Leinwand zu sehen; gleichzeitig     korrelierenden poetologischen Aspekten. Ziel
wurde das Vortragspodium mit den jeweiligen          der Tagung war eine weitreichende Vermessung

Peter Lang                                                     Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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dieser Ost-West-Relationen in Paul Celans Werk          Problematik auseinandersetzen und im Ergebnis
aus verschiedenen literaturwissenschaftlichen           Lesarten entwickeln, in denen die Ideologien
Perspektiven.                                           hinter einer West-Ost-Konstellation nicht länger
   Zu Beginn zeichnete Wolfgang Emmerich                reproduziert werden: zum einen die Lesart der
(Bremen) in seinem Vortrag „nibelungen, nibelun-        japanischen Autorin Yoko Tawada, zum anderen
gen“. Paul Celans deutsch besetztes Bewusstsein eine    die des amerikanischen Lyrikers Charles Bernstein.
Entwicklung in der Verarbeitung des Nibelun-                Einen Blick auf die Celan-Rezeption warf
genmythos bei Celan nach. War Celans Jugend             Vivian Liska (Antwerpen) in ihrem Vortrag Das
von einem ungebrochen positiven Verhältnis zum          Schweigen über Brücken. Orte Celans bei Robert
Sagenkreis der Nibelungen geprägt, so ist eine          Schindel. Ausgehend vom Moment des versprach-
Abkehr von diesem nach der Instrumentalisie-            lichten Schweigens in Celans Gedichten ging sie
rung des Mythos durch die Nationalsozialisten           der Frage nach, wie Texte in dessen Nachfolge
zu konstatieren. Neben dem Beleg dieser These           mit dem Erbe der versprachlichten Sprachlosig-
durch Briefstellen veranschaulichte Emmerich die        keit umgehen. Mit Robert Schindel präsentierte
Abkehr Celans vom Nibelungenmythos an den               sie einen jüdisch-österreichischen Dichter, der
Gedichten Der Tote, Russischer Frühling und Port        die Auseinandersetzung mit diesem Hindernis
Bou – Deutsch?. Der Rückgriff auf den mythischen        produktiv macht und explizit durch diese Aus-
Stoff wird hier zu einem gebrochenen; es herrschen      einandersetzung zu einer neuen, eigenen Variante
ironische und parodistische Anspielungen vor. Die       dichterischen Sprechens gelangt. Wie Schindel dies
Entwicklung in der Verarbeitung des Stoffs des          gerade anhand von Orten und Räumen in seiner
Nibelungenmythos exemplifiziert für Emmerich            Dichtung bewerkstelligt, exemplifizierte Liska
das ambivalente Verhältnis Celans gegenüber dem         anhand seines Gedichts Zweibrücken 2 (Ananke).
und den Deutschen.                                          Am Abend des ersten Konferenztags stellte
   Vor dem Hintergrund einer Ausdifferenzierung         Thomas Sparr im Dialog mit Erik Schilling
des Ambivalenzbegriffs hob Erik Schilling               sein im März 2020 erschienenes Buch Todesfuge.
(München) im Anschluss die Einflüsse Freuds und         Biografie eines Gedichts vor. Sparr machte deut-
Rilkes auf Celans Walliser Elegie hervor (Ambiva-       lich, dass der Blick auf die Rezeption von Celans
lente Topographien: Rilkes „Dritte Duineser Elegie“     berühmtesten Gedicht die Schwierigkeiten einer
und Celans „Walliser Elegie“). Schilling zufolge        Anknüpfung an diesen Text in der nachfolgenden
ermöglicht die Bezugnahme auf Rilkes Gedicht –          deutschsprachigen Literatur offenlegt, während
welches seinerseits auf Freuds Drei Abhandlungen        in fremdsprachigen Übersetzungen sowie in den
zur Sexualtheorie Bezug nimmt – die Umsetzung           anderen Künsten Modalitäten einer produktiven
der Denkfigur ‚Ambivalenz‘ auf verschiedenen            Verarbeitung durchaus zu eindrucksvollen Resul-
Ebenen. Durch das Aufgreifen und Weiterver-             taten geführt haben.
arbeiten der Ambivalenzdarstellung in Rilkes                Als Auftakt des zweiten Konferenztags unter-
Gedicht können in der Walliser Elegie erinnerte,        breitete M arkus M ay (München) den Ta-
von Verlust und Vernichtung geprägte Vergangen-         gungsteilnehmer*innen eine Lesart von Celans
heit und psychoanalytisch erfasste, sexualisierte       Gauner- und Ganovenweise, die hermeneutische
Gegenwart simultan nebeneinanderstehen bzw.             und poetologische Interpretationsaspekte vereinigt
überblendet werden.                                     („Stimmen vom Galgenbaum“. Celans west-östliches
   Christine Ivanovic (Wien) richtete das               Rotwelsch). Celan greift die im Zuge der Goll-
Augenmerk auf den ideologischen Subtext der             Affäre in der Presse kursierenden Vorwürfe und
Formulierung „west-östliche Konstellationen“            Plagiatsanschuldigungen in seinem Gedicht nicht
und fragte nach einer angemessenen Berück-              nur inhaltlich auf, sondern verarbeitet sie auch
sichtigung des Konstruktcharakters sowie der            zu einem poetologischen Modell. Sein Umgang
Implikationen des Begriffspaars West/Ost in             mit den gegen ihn vorgebrachten Bezichtigungen
aktuellen literaturwissenschaftlichen Lektüren          orientiert sich an sprachlichen Operationen, die
von Celans Gedichten („West-östliche“ Lesarten im       das Rotwelsche kennzeichnen; zu nennen wäre
Jahrhundert nach Celan). Sie stellte zwei Varianten     bspw. die Umcodierung bestimmter im allge-
einer Celan-Lektüre vor, die sich kritisch mit dieser   meinen Sprachgebrauch verwendeter Begriffe,

