Stresstest Corona: Was taugt der Föderalismus in Krisenzeiten?
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FÖDERALISMUS Stresstest Corona: Was taugt der Föderalismus in Krisenzeiten? Der föderale Staatsaufbau der Schweiz gilt weithin als Erfolgsmodell. Allerdings hat die Corona-Krise diesem Bild tiefe Risse zugefügt. Braucht es in Krisenzeiten mehr Zentrali- sierung? Christoph A. Schaltegger, Mark Schelker Abstract Hat der Schweizer Föderalismus in der Corona-Krise versagt? Eine zentrale Entscheidungen kaum den nötigen populäre Kritik sieht es so. Doch die Vorteile des Föderalismus entfalten sich Spielraum für regionale Unterschiede erlauben auch in einer Krise. Dabei muss nicht immer auf unterer Ebene entschieden und typischerweise nur unzureichend in der werden – es kann aber. Wichtig ist, dass Entscheidung und Verantwortung Lage sind, lokales Wissen zu aggregieren, eine Einheit bilden und das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz eingehalten sind dezentrale Entscheidungsstrukturen bei wird. Der aktuelle Trend führt jedoch in die Gegenrichtung: Der unitarische Föderalismus mit seinen Verbundaufgaben und -finanzierungen hat Auf- Heterogenität überlegen.2 wind. Doch dieser Weg führt leider allzu oft in die verhängnisvolle Politik- Zweitens ist bei grosser Unsicherheit über die verflechtungsfalle, wo schnelles und situationsangepasstes Reagieren angemessene Reaktion ein einheitliches Krisen- – wie es in einer Krise nötig wäre – nicht mehr möglich ist. management mit Risiken verbunden. Bei grosser Unsicherheit wäre es reiner Zufall, würde man systematisch die richtigen Entscheide fällen. K risen zeichnen sich durch hohe Unsicher- heit und sich schnell verändernde Rahmen- bedingungen aus. Sie erfordern schnelles und Wahrscheinlicher ist, dass sich im Nachhinein viele Entscheidungen als Fehler entpuppen. Bei dezentralen Entscheidungen können hingegen entschiedenes Handeln. Das setzt ausser- unterschiedliche Lösungsansätze ausprobiert ordentliche Reaktionsfähigkeit und kurze werden. Dadurch machen nicht alle den glei- Entscheidungswege voraus. Glaubt man dem chen Fehler. Dieser beschleunigte Such- und medialen Kanon, so ist der Föderalismus mit Entdeckungsprozess3 kann gerade in Krisen den seinen uneinheitlichen Massnahmen und den entscheidenden Vorteil bringen. institutionell bedingten Doppelspurigkeiten in Drittens sind die Bürger bei dezentralen der Corona-Krise hinderlich. Von Kantönligeist, Entscheidungen in der Lage, die Performance Kakofonie und Gstürm ist die Rede. Aber ist ihrer Regierenden in vergleichbaren Situationen diese Interpretation zutreffend? zu evaluieren. Das führt zu politischem Wett- Im Gegensatz zum Zentralismus können bewerb.4 Denn gescheiterte Politikmassnahmen beim Föderalismus die Aufgaben dezentral, werden durch diese Vergleichbarkeit von den auf nachgeordneter Ebene eigenverantwortlich Wählern schneller erkannt und an der Urne erbracht werden – müssen es aber nicht. Denn sanktioniert. Das erhöht den Druck auf die Re- in einem föderalen Staatswesen geht es primär gierung, in einer Krise schneller und besser zu darum, eine geeignete Aufgabenteilung zwi- lernen. schen den Staatsebenen zu finden. Das gilt auch in der Krise. Die richtige Ebene Die Idee des Föderalismus ist von drei gros- sen Leitideen gekennzeichnet: Die ebenengerechte Aufgabenteilung ist die Erstens können die Präferenzen und Ge- Essenz des Föderalismus. Der Zentralstaat ver- gebenheiten zwischen den Regionen sehr antwortet typischerweise jene Bereiche, die 1 Oates (1972/1999); Tiebout (1956). unterschiedlich sein. Um dieser Heterogenität sich durch grosse Skaleneffekte auszeichnen. 2 Hayek (1945). Rechnung zu tragen, sind teilweise unterschied- Aufgaben also, wo regionale Aspekte und 3 Hayek (1945). 4 Besley und Case (1995). liche politische Interventionen angezeigt.1 Da Unterschiede kaum eine Rolle spielen und 4 Die Volkswirtschaft 5 / 2021
