Sigmund Gastiger, Cornelia Kricheldorff (Hg.) Soziale Arbeit in Gerontologischen Arbeitsfeldern mit Kindern in prekären Lebenslagen - Methoden und ...
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Sigmund Gastiger, Cornelia Kricheldorff (Hg.) Soziale Arbeit in Gerontologischen Arbeitsfeldern mit Kindern in prekären Lebenslagen Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit in verschiedenen Arbeitsfeldern
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten © 2011 Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau www.lambertus.de Umschlaggestaltung: Nathalie Kupfermann, Bollschweil Druck: Franz X. Stückle, Druck und Verlag, Ettenheim ISBN 978-3-7841-2030-0
Inhalt Vorwort Cornelia Kricheldorff Handlungsfeld Soziale Arbeit in gerontologischen Arbeitsfeldern und im Gesundheitswesen Matthias Hugoth Handlungsfeld Soziale Arbeit mit Kindern in prekären Lebenslagen Die Autoren
Vorwort Dieses und die folgenden Lernbücher der Reihe „Skills“ befassen sich mit dem Thema „Handlungskonzepte und Methoden der Sozialen Arbeit in verschiedenen Arbeitsfeldern“. Dabei werden zunächst die aktuellen Be- dingungen und Fragen im jeweiligen Arbeitsfeld kurz beleuchtet und dann, auf der Basis von exemplarischen Fallbeschreibungen, schrittweise be- arbeitet. Es würde den Rahmen des Vorworts sprengen, wollte man an dieser Stelle aufwändig diskutieren, was wir unter Sozialer Arbeit verstehen. Deshalb folgen wir der These von Klüsche (1999), nach der er Soziale Arbeit für die Bearbeitung von gesellschaftlich und professionell als relevant angese- henen Problemlagen (Klüsche I: 23) zuständig sieht. Er konkretisiert diese Definition, indem er innerhalb der Sozialen Arbeit, die Entstehung und Bearbeitung von Problemlagen unter mindestens vier Aspekten erfasst: 1. unter dem der Klienten/Klientinnen 2. unter dem der Gesellschaft 3. unter dem der Profession und 4. unter dem der Institutionen oder Organisationen, in denen Hilfe geleistet und koordiniert wird (Klüsche II: 22). Diese Bezugspunkte der Sozialen Arbeit charakterisieren deren professio- nelles Arbeiten in den unterschiedlichen Handlungsfeldern (Klüsche II: a.a.O.). Es gibt freilich unterschiedliche Modelle, wie Soziale Arbeit betrachtet werden kann. Die Skills-Reihe setzt auf die zentrale Rolle von Handlungs- konzepten und Methoden, im Sinne von Galuske (2009). Welches Ver- ständnis von Sozialer Arbeit dem zugrunde liegt und was danach inhaltlich kennzeichnend für die Soziale Arbeit ist, erläutert Galuske in fünf zentra- len Punkten (Galuske: 37ff.). 1. Soziale Arbeit ist (fast) allzuständig, d. h. wenig spezialisiert, im Gegensatz zu anderen helfenden Berufen. Auf der Ebene der Alltags- intervention wird deutlich: Alles, was das Alltagsleben an Problemen 5
Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit in verschiedenen Arbeitsfeldern hergibt, kann zum Gegenstand sozialarbeiterischer/ sozialpädagogi- scher Intervention werden (Galuske: 37). 2. Sozialarbeiter haben kein Monopol auf ihre Tätigkeitsfelder. Was ist ihr Proprium, wodurch sie allein für die Fallbearbeitung zuständig sind (Galuske: 39)? 3. Sie haben Schwierigkeiten, besondere Kompetenzansprüche zu be- haupten und verständlich zu machen bei Problemen des täglichen Le- bens, die nach Laienauffassung eigentlich keiner spezifischen Fähig- keit oder eines Experten bedürfen (Galuske: a.a.O.) 4. Als personenbezogene Dienstleistung braucht die Soziale Arbeit die Klienten. Der Erfolg ist nur im Arbeitsbündnis mit dem Klienten zu erzielen. Dabei ist ein wichtiges Ziel: die Autonomie der Lebenspra- xis der Klienten zu respektieren, obwohl diese Autonomie häufig be- schädigt ist (Galuske: 47). 