Soziale Spaltung und Corona-Kapitalismus - ScienceOpen
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Sozial Extra https://doi.org/10.1007/s12054-020-00343-x © Der/die Autor(en) 2020 Extrablick: (Kinder-)Armut Soziale Spaltung und Corona-Kapitalismus Kontexte für Kinderrechte und (Kinder‑)Armut Wer über soziale Spaltung spricht, darf sich nicht nur mit Armut und sozialer Benachteiligung beschäftigen. Erst recht in sehr reichen Gesellschaften wie Deutschland muss auch über den riesigen gesellschaftlichen Wohlstand gesprochen werden, der zwar von allen erwirtschaftet, aber nur von ganz wenigen angeeignet und bestimmt wird. Aus dieser Analyse heraus lässt sich erkennen, wie diese Gesellschaft in den Corona- Crash hineingegangen ist und wie sie dort wieder herausausgeht. D ass Corona und die Maßnahmen dagegen nicht weit während der Pandemie etwa 400 Millionen Jobs auf alle Alters- und Sozialgruppen gleich wirk(t) verloren gegangen (…) und bis zu einer halben Mil- en, scheint inzwischen eine Binsenweisheit (vgl. liarde Menschen (könnten) in die Armut rutschen“ Bertelsmann Stiftung 2020). Gerade für Kinder und vor (Frankfurter Rundschau 2020c, S. 14). Doch zugleich, allem für Minderjährige in Armut bedeuteten Corona so das Entwicklungshilfswerk, „verdienten 32 der pro- und der Lockdown enorme Einschränkungen ihrer zi- fitabelsten Unternehmen der Welt im Gesamtjahr 2020 vilen, sozialen und kulturellen Rechte auf Schutz, För- trotz der Corona-Krise Schätzungen zufolge insgesamt derung und Beteiligung – besonders in den Bereichen 109 Milliarden US-Dollar mehr als 2019.“ (Oxfam Kindeswohl, Gesundheit, Bildung (vgl. Spieß 2020; Uni- 2020, S. 3 f.) Daher erstaunt es gar nicht mehr, dass ted Nations 2020; UNICEF/Save the Children 2020; der weltweite „Club der Millionäre“ wächst, die Rei- UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder 2020; Kin- chen weltweit hinzugewinnen (Frankfurter Rundschau derkommission des Deutschen Bundestages 2020). v. 09.07.2020; siehe Frankfurter Rundschau 2020c) Entsprechend untersucht der Beitrag zunächst die so- und auch in Deutschland das oberste Prozent alleine zioökonomischen Bedingungen der sozialen Spaltungs- ein Drittel und das oberste Zehntel insgesamt zwei Drit- prozesse im Corona-Crash, um daraufhin Implikatio- tel aller Vermögen sein Eigentum nennen darf, ohne da- nen für Kinderechte und Kinder in Armut zu betrachten. für nennenswerte Erbschafts- oder gar Vermögensteu- ern abführen zu müssen (vgl. Schröder u.a. 2020, in: Erscheinungsformen sozialer Spaltung in der DIW-Wochenbericht 29/2020, S. 511 f.). Wenn schon Corona-Krise die Armut wächst, scheint es fast banal zu wissen, dass Laut der globalisierungskritischen Nichtregierungs- der Reichtum auch ansteigt. Allen, die über mangelnde Organisation Oxfam vom September 2020 seien „welt- öffentliche Ausgaben und leere Kassen sowie sinkende Einkommen jammern, sei deshalb gesagt: An fehlendem Michael Klundt Reichtum in unseren extrem reichen Gesellschaften liegt Hochschule Magdeburg-Stendal, Magdeburg, Deutschland es auf jeden Fall nicht, dass wir mit steigender (öffent- *1973, Dr. Päd., Politikwissenschaftler, Prof. für Kinderpolitik im licher) Armut zu rechnen haben. Studiengang Angewandte Kindheitswissenschaften und Leitung des Master-Studiengangs „Kindheitswissenschaften und Kinder- Während in Deutschland im September 2020 immer rechte“ am Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal. noch über sechs Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit michael.klundt@h2.de sind (vgl. Frankfurter Rundschau 