Steiniger Weg für Großbritannien und die EU - Stiftung Wissenschaft ...

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Steiniger Weg für Großbritannien
und die EU
Eine Übergangsphase nach dem Brexit erfordert eine maßgeschneiderte Lösung
Nicolai von Ondarza

Die Verständigung auf ein Übergangsregime ist der wichtigste mittelfristige Baustein
in der zweiten Phase der Brexit-Verhandlungen. Im März 2019 soll Großbritanniens
Austritt aus der EU vollzogen sein, doch bis dahin wird es kein ausgehandeltes Abkom-
men über die künftigen Beziehungen geben. An einem abrupten Ende ist indes keine
der beiden Seiten interessiert. Daher hat Großbritannien um eine Übergangsregelung
gebeten und auch die EU-27 ziehen eine solche Lösung in Betracht. Einfach wäre diese
aber nicht. Aus Sicht der EU wäre nur eine vollständige Nachbildung des Status quo
akzeptabel. Dafür müsste Großbritannien allerdings sämtliche Versprechen der Brexit-
Befürworter brechen und mindestens zwei Jahre lang Regeln der EU anerkennen und
umsetzen, ohne ein Mitspracherecht zu haben.

Großbritannien läuft die Zeit davon. Auf-                          in den laufenden Gesprächen zu Haushalts-
grund seiner Austrittsbekundung gemäß                              verpflichtungen der Briten, zu Rechten von
Artikel 50 EUV wird das Land voraussicht-                          EU-Bürgern und zur Nordirland-Problematik.
lich zum 29. März 2019 die Union verlassen                         Nach den selbst initiierten, für sie aber
und für sie zum Drittstaat werden. Bis dahin                       schlecht ausgegangenen Neuwahlen ist May
will Premierministerin Theresa May ein                             politisch geschwächt, ihr Kabinett zerstrit-
umfassendes Abkommen mit der EU über                               ten und sie von der Unterstützung durch
eine »Deep and Special Partnership« aus-                           die nordirische Democratic Unionist Party
gehandelt haben. Dabei wäre Großbritan-                            abhängig. Deshalb konnte die Premier-
nien nicht mehr Mitglied des Binnenmarkts                          ministerin die erste Verhandlungsphase
und der Zollunion.                                                 mit den EU-27 nicht wie erhofft im Oktober
   Von einem solchen Abkommen sind                                 2017 abschließen.
beide Seiten jedoch meilenweit entfernt.                              Nach harten Verhandlungen, vor allem
Die Verhandlungen dazu haben noch nicht                            zur Nordirland-Frage, hat sich May im De-
einmal begonnen. Bedingung der EU-27                               zember 2017 mit den Unterhändlern der
hierfür waren »ausreichende Fortschritte«                          EU-27 auf ausreichende Fortschritte geeinigt

Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa                                  SWP-Aktuell 78
                                                                                                                       Dezember 2017

