Steiniger Weg für Großbritannien und die EU - Stiftung Wissenschaft ...
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SWP-Aktuell Einleitung Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Steiniger Weg für Großbritannien und die EU Eine Übergangsphase nach dem Brexit erfordert eine maßgeschneiderte Lösung Nicolai von Ondarza Die Verständigung auf ein Übergangsregime ist der wichtigste mittelfristige Baustein in der zweiten Phase der Brexit-Verhandlungen. Im März 2019 soll Großbritanniens Austritt aus der EU vollzogen sein, doch bis dahin wird es kein ausgehandeltes Abkom- men über die künftigen Beziehungen geben. An einem abrupten Ende ist indes keine der beiden Seiten interessiert. Daher hat Großbritannien um eine Übergangsregelung gebeten und auch die EU-27 ziehen eine solche Lösung in Betracht. Einfach wäre diese aber nicht. Aus Sicht der EU wäre nur eine vollständige Nachbildung des Status quo akzeptabel. Dafür müsste Großbritannien allerdings sämtliche Versprechen der Brexit- Befürworter brechen und mindestens zwei Jahre lang Regeln der EU anerkennen und umsetzen, ohne ein Mitspracherecht zu haben. Großbritannien läuft die Zeit davon. Auf- in den laufenden Gesprächen zu Haushalts- grund seiner Austrittsbekundung gemäß verpflichtungen der Briten, zu Rechten von Artikel 50 EUV wird das Land voraussicht- EU-Bürgern und zur Nordirland-Problematik. lich zum 29. März 2019 die Union verlassen Nach den selbst initiierten, für sie aber und für sie zum Drittstaat werden. Bis dahin schlecht ausgegangenen Neuwahlen ist May will Premierministerin Theresa May ein politisch geschwächt, ihr Kabinett zerstrit- umfassendes Abkommen mit der EU über ten und sie von der Unterstützung durch eine »Deep and Special Partnership« aus- die nordirische Democratic Unionist Party gehandelt haben. Dabei wäre Großbritan- abhängig. Deshalb konnte die Premier- nien nicht mehr Mitglied des Binnenmarkts ministerin die erste Verhandlungsphase und der Zollunion. mit den EU-27 nicht wie erhofft im Oktober Von einem solchen Abkommen sind 2017 abschließen. beide Seiten jedoch meilenweit entfernt. Nach harten Verhandlungen, vor allem Die Verhandlungen dazu haben noch nicht zur Nordirland-Frage, hat sich May im De- einmal begonnen. Bedingung der EU-27 zember 2017 mit den Unterhändlern der hierfür waren »ausreichende Fortschritte« EU-27 auf ausreichende Fortschritte geeinigt Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa SWP-Aktuell 78 Dezember 2017 1
und der Union in allen drei Bereichen schon während der Übergangsphase Teile erhebliche Zugeständnisse gemacht. Jetzt des EU-Acquis in Großbritannien nicht stehen die eigentlich schwierigen Unter- mehr gelten. redungen über das künftige Verhältnis zwischen EU und Großbritannien an (siehe hierzu SWP-Aktuell 74/2016). Die bisherigen Die Interessen der EU-27 Erfahrungen sowohl mit weitreichenden Die EU-27 hegen eine eigene Vorstellung. Freihandelsabkommen als auch den Brexit- Sie sind prinzipiell bereit, mit Großbritan- Verhandlungen deuten indes darauf hin, nien eine Übergangsphase für die Zeit nach dass ein umfassendes Zukunftsabkommen dessen Austritt zu verabreden. In den Leit- bis zum Austritt im März 2019 so gut wie linien für die Brexit-Verhandlungen hat der unmöglich ist. Europäische Rat festgelegt, dass Übergangs- regelungen getroffen werden können – »soweit notwendig und rechtlich möglich«. Drei Vorstellungen von »Übergang« Die Europäische Kommission begreift Angesichts des rigiden Zeitplans rückt die eine Übergangsphase vor allem als Mittel, Frage einer Übergangsregelung in den Blick- um Großbritannien und den EU-27 mehr punkt. Auf ihrer Brexit-Rede im September Zeit für die komplexen Verhandlungen 2017 in Florenz hat sich May erstmals expli- über