2020b) und damit enorme Einkommenseinbußen zu erwarten haben, wa- ren einige Krisen-Profiteure bereits zu Beginn des Coro- Zusammenfassung Der Beitrag untersucht zunächst die na-Crashs in bester Laune. Denn nicht alle leiden unter sozioökonomischen Bedingungen der sozialen Spaltungsprozesse im Corona-Crash, um daraufhin Implikationen für Kinderechte den Corona-bedingten Wirtschaftsabstürzen. Finanz- und (Kinder-)Armut in einem reichen Land zu betrachten. spekulanten wie der Fonds-Manager Hendrik Leber können dem Börsencrash viel abgewinnen. Auf die Fra- Schlüsselwörter Soziale Spaltung, Kinderrechte, Armut, Covid-19, Pauperisierung ge von Focus Online, ob man sich als sog. Value-Inves- tor über einen Börsencrash freue, antwortete der sog.
Sozial Extra Extrablick: (Kinder-)Armut Finanzprofi: „Ja, ich habe meinem Team gesagt, lasst und Google bis Amazon haben sich bislang durch sog. uns auf die Jagd gehen. Denn uns kommen reihenweise kreative Steuergestaltung der öffentlichen Finanzie- tolle Gelegenheiten entgegen, Aktien, die bisher immer rung auskömmlicher Sozialsysteme und ausreichen- zu teuer waren. Ich bin in einer richtig positiven Stim- der Gesundheitsversorgung entzogen. Und umgekehrt mung!“ (Focus 2020). wurden oft die Stärksten von den Wirtschaftshilfen der Der Paritätische Gesamtverband empörte sich der- Staaten am meisten bedient, sodass selbst eingefleischte weil über das angebliche Versagen des Marktes und Unternehmer ins Grübeln kamen: „Bei den gegenwär- bemerkte nicht, dass er mit seiner Kritik das Grund- tigen Diskussionen um Rettungsmaßnahmen und die prinzip kapitalistischer Märkte offenbart hat. „Wenn Übernahme von Lasten der Krise könnte ich glatt zum eine Atemschutzmaske Mitte Februar noch nicht ein- Sozialisten werden“, klagte der Chef der Hotelgruppe mal 50 Cent und sechs Wochen später 13 € koste, sei „Motel One“, Dieter Müller, in der Frankfurter Allge- dies ein Lehrbuchbeispiel für Marktversagen“, so der meinen Zeitung v. 29.04.2020 über die „Rettungsmaß- Paritätische Gesamtverband in einer Pressemitteilung nahmen“ der Bundesregierung etwa für Banken (vgl. vom 30. März 2020 (siehe Paritätischer Gesamtver- Köhn 2020). Große Konzerne, wie VW, Daimler, BMW, band 2020). Es ist aber eher ein Lehrbuchbeispiel für TUI usw. schütteten weiterhin Milliarden Dividenden die Gesetze des Kapitalismus. Das ist kein Versagen des an ihre Kapitaleigner aus, während sie hunderttausende Marktes – so funktioniert er. So funktioniert Kapitalis- ihrer Beschäftigten in Kurzarbeit schickten, sodass diese mus, der gerade in Krisenzeiten sein absolut zynisches nicht nur gravierende Gehaltseinbußen hatten, sondern Wesen offenbart. Wem das nicht gefällt, der und die die Steuer- bzw. Beitragszahlenden einen Teil der Ge- muss sich für eine gemeinwohlorientierte Wirtschafts- hälter und der Dividenden finanzieren durften. Selbst in weise mit vorrangigem Gemeineigentum einsetzen, wel- den schlimmsten Krisenphasen und zu den schlimmsten che profitorientierten Kapitalismus hinter sich lässt. Wie Krisenzeiten im Frühjahr 2020 wurde die Rüstungspro- es Gabriele Winker formuliert, ist „der Zweck einer ka- duktion mit allen Begleiterscheinungen aufrechterhal- pitalistischen Ökonomie (…) die Verwertung des einge- ten (was zumindest einige Priester in Italien zum Anlass setzten Kapitals. Dafür muss Arbeitskraft in hinreichen- nahmen, dies zu kritisieren; vgl. Vaticannews.va 2020). der Quantität und Qualität zur Verfügung stehen. Dies All dies kann als Nachweis für die These gewertet wer- wird in einer kapitalistischen