                                                                                                                                    1
und der Union in allen drei Bereichen          schon während der Übergangsphase Teile
                 erhebliche Zugeständnisse gemacht. Jetzt       des EU-Acquis in Großbritannien nicht
                 stehen die eigentlich schwierigen Unter-       mehr gelten.
                 redungen über das künftige Verhältnis
                 zwischen EU und Großbritannien an (siehe
                 hierzu SWP-Aktuell 74/2016). Die bisherigen    Die Interessen der EU-27
                 Erfahrungen sowohl mit weitreichenden          Die EU-27 hegen eine eigene Vorstellung.
                 Freihandelsabkommen als auch den Brexit-       Sie sind prinzipiell bereit, mit Großbritan-
                 Verhandlungen deuten indes darauf hin,         nien eine Übergangsphase für die Zeit nach
                 dass ein umfassendes Zukunftsabkommen          dessen Austritt zu verabreden. In den Leit-
                 bis zum Austritt im März 2019 so gut wie       linien für die Brexit-Verhandlungen hat der
                 unmöglich ist.                                 Europäische Rat festgelegt, dass Übergangs-
                                                                regelungen getroffen werden können –
                                                                »soweit notwendig und rechtlich möglich«.
                 Drei Vorstellungen von »Übergang«                 Die Europäische Kommission begreift
                 Angesichts des rigiden Zeitplans rückt die     eine Übergangsphase vor allem als Mittel,
                 Frage einer Übergangsregelung in den Blick-    um Großbritannien und den EU-27 mehr
                 punkt. Auf ihrer Brexit-Rede im September      Zeit für die komplexen Verhandlungen
                 2017 in Florenz hat sich May erstmals expli-   über das künftige Verhältnis zu verschaf-
                 zit für eine solche Lösung ausgesprochen.      fen. Daher erwartet EU-Verhandlungsführer
                    Allerdings gibt es drei widersprüchliche    Michel Barnier, dass das endgültige Han-
                 Vorstellungen dazu, wie und mit welchen        delsabkommen erst nach dem Austritt, also
                 Zielen dieser Übergang festgelegt werden       während der Übergangszeit geschlossen
                 soll. So fordert die britische Wirtschaft      wird. Dies ist an die Prämisse gekoppelt, die
                 Planungssicherheit für die Zeit nach März      Integrität des Binnenmarkts zu bewahren
                 2019. Ein abrupter Austritt würde starke       und hier keine Ausnahmen zuzulassen. Mit
                 wirtschaftliche Verwerfungen nach sich         dieser Haltung verfolgen die EU-27 drei Ziele.
                 ziehen. Daher verlangen britische Unter-          Erstens ergibt eine Übergangsphase aus
                 nehmen, vor allem aus der Finanzbranche,       Sicht der EU-27 nur dann Sinn, wenn Groß-
                 bis spätestens Frühjahr 2018 Klarheit dar-     britannien für diesen Zeitraum den gesam-
                 über zu schaffen, wie der Handel mit der       ten Acquis der EU akzeptiert und vollstän-
                 EU ab 30. März 2019 geregelt sein wird. Die    dig an allen Politiken der Union teilnimmt.
                 vollständige Teilnahme an Binnenmarkt          Wird dem Land aber zugestanden, sich die
                 und Zollunion nach dem Brexit solle mög-       vorteilhaftesten Punkte des Acquis »heraus-
                 lichst lange garantiert werden. Andernfalls,   zupicken«, würde das den Binnenmarkt
                 so das Argument, müssten sich Unterneh-        untergraben und die Position der EU bei
                 men für einen ungeregelten Austritt wapp-      den Verhandlungen über die künftigen
                 nen und ihre Notfallpläne in Gang setzen.      Beziehungen schwächen. Zweitens haben
                    Premierministerin May spricht hingegen      auch die EU-27 ein Interesse daran, dass
                 von einer »Implementierungsphase«, die         Großbritannien zum März 2019 die politi-
                 gleichzeitig mit einem Abkommen über           schen Institutionen der EU verlässt. Ein
                 das künftige Verhältnis vereinbart werden      Drittstaat kann nicht an der Entscheidungs-
                 soll. Dazu müsste man sich zumindest in        findung der Union mitwirken. Drittens
                 Grundzügen darauf verständigen, wie die        schließlich ließe sich mit einer Übergangs-
                 künftigen Beziehungen aussehen sollen. In      regelung einer der kompliziertesten Streit-
                 diesem Sinne soll Großbritannien während       punkte des Brexit politisch einfrieren,
                 der Implementierungsphase schrittweise         nämlich das Problem der Grenze zwischen
                 in seine neue Rolle als Drittstaat mit einer   Nordirland und der Republik Irland. Aus
                 »Deep and Special Partnership« mit der EU      Sicht der EU muss eine solche Regelung
                 überführt werden. Das hieße auch, dass         garantieren, dass der Status quo aufrecht-