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)                                             Peter Lang
Konferenzberichte | 201

die in ihrer neuen Codierung nicht mehr von der            Im Abschlussvortrag arbeitete Barbara Wie-
Allgemeinheit dechiffriert werden können. Celan        demann (Tübingen) Celans Modell von Zeu-
entwickelt so einen widerständigen Gegendiskurs,       genschaft heraus („Bis du den Wortrand hinaus- |
der gegen die eigene Annihilation anschreibt.          schleuderst“. Paul Celans gegenwärtige Zeugenschaft).
   Martin Hainz (Eisenstadt) richtete im Vor-          Mit Rekurs auf die historischen und biographi-
trag „Wortausschüttung“. Materialität als Inde-        schen Fakten betonte Wiedemann, dass Celans
xikalität bei Paul Celan seine Aufmerksamkeit          Lyrik den Umgang mit der Shoah in einer Gegen-
auf das (Wort-)Material in Celans Lyrik. Hainz         wart nach dieser bezeugt. Vor dem Hintergrund
zeigte in seiner dekonstruktiven Lektüre auf, wie      dieser Feststellung kristallisierten sich zwei ent-
die Materialität als Spur für das Abwesende, was       scheidende Aspekte in Celans Verständnis von
nicht ausgedrückt werden kann, fungiert; wie sie       Zeugenschaft heraus: zum einen das Moment
Verweis ist für das, was war. Er stellte heraus, wie   der Wehrhaftigkeit, zum anderen die spezifische
Celan gegen ein Verlöschen der Spuren der Ver-         sprachliche Verfasstheit der Texte. Celans Gedichte
gangenheit anschreibt.                                 legen nicht nur durch ihren Inhalt Zeugnis ab –
   Einen Lektürevorschlag für Celans Gedicht           sondern auch durch ihre sprachliche Form, indem
Engführung bot im Folgenden Bernd Auerochs             die deutsche Sprache an sich und die Schwierigkeit
(Kiel) (Betreten. Zum Anfang von „Engführung“).        einer deutschsprachigen Kommunikation nach der
Die Gegenüberstellung von Hölderlins Gedicht           Shoah ins Zentrum rücken.
Patmos und Celans Engführung verspreche eine               Die Abschlussdiskussion griff einmal mehr
neue, aussichtsreiche Gesamtperspektive auf Ce-        den Versuch auf, reale, sprachliche und utopische
lans Gedicht. Aus dieser beleuchtete Auerochs in       Orte in der Dichtung Celans zu unterscheiden,
seinem Vortrag den Beginn von Engführung, was          und widmete sich davon ausgehend insbesondere
ihn zum Befund führte, dass das (ausgelassene)         dem Thema der Abstraktion. In den Fokus ge-
Gebet in Celans Gedicht eine entscheidende Rolle       rückt wurde die Qualität von Celans Lyrik, gerade
einnimmt, wenn es um ein Zu-Wort-Kommen des            durch den abstrakten Charakter ihrer Sprache
Dichter-Ichs geht, das von einem distanzierteren       von ganz Konkretem zu sprechen. Gefragt wurde
Reflexionsstandpunkt spricht, als es z. B. in Todes-   auch nach einem angemessenen Abstraktionsgrad
fuge der Fall ist.                                     im Lektüreprozess, wobei hervorgehoben wurde,
   Vor der Folie von Celans Büchnerpreis-Rede          dass sich konkrete und abstrakte Lesarten nicht
Der Meridian richtete Werner Wögerbauer                ausschließen. Zur Diskussion stand allerdings,
(Nantes) seinen Blick zunächst auf die Verarbei-       inwieweit erstere möglicherweise Voraussetzung
tung real existierender Orte in Celans Gedichten       für letztere darstellen.
(Celans Draußen. Über reale und sprachliche Räume          Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist in
in seiner Dichtung). Von diesem Ausgangspunkt          Planung.
untersuchte er immer abstrakter werdende Orte
und ihre Darstellung in Celans Lyrik, wobei er                                         Magdalena Specht
eine Engführung der realen mit imaginierten            Ludwig-Maximilians-Universität München
Orten beobachtete, die sich rückwirkend auch auf       Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften
die Auffassung der verarbeiteten realen Orte in        Geschwister-Scholl-Platz 1
den Gedichten auswirke. Das ‚Draußen‘ als einen        D–80539 München
im Gedicht Mit allen Gedanken thematisierten           
abstrakten Ort wies Wögerbauer schließlich als
Ort außerhalb der selbst erschaffenen sprachlichen
Welt Celans aus.

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXI (2021)
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