das künftige Verhältnis zu verschaf- zit für eine solche Lösung ausgesprochen. fen. Daher erwartet EU-Verhandlungsführer Allerdings gibt es drei widersprüchliche Michel Barnier, dass das endgültige Han- Vorstellungen dazu, wie und mit welchen delsabkommen erst nach dem Austritt, also Zielen dieser Übergang festgelegt werden während der Übergangszeit geschlossen soll. So fordert die britische Wirtschaft wird. Dies ist an die Prämisse gekoppelt, die Planungssicherheit für die Zeit nach März Integrität des Binnenmarkts zu bewahren 2019. Ein abrupter Austritt würde starke und hier keine Ausnahmen zuzulassen. Mit wirtschaftliche Verwerfungen nach sich dieser Haltung verfolgen die EU-27 drei Ziele. ziehen. Daher verlangen britische Unter- Erstens ergibt eine Übergangsphase aus nehmen, vor allem aus der Finanzbranche, Sicht der EU-27 nur dann Sinn, wenn Groß- bis spätestens Frühjahr 2018 Klarheit dar- britannien für diesen Zeitraum den gesam- über zu schaffen, wie der Handel mit der ten Acquis der EU akzeptiert und vollstän- EU ab 30. März 2019 geregelt sein wird. Die dig an allen Politiken der Union teilnimmt. vollständige Teilnahme an Binnenmarkt Wird dem Land aber zugestanden, sich die und Zollunion nach dem Brexit solle mög- vorteilhaftesten Punkte des Acquis »heraus- lichst lange garantiert werden. Andernfalls, zupicken«, würde das den Binnenmarkt so das Argument, müssten sich Unterneh- untergraben und die Position der EU bei men für einen ungeregelten Austritt wapp- den Verhandlungen über die künftigen nen und ihre Notfallpläne in Gang setzen. Beziehungen schwächen. Zweitens haben Premierministerin May spricht hingegen auch die EU-27 ein Interesse daran, dass von einer »Implementierungsphase«, die Großbritannien zum März 2019 die politi- gleichzeitig mit einem Abkommen über schen Institutionen der EU verlässt. Ein das künftige Verhältnis vereinbart werden Drittstaat kann nicht an der Entscheidungs- soll. Dazu müsste man sich zumindest in findung der Union mitwirken. Drittens Grundzügen darauf verständigen, wie die schließlich ließe sich mit einer Übergangs- künftigen Beziehungen aussehen sollen. In regelung einer der kompliziertesten Streit- diesem Sinne soll Großbritannien während punkte des Brexit politisch einfrieren, der Implementierungsphase schrittweise nämlich das Problem der Grenze zwischen in seine neue Rolle als Drittstaat mit einer Nordirland und der Republik Irland. Aus »Deep and Special Partnership« mit der EU Sicht der EU muss eine solche Regelung überführt werden. Das hieße auch, dass garantieren, dass der Status quo aufrecht- SWP-Aktuell 78 Dezember 2017 2
erhalten wird, also die Grenze bis zum den Rechtsrahmen der EU beibehält. Die Ende der Übergangsphase offen bleibt. Union und ihr Binnenmarkt sind in erster Linie ein Raum gemeinsamen Rechts. Gemäß Artikel 50 (3) EUV finden die EU- Der Teufel steckt im Detail Verträge aber ab dem Tag, an dem das Aus- Im Prinzip befürworten also die britische trittsabkommen in Kraft tritt, im Drittstaat Regierung, die Wirtschaft des Landes und Großbritannien keine Anwendung mehr. die EU-27 eine Übergangsphase. Uneins ist Die britische Regierung will daher mit der man sich darüber, wann und wie lange die sogenannten Withdrawal Bill zum Austritts- Regelungen dafür gelten sollen. Vor allem tag den gesamten Acquis der EU in natio- die EU würde sich wohl nur auf eine um- nales Recht umwandeln. Auf den ersten fassende Vereinbarung einlassen, aber Blick bestände damit weiterhin Konvergenz nicht auf eine Implementierungsphase. zwischen EU-Recht und britischem Recht. Hinzu kommen juristische und politische Gleichzeitig soll die Withdrawal Bill den Barrieren für eine Status-quo-Übergangs- European Communities Act (ECA) aufheben. regelung. Rechtlich