SWP-Aktuell 78
Dezember 2017

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erhalten wird, also die Grenze bis zum          den Rechtsrahmen der EU beibehält. Die
Ende der Übergangsphase offen bleibt.           Union und ihr Binnenmarkt sind in erster
                                                Linie ein Raum gemeinsamen Rechts.
                                                Gemäß Artikel 50 (3) EUV finden die EU-
Der Teufel steckt im Detail                     Verträge aber ab dem Tag, an dem das Aus-
Im Prinzip befürworten also die britische       trittsabkommen in Kraft tritt, im Drittstaat
Regierung, die Wirtschaft des Landes und        Großbritannien keine Anwendung mehr.
die EU-27 eine Übergangsphase. Uneins ist       Die britische Regierung will daher mit der
man sich darüber, wann und wie lange die        sogenannten Withdrawal Bill zum Austritts-
Regelungen dafür gelten sollen. Vor allem       tag den gesamten Acquis der EU in natio-
die EU würde sich wohl nur auf eine um-         nales Recht umwandeln. Auf den ersten
fassende Vereinbarung einlassen, aber           Blick bestände damit weiterhin Konvergenz
nicht auf eine Implementierungsphase.           zwischen EU-Recht und britischem Recht.
   Hinzu kommen juristische und politische      Gleichzeitig soll die Withdrawal Bill den
Barrieren für eine Status-quo-Übergangs-        European Communities Act (ECA) aufheben.
regelung. Rechtlich betrachtet ist eine         Dieser zentrale, 1972 zum Beitritt Groß-
Weiterführung des Status quo für Groß-          britanniens beschlossene Rechtsakt ist bis-
britannien nicht möglich, denn der Kern         her der Verknüpfungspunkt zwischen EU-
des Austritts aus der Union liegt ja gerade     Recht und britischen Recht.
darin, dass sich Großbritanniens Status            Doch die Withdrawal Bill muss nicht
ändert und das Land von einem EU-Mitglied       nur beide Häuser des britischen Parlaments
zu einem Drittstaat wird. Es gilt also aus-     passieren. Selbst wenn das Land das EU-
zuhandeln, wie, unter welchen Bedingun-         Recht vollständig übernähme, wären noch
gen und wie lange die Substanz der EU-          mindestens vier rechtliche und damit auch
Mitgliedschaft Großbritanniens aufrecht-        politische Herausforderungen zu meistern.
erhalten werden kann, besonders die Teil-          Erstens kollidieren Vorstellungen der
nahme an Binnenmarkt und Zollunion.             Brexit-Befürworter mit EU-Recht. Eins ihrer
   Eine politische Übereinkunft, den Status     Hauptargumente lautete, man wolle die
quo beizubehalten, reicht also nicht aus.       parlamentarische Souveränität wieder-
Vielmehr muss für das Übergangsregime           erlangen (»take back control«). Dies steht
ein Format gefunden werden, das Groß-           im Widerspruch zu einem grundlegenden
britannien im gemeinsamen Rechtsraum            Prinzip des Europarechts, das der Europä-
der EU hält. Die Übergangsregeln können         ische Gerichtshof (EuGH) in seinen Urteilen
rechtlich als Teil des Austrittsabkommens       festgelegt hat. Es besagt, dass die Gesetz-
nach Artikel 50 EUV beschlossen werden,         gebung der EU Vorrang genießt, sollten
solange sie zeitlich begrenzt sind. Politisch   nationales Recht und EU-Recht miteinander
ist dafür aber notwendig, dass sich London      in Konflikt geraten. Die Withdrawal Bill
für die Zeit des Übergangs europäischem         soll diesen Vorrang aber am Tag des Aus-
Recht unterwirft, ohne ein Mitspracherecht      tritts annullieren, so dass das britische Par-
zu besitzen. Betrachtet man die Erforder-       lament oder sogar die Regierung von EU-
nisse genauer, wachsen die Zweifel daran,       Recht abweichen können. Rechtlich ist dies
dass der gerade von London geforderte           der Kern des EU-Austritts überhaupt. Für
Status-quo-Übergang politisch machbar ist.      eine Status-quo-Übergangsregelung aber
                                                müsste Großbritannien den weiteren Vor-
                                                rang von EU-Recht äquivalent zum bestehen-
Aufrechterhaltung des                           den ECA garantieren, indem Urteile des
gemeinsamen Rechtsraums                         EuGH weiterhin als verbindlich gelten.
Um während der Übergangszeit den Status         Andernfalls könnte London beispielsweise
quo fortführen zu können, müsste Groß-          jederzeit niedrigere Standards als im EU-
britannien vor allem garantieren, dass es       Recht vorgesehen beschließen und auf

                                                                                                 SWP-Aktuell 78
                                                                                                 Dezember 2017