Gesellschaft primär unent- den, dass die Corona-Krise und ihre Bewältigung nicht lohnt durch die Sorgearbeit in Familien gewährleistet. für alle gleich wirkten, ja, dass sie die Umverteilung von Hier wird die zukünftige Generation der Erwerbstäti- unten nach oben sogar noch verstärkt haben. gen geboren, erzogen und betreut, und hier wird auch die Arbeitskraft der derzeitigen Erwerbstätigen wieder- Ursachen und strukturelle Grundlagen hergestellt. Seit im neoliberalen Kapitalismus alle er- Wie der Kölner Politikwissenschaftler Christoph But- werbsfähigen Personen durch Erwerbsarbeit eigenstän- terwegge richtig schreibt, hat sich die wirtschaftliche, dig für ihren Lebensunterhalt aufkommen müssen, fehlt soziale und politische Ungleichheit (in Deutschland) jedoch für diese familiäre Sorgearbeit die Zeit. Dieses dergestalt entwickelt, dass der viel bemühte „soziale Problem wird noch verstärkt durch eine staatliche Aus- Zusammenhalt“ schwindet und daher mit guten Grün- teritätspolitik, die an der sozialen Infrastruktur spart, den buchstäblich von einer „zerrissenen Republik“ ge- mit der Konsequenz, dass es in der öffentlichen Daseins- sprochen werden kann. „Armut und Reichtum sind im vorsorge fast überall an Personal und Ressourcen fehlt. Kapitalismus der Gegenwart strukturell so miteinander Besonders sichtbar wird dies in Zeiten von Corona in verzahnt, dass beide tendenziell zunehmen. Die zum Teil den Krankenhäusern und Pflegeheimen am Mangel an skandalös niedrigen (Dumping‑)Löhne für Millionen Pflegekräften oder Schutzausrüstung“ (Winker 2020). prekär Beschäftigte bedeuten nämlich hohe Gewinne, Und es ließe sich noch hinzufügen, dass die (Bewälti- Dividenden und Renditen für Unternehmer, Kapitalan- gung der) Corona-Krise die Privatisierung der Risiken leger und Börsianer“ (Butterwegge 2020, S. 110). Wäh- und die Re-Traditionalisierung der Familien- und Ge- rend also aus der sozialen Spaltung heraus im globalen schlechterverhältnisse noch verstärkt (hat) – und das Maßstab ökonomische Krisen, Kriege und Bürgerkrie- nicht nur in Deutschland (vgl. Charrel 2020; Neuhaus ge resultieren, die wiederum größere Migrationsbewe- 2020). gungen nach sich ziehen, sind in Deutschland der sozi- Schnell wurde während der einsetzenden Wirtschafts- ale Zusammenhalt und die repräsentative Demokratie krise klar, dass die Folgen des Crashs vor allem von den bedroht. Lohnabhängigen zu tragen sein werden. Gerade die di- Darauf allerdings, dass die Umverteilung von oben gitalen Gewinner der Krise von Apple über Microsoft nach unten eine Schlüsselfrage der Entwicklung moder-
ner Gesellschaften darstellt, hatte schon der 2012 ver- schnitt weniger gesund sind als diese. Zweifellos haben storbene britische Sozial- und Universalhistoriker Eric auch die Reichen ihre Probleme, doch ihr relativer Vor- Hobsbawm am Ende des 20. Jahrhunderts hingewiesen. teil im Hinblick auf die Lebenserwartung steht außer Auch unter Berücksichtigung ökologischer Zusammen- Zweifel“ (ebd., S. 208 f.). hänge prognostizierte er 1995, dass die Politik des neu- In diese Richtung hat sich der globale Kapitalismus en Jahrtausends vielmehr durch soziale Umverteilung weiterentwickelt und es scheint nichts und nieman- als durch ökonomisches Wachstum bestimmt sein wer- den zu geben, der oder die ihn aufzuhalten in der Lage de. Dabei war er damals schon nicht so naiv wie man- sind. Viele Theorien zeitgenössischer Soziolog_innen che öko-kapitalistische Forderung nach der Macht der abstrahieren indessen laut Butterwegge von sozioöko- Märkte für mehr Nachhaltigkeit, wie sie etwa in