betrachtet ist eine Dieser zentrale, 1972 zum Beitritt Groß- Weiterführung des Status quo für Groß- britanniens beschlossene Rechtsakt ist bis- britannien nicht möglich, denn der Kern her der Verknüpfungspunkt zwischen EU- des Austritts aus der Union liegt ja gerade Recht und britischen Recht. darin, dass sich Großbritanniens Status Doch die Withdrawal Bill muss nicht ändert und das Land von einem EU-Mitglied nur beide Häuser des britischen Parlaments zu einem Drittstaat wird. Es gilt also aus- passieren. Selbst wenn das Land das EU- zuhandeln, wie, unter welchen Bedingun- Recht vollständig übernähme, wären noch gen und wie lange die Substanz der EU- mindestens vier rechtliche und damit auch Mitgliedschaft Großbritanniens aufrecht- politische Herausforderungen zu meistern. erhalten werden kann, besonders die Teil- Erstens kollidieren Vorstellungen der nahme an Binnenmarkt und Zollunion. Brexit-Befürworter mit EU-Recht. Eins ihrer Eine politische Übereinkunft, den Status Hauptargumente lautete, man wolle die quo beizubehalten, reicht also nicht aus. parlamentarische Souveränität wieder- Vielmehr muss für das Übergangsregime erlangen (»take back control«). Dies steht ein Format gefunden werden, das Groß- im Widerspruch zu einem grundlegenden britannien im gemeinsamen Rechtsraum Prinzip des Europarechts, das der Europä- der EU hält. Die Übergangsregeln können ische Gerichtshof (EuGH) in seinen Urteilen rechtlich als Teil des Austrittsabkommens festgelegt hat. Es besagt, dass die Gesetz- nach Artikel 50 EUV beschlossen werden, gebung der EU Vorrang genießt, sollten solange sie zeitlich begrenzt sind. Politisch nationales Recht und EU-Recht miteinander ist dafür aber notwendig, dass sich London in Konflikt geraten. Die Withdrawal Bill für die Zeit des Übergangs europäischem soll diesen Vorrang aber am Tag des Aus- Recht unterwirft, ohne ein Mitspracherecht tritts annullieren, so dass das britische Par- zu besitzen. Betrachtet man die Erforder- lament oder sogar die Regierung von EU- nisse genauer, wachsen die Zweifel daran, Recht abweichen können. Rechtlich ist dies dass der gerade von London geforderte der Kern des EU-Austritts überhaupt. Für Status-quo-Übergang politisch machbar ist. eine Status-quo-Übergangsregelung aber müsste Großbritannien den weiteren Vor- rang von EU-Recht äquivalent zum bestehen- Aufrechterhaltung des den ECA garantieren, indem Urteile des gemeinsamen Rechtsraums EuGH weiterhin als verbindlich gelten. Um während der Übergangszeit den Status Andernfalls könnte London beispielsweise quo fortführen zu können, müsste Groß- jederzeit niedrigere Standards als im EU- britannien vor allem garantieren, dass es Recht vorgesehen beschließen und auf SWP-Aktuell 78 Dezember 2017 3
diese Weise die Fundamente des Binnen- an den EuGH verweisen, und wenn ja, unter markts aushöhlen. welchen Umständen? Zwar hat Premier- Zweitens müsste Großbritannien ge- ministerin May im Parlament einer Rolle währleisten, dass künftiges Unionsrecht des EuGH in der Übergangszeit keine klare umgesetzt wird. Der Großteil der EU-Gesetz- Absage erteilt. Die Regelung von Jurispru- gebung beruht auf Richtlinien, die binnen denz, Streitschlichtung und Durchsetzung einer bestimmten Frist in nationales Recht von EU-Regeln dürfte sich im Detail indes umgewandelt werden müssen. Solange als außerordentlich schwierig herausstellen. Großbritannien während der Übergangs- Um all dies zu sichern, müsste Groß- zeit vollen Zugang zum Binnenmarkt be- britannien für die Übergangszeit das In- hält, müsste es garantieren, dass es neue krafttreten der Withdrawal Bill zumindest Richtlinien in nationales Recht überführt, teilweise aussetzen und stattdessen ein ohne über sie mitzubestimmen. Auch dies Äquivalent zum