                                                                                                             3
diese Weise die Fundamente des Binnen-         an den EuGH verweisen, und wenn ja, unter
                 markts aushöhlen.                              welchen Umständen? Zwar hat Premier-
                    Zweitens müsste Großbritannien ge-          ministerin May im Parlament einer Rolle
                 währleisten, dass künftiges Unionsrecht        des EuGH in der Übergangszeit keine klare
                 umgesetzt wird. Der Großteil der EU-Gesetz-    Absage erteilt. Die Regelung von Jurispru-
                 gebung beruht auf Richtlinien, die binnen      denz, Streitschlichtung und Durchsetzung
                 einer bestimmten Frist in nationales Recht     von EU-Regeln dürfte sich im Detail indes
                 umgewandelt werden müssen. Solange             als außerordentlich schwierig herausstellen.
                 Großbritannien während der Übergangs-             Um all dies zu sichern, müsste Groß-
                 zeit vollen Zugang zum Binnenmarkt be-         britannien für die Übergangszeit das In-
                 hält, müsste es garantieren, dass es neue      krafttreten der Withdrawal Bill zumindest
                 Richtlinien in nationales Recht überführt,     teilweise aussetzen und stattdessen ein
                 ohne über sie mitzubestimmen. Auch dies        Äquivalent zum ECA schaffen, einen »Tran-
                 ist innerhalb Großbritanniens bisher über      sition Act«. Die Premierministerin braucht
                 den ECA gesichert. Zudem sind Schottland,      also eine politische Mehrheit in beiden
                 Wales und Nordirland über den ECA ver-         Kammern des britischen Parlaments, um
                 pflichtet, EU-Richtlinien umzusetzen, die in   Großbritannien für die Übergangszeit
                 ihre Autonomierechte fallen. In der Öffent-    zum reinen Empfänger von EU-Regeln zu
                 lichkeit hat sich die britische Regierung      machen. Angesichts ihrer knappen Parla-
                 aufgeschlossen für eine Lösung gezeigt.        mentsmehrheit und mehr als 40 harter
                 London argumentierte, während einer zwei-      EU-Gegner in ihrer Fraktion ist unsicher,
                 jährigen Übergangsphase müssten ohnehin        ob sie diese Mehrheit ohne Unterstützung
                 hauptsächlich Rechtsakte umgesetzt wer-        durch die Opposition erreichen kann.
                 den, an denen es noch mitgewirkt habe.
                    Drittens entfaltet EU-Recht auch in Mit-
                 gliedstaaten eine unmittelbare Geltung. In     Großbritannien und die
                 Großbritannien ist diese bislang ebenfalls     Institutionen der EU
                 durch den ECA gewährleistet. Will das Land     Eine Übergangsregelung müsste zudem die
                 sich in der Übergangszeit wie bisher am        institutionelle Verortung Großbritanniens
                 Binnenmarkt beteiligen, müsste es zumin-       klären. Premierministerin May hat bereits
                 dest einen Nachvollzug von Verordnungen        angekündigt, dass die Briten während des
                 mit dann unmittelbarer Wirksamkeit nach        Übergangs die »politischen« Institutionen
                 britischem Recht garantieren, analog zur       der EU verlassen werden. Was das genau
                 Praxis der Staaten des Europäischen Wirt-      bedeuten soll, muss noch ergründet wer-
                 schaftsraums (EWR). Das gälte auch für EU-     den. Selbstverständlich sollte sein, dass die
                 Verordnungen, die größtenteils oder voll-      britischen Vertreter sich aus Rat, Kommis-
                 ständig ohne britische Mitsprache in der       sion, Parlament, Gerichtshof und Rech-
                 Übergangsphase entstehen.                      nungshof der EU zurückziehen.
                    Viertens wäre festzulegen, auf welche          In einer Übergangsregelung gewänne
                 Weise wirksame Durchsetzungsmechanis-          diese natürliche Konsequenz des Austritts
                 men während des Übergangs garantiert           jedoch an politischer Brisanz. Das gilt
                 werden können, um den Rechtsraum auf-          besonders für Politikbereiche, in denen die
                 rechtzuerhalten. Dies wirft Fragen für die     EU distributive Entscheidungen trifft. In
                 Jurisprudenz des Europäischen Gerichts-        der Fischereipolitik zum Beispiel könnten
                 hofs auf: Inwieweit sind seine Urteile         die EU-27 Fangquoten zum Nachteil Groß-
                 weiterhin für britische Gerichte verbind-      britanniens beschließen, da es keinen Sitz
                 lich? Kann Großbritannien vor dem EuGH         am Verhandlungstisch hat. Deshalb forder-
                 verklagt werden, wenn es Rechtspflichten       te der heutige britische Landwirtschafts-
                 nicht erfüllt? Können britische Gerichte       minister Michael Gove, ein Protagonist der
                 während der Übergangszeit Rechtsfragen         Austrittskampagne, Großbritannien solle

