Spiel ohne Schiedsrichter
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Dogma-Filme „Open Hearts“ von Bier (mit Sonja Richter und Nikolaj Lie Kaas), „Das Fest“ von Vinterberg (mit Henning Moritzen), Anti-Dogma-Film KINO Spiel ohne Schiedsrichter Die Regisseure der dänischen Dogma-Bruderschaft haben ihre asketische Kunst-Mission für beendet erklärt. Aber noch erweist sich ihr „Keuschheitsgebot“ als fruchtbar: Der letzte Dogma-Film aus Dänemark heißt „Open Hearts“. Von Urs Jenny W enn Lars von Trier, der ewig ex- ne franziskanischer Selbstlosigkeit sollte Spielfilm in ihrem Sinn gedreht werden soll- zentrische Kinowunderknabe aus te: An realen Schauplätzen, die man ohne der Regisseur sogar auf die Nennung seines Dänemark, schon mal aus sei- Veränderung zu nehmen hatte, wie man sie Namens im Vor- oder Nachspann seines ner manischen Öffentlichkeitsscheu aus- vorfand, sollten die Schauspieler unge- Films verzichten. Doch in der Filmkunst bricht, geht er so halsbrecherisch aufs wie anderswo erobert die Avantgarde sich schminkt und ausschließlich in ihrer Privat- Ganze, als möchte er alle Welt aufs Mal vor garderobe agieren; die Szenen sollten, ohnenicht durch Manifeste, sondern durch Wer- den Kopf stoßen. So stürmte er, bei einem spezielle Beleuchtung, in Farbe mit Hand- ke neues Terrain, und nach den starken Symposion zur 100-Jahr-Feier des Kinos, kamera und Originalton aufgenommen und Worten ließen die progressiven Taten auf am 20. März 1995 im Pariser Odéon-Thea- ohne technisch manipulierende Bearbeitung sich warten. So stand Lars von Trier, der ter auf die Bühne, verkündete ein radi- des Materials zusammengefügt werden. sein Programm mit katholischem Pathos kal asketisches Zukunftsprogramm, warf Es sollte also weder Kulissen noch Kos- zum „Dogma 95“ erklärt und die Grün- rote Handzettel ins Publikum, auf denen tüme, weder Spezialeffekte aus der Trick- dung einer durch ein „Keuschheitsgelüb- sein Manifest zu lesen war, und machte kiste noch Kinomusik geben, und als Kro- de“ darauf eingeschworenen „Dogma-Bru- sich ohne weitere Erklärungen derschaft“ kundgetan hatte, erst davon. einmal als Maulheld da. Zur Hölle mit Hollywood! Sein „Arte povera“-Konzept Auf diesen Slogan ließ sich ver- fürs Kino schien, falls es über- kürzen, wozu er seine Filme- haupt realisierbar wäre, nur drö- macherkollegen aufforderte: Mit ges Laienspiel und Freudlosig- allem Glitzer und Glamour, mit keit zu verheißen. Auf dem Pa- der ganzen Verlogenheit, die das riser Kongress 1995 wurde der Kino erst richtig schön und süß Umsturzplan als Provokation ei- macht, sollte im Namen einer nes notorischen Wichtigtuers MORTEN JU / DANA PRESS PHOTO neuen Ehrlichkeit Schluss sein. abgetan, und als Trier im fol- In zehn Geboten hatte Trier genden Jahr für sein ekstati- mit Hilfe seines jungen Kom- sches Melodram „Breaking the pagnons Thomas Vinterberg auf Waves“ gefeiert und mit Prei- den Punkt gebracht, wie ein sen überschüttet wurde, sah es aus, als hätte er selbst sein dog- * Thomas Vinterberg, Lars von Trier, Kris- matisches Keuschheitsgelübde tian Levring, Søren Kragh-Jacobsen. Dogma-Bruderschaft (1999)*: Zehn Gebote für die Kunst schon wieder vergessen. 134 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 3