In der Pandemie als Kantönligeist, Kakofonie und Gstürm verschrien: Hat der Föderalismus ausgedient? KEYSTONE
FÖDERALISMUS koordiniertes Vorgehen im Zentrum steht. De- spezifischen Humanressourcen (z. B. wissen- zentral organisiert werden hingegen Aufgaben, schaftliche oder technische Expertise) oder die die sich durch regionale Unterschiede aus- Bildung von Reserveeinheiten (z. B. medizini- zeichnen – etwa durch unterschiedliche Präfe- sches Personal, Logistik). renzen oder divergierende Wirtschafts-, Gesell- Die Aufteilung von Aufgaben bedingt aller- schafts- und Siedlungsstrukturen. Aufgaben, dings eine klare Zuordnung von Verantwortung die den Umgang mit Spillovers regeln, können und Handlungskompetenz. Es gilt der Grund- für eine regionale Ausdehnung sprechen. Das satz, dass Handlungskompetenz und Ver- heisst, die Aufgabenteilung der räumlichen antwortung eine Einheit bilden müssen. Denn Ausbreitung anzugleichen oder über einen wer entscheidet, ohne dafür die Verantwortung Finanzausgleich zu internalisieren. Allerdings zu tragen, hat wenig Anreiz, gesellschaftlich op- ist zu berücksichtigen, dass Externalitäten nicht timale Entscheidungen zu treffen. alle gleichmässig treffen und Internalisierungs- Eine ähnliche Symmetrie gilt auch zwi- strategien sehr wohl geografisch differenziert schen Ausgaben und Einnahmen. Das Prinzip werden können. der fiskalischen Äquivalenz besagt, dass Aus- gaben und Einnahmen auf der gleichen Staats- Klare Aufgabenteilung zentral ebene bestritten werden müssen.5 Die Einheit von Kompetenz und Verantwortung sowie Natürlich gibt es auch zentralstaatliche Auf- die fiskalische Äquivalenz bilden zusammen gaben, die ergänzend zu primär dezentral das Haftungsprinzip – ein Kernelement der angeordneten Aufgaben wirken. So liegt bei- Föderalismustheorie und eine Voraussetzung spielsweise die medizinische Versorgung der für funktionierenden Föderalismus. Bevölkerung hauptsächlich in der Kompetenz der Kantone. Trotzdem gibt es auch hier Auf- Trend zur Vergemeinschaftung gaben, die sich durch hohe Skalenerträge aus- zeichnen und wo die Zentralisierung von Res- Der Schweizer Föderalismus ist in vieler Hin- sourcen Effizienzvorteile hat. Beispiele sind die sicht im Einklang mit der ökonomischen Lagerhaltung von essenziellen Materialien (z. B. Theorie. Ein zentrales Problem jedoch ist die 5 Olson (1969). 6 Scharpf (1985). Medikamente, Ausrüstung), der Aufbau von Verwischung und Vergemeinschaftung von Verantwortung und Handlungskompetenz. Gerade Verbundaufgaben gelten als Treiber Der unitarische Föderalismus Deutschlands der schleichenden Zentralisierung. Sie füh- Im Unterschied zum dezentralen Föderalis- hier eine natürliche «Zentralisierungs- ren in die «Politikverflechtungsfalle», bei mus der Schweiz wird Deutschland als bremse», die Deutschland so nicht kennt. «unitarischer» Föderalismus bezeichnet. Die deutsche Gesetzgebung ist stärker der sich die Staatsebenen durch kooperative Damit wird die stärkere Kooperation zentralisiert. In beiden Ländern zeigen sich Konsultationsorgane und Vetopositionen zwischen Bundes- und Landesebene im Verflechtungstendenzen zwischen den ständig blockieren. Reformen oder effizientes deutschen Bundesstaat bezeichnet. Der Staatsebenen mittels Gemeinschafts- Reagieren in einer Krise sind so kaum mehr Deutsche Bund erlässt