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schon in der Übergangsphase aus der            EU-Bürger und Freizügigkeit
Fischereipolitik der Union aussteigen.         Bedingung der EU-27 für eine Übergangs-
Andere Nordseeanrainer wie Dänemark, die       phase ist auch die Bewahrung aller vier
Niederlande oder Irland dürften stark          Freiheiten des Binnenmarkts. In der briti-
daran interessiert sein, die Fangquoten der    schen Debatte ist die Frage der Personen-
EU beizubehalten und ihre Fischereiinter-      freizügigkeit politisch besonders aufgela-
essen gegenüber denen Großbritanniens          den. Aus Sicht der britischen Regierung
durchzusetzen.                                 war die Reduzierung der (Arbeits-)Migration
   Nicht aus dem Auge zu verlieren wären       aus anderen EU-Staaten ein wichtiges,
auch die Schwierigkeiten bei den ausgela-      wenn nicht gar das Hauptziel derjenigen
gerten Institutionen der EU. Hierzu gehö-      Briten, die für den Austritt gestimmt haben.
ren die Komitologie-Ausschüsse, in denen       Premierministerin May hatte daher 2016
Durchführungsbeschlüsse zu EU-Rechts-          zunächst angekündigt, die Freizügigkeit
akten erlassen werden. Die Bedeutung der       unverzüglich zu beenden, sobald Groß-
Ausschüsse vor allem für das Funktionieren     britannien die Union verlassen habe.
des Binnenmarkts wurde zuletzt etwa bei           Mittlerweile hat die britische Regierung
der umstrittenen Glyphosat-Entscheidung        jedoch zugestanden, dass die Freizügigkeit
augenfällig. Gemäß Artikel 100/101 EWR-        auch in der Übergangszeit gelten soll.
Abkommen haben die EWR-Staaten Zugang          Bürger, die während dieser Zeit nach Groß-
zu den Ausschüssen, andere Drittstaaten        britannien einwandern, sollen aber ver-
aber nicht. Man müsste sich darüber eini-      pflichtet werden, sich eigens zu registrie-
gen, ob und unter welchen Bedingungen          ren. Dieses System sollte sorgfältig darauf-
britische Vertreter teilnehmen können.         hin geprüft werden, ob es mit EU-Recht
   Unklarheit herrscht auch, was Großbri-      vereinbar ist.
tanniens Engagement in den zurzeit 38 EU-         Betroffen sind überdies die Rechte von
Agenturen anbelangt. Zum Teil überneh-         EU-Bürgern in Großbritannien. In der ersten
men sie wichtige Aufgaben bei der Regulie-     Phase der Brexit-Verhandlungen haben sich
rung des Binnenmarkts. In den Agenturen        London und Brüssel darauf geeinigt, die
sind die EU-Mitgliedstaaten vertreten, bis-    Rechte derjenigen EU-Bürger zu sichern, die
weilen aber auch Drittstaaten wie Norwe-       bis zum Tag des Austritts in Großbritanni-
gen. Allerdings genießen diese kein Stimm-     en leben. Wird die Freizügigkeit beibehal-
recht, obwohl sie an die Beschlüsse der        ten, stellt sich diese Frage jedoch auch für
jeweiligen EU-Agentur und das EU-Recht in      jene EU-Bürger, die während der Über-
ihrem Anwendungsbereich gebunden sind.         gangsphase ins Land kommen werden. Die
Hier wäre jeweils einzeln für alle 38 Agen-    meisten Studienprogramme und Arbeits-
turen auszuhandeln, ob und in welchem          plätze sind auf mehr als die anvisierten
Maße Großbritannien als Drittstaat ein-        zwei Jahre Übergangszeit ausgerichtet. Hier
bezogen werden kann.                           müsste die EU durchsetzen, dass Großbri-
   Großbritanniens Rolle als Abnehmer von      tannien in diesem Punkt Rechtssicherheit
EU-Regeln ohne Mitspracherecht wirft also      schafft und dafür sorgt, dass diese Bürger
bereits für die Übergangszeit die Frage nach   nicht zum Ende der Übergangszeit das Land
einem institutionellen Forum auf. Daher        wieder verlassen müssen. Das sollte selbst-
brauchen die EU-27 und Großbritannien          verständlich für Briten in der EU ebenso
nicht erst für das künftige Abkommen, son-     gelten.
dern schon für den Übergang einen eigenen
institutionellen Rahmen, um sich über
laufende Vorhaben, Streitschlichtung und       Außenhandel und Zollunion
Informationsaustausch zu verständigen.         Um den Status quo vorerst zu bewahren,
                                               sind zudem besondere Vorkehrungen in
                                               der Außenhandelspolitik erforderlich,