Kultur ROLF KONOW (L.); DEFD (M.); CINETEXT (R.) „Dancer in the Dark“ von Trier (mit Björk): Nieder mit Hollywood! Armut ist eine Tugend! Irrtum. Die vierköpfige Dogma-Bruder- Qualität zu bekennen. Doch nachdem sie Gebot allerdings konnte überhaupt nie schaft war nur aus dem Tritt geraten, weil die ersten beiden fulminanten Exempel ge- befolgt werden. Es verlangt die Verwen- die dänische Kulturministerin, die eine spe- liefert hatten, fand der Appell insbesonde- dung von 35-mm-Filmmaterial, was unsin- zielle Subvention für die ersten vier Dog- re bei Debütanten rasch rund um die Welt nig teuer und bei der Arbeit mit einer ma-Filme verheißen hatte, kurz danach Beifall und Gefolgschaft. Für sie lautete Handkamera unsinnig strapaziös wäre. aus der Regierung geflogen war; nun muss- die Verheißung: Armut ist eine Tugend! Schon die Chefdogmatiker Trier und Vin- te man mühsamer beim Fernsehen Zu- Während die dänischen Dogma-Pro- terberg selbst entschieden sich deshalb als schüsse lockermachen. Dann aber, in ei- duktionen Nummer drei („Mifune“ von stilbildende „Sünder“ gegen das eigene nem erstaunlichen Überraschungsschlag, Søren Kragh-Jacobsen) und Nummer vier Gebot für die Verwendung von Video- trumpften beim Festival in Cannes 1998 („The King is Alive“ von Kristian Levring) kameras: Erst das fertige Werk wurde auf Vinterberg mit „Das Fest“ und Trier mit noch in Arbeit waren, nahmen schon Jün- kinoübliches 35-mm-Material umkopiert – „Idioten“ so kraftvoll auf, dass es einen ger in Frankreich, Korea, Argentinien, eine Praxis, die sich bei Filmproduktionen Augenblick lang wirklich so aussah, als Schweden und den USA Projekte nach mit moderatem Budget längst durchge- könnte die Zukunft des Kinos – nicht kom- dem Reinheitsgebot in Angriff. In Kopen- setzt hat. merziell, da sei Hollywood vor, doch im hagen wurden die fertigen Filme auf ihre Dogma-Filme sind Videofilme mit ihren ästhetischen Diskurs – dem Slogan Dogma Linientreue geprüft und mit einem „Zerti- typischen Empfindlichkeiten und Macken, 95 gehören. fikat“ abgesegnet – anfangs vom Quartett und im Rückblick scheint nie etwas ande- Nicht dass ihre Thematik besonders Fu- der originalen Bruderschaft, später von ei- res denkbar gewesen zu sein: Erst aus der rore gemacht hätte. Wie Vinterberg im nem speziellen „Dogme-secretariat“ an der Flexibilität wie der Billigkeit der Video- Katastrophenverlauf einer familiären Ge- Film- und Medienabteilung der Universität. technik konnten sich überhaupt all die spe- burtstagsfeier oder Trier in den aggressiven Das achte der zehn Gebote heißt: „Genre- zifischen Reize des Spontanen, Vitalen, Aktionen einer anarchischen Wohnge- filme werden nicht akzeptiert.“ Nun aber Unmittelbaren entwickeln, die Dogma 95 meinschaft gutbürgerliche „Lebenslügen“ ist es so weit: Das Kopenhagener Sekreta- zum Ereignis, zum Kult und zum Erfolg demontierten, hatte eigentlich nichts auf- riat hat erklärt, „Dogma“ sei gegen die In- gemacht haben – oder auch, wie hart- rüttelnd Neues. Vinterbergs Drehbuch war tentionen der Urheber zu einer „Genre- näckige Kritiker monierten, zum grobkör- sogar so solide nach Art eines Ibsen-Schau- formel“ geworden, und seine Prüftätigkeit nigen Heimkino mit Kunstanspruch. spiels gebaut, dass es sich später beendet. Im Lauf von fünf Jahren wurden Seltsam lückenhaft und fragwürdig sind auch auf Theaterbühnen als wirkungsvoll 31 Filme (darunter 8 aus Dänemark, 12 aus die Dogma-Gebote von Beginn an gewesen erwies. den USA und keiner aus Deutschland) mit und immer geblieben, weil sie über die Doch beide Filme schienen