einem nomischen Produktions‑, Eigentums- und Klassenver- Interview mit den Vorsitzenden der Grünen Habeck hältnissen als zentralem Strukturmoment bürgerlich- und Baerbock formuliert werden (vgl. FAZ.net 2019). kapitalistischer Gesellschaften. Stattdessen vereng(t)en Stattdessen vermutete Hobsbawm (1995, S. 711): „Die sie sich immer wieder stark auf die Konsumtionssphä- marktunabhängige Zuteilung von Ressourcen, oder re und deren sensationelle Angebotsfülle (Butterweg- zumindest eine scharfe Beschränkung der marktwirt- ge 2020, S. 117 f.). Auch die veröffentlichte Meinung schaftlichen Verteilung, wird unumgänglich sein, um der habe sich hierzulande zu keinem Zeitpunkt ernsthaft drohenden ökologischen Krise die Spitze zu nehmen“. mit dem Problem der sozioökonomischen Ungleichheit Man könne mit Sicherheit davon ausgehen, dass es mit auseinandergesetzt und praktisch nie reale Möglichkei- wachsendem Wohlstand auf der Erde auch auf politi- ten zu seiner Lösung eruiert. „In den maßgeblichen, das scher und rechtlicher Ebene eine wachsende Ungleich- Alltagsbewusstsein prägenden Medien wird der Reich- heit geben werde (Hobsbawm 2000, S. 163 f.). Damit tum (…) eher verschleiert und die Armut verharmlost. ist aber auch ein Aspekt von Macht- und Herrschafts- Dasselbe gilt für die etablierten Parteien und Politiker, interessen im Spannungsfeld von Armut und Reichtum deren ganzes Bestreben darauf gerichtet ist, die beste- angesprochen, welcher bei der Behandlung der Themen henden Verteilungsverhältnisse und ihre eigene Mit- oft ausgeblendet bleibt. verantwortung dafür zu rechtfertigen“ (ebd., S. 143). Die Aufteilung des Reichtums wird Hobsbawm zufolge Zustimmend referiert Butterwegge die Position des So- „auf dramatische Weise ungleicher“ (ebd., S. 113). Mit ziologen Jürgen Ritsert, wonach die meisten soziologi- „dramatisch“ meint er, „daß eine sehr kleine Zahl von schen Ansätze während der verschiedensten Phasen der Menschen, häufig einzelne Individuen, in einer Weise BRD-Geschichte das Ziel verfolgten, die Klassen durch reich werden, die mindestens seit der Zeit einer Feudal- Theorie zum Verschwinden zu bringen. Ob die aktuells- gesellschaft beispiellos ist (…)“ (ebd.). Hobsbawm hält ten Diskurse über soziale Ungleichheit national und in- das Ausmaß des Reichtums, der heutzutage einzelnen ternational (z. B. Thomas Piketty und Papst Franziskus) Personen zur Verfügung steht, für absolut unglaublich: auf den Beginn einer neuen Phase der Wahrnehmung „Global gesehen ist der Reichtum in der Hand von ei- sozialer Disparitäten hindeuten, lässt er offen (vgl. But- nem Prozent der Weltbevölkerung ungeheuer. In wel- terwegge 2020, S. 205). cher Weise wird sich dies auf die Politik auswirken? Das ist nicht klar. Wir haben Hinweise aus den Verei- Ungleiche Corona-Folgen nigten Staaten, wo Privatpersonen heute in der Lage Auch der Vorsitzende der Kinderkommission des Deut- sind, Wahlkampagnen für Präsidentschaftskandidaten schen Bundestages, Matthias Seestern-Pauly (FDP), zu führen oder mit ihren privaten finanziellen Mitteln musste in einem Interview mit der ZEIT vom 16. Juli wirksam zu beeinflussen. Heute sind die Reichen zu 2020 die Nicht-Beachtung der UN-Kinderrechtskon- Dingen in der Lage, die früher nur durch große kollek- vention während der Corona-Krise klar und deutlich tive Organisationen bewerkstelligt werden konnten. Ich rügen: „Die Belange der Kinder in der Corona-Krise bin nicht sicher, ob wir die tiefreichenden Implikationen sind nicht ausreichend wahrgenommen worden – darü- dieses Phänomens wirklich verstanden haben“ (ebd., ber sind wir uns in der Kommission einig. Darum ha- S. 114). In den Wohlstandsländern sei noch immer die ben wir in einer Erklärung angemahnt, dass die in der Tatsache augenfällig, „daß diejenigen, die mit einem UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte und die materiellen Vorsprung geboren werden, im Lauf ihres Bedürfnisse der Kinder auch in der Corona-Krise nicht Lebens beobachten können, daß dieser Vorsprung sich aus dem Blick geraten dürfen“ (Schoener 2020, S. 28). exponentiell um ein Mehrfaches vergrößert. In zahlrei- Es war nicht zu übersehen, dass die Entscheidungen chen Untersuchungen hat man nachgewiesen, daß die der Bundesregierung während der Pandemie das Kin- Ärmeren früher sterben als die Reichen und im Durch- deswohl nicht vorrangig berücksichtigt haben. Zentrale
Sozial Extra Extrablick: (Kinder-)Armut Schutzrechte blieben unbeachtet. Besonders davon be- ihre Familien weiter verschärfen. Es ist mit einem deutli- troffen waren und sind Kinder in Armut und in prekä- chen Anstieg der Armutszahlen zu rechnen. Aufwachsen ren Lebensbedingungen (so z. B. ca. drei Millionen Kin- in Armut begrenzt, beschämt und bestimmt das Leben der im Rechtskreis des Bildungs- und Teilhabepakets, von Kindern und Jugendlichen – heute und mit Blick denen von heute auf morgen das kostenlose Mittagessen auf ihre Zukunft. Das hat auch für die Gesellschaft er- in der Kita- oder Schul-Einrichtung ohne Kompensation hebliche negative Folgen“ (Bertelsmann-Stiftung 2020, gestrichen wurde). Elementare Schutz‑, Fürsorge- und S. 1). Die Vermeidung von Kinderarmut müsse gerade Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen sind jetzt politisch Priorität haben. Sie erfordere neue sozial- in der Corona-Krise in Deutschland verletzt worden (so und familienpolitische Konzepte, wozu Strukturen für wurden Kinder, Jugendliche, Schüler_innen-Vertretun- eine konsequente Beteiligung von Kindern und Jugend- gen, Jugendverbände und Kinderrechtsorganisationen lichen und eine Absicherung ihrer finanziellen Bedarfe überwiegend nicht gefragt oder auch nur in Kenntnis gehöre (durch ein sog. Teilhabegeld oder eine Grundsi- gesetzt darüber, was man mit ihnen und ihren schu- cherung; vgl. ebd.). lischen sowie außerschulischen Betreuungs‑, Bildungs- Derweil werden vor allem Menschen mit niedrigen und Betätigungseinrichtungen vorhatte). Außerdem Einkommen in Deutschland von der Corona-Pande- haben die Maßnahmen zur Verstärkung von Kinderar- mie belastet. So ist laut einer Studie der Hans-Böck- mut beigetragen (vgl. Houben 2020). Dagegen sollten ler-Stiftung die Zahl der Erwerbstätigen, die zwischen an Kinderperspektiven anknüpfende Alternativen und April und Juli 2020 Einkommenseinbußen hinnehmen Gegenstrategien Konzepte der Armutsbekämpfung, der mussten, von 20 auf 26 % gestiegen. Klagten jedoch bei Partizipation junger Menschen und der Förderung so- den Haushalten mit mehr als 3200 € Nettoeinkommen zialer Infrastruktur vereinen, die den gesellschaftspo- 22 % über Lohneinbußen, so waren es bei den Haus- litischen Kontext nicht aus den Augen verlieren (vgl. halten mit einem monatlichen Nettoeinkommen unter Klundt 2020, S. 15 f.). 