                                                                                              SWP-Aktuell 78
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wenn die gemeinsame Zollaußengrenze            EWR nötig, um die Herkunftsregeln im
                 des Binnenmarkts in der Übergangsphase         Warenverkehr durchzusetzen. Dies würde
                 Bestand haben soll. Nach einem Austritt        auch die Grenzregelung zwischen Irland
                 aus der EU ist Großbritannien nur mehr         und dem Vereinigten Königreich beein-
                 Drittstaat. Völkerrechtlich bedeutet dies,     trächtigen.
                 dass das Land nicht mehr ohne weiteres            Drittens enthalten viele wichtige Frei-
                 von den Abkommen zwischen der EU und           handelsabkommen Meistbegünstigungs-
                 anderen Drittstaaten wie Kanada, Südkorea      klauseln. Gemäß dem CETA-Abkommen
                 oder dem EWR abgedeckt ist.                    zum Beispiel muss die EU Kanada dieselben
                    Problematisch ist das vor allem für Groß-   Zollvergünstigungen bieten, die sie im ver-
                 britannien. So weisen die meisten Abkom-       gleichbaren Rahmen anderen Staaten ein-
                 men der EU Klauseln auf, nach denen die        räumt. Die EU und Großbritannien können
                 Wirkung dieser Abkommen auf das Terri-         sich also nicht gegenseitig Zollfreiheit zu-
                 torium der EU beziehungsweise ihrer            gestehen, ohne sie auch weiteren Dritt-
                 Mitgliedstaaten begrenzt bleibt. Groß-         staaten zu gewähren und damit zusätzliche
                 britannien wird daher schon für die Über-      Verpflichtungen einzugehen.
                 gangszeit versuchen, die Abkommen der             Will die EU die vollständige Integrität
                 EU mit Drittstaaten so bald wie möglich        des Binnenmarkts erhalten, müssten sich
                 weitgehend unverändert zu übernehmen.          also auch die EU-27 dafür einsetzen, mit
                 Erste Gespräche deuten jedoch darauf hin,      dem EWR sowie allen anderen betroffenen
                 dass diese Übernahme weder garantiert          Drittstaaten auszuhandeln, dass Großbri-
                 noch für die Partner der EU ohne Folgen ist.   tannien während der Übergangszeit von
                 Beispielsweise haben die EU-27 und Groß-       den jeweiligen Verträgen abgedeckt ist. Das
                 britannien in der Welthandelsorganisation      würde erhebliche politische und rechtliche
                 (WTO) vorgeschlagen, die bisher gemein-        Anstrengungen erfordern, auch wenn die
                 samen Einfuhrquoten der EU zwischen den        meisten Drittstaaten im Grundsatz daran
                 EU-27 und Großbritannien aufzuteilen.          interessiert sein dürften.
                 Gegen diese Idee wandten sich Staaten wie
                 die USA, Australien und Kanada, also enge
                 Partner sowohl der EU als auch Großbri-        Neue Haushaltszahlungen –
                 tanniens. Der Grund war, dass ihnen eine       auch nach der »Austrittsrechnung«
                 solche Regelung die Möglichkeit nähme, je      Des Weiteren lässt sich der Status quo nur
                 nach wirtschaftlicher Entwicklung ihren        dann bewahren, wenn die dafür notwendi-
                 Handel zwischen den Mitgliedstaaten der        gen finanziellen Mittel bereitstehen. Mit
                 EU zu verteilen.                               Abschluss der ersten Verhandlungsphase
                    Doch auch die Wirtschaft der EU-27 muss     hat Großbritannien garantiert, seine Ver-
                 mit indirekten Folgen rechnen. Erstens ver-    pflichtungen des laufenden Mehrjährigen
                 ändert Großbritanniens Status als Drittstaat   Finanzrahmens (MFR) komplett zu erfüllen.
                 auch die Kalkulation bei Herkunftsregeln          Dabei ist zu berücksichtigen, dass der
                 zur Zollbestimmung. Beispielsweise erhebt      MFR nur bis Ende 2020 gilt. Dauert die Über-
                 Südkorea gemäß seinem Freihandelsabkom-        gangsphase länger, wird ab Januar 2021
                 men mit der EU keine Zölle auf Autos, die      eine weitere finanzielle Beteiligung Londons
                 zu mindestens 55 Prozent in der EU produ-      am Haushalt der EU fällig. Das würde die
                 ziert wurden. Nach dem Brexit würden in        Verhandlungen über den nächsten MFR
                 Großbritannien gefertigte Teile jedoch nicht   verkomplizieren, weil dann Großbritanni-
                 mehr zum EU-Anteil zählen. Dadurch kann        en gleichzeitig als Mitgliedstaat und künf-
                 dieser unter die Zollfreiheitsgrenze sinken.   tiger Drittstaat firmieren würde. Selbst
                    Zweitens wären daher in der Übergangs-      nach einem Austritt könnte sich das Land
                 zeit trotz Binnenmarkt Zollkontrollen          seiner Zahlungsverpflichtung nicht ent-
                 zwischen Großbritannien und EU-27 sowie        ziehen. Auch die Schweiz und Norwegen