ECA schaffen, einen »Tran- ist innerhalb Großbritanniens bisher über sition Act«. Die Premierministerin braucht den ECA gesichert. Zudem sind Schottland, also eine politische Mehrheit in beiden Wales und Nordirland über den ECA ver- Kammern des britischen Parlaments, um pflichtet, EU-Richtlinien umzusetzen, die in Großbritannien für die Übergangszeit ihre Autonomierechte fallen. In der Öffent- zum reinen Empfänger von EU-Regeln zu lichkeit hat sich die britische Regierung machen. Angesichts ihrer knappen Parla- aufgeschlossen für eine Lösung gezeigt. mentsmehrheit und mehr als 40 harter London argumentierte, während einer zwei- EU-Gegner in ihrer Fraktion ist unsicher, jährigen Übergangsphase müssten ohnehin ob sie diese Mehrheit ohne Unterstützung hauptsächlich Rechtsakte umgesetzt wer- durch die Opposition erreichen kann. den, an denen es noch mitgewirkt habe. Drittens entfaltet EU-Recht auch in Mit- gliedstaaten eine unmittelbare Geltung. In Großbritannien und die Großbritannien ist diese bislang ebenfalls Institutionen der EU durch den ECA gewährleistet. Will das Land Eine Übergangsregelung müsste zudem die sich in der Übergangszeit wie bisher am institutionelle Verortung Großbritanniens Binnenmarkt beteiligen, müsste es zumin- klären. Premierministerin May hat bereits dest einen Nachvollzug von Verordnungen angekündigt, dass die Briten während des mit dann unmittelbarer Wirksamkeit nach Übergangs die »politischen« Institutionen britischem Recht garantieren, analog zur der EU verlassen werden. Was das genau Praxis der Staaten des Europäischen Wirt- bedeuten soll, muss noch ergründet wer- schaftsraums (EWR). Das gälte auch für EU- den. Selbstverständlich sollte sein, dass die Verordnungen, die größtenteils oder voll- britischen Vertreter sich aus Rat, Kommis- ständig ohne britische Mitsprache in der sion, Parlament, Gerichtshof und Rech- Übergangsphase entstehen. nungshof der EU zurückziehen. Viertens wäre festzulegen, auf welche In einer Übergangsregelung gewänne Weise wirksame Durchsetzungsmechanis- diese natürliche Konsequenz des Austritts men während des Übergangs garantiert jedoch an politischer Brisanz. Das gilt werden können, um den Rechtsraum auf- besonders für Politikbereiche, in denen die rechtzuerhalten. Dies wirft Fragen für die EU distributive Entscheidungen trifft. In Jurisprudenz des Europäischen Gerichts- der Fischereipolitik zum Beispiel könnten hofs auf: Inwieweit sind seine Urteile die EU-27 Fangquoten zum Nachteil Groß- weiterhin für britische Gerichte verbind- britanniens beschließen, da es keinen Sitz lich? Kann Großbritannien vor dem EuGH am Verhandlungstisch hat. Deshalb forder- verklagt werden, wenn es Rechtspflichten te der heutige britische Landwirtschafts- nicht erfüllt? Können britische Gerichte minister Michael Gove, ein Protagonist der während der Übergangszeit Rechtsfragen Austrittskampagne, Großbritannien solle SWP-Aktuell 78 Dezember 2017 4
schon in der Übergangsphase aus der EU-Bürger und Freizügigkeit Fischereipolitik der Union aussteigen. Bedingung der EU-27 für eine Übergangs- Andere Nordseeanrainer wie Dänemark, die phase ist auch die Bewahrung aller vier Niederlande oder Irland dürften stark Freiheiten des Binnenmarkts. In der briti- daran interessiert sein, die Fangquoten der schen Debatte ist die Frage der Personen- EU beizubehalten und ihre Fischereiinter- freizügigkeit politisch besonders aufgela- essen gegenüber denen Großbritanniens den. Aus Sicht der britischen Regierung durchzusetzen. war die Reduzierung der (Arbeits-)Migration Nicht aus dem Auge zu verlieren wären aus anderen EU-Staaten ein wichtiges, auch die Schwierigkeiten bei den ausgela- wenn nicht gar das Hauptziel derjenigen gerten Institutionen der EU. Hierzu gehö- Briten, die