5. Soziale Arbeit bewegt sich meist innerhalb politischer und/oder büro- kratischer Strukturen (die das Jugendamt, das Sozialamt, den Freien Träger, überhaupt das Gemeinwesen kennzeichnen) und damit in einem ausdifferenzierten Rechtsrahmen. Professionelle Hilfe kann meist nur unter Ausschöpfung sozialrechtlicher Ansprüche geleistet werden und fast immer nur, wenn die Hilfe durch Bund, Land oder Gemeinde finanziert wird (Galuske: a.a.O.). Trotz dieser Diffusität des Gegenstandes der jeweiligen Intervention (s.o. 1-3) und der Rahmenbedingungen für die Soziale Arbeit lässt sich doch als Grundkonsens festhalten, dass ihre zentrale Aufgabe die professionelle Bearbeitung sozialer Problemlagen ist (Lüssi: 79). Daneben nimmt auch die präventive Soziale Arbeit einen immer breiteren Raum ein. So ist beispielsweise die Armutsprävention ein entscheidender Schritt zur Befähigung und zur Verbesserung der Teilhabechancen (Rogg: 24, Neher: 11). Soziale Arbeit als politischer Impulsgeber hilft aber auch, im Sozialstaat die Befähigungsgerechtigkeit zu verwirklichen und Partizi- pation zu ermöglichen. Für die Soziale Arbeit ist also der Umgang mit sozialen Problemen zentral, die fast immer von komplexer Natur sind. Eine „Lösung“ ist typischerwei- se „imperfekt“, also „unvollständig“, „unvollkommen“, „unabgeschlos- 6
Vorwort sen“ (Lüssi: 135). Immer bleibt, wie überhaupt bei komplexen Problemen, „etwas übrig“, sie sind nach der Beschäftigung mit ihnen nicht einfach „verschwunden“. Wir sprechen deshalb besser nicht von der Lösung sozia- ler Probleme, sondern von ihrer Bearbeitung (s.o.). Alexander der Große tat sich da leichter: Er war auf seinem Marsch nach Asien an Phrygien interessiert, dem Tor Asiens. Aber es war ein Problem zu lösen, an dem schon die führenden In- tellektuellen seiner Zeit gescheitert waren: Am Streitwagen des Königs Gordios war ein Knoten angebracht; wer ihn lösen konnte, dem gehörte Phrygien und dann die Welt. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Alexan- der durchschlug den Knoten mit dem Schwert und seither ist der „gordi- sche Knoten“ oder was Alexander mit ihm machte, der Urbegriff für eine abgekürzte Lösung eines sonst schier unüberwindlichen Problems. Die Bearbeitung komplexer Probleme in der Sozialen Arbeit dauert in der Regel etwas länger, sie ist nicht einfach und in den meisten Fällen auch nicht endgültig. Schon in der Problemformulierung erahnt man dessen Dimension und die Intensität der erforderlichen Bearbeitungsüberlegun- gen. Methodenkompetenz ist deshalb die Fähigkeit, die dem jeweiligen Pro- blem angemessene Methode einzusetzen. Dabei meint Methode nicht nur die Beantwortung der Frage welche Hand- lungsschritte wie sinnvoll erfolgen können, sondern auch was erreicht werden soll und warum. Das heißt, zur Methode gehört auch die Sorge um die Interventionsziele (Galuske: 26,27). Der Methodenbegriff hat sich erweitert. Zu den drei „Klassikern“: Soziale Einzelfallhilfe, soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit kamen in- zwischen vielfältige Handlungskonzepte und Methoden hinzu, die sich zum großen Teil aus der Fachpraxis der Sozialen Arbeit heraus entwickelt haben. Es gibt zahlreiche Versuche ihrer Systematisierung – eine sehr überzeugende bietet Galuske (2009) an, der zwischen direkten und indi- rekten Methoden unterscheidet und damit auch einen Bezugsrahmen für professionsbezogene Ansätze und Methoden schafft, die nicht unmittelbar auf die Adressaten Sozialer Arbeit zielen, sondern auf deren Rahmenbe- dingungen gerichtet sind (Sozialmanagement, Soziale Planung) oder das eigene Handeln reflektieren und bewerten (Supervision, Evaluation). 7
Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit in verschiedenen Arbeitsfeldern Wir können also inzwischen von einer Methodenvielfalt (Schmidt- Grunert: 50) in der Sozialen Arbeit insgesamt sprechen, während für die einzelnen Arbeitsfelder die unterschiedlichen Handlungskonzepte und Me- thoden jeweils mehr oder weniger relevant sind. Für Studierende ist aber eine konkrete und auf die Fachpraxis bezogene Auseinandersetzung mit dieser Methodenvielfalt notwendig, die eine Methodenintegration erfor- dert. Diese muss im Studium vermittelt und sichergestellt werden. Dieses und die nachfolgenden Bücher bleiben deshalb bei der begriffli- chen – lediglich beschreibenden – Erweiterung der Handlungskonzepte und Methoden nicht stehen. Sie gehen ganz praktisch von konkreten Arbeitsfeldern aus. Die Auseinandersetzung mit Handlungskonzepten und Methoden erfolgt also jeweils bezogen auf ein Praxisfeld der Sozialen Arbeit. Dabei werden Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede deutlich; es geht also um exemplarisches Lernen unter Bezugnahme auf die Voraus- setzungen und Bedingungen in spezifischen Arbeitsfeldern. Den Anfang machen die Soziale Arbeit in gerontologischen Arbeitsfeldern und im Ge- sundheitswesen sowie Soziale Arbeit mit Kindern in prekären Lebensla- gen. Beides sind Praxisfelder, die eher nicht im Mainstream der Sozialen Arbeit stehen, aber auf aktuelle gesellschaftliche Veränderungen und Pro- blemlagen zielen. Der demografische Wandel und die damit verbundenen Herausforderungen für den Einzelnen und die Gesellschaft bilden den Re- ferenzrahmen für das erste Arbeitsfeld, das zunehmend relevante Thema Kinderarmut ist der Bezugspunkt für das zweite Arbeitsfeld, das jeweils fallbezogen vorgestellt wird. Dabei liegt der Akzent auf dem didaktischen Bemühen. Der Hauptunter- schied zur späteren beruflichen Tätigkeit liegt freilich darin, dass die „Fallbeschreibungen“ unter didaktischen Gesichtspunkten ausgewählt sind und damit feststehen, während im Zuge des künftigen professionellen Handelns der relevante Sachverhalt samt Fragestellung erst erarbeitet wer- den muss. Das bedeutet, jede Fallbeschreibung im Studium bildet nur mo- dellhaft das Prozesshafte der beruflichen Wirklichkeit ab. Sie ist häufig nur eine Momentaufnahme. Das ist freilich das Schicksal aller vorgegebe- nen Fallkonstellationen (auch der rechtlichen). Das wertet sie keineswegs ab. Sie sind didaktisch unverzichtbar. Professionelles Handeln verlangt Entscheidungen – häufig innerhalb einer bürokratischen Institution (Jugendamt/Sozialamt) und gilt vor allem für 8
Vorwort institutionalisierte Probleme in den Arbeitsfeldern, in denen es bereits vorgebahnte Lösungswege gibt. In diesem und den nachfolgenden Büchern werden also nicht allgemein Methoden und Konzepte vorgestellt und/oder beliebige Probleme in Fall- beschreibungen eingebettet. Sondern handlungsfeldorientiert werden theo- riebegründete Handlungskonzepte wie auch Methoden der Sozialen Arbeit aufgenommen, zu denen als spezifische Handlungskompetenzen auch Skills („Fertigkeiten“, bestimmte Problemlösungstechniken, Muster) gehö- ren, die für die Soziale Arbeit insgesamt konstitutiv sind. Es kommt entscheidend auf eine Strategie in der Bearbeitung