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leisten gemäß ihrer Wirtschaftsgröße Zah-       Alternativen
lungen in bestimmte EU-Töpfe, ohne vorab        Trotz der prinzipiellen Bereitschaft beider
bei der Haushaltsplanung der Union mit-         Verhandlungspartner ist also die (schnelle)
zuentscheiden. Nach Großbritanniens Aus-        Einigung auf eine Übergangsregelung alles
scheiden aus der EU entfiele zudem der          andere als garantiert. Sowohl für die Ver-
Rabatt für das Land, der bislang seine Netto-   handlungsführer der EU als auch für die
zahlungen begrenzt.                             britische Regierung stellt sich daher die
   Nicht zu unterschätzen ist ferner, dass      Frage nach Alternativen zum skizzierten
weitere finanzielle Forderungen an Groß-        Status-quo-Übergang.
britannien erheblichen politischen Zünd-           Rechtlich am einfachsten wäre es, die
stoff im Land selbst erzeugen würden. Aus       Zweijahresfrist für die Austrittsverhand-
britischer Sicht würde London direkt wie-       lungen zu verlängern. Gemäß Artikel 50 (3)
der zur Kasse gebeten, nachdem es gerade        EUV kann dies jederzeit und rechtlich un-
erst zugesagt hat, einen hohen zweistelli-      begrenzt einstimmig beschlossen werden.
gen Milliardenbetrag an die EU zu zahlen.       Bis zur Einigung oder bis zum Ablauf der
                                                verlängerten Frist bliebe Großbritannien
                                                reguläres Mitglied der EU. Politisch strebt
Zeitliche Begrenzung und Verlängerung           derzeit jedoch keine der beiden Seiten eine
Zu klären wäre schließlich, wie lange eine      solche Lösung an. Für die EU-27 würde sie
Übergangszeit dauern soll. Stimmen aus          bedeuten, dass Großbritannien über die
der britischen Wirtschaft, aber auch der        aktuelle Legislaturperiode hinaus als aus-
irische Außenminister fordern bis zu fünf       tretender Staat im Mai 2019 Europawahlen
Jahre Frist, während Premierministerin          organisieren müsste und gleichzeitig als
May und der britische Brexit-Minister David     Vetospieler weiterhin mit am Tisch säße.
Davis von rund zwei Jahren sprechen.            Die ohnehin fragile britische Regierung
   Die EU-27 haben sich in diesem Punkt         wiederum müsste ihr symbolisch bedeut-
noch nicht festgelegt. Eine »natürliche«        sames Hauptziel aufgeben, den Austritt bis
Befristung wäre die Dauer des aktuellen         März 2019 zu bewerkstelligen. Steigt indes
MFR. Er endet jedoch im Dezember 2020,          der wirtschaftliche Druck auf Großbritan-
so dass nur noch 21 Monate Übergangszeit        nien und ereignen sich weitere politische
blieben. Angesichts der Erfahrungen aus         Turbulenzen in London, könnte ein Ver-
den Brexit-Verhandlungen werden aber            längerungsantrag möglich werden.
auch zwei Jahre nicht ausreichen, um ein           Eine andere Option wäre ein Austritt
umfassendes Abkommen über die künf-             ohne Übergang, weil sich die beiden Partei-
tigen Beziehungen zwischen EU und Groß-         en nicht einigen können. Da der Übergang
britannien auszuhandeln.                        als Teil des Prozesses gemäß Artikel 50 EUV
   Beantwortet werden müsste daher auch         verhandelt wird, stände damit das komplet-
die Frage, ob die Übergangszeit verlängert      te Austrittsabkommen in Frage. Für dieses
werden kann. Sollten die Unterredungen          »No deal«-Szenario gibt es mittlerweile zwei
mit Großbritannien über ein Handels-            Varianten. Eine bestände im Zusammen-
abkommen ins Stocken geraten, könnten           bruch der Verhandlungen (»hostile no deal«).
die EU-27, aber auch die britische Regie-       Großbritannien würde nach Ablauf der
rung daran interessiert sein, die Über-         Zweijahresfrist ohne jegliche rechtliche
gangsphase auszudehnen. Allerdings dürfte       Regelungen aus dem Vertragswerk der EU
schon eine entsprechende Andeutung auf          ausscheiden. Dies hätte nicht nur einen
große innenpolitische Widerstände in            Rückfall auf WTO-Regeln in Handelsfragen
Großbritannien stoßen. Daher sollte eine        zur Folge. Das Vereinigte Königreich verlöre
Übergangsregelung auch eine Verlänge-           auch den Zugang zu allen anderen Regu-
rungsoption enthalten.                          lierungsräumen der EU, mit dramatischen
                                                Folgen für die britische Wirtschaft. Seit der

