Stiftskirche Stuttgart - Sonntag 08. August 2021 / "Israel-Sonntag"
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Stiftskirche Stuttgart Sonntag 08. August 2021 / „Israel-Sonntag“ Prälatin Gabriele Arnold 2. Mose 19, 1-6 2. Mose 19,1-6 „Ankunft am Sinai“ 1 Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. 2 Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. 3 Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: 4 Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. 5 Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. 6 Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst. Sie sind irgendwo im Nirgendwo, im Niemandsland. Niemand interessiert sich für diese abgelegenen Berge, niemand kommt hier vorbei. Und genau hier ist der staubige Menschenzug auf seinem Fußmarsch gelandet: Niemand im Niemandsland. Vorher waren sie niemand – Sklaven sind ja nichts wert. Jetzt sind sie niemand – denn niemand weiß, dass sie hier sind, niemand heißt sie willkommen. Sie sind frei – aber sie sind ohne Staat, ohne Ort, ohne Rechte. Niemanden interessiert es, wenn das versprengte Häuflein nicht aus der Wüste zurückkommt. Eigentlich müsste die Geschichte an dieser Stelle zu Ende sein, die Spur der befreiten Sklaven sich im Sande verlieren. Aber über die Geflüchteten haben sich schützende Flügel gebreitet. Hier im Nirgendwo auf dem Berg hört Mose die Stimme, die sagt: Ihr seid hier, weil ich es wollte. Ihr seid nicht verloren. Ihr gehört mir. Denn alles, ihr und dieser Berg im Niemandsland und alle Völker und die ganze Erde, ist mein. Und ich habe euch erwählt vor allen anderen Völkern.
Wie viele andere Worte aus dem Alten Testament machen uns diese Worte ganz klar: Wir sind zuerst einmal nicht gemeint. Zuerst ist Israel gemeint, Jüdinnen und Juden damals und Jüdinnen und Juden heute. Wir stehen höchstens in der zweiten Reihe. Wir hören Gottes Worte, die anderen gelten und zugleich sind dies Worte, die wir bitter nötig haben. Auch wir brauchen Adlerflügel, die uns aus der Not hinwegtragen, auch wir brauchen Adlerflügel, die uns wieder Leben geben und uns über unseren Horizont schauen lassen. Auch wir glauben doch an diesen Gott genauso wie Jüdinnen und Juden in aller Welt. Aber zunächst einmal bleiben diese Worte Worte an Israel. Heute am Israelsonntag feiern wir unsere Verbundenheit mit Israel, aber worin hat diese Verbundenheit denn ihren Grund? Wieso nehmen wir die Worte an Israel als Worte an uns? Nehmen wir sie denn zu Recht? Irgendwo im Nirgendwo, irgendwo in einem Dorf in der Provinz, wird ein Junge geboren, ein kleiner Junge mit jüdischen Eltern. Mit knapper Not entgeht er der Gewalt und der Willkür, mit denen der Herrscher das Land überzieht. Hals über Kopf flüchtet die junge Familie vor der Verfolgung. Im fremden Land sind sie niemand, haben kein Haus, keinen Ort, keine Papiere; aber Gott sei Dank, das Kind ist in Sicherheit. Schützende Flügel haben sich über die junge Familie gebreitet. Der Junge wird größer, hört samstags in der Synagoge