für den Austritt gestimmt haben. ren die Komitologie-Ausschüsse, in denen Premierministerin May hatte daher 2016 Durchführungsbeschlüsse zu EU-Rechts- zunächst angekündigt, die Freizügigkeit akten erlassen werden. Die Bedeutung der unverzüglich zu beenden, sobald Groß- Ausschüsse vor allem für das Funktionieren britannien die Union verlassen habe. des Binnenmarkts wurde zuletzt etwa bei Mittlerweile hat die britische Regierung der umstrittenen Glyphosat-Entscheidung jedoch zugestanden, dass die Freizügigkeit augenfällig. Gemäß Artikel 100/101 EWR- auch in der Übergangszeit gelten soll. Abkommen haben die EWR-Staaten Zugang Bürger, die während dieser Zeit nach Groß- zu den Ausschüssen, andere Drittstaaten britannien einwandern, sollen aber ver- aber nicht. Man müsste sich darüber eini- pflichtet werden, sich eigens zu registrie- gen, ob und unter welchen Bedingungen ren. Dieses System sollte sorgfältig darauf- britische Vertreter teilnehmen können. hin geprüft werden, ob es mit EU-Recht Unklarheit herrscht auch, was Großbri- vereinbar ist. tanniens Engagement in den zurzeit 38 EU- Betroffen sind überdies die Rechte von Agenturen anbelangt. Zum Teil überneh- EU-Bürgern in Großbritannien. In der ersten men sie wichtige Aufgaben bei der Regulie- Phase der Brexit-Verhandlungen haben sich rung des Binnenmarkts. In den Agenturen London und Brüssel darauf geeinigt, die sind die EU-Mitgliedstaaten vertreten, bis- Rechte derjenigen EU-Bürger zu sichern, die weilen aber auch Drittstaaten wie Norwe- bis zum Tag des Austritts in Großbritanni- gen. Allerdings genießen diese kein Stimm- en leben. Wird die Freizügigkeit beibehal- recht, obwohl sie an die Beschlüsse der ten, stellt sich diese Frage jedoch auch für jeweiligen EU-Agentur und das EU-Recht in jene EU-Bürger, die während der Über- ihrem Anwendungsbereich gebunden sind. gangsphase ins Land kommen werden. Die Hier wäre jeweils einzeln für alle 38 Agen- meisten Studienprogramme und Arbeits- turen auszuhandeln, ob und in welchem plätze sind auf mehr als die anvisierten Maße Großbritannien als Drittstaat ein- zwei Jahre Übergangszeit ausgerichtet. Hier bezogen werden kann. müsste die EU durchsetzen, dass Großbri- Großbritanniens Rolle als Abnehmer von tannien in diesem Punkt Rechtssicherheit EU-Regeln ohne Mitspracherecht wirft also schafft und dafür sorgt, dass diese Bürger bereits für die Übergangszeit die Frage nach nicht zum Ende der Übergangszeit das Land einem institutionellen Forum auf. Daher wieder verlassen müssen. Das sollte selbst- brauchen die EU-27 und Großbritannien verständlich für Briten in der EU ebenso nicht erst für das künftige Abkommen, son- gelten. dern schon für den Übergang einen eigenen institutionellen Rahmen, um sich über laufende Vorhaben, Streitschlichtung und Außenhandel und Zollunion Informationsaustausch zu verständigen. Um den Status quo vorerst zu bewahren, sind zudem besondere Vorkehrungen in der Außenhandelspolitik erforderlich, SWP-Aktuell 78 Dezember 2017 5
wenn die gemeinsame Zollaußengrenze EWR nötig, um die Herkunftsregeln im des Binnenmarkts in der Übergangsphase Warenverkehr durchzusetzen. Dies würde Bestand haben soll. Nach einem Austritt auch die Grenzregelung zwischen Irland aus der EU ist Großbritannien nur mehr und dem Vereinigten Königreich beein- Drittstaat. Völkerrechtlich bedeutet dies, trächtigen. dass das Land nicht mehr ohne weiteres Drittens enthalten viele wichtige Frei- von den Abkommen zwischen der EU und handelsabkommen Meistbegünstigungs- anderen Drittstaaten wie Kanada, Südkorea klauseln. Gemäß dem CETA-Abkommen oder dem EWR abgedeckt ist. zum Beispiel muss die EU Kanada dieselben Problematisch ist das vor allem für Groß- Zollvergünstigungen bieten, die sie im ver- britannien. So