1500 € immerhin 40 % und bei denen mit bis zu 2600 € Indessen sind die psychosozialen Folgen der Corona- mit 30 % immer noch fast ein Drittel der Betroffenen Krise (und der ergriffenen Maßnahmen) laut „Copsy“- (vgl. Müller 2020, S. 5). Studie (Corona und Psyche) der Hamburger Universi- Zugleich betont die Forscherin Shan Huang beim täts-Klinik Eppendorf (UKE) nicht übersehbar. Vor der Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Ber- Pandemie fühlte sich ein Drittel aller befragten Kinder lin), dass Corona sozial Benachteiligte stärker als an- und Jugendlichen „psychisch stark belastet“, seit der dere bedroht. Diejenigen werden am schwersten vom Corona-Krise sind es 71 %. „27 Prozent der Kinder und Virus betroffen, die ohnehin sozial benachteiligt sei- Jugendlichen sowie 37 Prozent der befragten Eltern ga- en. Wer dazu noch ethnischen Minderheiten entstam- ben an, dass es mehr Streit in der Familie gab“ (Frank- me, unterliege besonders hohen Krankheits- und dazu furter Rundschau v. 11./12.07.2020). Diese Ergebnisse Mortalitätsrisiken. „In den USA ist den Centers for Di- hat selbst die Forscherinnen und Forscher erstaunt, wie sease Control and Prevention zufolge das Risiko ei- die Kinder- und Jugendpsychiaterin Ulrike Ravens-Sie- nes Krankenhausaufenthaltes unabhängig vom Alter berer vom UKE die enorme Verschlechterung des psy- für sie vier- bis fünffach höher. Ähnliche Erhebungen chischen Wohlbefindens kommentiert: „Dass sie aller- von Public Health England ergeben, dass unter Berück- dings so deutlich ausfällt, hat auch uns überrascht.“ sichtigung demografischer Effekte die Sterblichkeit in (Frankfurter Rundschau v. 11./12.07.2020, S. 3). Großbritannien unter ethnischen Minderheiten bis zu Und, wie auch das neuerliche „Factsheet“ der Bertels- doppelt so hoch ist“ (Huang 2020, S. 12). Auch sei- mann-Stiftung zu „Kinderarmut in Deutschland“ von en laut verschiedenen US-Studien unter afroamerikani- 2020 ein weiteres Mal nachgewiesen hat, sind die Ent- scher oder eingewanderter Bevölkerung in den USA die wicklungen im Bereich Kinderarmut gerade mit der Co- Testwahrscheinlichkeit niedriger, die Test-Positivraten rona-Krise noch einmal verschärft worden. So wachse deutlich höher und Infektionen unter sozial Benachtei- mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut auf, ligten systematisch untererfasst. Für Deutschland weise was immerhin 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter eine erste Analyse der AOK Rheinland/Hamburg und 18 Jahren betrifft. Die Kinder- und Jugendarmut ver- des Universitätsklinikums Düsseldorf auch in die ähn- harre seit Jahren auf diesem hohen Niveau. Trotz lan- liche Richtung höherer Corona-Gesundheitsrisiken bei ger guter wirtschaftlicher Entwicklung seien die Zahlen niedrigerem Sozialstatus – am Beispiel Erwerbslosigkeit. kaum zurückgegangen. Kinderarmut sei seit Jahren ein Demnach sei „ein erhöhtes Risiko von schweren Coro- ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland. „Die na-Verläufen bei Arbeitslosigkeit“ zu erkennen (ebd.). Corona-Krise wird die Situation für arme Kinder und
Auf der globalen Ebene befürchten verschiedene Hilfs- in der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft, der werke, dass die Zahl der Hungernden auf dieser Erde Prekarisierung der Lohnarbeit und der Pauperisierung wieder über eine Milliarde Menschen steigen könnte, eines wachsenden Teils der Bevölkerung beobachten, wenn der „Brandbeschleuniger“ Corona auf die sowieso während auch die politische Spaltung als nicht minder schon von Klimawandel, Konflikten und Naturphäno- problematisches Resultat der sozioökonomischen Spal- menen wie z. B. Heuschrecken geplagten Krisenländer tung kontextualisiert werden muss (vgl. Butterwegge des globalen Südens treffe. „Die Welthungerhilfe-Chefin 2020, S. 254 ff.). warnte davor, Lockdowns als Allheilmittel in der Pan- Viele Armutsforscher_innen erforschen richtige und demie zu betrachten und darüber die entstehenden