einen Gross- bzw. Verbundaufgaben oder Leistungs- teil der Gesetze unter Mitwirkung der und Rahmengesetzen. In Deutschland sind möglich.6 Bundesländer im Bundesrat (Pendant diese allerdings weit ausgeprägter. In der Corona-Krise wurde dies offenkundig. zum Schweizer Ständerat) und delegiert Zentrale Unterschiede gibt es bei den Die besondere Lage, welche dem Zentralstaat deren Ausführung an die Länder. In der Steuerkompetenzen. In Deutschland sind Schweiz ist dieser Vollzugsföderalismus die wichtigsten Steuerquellen als Gemein- bei der Pandemiebekämpfung viele Kompe- ebenfalls ausgeprägt, allerdings geniessen schaftssteuern zentralisiert und werden tenzen einräumt und in welcher gleichzeitig die Kantone grössere wettbewerbliche auf die Staatsebenen verteilt. Die Schweiz die Kantone umfangreich konsultiert werden Freiheiten. ist stärker im Trennsystem verblieben. müssen, hat die Verantwortung für die Mass- Ein weiterer entscheidender Unterschied Eine Ausnahme ist die Einkommens- und zwischen der Schweiz und Deutschland Ertragssteuer, die ebenfalls im Verbund nahmen vergemeinschaftet. Das hat dazu betrifft das institutionelle Gefüge. In der von Bund und Kantonen genutzt wird. Die geführt, dass unangenehme Entscheidungen Schweiz kann der Bund nur jene Aufgaben Steuerkompetenzen bleiben dabei aber zwischen den Staatsebenen hin- und her- übernehmen, welche ihm die Verfassung klar getrennt. Im Ergebnis entfaltet sich zuweist – alle anderen Aufgaben verbleiben zwischen den Kantonen mehr Steuer- geschoben und zu spät oder gar nicht getroffen bei den Kantonen. Das obligatorische wettbewerb als in Deutschland, wo dieser wurden. Ein Symptom dieser Entwicklung Referendum und das Ständemehr bilden weitgehend unterbunden ist. ist die Zunahme der Verbundaufgaben und 6 Die Volkswirtschaft 5 / 2021
FOKUS Föderale Experimente können den Lösungs- prozess beschleunigen, wie zum Beispiel die Teststrategie des Kantons Graubünden. Flächentest in Zuoz. KEYSTONE -finanzierungen, die sich eindrücklich in der Finanzausgleich das Prinzip der fiskalischen immer wichtiger werdenden Koordination mit- Äquivalenz als Leitschnur der Entflechtung der tels kantonaler Konferenzen manifestiert. Aufgaben zwischen Bund und Kantonen breit Die zunehmende Entwicklung hin zu einem anerkannt.9 solchen unitarischen Föderalismus, wie ihn bei- spielsweise Deutschland kennt (siehe Kasten), Vorsicht «Nirvana-Falle» hat mit der Pandemie neuen Schub erhalten. Die Konferenz der Kantonsregierungen (KDK) zieht Die Forderung nach mehr Koordination und aus der Pandemie beispielsweise die Lehre, dass Zentralisierung während der Corona-Krise es einen weiteren Ausbau der zwischenstaat- entspricht bei näherer Betrachtung einer un- lichen Vergemeinschaftung und Koordination begründeten Hoffnung auf den kooperativen, braucht. So soll für die Zusammenarbeit zwi- unitarischen Föderalismus. Man nennt dies die schen Bund und Kantonen künftig ein paritä- sogenannte Nirvana-Falle. Dabei hofft man, tisch zusammengesetztes Führungsgremium die beobachteten Mängel im aktuellen Corona- auf politischer Ebene eingesetzt werden, das Management der Kantone würden sich beim die geteilte Verantwortung der Staatsebenen Bund oder der KDK nicht einstellen. Ein ana- adäquat abbildet.7 lytischer Schluss ist das nicht. Die Forschungs- Auch der Vorschlag von Finanzdirektoren- ergebnisse zum realen unitarischen Föderalis- präsident Ernst Stocker zur Verteilung der mus sind da jedenfalls weniger ermutigend. Mehrwertsteuereinnahmen auf die Kantone Aus unserer Sicht kann der Schweizer zielt in Richtung des deutschen Föderalis- Föderalismus mit seinen weitgehend selbstver- mus.8 Das überrascht. Denn wissenschaftliche antwortlichen Kantonen auch in der Pandemie Arbeiten zu den Föderalismusreformen I, II viele Vorteile bieten. Zentral ist dabei der An- und III diagnostizieren Deutschland Hand- reiz, sich durch innovative Politikexperimente lungsbedarf in diesem Bereich. Und auch in der zu verbessern. Der Prozess des «Trial and Error» Schweiz wurde noch 2001 mit der Botschaft zu generiert Wissen über die Funktionsfähigkeit 7 Siehe KDK (2020). 