von der Befreiung durch den rettenden Gott. Er setzt sich mit vielen Menschen an einen Tisch, teilt mit ihnen das Brot und hört ihnen zu. Er heilt mit seinen Händen und seinen Worten. Er feiert Passa und die anderen jüdischen Feste. Er setzt sich der Gewalt der Mächtigen aus und stirbt am Ende daran. Und dann wird er selbst zum Inbegriff für Gottes befreiendes Handeln. Auf Adlerflügeln bringt Gott seinen Sohn ins Leben zurück. Und die, die dabei sind, tragen den Bund mit dem rettenden Gott in die Völker hinaus: Bis an die Enden der Erde werden Menschen auf den Namen Jesu getauft. So hat er es geboten. Machet zu Jüngern alle Völker. Es beginnt bei Jesus und Paulus, der jüdische Schriftgelehrte setzt es von allen Nachfolgern Jesu am entschiedensten um. Dieser Gott, der Israel liebt und erwählt, ist nun nicht mehr nur der Schöpfer und Herr der ganzen Welt – das war und ist auch für Israel und den jüdischen Glauben unzweifelhaft. Doch von nun an haben alle Menschen auf der ganzen weiten Erde Zugang
zu ihm, gehören zu ihm, „Juden und Heiden“, wie das Paulus formuliert. Heiden, also wir, müssen nicht mehr zuerst Juden werden, um zu Gott gehören zu können. Paulus hat dafür gekämpft. Es findet also ein ungeheure, eine grenzenlose Weitung statt, und dadurch verändert sich fast alles. Ihr sollt mein Eigentum sein vor allen Völkern, sagt Gott zu Israel. Aber dann dürfen auch die anderen kommen. Aber dazu kommen. Die Erwählung, das Erstgeburtsrecht Israels bleibt unangetastet. Gott hat sein Volk Israel zuerst zu seinem Eigentum erwählt. Der Gott, an den wir - gemeinsam mit dem jüdischen Volk - glauben, ist einer, der erwählt. Erwählen, das ist eine einseitige Sache, einer erwählt, der andere wird erwählt. So erwählt zu werden, das fühlt sich unheimlich gut an. Vielleicht erinnern sich manche an den Sportunterricht in der Schule. Einer oder eine stellt die Mannschaft zusammen und wählt seine oder ihre Mitspieler. Oder der Chef wählt sich ein Team für eine besondere und herausfordernde Aufgabe. Und natürlich die Liebe: Von all den vielen Mädchen und Frauen wählt er mich. Das ist toll, das fühlt sich richtig gut an. Gibt es etwas Schöneres und Erhebenderes? Aber: Was ist mit denen, die nicht erwählt werden - oder erst ganz zuletzt? Erwählen heißt doch immer auch ausschließen. Erwählen ist exklusiv. Ist das nicht unbarmherzig, demütigend, und manchmal sogar ungerecht? Aber Gott ist so. Ganz einseitig. Jesus hat die Erwählung Gottes ausgeweitet auf alle Menschen. So wie Gott weltweit herrscht, gehören nun alle Menschen dazu. „Gehet hin in alle Welt“, sagt Jesus, denn Gott hat alle erwählt. Gott hat die Welt geliebt, und keine und keiner soll verloren gehen. Das gilt jedem Einzelnen, aber es ist nicht exklusiv. Gott hat dich erwählt, aber auch die Nachbarin, den Fremden und auch die Menschen, die am anderen Ende der Erde wohnen. Erwählung geht nicht auf Kosten anderer. Erwählung ist immer auch eine Verpflichtung, eine Zumutung, und sie heißt hier: Keine Exklusivität.