an, auch unter dem Aspekt der interdisziplinären Fallbearbeitung. Diese ist in der Praxis der Sozialen Arbeit zwar noch nicht hinreichend verankert, es gibt aber vielversprechende Ansätze, beispielsweise im Case Management. Wichtig ist es uns aufzuzeigen, dass trotz der unterschiedlichen Fragestel- lungen und Bedingungen in den jeweiligen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit, doch ein Transfer, eine möglichst verallgemeinerungsfähige Be- arbeitungsstrategie sichtbar wird, die wir mit dem Anspruch des exempla- rischen Lernens verbinden. Freiburg im April 2011 Sigmund Gastiger Cornelia Kricheldorff 9
Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit in verschiedenen Arbeitsfeldern Literatur (Vorwort): Michael Galuske (2009): Methoden der Sozialen Arbeit: Eine Einführung. Weinheim: Juventa Peter Gomez/ Gilbert Probst (1999): Die Praxis des ganzheitlichen Pro- blemlösens: Vernetzt denken – unternehmerisch handeln – persönlich überzeugen. 3. Auflage. Bern: Haupt Wilhelm Klüsche I (1999): Ein Stück weitergedacht ... Beiträge zur Theo- rie und Wissenschaftsentwicklung der Sozialen Arbeit. Freiburg i.Br.: Lambertus Wilhelm Klüsche II (2007): Analyse von Modulhandbüchern in Bachelorstudiengängen der Sozialen Arbeit. In: Studium des Sozialen, hg. von Peter Buttner, Berlin 2007, S. 221 -309 Peter Lüssi (2008): Systemische Sozialarbeit. Praktisches Lehrbuch der Sozialberatung. 6. Auflage. Bern: Haupt Peter Neher (2010): Der Einsatz für Menschen am Rande – ethische Orientierungen. In: Halbhuber-Gassner, Lydia/ Nickolai, Werner/ Wich- mann Cornelius (Hg.): Achten statt ächten in Straffälligenhilfe und Kriminalpolitik. Freiburg i.Br. 2010, S.11-17 Gertrud Rogg (2007): Alle Kinder befähigen, das Buch zur Initiative. Freiburg i.Br.: Lambertus Marianne Schmidt-Grunert (1997): Soziale Arbeit mit Gruppen, eine Einführung. Freiburg i.Br. :Lambertus Nikolaus Sidler I (1989): Am Rande leben – abweichen – arm sein. Konzepte und Theorien zu sozialen Problemen. Freiburg i.Br.: Lambertus Nikolaus Sidler II (1999): Problemsoziologie. Eine Einführung. Freiburg i. Br.: Lambertus Hans Ulrich/Ulrich Probst (1995): Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln, ein Brevier für Führungskräfte. 4. Auflage. Bern: Haupt 10
Handlungsfeld Soziale Gerontologie Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen und ihren Angehörigen Die Soziale Gerontologie begreift sich als wissenschaftlich fundierte und gleichzeitig anwendungsorientierte Teildisziplin der Gerontologie, die vor allem Fragen der sozialen Bezie- hungen im Alter, die gesellschaftliche Teilhabe älterer und al- Handlungsfeld ter Menschen sowie die Sicherung ihrer Bedürfnisse in den Blick nimmt. Selbstbestimmung und Autonomie sind dabei wichtige Wertorientierungen. Die Ausweitung der Lebens- Soziale Arbeit phase Alter, vom so genannten jungen Alter, mit dem die Pha- in gerontologischen se der notwendigen Neuorientierung nachArbeitsfeldern Beruf und Familie beschrieben wird, bis hin zum sehr hohen Alter, das geprägt und im Gesundheitswesen ist von einem zunehmenden Hilfe- und Unterstützungsbedarf, führt zu einer zunehmenden Differenzierung in der Sozialen Altenarbeit. Insgesamt kann konstatiert werden, dass die So- ziale Arbeit mit älteren und alten Menschen und ihren Ange- hörigen, ein Handlungsfeld der Cornelia Kricheldorff Sozialen Arbeit ist, das sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat, vielfältiger wurde und ein deutlich breiteres Profil entwickeln konnte. Dabei hat ein mehrfacher Paradigmenwechsel stattgefunden, vom be- treuten Alter, über das aktive Alter, bis zum gestalteten
Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen und ihren Angehörigen Cornelia Kricheldorff 1 Einleitung Die Soziale Gerontologie begreift sich als wissenschaftlich fundierte und gleichzeitig anwendungsorientierte Teildisziplin der Gerontologie, die vor allem Fragen der sozialen Beziehungen im Alter, die gesellschaftliche Teilhabe älterer und alter Menschen sowie die Sicherung ihrer Bedürfnisse in den Blick nimmt. Selbstbestimmung und Autonomie sind dabei wichti- ge Wertorientierungen und es geht zentral um die Frage von Lebensquali- tät und -zufriedenheit (Rupprecht 2006), unter den jeweils gegebenen Vo- raussetzungen und Bedingungen des individuellen Alterns, im Sinne einer differenziellen Gerontologie. 2 Soziale Gerontologie und die Praxis der Sozialen Altenarbeit Die Bedeutung der Sozialen Gerontologie für die Praxis der sozialen Al- tenarbeit entwickelt sich vor dem Hintergrund des demografischen Wan- dels: Die Anzahl der Älteren nimmt deutlich zu, die der Jüngeren rapide ab, was zu deutlichen Verschiebungen in der Gesellschaft führt (Statisti- sches Bundesamt 2008: 42). Nach der 11. koordinierten Bevölkerungsvo- rausberechnung des Statistischen Bundesamtes (2006) sollen es im Jahr 2050 doppelt so viele ältere wie jüngere Menschen sein. Es ist zu erwar- ten, dass die Zahl der über 65-Jährigen bis zum Ende der 2030er Jahre et- wa um die Hälfte von aktuell knapp 16 Mio. auf circa 24 Mio. steigt, da- nach wird sie leicht zurückgehen. Die Bevölkerung ab 80 Jahren nimmt dagegen unablässig zu: von 3,7 Mio. im Jahr 2005 auf 10 Mio. im Jahr 12
Soziale Arbeit in gerontologischen Arbeitsfeldern und im Gesundheitswesen 2050 (Statistisches Bundesamt 2006: 5f.). Damit wird die Zahl der 80- jährigen und älteren Menschen beinahe dreimal so hoch sein wie heute. „Mit dieser sehr starken Zunahme der ab 80-Jährigen wird voraussicht- lich auch die Zahl der Pflegebedürftigen zunehmen“ (ebd.: 23). Denn, auch wenn das allgemeine Lebensrisiko von Pflegebedürftigkeit im Alter sich nicht grundsätzlich erhöht hat, so hat der demografische Wandel doch mit seiner wachsenden Zahl an hochaltrigen Menschen in den Jahren 1991 bis 2002 zu einem relativen Anstieg der Pflegebedürftigen um etwa 29 Prozent geführt (Schneekloth/ Wahl 2005: 227). Generationenbeziehungen müssen vor dem Hintergrund dieses umfassen- den gesellschaftlichen Wandels also neu gedacht werden, sie brauchen neue Formen und Bedingungen. (Beck-Gernsheim 1993 und 2002; Bert- ram 2000). Wenn Generationensolidarität auch für die Zukunft sicherge- stellt werden soll – und ohne ein Miteinander von Jung und Alt gibt es keine funktionierende Gesellschaft – muss das Unterstützungspotenzial in den Familien, aber verstärkt auch in Nachbarschaften und Wohnquartieren gezielt gefördert werden (Kricheldorff 2008: 237ff.). Die Ausweitung der Lebensphase Alter, vom so genannten jungen Alter, mit dem die Phase der notwendigen Neuorientierung nach Beruf und Fa- milie beschrieben wird, bis hin zum sehr hohen Alter, das geprägt ist von einem zunehmenden Hilfe- und Unterstützungsbedarf, führt zu einer zu- nehmenden Differenzierung in der Sozialen Altenarbeit. Insgesamt kann konstatiert werden, dass die Soziale Arbeit mit älteren und alten Menschen und ihren Angehörigen ein Handlungsfeld der Sozialen Arbeit ist, das sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat, vielfältiger wurde und ein deutlich breiteres Profil entwickeln konnte. Es hat ein mehrfacher Paradigmenwechsel stattgefunden, vom betreuten Alter, über das aktive Alter, bis zum gestalteten Alter, was heute die domi- nierende fachliche Orientierung darstellt. Dabei geht es um Fragen der Sinnfindung im Alter und die Vorstellung von einem Biografisierten Al- tern (Schweppe 2002: 331), bei dem es um Lebensgestaltung im Sinne von Reflexion und eines begreifbaren Kontinuums im Leben geht. Dabei wird der alternde Mensch, vor dem Hintergrund seiner unter biografischen Be- 13
Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit in verschiedenen Arbeitsfeldern dingungen erworbenen Ressourcen und Kompetenzen, als Gestalter seiner Umwelt gesehen (vgl. auch Staudinger 2003). Altern kann damit zur He- rausforderung und zur neuen Chance werden. Dieses aktuell dominierende Verständnis von Sozialer Altenarbeit entspricht dem der Sozialen Arbeit insgesamt, mit einer starken Ausrichtung auf Lebenswelten (Thiersch 2005) und Ressourcenorientierung im Sinne von Empowerment (vgl. Her- riger 2006). Dies gilt zumindest für die frühen Jahre der inzwischen stark ausgeweiteten Altersphase, die oft länger ist als Kindheit und Jugend zu- sammen. Vor dem Hintergrund des beschriebenen Paradigmenwechsels entstanden und entstehen für die Soziale Altenarbeit neue Aufgaben und Handlungs- felder, beispielsweise im Bereich der Engagementförderung und Bürgerbe- teiligung, bei der Entwicklung neuer Wohnformen und der Gestaltung för- derlicher Lebenswelten (BMFSFJ 2007; Kremer-Preiß & Stolarz 2003), die die Begegnung und Kommunikation zwischen den Generationen mög- lich machen (Maier/ Sommerfeld 2005). Praktische Beispiele dafür sind Stellen im Quartiermanagement, Moderation und Mediation in der Pro- zessbegleitung für gemeinschaftliche und generationsübergreifende Wohn- formen, Koordinations- und Vernetzungsaufgaben in Seniorenbüros, Frei- willigenzentralen, Tauschbörsen und in Mehr-Generationen-Häusern (Kri- cheldorff 2010a). Neben diesen eher neuen Tätigkeitsbereichen und -profilen entstehen aber auch vielfältige Beratungsanliegen für die Fragen und Probleme, die das neue Altern mit sich bringt, die weit über das eigentliche Feld der Sozialen Altenarbeit hinausreichen. Modernisierung, Pluralisierung und Individua- lisierung verändern Lebenslagen im Alter, traditionelle Familienmuster und -bezüge werden auch im Alter brüchiger. So sind beispielsweise ange- sichts steigender Scheidungszahlen auch ältere Paare vermehrt eine Ziel- gruppe für die Ehe- und Familienberatung (vgl. Beck-Gernsheim 1993: 160). Sie sind eine zunehmende Größe in der Suchtberatung (vgl. Have- mann-Reinecke et al. 1998) und in anderen „klassischen“ Feldern Sozialer Arbeit, die so zunehmend mit Fragen des Alterns befasst sind. 14
Soziale Arbeit in gerontologischen Arbeitsfeldern und im Gesundheitswesen 3 Fallbeispiel Beschreibung der Ausgangssituation Frau Bauer, heute 65 Jahre alt, ist vor 3 Jahren vorzeitig aus dem Schul- dienst ausgeschieden, nachdem sie insgesamt mehr als 1 Jahr vorher krankgeschrieben und anschließend zu einer Anschlussheilbehandlung in einer Rehabilitationsklinik war. Bis auf eine 6-jährige Unterbrechung, nach der Geburt ihrer beiden Kinder, hat Frau Bauer seit dem Abschluss ihres Studiums an der Pädagogischen Hochschule immer als Lehrerin ge- arbeitet. Der Beruf war ihr sehr wichtig – besonders der regelmäßige und intensive Kontakt zu Kindern und Jugendlichen hatte für sie immer einen hohen Stellenwert. Deshalb hat sie auch, als ihre eigene Familie und