Kol- bedarfsgerechte Lösungen für sozialpolitische Probleme lateralschäden zu unterschätzen. So gingen die Inves- und gegen gesellschaftliche Polarisierung. Hinderungs- titionen in Entwicklungsländern zurück“ (Frankfurter gründe, warum diese klugen und angemessenen Vor- Rundschau 2020a, S. 13). schläge regelmäßig nicht angenommen oder angewandt Auch der Aufsatz „Internationale Soziale Arbeit neu werden, bleiben oft unterbelichtet. Sie erfordern die the- denken“ von Ronald Lutz und Tanja Kleibl setzt sich oretisch-analytische Auseinandersetzung mit Prozessen mit der „Verschärfung Globaler Ungleichheit durch Co- der (Primär‑)Verteilung, der Steuerpolitik, wirtschaft- vid-19“ auseinander (Lutz und Kleibl 2020, S. 247 ff.). licher Interessensgegensätze und sozioökonomischer Über deren sozioökonomischen und ausbeuterischen Kräfteverhältnisse insgesamt. So werden z. B. oft Anläs- Entstehungsbedingungen machen sich die Autor_innen se für Kinderarmut, wie Scheidung, Alleinerziehenden- keine Illusionen: „Globale Ungleichheit muss als histo- Status, Migrationshintergrund oder Arbeitslosigkeit mit risch gewachsenes Phänomen von Kolonialismus, Impe- den zugrundeliegenden Ursachen im vorhandenen Wirt- rialismus und Kapitalismus verstanden werden“ (ebd., schafts- und Sozialsystem verwechselt (vgl. Klundt 2019, S. 247). Sie referieren die Erkenntnisse der Hilfsorgani- S. 128 ff.). Dadurch gerät bei der Armutsforschung, der sationen „Brot für die Welt“ oder „Misereor“, wonach Sozial(arbeits)wissenschaft und bisweilen auch der prak- im globalen Süden mangels sozialstaatlicher Absicherun- tischen Sozialen Arbeit in den Hintergrund, dass sozial gen und Infrastrukturen nach dem Lockdown „mögli- gerechte Familien- und Sozialpolitik und gute Bildungs‑, cherweise mehr Menschen an den Folgen der Ausgangs- Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik auch für Kinder sperre sterben werden als durch das Virus selbst“ (ebd., von arbeitslosen, alleinerziehenden oder migrantischen S. 248). Nach einigen instruktiven Beispielen aus Indi- Eltern ein armutsfreies Leben ermöglichen können. Der en, Südafrika, Malawi, Bangladesch, Kolumbien, Bra- Verfasser verheimlicht nicht, dass sich eine ihm dabei silien zu den verwundbarsten Gruppen der jeweiligen notwendig erscheinende Perspektive theoretisch-prak- Gesellschaften fordern Lutz und Kleibl, dass „Soziale tisch mit Interessen, mit Macht und mit Herrschaft aus- Arbeit (…) auf allen Ebenen politischer werden“ müsse einandersetzen muss, also auch mit den Profiteuren der (ebd., S. 250). Ihrem diskutablen und hoffnungsfrohen vorhandenen Ordnung, wobei Anti-Kapitalismus als Appell des Weltsozialforums „Eine andere Welt ist mög- buchstäblich alternativlos für einen auch nur halbwegs lich“ ist am Ende des Aufsatzes die Forderung „eines demokratischen und sozialen Rechtsstaat, wie ihn das radikale(n) Wechsel(s) in Perspektive, Sprache und Ka- Grundgesetz vorschreibt, anzusehen ist. s tegorien“ beigelegt, was sehr unterstützenswert scheint. ∑ Fazit Somit lassen sich die Entstehungsursachen der sozio- Eingegangen. 1. September 2020 ökonomischen Ungleichheit aus der häufig „Globalisie- Angenommen. 