weisen die meisten Abkom- gleichbaren Rahmen anderen Staaten ein- men der EU Klauseln auf, nach denen die räumt. Die EU und Großbritannien können Wirkung dieser Abkommen auf das Terri- sich also nicht gegenseitig Zollfreiheit zu- torium der EU beziehungsweise ihrer gestehen, ohne sie auch weiteren Dritt- Mitgliedstaaten begrenzt bleibt. Groß- staaten zu gewähren und damit zusätzliche britannien wird daher schon für die Über- Verpflichtungen einzugehen. gangszeit versuchen, die Abkommen der Will die EU die vollständige Integrität EU mit Drittstaaten so bald wie möglich des Binnenmarkts erhalten, müssten sich weitgehend unverändert zu übernehmen. also auch die EU-27 dafür einsetzen, mit Erste Gespräche deuten jedoch darauf hin, dem EWR sowie allen anderen betroffenen dass diese Übernahme weder garantiert Drittstaaten auszuhandeln, dass Großbri- noch für die Partner der EU ohne Folgen ist. tannien während der Übergangszeit von Beispielsweise haben die EU-27 und Groß- den jeweiligen Verträgen abgedeckt ist. Das britannien in der Welthandelsorganisation würde erhebliche politische und rechtliche (WTO) vorgeschlagen, die bisher gemein- Anstrengungen erfordern, auch wenn die samen Einfuhrquoten der EU zwischen den meisten Drittstaaten im Grundsatz daran EU-27 und Großbritannien aufzuteilen. interessiert sein dürften. Gegen diese Idee wandten sich Staaten wie die USA, Australien und Kanada, also enge Partner sowohl der EU als auch Großbri- Neue Haushaltszahlungen – tanniens. Der Grund war, dass ihnen eine auch nach der »Austrittsrechnung« solche Regelung die Möglichkeit nähme, je Des Weiteren lässt sich der Status quo nur nach wirtschaftlicher Entwicklung ihren dann bewahren, wenn die dafür notwendi- Handel zwischen den Mitgliedstaaten der gen finanziellen Mittel bereitstehen. Mit EU zu verteilen. Abschluss der ersten Verhandlungsphase Doch auch die Wirtschaft der EU-27 muss hat Großbritannien garantiert, seine Ver- mit indirekten Folgen rechnen. Erstens ver- pflichtungen des laufenden Mehrjährigen ändert Großbritanniens Status als Drittstaat Finanzrahmens (MFR) komplett zu erfüllen. auch die Kalkulation bei Herkunftsregeln Dabei ist zu berücksichtigen, dass der zur Zollbestimmung. Beispielsweise erhebt MFR nur bis Ende 2020 gilt. Dauert die Über- Südkorea gemäß seinem Freihandelsabkom- gangsphase länger, wird ab Januar 2021 men mit der EU keine Zölle auf Autos, die eine weitere finanzielle Beteiligung Londons zu mindestens 55 Prozent in der EU produ- am Haushalt der EU fällig. Das würde die ziert wurden. Nach dem Brexit würden in Verhandlungen über den nächsten MFR Großbritannien gefertigte Teile jedoch nicht verkomplizieren, weil dann Großbritanni- mehr zum EU-Anteil zählen. Dadurch kann en gleichzeitig als Mitgliedstaat und künf- dieser unter die Zollfreiheitsgrenze sinken. tiger Drittstaat firmieren würde. Selbst Zweitens wären daher in der Übergangs- nach einem Austritt könnte sich das Land zeit trotz Binnenmarkt Zollkontrollen seiner Zahlungsverpflichtung nicht ent- zwischen Großbritannien und EU-27 sowie ziehen. Auch die Schweiz und Norwegen SWP-Aktuell 78 Dezember 2017 6
leisten gemäß ihrer Wirtschaftsgröße Zah- Alternativen lungen in bestimmte EU-Töpfe, ohne vorab Trotz der prinzipiellen Bereitschaft beider bei der Haushaltsplanung der Union mit- Verhandlungspartner ist also die (schnelle) zuentscheiden. Nach Großbritanniens Aus- Einigung auf eine Übergangsregelung alles scheiden aus der EU entfiele zudem der andere als garantiert. Sowohl für die Ver- Rabatt für das Land, der bislang seine Netto- handlungsführer der EU als auch für die zahlungen begrenzt. britische Regierung stellt sich daher die Nicht zu unterschätzen ist ferner, dass Frage nach Alternativen zum skizzierten