die flügge werdenden Kinder sie nicht mehr so dringend wie vorher brauch- ten, zusätzliche Aufgaben an der Schule übernommen. Zum Beispiel baute sie eine jahrgangsübergreifende Theater-AG auf, die bei Schülern und El- tern sehr beliebt war. Einmal im Jahr entwickelte sie, gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen, ein eigenes Stück, das dann im Rahmen des Schulfestes, aber auch öffentlich aufgeführt wurde. Frau Bauer war dabei als Regisseurin und Theaterpädagogin tätig, aber auch für die Beschaf- fung der Kostüme und Requisiten zuständig. Ein Stück weit konnte sie so ihren alten Jugendtraum verwirklichen, denn sie hatte eigentlich immer Schauspielerin werden wollen. Dass sie dann aber doch den Beruf der Lehrerin ergriffen hatte, lag einerseits an ihren Eltern, die mit der Schau- spielerei nicht einverstanden waren, andererseits erschien ihr letztlich aber auch selbst der mit dem Lehramt verbundene Beamtenstatus sehr si- cher und attraktiv. In den letzten Berufsjahren hatte sich die Situation an der Schule sehr ver- ändert. Das Kollegium war nach dem Ausscheiden einiger älterer Kolle- ginnen und Kollegen stark verjüngt - auch der alte Rektor, der ihre Arbeit immer sehr anerkannt hatte, ging in Pension. Frau Bauer fühlte sich im- mer weniger wertgeschätzt. Mit den Schülern, die sie als immer schwieri- ger werdend empfand, war sie zunehmend überfordert. Sie fühlte sich häu- fig ausgelaugt und erschöpft, die Theater-AG führte sie schließlich nicht 15
Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit in verschiedenen Arbeitsfeldern weiter. Morgens musste sie sich oft zum Aufstehen zwingen. Am liebsten hätte sie sich verkrochen und ihr wurde immer schneller alles zu viel – eindeutige Zeichen eines Burn-out-Syndroms. Hinzu kamen oft starke Kopf- und Rückenschmerzen, schließlich ein Bandscheibenvorfall, der die lange Krankheitszeit nach sich zog. Frau Bauer war mehr als 31 Jahre verheiratet. Ihr Mann, der sich in der Pharmaindustrie mit viel Ehrgeiz eine sehr gut bezahlte Position erarbei- tet hatte, starb vor 5 Jahren überraschend an einem Herzinfarkt. Erst kurz vorher hatte er sein Berufsleben beendet und bezog gerade mal 8 Monate seine Rente. Seitdem lebt Frau Bauer alleine in ihrer geräumigen Eigen- tumswohnung in einem sehr bürgerlichen Stadtteil in Freiburg. Der Sohn hat BWL studiert und seit einigen Jahren eine attraktive Stelle in Südame- rika. Er besucht die Mutter ein- bis zweimal jährlich. Ansonsten sind sie per Mail und Skype in Verbindung. Die Tochter lebt mit ihrer Familie, dem Ehemann und den beiden 8 und 10 Jahre alten Enkeln in Nord- deutschland. Sie ist als Erzieherin halbtags tätig und mit Beruf und Fami- lie zeitlich sehr stark eingebunden. Der Kontakt zur Mutter war immer sehr eng, aber auch sie schafft es nicht häufiger als ihr Bruder, zur Mutter nach Freiburg zu kommen. Vor allem die Tatsache, dass die Enkel so weit entfernt von ihr aufwachsen, schmerzt Frau Bauer sehr. Materiell ist sie gut abgesichert. Die Eigentumswohnung ist schuldenfrei und sie erhält, neben einer Witwenrente, inzwischen auch ihre eigene Pension. Frau Bauer könnte sich also das Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten und genießen. Tatsächlich fühlt sie sich aber häufig sehr allein und sie sieht in ihrem Le- ben keinen wirklichen Sinn mehr. Nur wenn die Kinder und Enkel zu Be- such kommen, blüht sie auf. Ansonsten zieht sie sich sehr stark zurück und hat wenig soziale Kontakte. 16
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