tatsächlich dem „Zertifikat“ bedacht. Fortan wird das Funktion des Drehbuchs nichts sagen. Die und zwingend gerade durch die vermeintli- Spiel ohne Schiedsrichter gespielt: Wer Regel, dass nur Blut fließen dürfe, wenn es che Kunstlosigkeit der Inszenierung, also künftig dem Dogma folgt, tut es auf eige- echt ist, erscheint absurd, wenn doch durch den demonstrativen Verzicht auf al- ne Faust und muss seine Sünden nur noch Krankheit und Tod zu simulieren erlaubt len marktüblichen Ausstattungs- und Ver- vor dem eigenen Gewissen verantworten. bleibt. Und die Regel, dass ein Schauspie- schönerungsluxus, eine neuartige Glaub- Gesündigt wurde nämlich vom ersten ler nur in seinen Privatklamotten vor die würdigkeit, Intensität und sogar „Reinheit“ Tag an: Schon für den Dogma-Film Num- Kamera treten dürfe, ist widersinnig, wenn zu erreichen; beide machten den Anspruch mer eins, Vinterbergs „Das Fest“, muss- er doch mit auswendig gelerntem Dialog ei- des Keuschheitsgelübdes plausibel, durch ten sich regelwidrig ein paar Darsteller nen ihm vielleicht ganz wesensfremden Illusionslosigkeit „Wahrheit“ zu gewinnen. Kleidungsstücke kaufen, um beim großbür- Charakter darstellen soll. Aus diesen Wi- Dogma 95 war als Grundsatzprogramm gerlichen Familientreffen präsentabel zu dersprüchen mag die irrige Vorstellung ent- gemeint, nicht eigentlich als Aufruf an Not sein, und ähnlich banale, verzeihliche Re- standen sein, Dogma-Filme seien weitge- leidende Kinoanfänger, sich ihrer Mittel- gelverstöße hat seither fast jeder Dogma- hend improvisiert. losigkeit nicht länger zu schämen, sondern Regisseur in einer förmlichen „Beichte“ Natürlich verlockt gerade die billige sich demonstrativ zu ihr als ästhetischer zu Protokoll gegeben. Das absurde neunte Videotechnik zur Verschwendung, die das d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 3 135
Kultur ARTHAUS Regisseur Trier (l.) bei den Dreharbeiten zu „Idioten“: Leibesübungen für 160 Stunden Videomaterial Improvisieren mit sich bringt. Und Lars Es hat auch keiner von ihnen seither fürs ziellen Zählung Nummer 21 und Nummer von Trier, wie immer und überall der Spit- Kino in dänischer Sprache gedreht. Trier 28, deren im Nachspann ungenannte Re- zenreiter, hat auch, was die Improvisa- war der Schnellste auch im „Verrat“ am gisseure keineswegs Anfänger sind, in tionsexerzitien angeht, einen ungebro- Keuschheitsgelübde, indem er 1999 mit der Deutschland angekommen (wo das Dogma- chenen Rekord aufgestellt, indem er für singenden, tanzenden Björk „Dancer in Zertifikat natürlich nur für die untertitelte „Idioten“ 160 Videostunden drehte. Er the Dark“ produzierte. Originalfassung gilt): Ole Christian Madsens brauchte dann mehr als drei Wochen, Im Jahr 2003 nun werden alle vier Ex- „Kira“, das Porträt einer labilen, gerade aus um sich das ganze Material auch nur Dogma-Brüder sich mit englischsprachigen der psychiatrischen Klinik entlassenen jun- noch einmal anzusehen, und übernahm Filmen auf den Weltkinomarkt hinausbe- gen Frau, läuft zurzeit in deutschen Pro- am Ende wenig Improvisiertes in den ferti- geben: Trier hat in Schweden „Dogville“ grammkinos; Susanne Biers kräftiges, lei- gen Film. mit Nicole Kidman gedreht, Kragh-Jacob- denschaftliches Ehebruchsdrama „Open Die vier Gründer der Dogma-Bruder- sen in Glasgow die Leihmutter-Tragiko- Hearts“, im Herbst auf dem Festival in Hof schaft sind noch einmal zusammengekom- mödie „Skagerrak“, Levring im malaysi- präsentiert, kommt diese Woche heraus. men, um ihrem Land ein singuläres Mil- schen Dschungel ein Pionierdrama mit dem Es sind in der Tat „Genrefilme“, und lenniums-TV-Ereignis zu bescheren: Sie ha- Titel „The Intended“ und Vinterberg (noch nicht in schlechtem Sinn: intelligente, kon- ben in Kopenhagen in der Silvesternacht immer der Jüngste, doch nun auch schon zentrierte, schnörkellose Innenansichten 1999/2000 über einen inszenierten Bank- 33) in schwedischen Ateliers das surreale aus dem Krisenherd der bürgerlichen Fa- raub – jeder für sich mit einem eigenen Melodram „It’s All About Love“, das von milie, die es nicht nötig haben, sich durch Kamerateam aus der Sicht eines Beteiligten einem polnischen Paar in einem syntheti- hektisches Herumfuhrwerken mit der Vi- – simultan vier ununterbrochene 70-Mi- schen New York des Jahres 2021 erzählt. deokamera interessant zu machen. Und nuten-Filme gedreht. Am Neu- welchen Gewinn an kreativer Freiheit der jahrstag dann wurden die vier dogmatische Verzicht auf einschüchtern- Versionen simultan auf ver- de, lähmende Aufnahmeapparaturen bringt, schiedenen Kanälen gesendet, zeigen sie von der besten Seite: Dogma- so dass jeder Zuschauer sich Filme sind Schauspielerfilme; die Inten- hin und her zappend einen ei- sität, Unmittelbarkeit, Lebendigkeit der genen „Film“ daraus machen Darsteller ist ihr Ein und Alles. konnte. Es gibt keinen plausiblen Grund, warum Es war der letzte gemein- eine ganze Hand voll Dogma-Filme aus same Auftritt. Nur der uner- Dänemark zu überzeugenden internatio- müdliche Aktionist Lars von nalen Kinoerfolgen wurden (wie zuletzt Trier hat einen Neustart ver- Lone Scherfigs „Italienisch für Anfän- CINETEXT sucht: Auf seine Initiative ist ger“), aber kein einziger aus einem ande- im Mai 2000 mit markanten ren Land. So wird Dogma 95 als spezifisch Absichtserklärungen ein Quar- Dogma-Film „Mifune“*: Kunst der Kunstlosigkeit dänisches Mirakel in die Kinogeschichte tett von Dogma-Dokumentar- eingehen. Doch seine befreiende Wirkung filmern hervorgetreten, die sich „Defokus- Sein neues ästhetisches Konzept bringt reicht weit und nachhaltig über das Land sisten“ nennen**. Noch sind den Worten Vinterberg auf die Formel, er wolle ein- hinaus: Unübersehbar ist die Zahl der keine Taten gefolgt, und erst wenn das dä- fach in allem „das Gegenteil von Dogma“: Filme in aller Welt, die ohne das Dogma- nische Fernsehen, wie angekündigt, sechs jede Menge Kulissen, Computersimulatio- Modell nicht aussähen, wie sie nun sind – Filme nach diesen Doku-Dogma-Regeln nen und Künstlichkeit. vom „Weißen Rauschen“ und der „Halben produziert, zeigt sich, was sie wert sind. Nun sind die beiden jüngsten und letz- Treppe“ in Deutschland bis zu Soderberghs Das „Dogma“-Dogma hat, seinem Na- ten dänischen Dogma-Filme, nach der offi- „Full Frontal“ in Hollywood. Und mag men zum Trotz, nie Ausschließlichkeitsan- das Sekretariat auch den Laden dicht- sprüche erhoben, und keiner von den vier ***Mit Anders W. Berthelsen. Deutsch in „Dogma 95“. Herausgegeben von Jana Hall- gemacht haben: Im Geist von Dogma 95 Gründerbrüdern hat sich diesem Exerzi- berg und Alexander Wewerka. Alexander Verlag Berlin; wird weiter gefilmt und weiter gesündigt tium ein zweites Mal unterwerfen wollen. 464 Seiten; 15,50 Euro. werden. ™ 136 d e r s p i e g e l 2 / 2 0 0 3
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