weitere finanzielle Forderungen an Groß- Status-quo-Übergang. britannien erheblichen politischen Zünd- Rechtlich am einfachsten wäre es, die stoff im Land selbst erzeugen würden. Aus Zweijahresfrist für die Austrittsverhand- britischer Sicht würde London direkt wie- lungen zu verlängern. Gemäß Artikel 50 (3) der zur Kasse gebeten, nachdem es gerade EUV kann dies jederzeit und rechtlich un- erst zugesagt hat, einen hohen zweistelli- begrenzt einstimmig beschlossen werden. gen Milliardenbetrag an die EU zu zahlen. Bis zur Einigung oder bis zum Ablauf der verlängerten Frist bliebe Großbritannien reguläres Mitglied der EU. Politisch strebt Zeitliche Begrenzung und Verlängerung derzeit jedoch keine der beiden Seiten eine Zu klären wäre schließlich, wie lange eine solche Lösung an. Für die EU-27 würde sie Übergangszeit dauern soll. Stimmen aus bedeuten, dass Großbritannien über die der britischen Wirtschaft, aber auch der aktuelle Legislaturperiode hinaus als aus- irische Außenminister fordern bis zu fünf tretender Staat im Mai 2019 Europawahlen Jahre Frist, während Premierministerin organisieren müsste und gleichzeitig als May und der britische Brexit-Minister David Vetospieler weiterhin mit am Tisch säße. Davis von rund zwei Jahren sprechen. Die ohnehin fragile britische Regierung Die EU-27 haben sich in diesem Punkt wiederum müsste ihr symbolisch bedeut- noch nicht festgelegt. Eine »natürliche« sames Hauptziel aufgeben, den Austritt bis Befristung wäre die Dauer des aktuellen März 2019 zu bewerkstelligen. Steigt indes MFR. Er endet jedoch im Dezember 2020, der wirtschaftliche Druck auf Großbritan- so dass nur noch 21 Monate Übergangszeit nien und ereignen sich weitere politische blieben. Angesichts der Erfahrungen aus Turbulenzen in London, könnte ein Ver- den Brexit-Verhandlungen werden aber längerungsantrag möglich werden. auch zwei Jahre nicht ausreichen, um ein Eine andere Option wäre ein Austritt umfassendes Abkommen über die künf- ohne Übergang, weil sich die beiden Partei- tigen Beziehungen zwischen EU und Groß- en nicht einigen können. Da der Übergang britannien auszuhandeln. als Teil des Prozesses gemäß Artikel 50 EUV Beantwortet werden müsste daher auch verhandelt wird, stände damit das komplet- die Frage, ob die Übergangszeit verlängert te Austrittsabkommen in Frage. Für dieses werden kann. Sollten die Unterredungen »No deal«-Szenario gibt es mittlerweile zwei mit Großbritannien über ein Handels- Varianten. Eine bestände im Zusammen- abkommen ins Stocken geraten, könnten bruch der Verhandlungen (»hostile no deal«). die EU-27, aber auch die britische Regie- Großbritannien würde nach Ablauf der rung daran interessiert sein, die Über- Zweijahresfrist ohne jegliche rechtliche gangsphase auszudehnen. Allerdings dürfte Regelungen aus dem Vertragswerk der EU schon eine entsprechende Andeutung auf ausscheiden. Dies hätte nicht nur einen große innenpolitische Widerstände in Rückfall auf WTO-Regeln in Handelsfragen Großbritannien stoßen. Daher sollte eine zur Folge. Das Vereinigte Königreich verlöre Übergangsregelung auch eine Verlänge- auch den Zugang zu allen anderen Regu- rungsoption enthalten. lierungsräumen der EU, mit dramatischen Folgen für die britische Wirtschaft. Seit der SWP-Aktuell 78 Dezember 2017 7