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Einigung in der ersten Phase, wobei London     während der Übergangsphase erfüllen will.
                              der EU weit entgegenkam, ist dieses            Erschwerend kommt die innenpolitische
                              Szenario jedoch deutlich weniger wahr-         Schwäche der Regierung May hinzu. Noch
                              scheinlich geworden.                           ist also keineswegs ausgemacht, dass die
                                 Die zweite »No deal«-Variante wäre eine     EU-27 und Großbritannien sich auf eine
                              Art Basisabkommen. Zwar würden sich die        Übergangsregelung verständigen werden.
                              EU und Großbritannien auf das reine Aus-       Deswegen ist eine konfliktreiche zweite
                              trittsabkommen einigen, einschließlich         Phase der Brexit-Verhandlungen mit un-
                              der Komponenten, die in der ersten Phase       gewissem Ausgang zu erwarten. Belastbar
                              vereinbart wurden. London würde aber           ist ein Status-quo-Übergangsregime nur
                              die Bedingungen für den Übergang nicht         dann, wenn Großbritannien mit einem
                              akzeptieren. Auch hier fiele der Handel auf    »Transition Act« die Gültigkeit des Rechts-
                              das WTO-Regelwerk zurück, aber die EU-27       rahmens der EU für diese Zeit national
                              und Großbritannien würden sich zumin-          verbindlich verankert.
© Stiftung Wissenschaft und   dest auf begleitende Maßnahmen verständi-         Zweitens steht den Forderungen der
Politik, 2017                 gen, um den Handel grundsätzlich auf-          Wirtschaft nach schnellstmöglicher Klar-
Alle Rechte vorbehalten
                              rechtzuerhalten, etwa darauf, dass britische   heit die Komplexität der hoch umstrittenen
Das Aktuell gibt die Auf-     Fluglinien weiterhin in der EU operieren       politischen Verhandlungen entgegen. Die
fassung des Autors wieder     können.                                        roten Linien beider Seiten und die bisheri-
SWP                              Zumindest theoretisch existiert noch die    gen Erfahrungen mit den Brexit-Verhand-
Stiftung Wissenschaft und     Option, dass Großbritannien seinen Aus-        lungen legen nahe, dass weitere harte
Politik
Deutsches Institut für        trittsantrag nach Artikel 50 EUV zurück-       Gespräche folgen werden – zwischen EU
Internationale Politik und    zieht und Mitglied der EU bleibt. Diese Mög-   und Großbritannien, aber nicht zuletzt in
Sicherheit
                              lichkeit ist rechtlich nicht ausdrücklich      London selbst. Hier wird auch die EU
Ludwigkirchplatz 3­4          vorgesehen. Gleichwohl haben EU-Politiker      Zugeständnisse machen müssen, um die
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
                              wie Ratspräsident Donald Tusk immer            Übergangsphase auszugestalten. Bei den
Fax +49 30 880 07-100         wieder betont, dass diese Tür offen bleibe.    einschlägigen Verhandlungen ginge es
www.swp-berlin.org            Angesichts der aktuellen politischen Dyna-     beispielsweise um die Rolle Großbritanni-
swp@swp-berlin.org
                              mik der britischen Innenpolitik bestehen       ens in den Institutionen der EU, weitere
ISSN 1611-6364                jedoch nur geringe Chancen auf eine solche     finanzielle Verpflichtungen nach 2020 und
                              Kehrtwende. Bisher hat es in der britischen    die Sicherung von EU-Recht. Auch müsste
                              Bevölkerung keinen Meinungsumschwung           man gemeinsam mit Drittstaaten abspre-
                              gegeben. Vielmehr würde ein Rücktritt vom      chen, inwieweit Freihandelsabkommen der
                              Brexit die konservative Partei und das ohne-   EU auf Großbritannien angewandt werden
                              hin gespaltene Land noch weiter zerreißen.     können.
                                                                                Drittens wird die Übergangsphase keine
                                                                             Brücke zu einem bereits definierten künf-
                              Ausblick                                       tigen Verhältnis zwischen EU und Groß-
                              Sowohl für Großbritannien als auch die EU-     britannien bilden. Sie wäre lediglich ein
                              27 bleibt also eine Übergangsregelung unter    Mittel, Großbritanniens Verbleib im Rechts-
                              schwierigen Optionen die beste, trotz der      rahmen der EU zu verlängern, damit über
                              komplexen Anforderungen an ihre Umset-         die künftigen Beziehungen verhandelt
                              zung. Aus dem Überblick über die notwen-       werden kann. März 2019 als Termin für ein
                              digen Komponenten einer Übergangsrege-         umfassendes Abkommen ist unrealistisch,
                              lung, die den Status quo erhält, lassen sich   selbst zwei Jahre Übergangsphase sind
                              drei zentrale Schlussfolgerungen ziehen.       ambitioniert. Der Übergang ist daher kein
                                 Erstens müsste die britische Regierung      Nebenschauplatz, sondern wird das euro-
                              gegen sämtliche Ziele der Brexit-Befürwor-     päisch-britische Verhältnis über die näch-
                              ter handeln, wenn sie die Bedingungen der      sten Jahre prägen.
                              EU-27 für einen Fortbestand des Status quo

   SWP-Aktuell 78
   Dezember 2017

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