16. November 2020 rung“ genannten neoliberalen Modernisierung erklären Funding. Open Access funding enabled and organized by Projekt sowie aus Fehlentscheidungen und falschen Weichen- DEAL. stellungen der politisch Verantwortlichen. Da die so- Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Na- zioökonomische Ungleichheit in den kapitalistischen mensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Produktions‑, Eigentums- und Herrschaftsverhältnis- Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wieder- sen wurzelt und der Anstieg der Ungleichheit nicht die gabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die naturwüchsige Folge von digitaler Revolution, Wissens ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob ökonomie und kühner schöpferischer Zerstörung ist, Änderungen vorgenommen wurden. müssen auch Konsequenzen politischer Entscheidun- Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial gen mitberücksichtigt werden. Die Folgen der sozialen unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, so- Ungleichheit lassen sich, wie Butterwegge hervorhebt,
Sozial Extra Extrablick: (Kinder-)Armut fern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern Neuhaus, Carla (2020). „Die Risiken sind ungleich verteilt“. Warum die Coronakrise Ungleichheit verstärkt. Die Krise trifft Geringverdiener hart, das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Com- von denen viele ihren Job verlieren. Auch die Ungleichheit zwischen den mons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach ge- Geschlechtern nimmt zu. In Tagesspiegel.de v. 10. Mai 2020 setzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Oxfam (2020). Power, Profits and the Pandemic. From corporate extrac- Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen tion for the few to an economy that works for all. London. https://www. Rechteinhabers einzuholen. oxfam.de/system/files/documents/bp-power-profits-pandemic-100920-en- embargoed.pdf. Zugegriffen: 09. Dez. 2020. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformati- on auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de Paritätischer Gesamtverband (2020). Akuter Mangel an Schutzausstat- tung. Paritätischer fordert staatliche Intervention und Unterbindung des freien Handels mit Schutzkleidung und Atemmasken. Pressemeldung v. 30.03.2020. Literatur Schoener, Johanna (2020). „Das System ist auf Kante genäht“. Zum Hö- hepunkt der Corona-Krise herrschte in den Kitas Chaos – hat die Regie- Bertelsmann Stiftung (Hrsg.). (2020). Factsheet Kinderarmut in Deutsch- rung die Kinder vernachlässigt? Und wie muss man sie jetzt fördern? Fra- land. (Antje Funcke/Sarah Menne). Gütersloh. https://www.bertels- gen an den Vorsitzenden der Kinderkommission von Johanna Schoener. In mann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikatio- ZEIT v. 16.07.2020, S. 28. nen/291_2020_BST_Facsheet_Kinderarmut_SGB-II_Daten__ID967.pdf. Zugegriffen: 09. Dez. 2020. Schröder, Carsten u. a. (2020). MillionärInnen unter dem Mikroskop: Da- tenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als Butterwegge, C. (2020). Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale bisher ausgewiesen, in: DIW-Wochenbericht Nr. 29, S. 511–521. und politische Ungleichheit in Deutschland. Weinheim/Basel: Beltz Juventa. Spieß, C. Katharina (2020). Zum Schaden einer ganzen Generation. Es Charrel, Marie (2020). La crise liée au coronavirus, accélérateur des iné- gibt auch Geld für die Kinder im Konjunkturpaket der Regierung. Aber galités hommes-femmes. Télétravail, préparation des repas, école à la mai- Kita und Schule kommen zu kurz. In Frankfurter Rundschau v. 06./7. Juni son … Loin de contribuer à une répartition plus égalitaire des tâches, la 2020. crise liée à la pandémie exacerbe les inégalités de genre à la maison et face à l’emploi. In Le Monde.fr v. 11. Mai 2020. UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder (2020). 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