8 Siehe Stocker (2021). den umfangreichen Arbeiten zum Nationalen der gewählten Eindämmungsstrategie, die ein 9 Siehe Bundesrat (2001). Die Volkswirtschaft 5 / 2021 7
FÖDERALISMUS rational und zentral geplantes Staatssystem so allerdings mit klar zugeteilten Kompetenzen. nicht hervorbringen kann. Der Bund muss institutionell so stark sein, Damit die Vorteile des Föderalismus aller- dass er den Subventionsbegehren der Kantone dings zum Tragen kommen, muss das Haftungs- effektiv widerstehen kann und die Vergemein- prinzip eingehalten werden. Staatsaufgaben schaftung ablehnt. Die Kantone müssen um- müssen ebenengerecht zugeordnet bzw. ent- gekehrt institutionell so stark sein, dass der flochten und gleichzeitig die dafür notwendigen Bund nicht schleichend die Kontrolle über ihre Steuerquellen erschlossen werden. Haftung, Aufgabenerfüllung übernimmt. Kontrolle und Risiko gehören in eine Hand – entweder beim Kanton oder beim Bund –, aber nicht in gemischte Verbundpartnerschaften oder interkantonale Konferenzen. Viele Probleme des Föderalismus während der Corona-Krise sind entstanden, weil das Haftungsprinzip missachtet wurde. Verbund- aufgaben und -finanzierungen, Defizitüber- nahmen und erst recht die schleichende Zent- Christoph A. Schaltegger Mark Schelker ralisierung bergen Risiken, weil man dadurch Professor für Politi- Professor für Volkswirt- immer stärker in die «Politikverflechtungsfalle» sche Ökonomie an der schaftslehre an der gerät, wo schnelles und situationsangepasstes Universität Luzern und Universität Freiburg Direktor des Instituts für Reagieren nicht mehr möglich ist. Finanzwissenschaft und Ein vitaler Föderalismus benötigt einen Finanzrecht der Universi- tät St. Gallen starken Bund und starke Kantone – beide Literatur Besley, Timothey und Ann C. Case (1995). KDK (2020). «Covid-19: Kantone fordern Opti- Scharpf, Fritz W. (1985). Die Politikverflech- Incumbent Behavior: Vote-Seeking, Tax- mierung des Krisenmanagements». Medien- tungs-Falle: Europäische Integration und Setting, and Yardstick Competition, American mitteilung vom 22.12.2020. deutscher Föderalismus im Vergleich, Politi- Economic Review 85, 25–45. Oates, Wallace E. (1972). Fiscal Federalism. New sche Vierteljahresschrift 26, S. 323–356. Bundesrat (2001). Botschaft zur Neugestal- York: Harcourt Brace Jovanovich. Stocker, Ernst (2021). «Corona-Kassenzettel: tung des Finanzausgleichs und der Aufgaben Oates, Wallace E. (1999). An Essay on Fiscal Mehrwertsteueranteil für Kantone muss zum zwischen Bund und Kantonen (NFA). Bern, 14. Federalism, Journal of Economic Literature 37, Thema werden» (NZZ vom 7.1.2021). November. S. 1120–1149. Tiebout, Charles M. (1956). A Pure Theory of Hayek, Friedrich A. von (1945). The Use of Olson, Mancur (1969). The Principle of «Fiscal Local Expenditures. Journal of Political Econo- Knowledge in Society, The American Econo- Equivalence»: The Division of Responsibilities my 64 (5): 416–424. mic Review. 35, 519–530. Among Different Levels of Government, Ame- rican Economic Review 59, S. 479–487. 8 Die Volkswirtschaft 5 / 2021
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