Damit hat sich die Christenheit immer schwergetan. Sie hat neue Ausgrenzungen erfunden, mit moralischen Vorwänden, mit kulturellen, mit religiösen. Sie hat die Erwählung sogar gegen Israel und die Juden gewendet und diese ausgeschlossen und verfolgt. Die Kirche sei das neue Israel so haben Christen jahrhundertelang behauptet und Gott habe sich von Israel abgewandt und seine Verheißung auf die Kirche übertragen. So zu denken war und ist falsch und Unrecht und die bleibende Schuld der Kirche. Und wenn wir heute unser Verbundheut mit Israel feiern, dann können wir das nicht ohne daran zu denken, was die Folgen unserer Ausgrenzung Israels waren. Es endete in Bergen Belsen und Auschwitz, in Treblinka und Maidanek. Irgendwo im Nirgendwo in der deutschen Provinz: ein Dorf, das kaum einer kennt. Ein junger Mann geht die Straße entlang, setzt sich an die Bushalte- stelle. Plötzlich stehen links und rechts von ihm zwei Typen in schwarzen Jacken. „Steh auf, du Jude! Du nimmst uns den Platz weg! Was willst du hier überhaupt?“ Die Angst schießt in ihm hoch, er springt auf. „Hau ab und lass dich nie mehr hier blicken!“ Gott sei Dank, der Bus kommt. Er steigt fluchtartig ein, eine riesige Wut im Bauch und die Frage: Was wäre als nächstes passiert? Am Montag geht er zur Polizei und gibt eine Anzeige auf. „Ja“, sagt die Polizistin und schaut ganz ernst, „das ist natürlich auch leichtsinnig, wenn Sie dort einfach herumlaufen und öffentlich eine Kippa tragen.“ Er hört es und kann es nicht fassen und fragt sich: Bin ich denn hier im Niemandsland? Israelsonntag erinnert an das Versprechen Gottes damals an Mose, mitten im Niemandsland: „Ihr sollt mein Eigentum sein vor allen Völkern, ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk.“ Der Israelsonntag erinnert daran: Gottes heiligem Volk sind wir als Christinnen und Christen besonders verbunden. Unser Glaube ist aus dieser Wurzel gewachsen. Wäre die Spur der hebräischen Sklaven damals in der Wüste im Sand verlaufen, hätte Gott sie nicht auf Adlerflügeln gerettet – es gäbe auch uns nicht, wir säßen heute nicht hier. Der Israelsonntag ist auch ein Anlass zu fragen: Wo leben Jüdinnen und Juden eigentlich heute? Israel ist ein jüdischer Staat. Noch einmal so viele Menschen jüdischen Glaubens leben aber in anderen Ländern. In Deutschland feiern wir in diesem Jahr sogar ein Jubiläum: Jüdisches Leben
gibt es hier seit 1700 Jahren. Nur über die Gegenwart wissen wir meistens nicht viel. Dabei ist es ganz einfach: Jüdinnen und Juden fahren hier mit dem Zug, gehen zur Schule, feiern Feste, gehen zum Einkaufen, treffen sich mit ihren Freunden und gehen zur Wahl – ganz in unserer Nähe. Israel ist für sie so weit weg wie für uns. Wo sie Angriffen und abstrusen Verdächtigungen ausgesetzt sind, ist die Solidarität von uns Christinnen und Christen gefragt. Denn wir teilen mit ihnen den Glauben an den rettenden Gott. Ihm gehört diese Erde und nicht den Menschen. Deshalb stehen wir als Kirche an der Seite von Jüdinnen und Juden. Und das gilt unbedingt auch, wenn wir oder manche von uns sich mit der Politik der Regierung in Israel schwer tun und wir als Christen auch nicht darüber hinweg sehen können, dass wir Schwestern und Brüder in den christlichen Gemeinden in Palästina haben. Irgendwo im Nirgendwo zwischen Gestern und Morgen sitzen wir heute und feiern. Hier sind wir heute gelandet, hier sind wir willkommen. Trotzdem: auch dieser Sonntag bleibt ein bisschen im Nirgendwo. Das ist eine Erkenntnis der Pandemiezeit: Wir haben vielleicht eine Idee, was kommen könnte, aber wir wissen es nicht. Wir wissen nur: Wir sind auf den Namen Jesu getauft. Heute denken wir an die Geschichte von damals. Ist diese Geschichte zu Ende? Nein, ist sie nicht. Was Mose damals im Gebirge gehört hat, das hören wir heute: „Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.“ Die Spur verläuft nicht im Sand. Nicht die Spur von Gottes Volk und auch unsere nicht. Gott sagt: „Ihr sollt mein Eigentum sein.“ Gott findet seine Kinder im Niemandsland, auf den höchsten Bergen, in den entlegensten Dörfern. Für Gott gibt es kein Nirgendwo. Denn Gott kann von sich sagen: „Die ganze Erde ist mein.“ Amen.
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