Einigung in der ersten Phase, wobei London während der Übergangsphase erfüllen will. der EU weit entgegenkam, ist dieses Erschwerend kommt die innenpolitische Szenario jedoch deutlich weniger wahr- Schwäche der Regierung May hinzu. Noch scheinlich geworden. ist also keineswegs ausgemacht, dass die Die zweite »No deal«-Variante wäre eine EU-27 und Großbritannien sich auf eine Art Basisabkommen. Zwar würden sich die Übergangsregelung verständigen werden. EU und Großbritannien auf das reine Aus- Deswegen ist eine konfliktreiche zweite trittsabkommen einigen, einschließlich Phase der Brexit-Verhandlungen mit un- der Komponenten, die in der ersten Phase gewissem Ausgang zu erwarten. Belastbar vereinbart wurden. London würde aber ist ein Status-quo-Übergangsregime nur die Bedingungen für den Übergang nicht dann, wenn Großbritannien mit einem akzeptieren. Auch hier fiele der Handel auf »Transition Act« die Gültigkeit des Rechts- das WTO-Regelwerk zurück, aber die EU-27 rahmens der EU für diese Zeit national und Großbritannien würden sich zumin- verbindlich verankert. © Stiftung Wissenschaft und dest auf begleitende Maßnahmen verständi- Zweitens steht den Forderungen der Politik, 2017 gen, um den Handel grundsätzlich auf- Wirtschaft nach schnellstmöglicher Klar- Alle Rechte vorbehalten rechtzuerhalten, etwa darauf, dass britische heit die Komplexität der hoch umstrittenen Das Aktuell gibt die Auf- Fluglinien weiterhin in der EU operieren politischen Verhandlungen entgegen. Die fassung des Autors wieder können. roten Linien beider Seiten und die bisheri- SWP Zumindest theoretisch existiert noch die gen Erfahrungen mit den Brexit-Verhand- Stiftung Wissenschaft und Option, dass Großbritannien seinen Aus- lungen legen nahe, dass weitere harte Politik Deutsches Institut für trittsantrag nach Artikel 50 EUV zurück- Gespräche folgen werden – zwischen EU Internationale Politik und zieht und Mitglied der EU bleibt. Diese Mög- und Großbritannien, aber nicht zuletzt in Sicherheit lichkeit ist rechtlich nicht ausdrücklich London selbst. Hier wird auch die EU Ludwigkirchplatz 34 vorgesehen. Gleichwohl haben EU-Politiker Zugeständnisse machen müssen, um die 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 wie Ratspräsident Donald Tusk immer Übergangsphase auszugestalten. Bei den Fax +49 30 880 07-100 wieder betont, dass diese Tür offen bleibe. einschlägigen Verhandlungen ginge es www.swp-berlin.org Angesichts der aktuellen politischen Dyna- beispielsweise um die Rolle Großbritanni- swp@swp-berlin.org mik der britischen Innenpolitik bestehen ens in den Institutionen der EU, weitere ISSN 1611-6364 jedoch nur geringe Chancen auf eine solche finanzielle Verpflichtungen nach 2020 und Kehrtwende. Bisher hat es in der britischen die Sicherung von EU-Recht. Auch müsste Bevölkerung keinen Meinungsumschwung man gemeinsam mit Drittstaaten abspre- gegeben. Vielmehr würde ein Rücktritt vom chen, inwieweit Freihandelsabkommen der Brexit die konservative Partei und das ohne- EU auf Großbritannien angewandt werden hin gespaltene Land noch weiter zerreißen. können. Drittens wird die Übergangsphase keine Brücke zu einem bereits definierten künf- Ausblick tigen Verhältnis zwischen EU und Groß- Sowohl für Großbritannien als auch die EU- britannien bilden. Sie wäre lediglich ein 27 bleibt also eine Übergangsregelung unter Mittel, Großbritanniens Verbleib im Rechts- schwierigen Optionen die beste, trotz der rahmen der EU zu verlängern, damit über komplexen Anforderungen an ihre Umset- die künftigen Beziehungen verhandelt zung. Aus dem Überblick über die notwen- werden kann. März 2019 als Termin für ein digen Komponenten einer Übergangsrege- umfassendes Abkommen ist unrealistisch, lung, die den Status quo erhält, lassen sich selbst zwei Jahre Übergangsphase sind drei zentrale Schlussfolgerungen ziehen. ambitioniert. Der Übergang ist daher kein Erstens müsste die britische Regierung Nebenschauplatz, sondern wird das euro- gegen sämtliche Ziele der Brexit-Befürwor- päisch-britische Verhältnis über die näch- ter handeln, wenn sie die Bedingungen der sten Jahre prägen. EU-27 für einen Fortbestand des Status quo SWP-Aktuell 78 Dezember 2017 8
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