Studie Das Leitbild von der "Urbanen Mischung" - IBA Berlin 2020 - Stadtentwicklung ...

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Studie Das Leitbild von der "Urbanen Mischung" - IBA Berlin 2020 - Stadtentwicklung ...
IBA Berlin 2020

Studie
Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
Studie Das Leitbild von der "Urbanen Mischung" - IBA Berlin 2020 - Stadtentwicklung ...
Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“
Geschichte, Stand der Forschung, Ein‐ und Ausblicke

Studie im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, Berlin

Bearbeitung:
Freie Planungsgruppe Berlin, Dr. Nikolai Roskamm

Auftraggeber:
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, SBD‐IBA
Herr Joachim Günther
Am Köllnischen Park 3
10179 Berlin

Februar 2013

INHALT

Einleitung......................................................................................................................................................2

   1)       Die Geschichte der Trennung/Mischung ...........................................................................................3
              • Trennung durch Zonierung .................................................................................................... 3
              • Großstadtfeindschaft und Gartenstadt ................................................................................. 4
              • Funktionstrennung ................................................................................................................. 6
              • Die gegliederte Stadt ............................................................................................................. 7
              • Urbanität ................................................................................................................................ 9
              • Die gemischte Stadt ............................................................................................................. 11
              • Von Brüchen und Kontinuitäten .......................................................................................... 13
   2)       Der Stand der Forschung ................................................................................................................15
              • Nutzungsmischung ............................................................................................................... 15
              • Soziale Mischung.................................................................................................................. 18
              • Ethnische Mischung ............................................................................................................. 21
              • Neue Urbane Mischung ....................................................................................................... 25
   3)       Ein‐ und Ausblicke ..........................................................................................................................27
              • „Urbane Mischung“ beim PRAE‐IBA‐Konzept ...................................................................... 27
              • Das „Strategische Gutachten“ ............................................................................................. 28
              • Das Leitbild der Nutzungsmischung ..................................................................................... 29
              • Das Leitbild der Sozialen Mischung ..................................................................................... 30
              • Mischung, anders ................................................................................................................. 31

Literatur......................................................................................................................................................37

Anhang: Steckbriefe
Studie Das Leitbild von der "Urbanen Mischung" - IBA Berlin 2020 - Stadtentwicklung ...
Studie für die IBA Berlin 2020                                             Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“

Einleitung
Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Um‐             Erfolgsfaktoren gewesen ist, eingefahrene Vorge‐
welt bereitet die Internationale Bauausstellung Berlin        hensweisen radikal zu hinterfragen (SenStadt 2011b,
2020 vor. In den bisherigen Überlegungen zur thema‐           24). Mit dem hier vorgelegten Gutachten soll diese
tischen und programmatischen Ausrichtung der IBA              IBA‐Tugend auch auf der analytischen Ebene ange‐
2020 wird die „gemischte Stadt“ beziehungsweise das           wendet werden. Üblicherweise wird in den verfügba‐
Ziel der „Urbanen Mischung“ als ein Leitbild des über‐        ren städtebaulichen Untersuchungen und Studien
greifenden Mottos "Draußenstadt wird Drinnenstadt"            zum Thema der „Urbanen Mischung“ das Leitbild von
gesetzt: Mit der IBA soll sich dem Thema der sozial,          der gemischten Stadt an den Anfang gestellt, um dann
kulturell, strukturell und funktional gemischten Stadt        herauszuarbeiten, wie das gesetzte Leitbild am besten
gewidmet werden. Durch diesen Ansatz wird auf den             umgesetzt werden kann; die Frage nach dem Warum
gegenwärtigen fachlichen Grundkonsens in der städ‐            rückt dabei oftmals in den Hintergrund (siehe Kapitel
tebaulichen Planung fokussiert: „Urbane Mischung“             2). Die in diesem Gutachten vertretene These lautet
ist heute ein zentrales, wenn nicht das zentrale Leit‐        dagegen, dass erst mit einem grundsätzlich hinterfra‐
bild von Städtebau und Stadtplanung.                          genden Vorgehen ein Ansatz möglich wird, der nicht
       Allerdings ist das nicht immer so gewesen. Im          lediglich den dominanten Wertekanon des aktuellen
Gegenteil hat sich die städtebauliche Disziplin Ende          Städtebaus verlängert, sondern dazu in der Lage ist,
des 19. Jahrhunderts maßgeblich mit dem gegenteili‐           für sich selbst stehende inhaltliche Akzente zu setzen.
gen Leitbild der Trennung, genauer: der Funktions‐            Die Strategie der hier vorgelegten Studie besteht also
trennung konstituiert, das bis in die 1960er Jahre in         darin, das Leitbild der „gemischten Stadt“ zu prüfen,
den städtebaulichen Fachdebatten unangefochten                die dahinter liegenden Routinen zu beleuchten und
gewesen ist. Der daraus abgeleitete städtebauliche            den Kern herauszuarbeiten, der im Zentrum des Beg‐
Funktionalismus – das Denken von Stadt in aufgeteil‐          riffs „Urbane Mischung“ zu finden ist. Schließlich soll
ten, getrennten und gegliederten Funktionen –, war            am Ende diskutiert werden, ob (und wenn ja: wie)
das verbindende Element beinahe sämtlicher Ansätze            dieser Kern zugänglich für neue Inhalte ist, respektive
für die Neu‐ und Umgestaltung des Urbanen. Stadt‐             in eine neue Richtung gewendet werden kann.
planung und Städtebau sind in ihren ersten einhun‐                    Gegliedert ist die Studie in drei Teile. Erstens
dert Jahren als Fachdisziplinen Apparate der Trennung         wird untersucht, wie das Leitbild der „Urbanen Mi‐
und der Entmischung gewesen. Erst in den 1960er               schung“ historisch zustande gekommen ist; dafür ist
Jahren wurde dem Leitbild der Nutzungstrennung                ein Blick in die Geschichte des modernen Städtebaus
hörbar widersprochen. In den 1970er und 1980er                zu werfen und vom eindrucksvollen Wandel des Ziels
Jahren etablierte sich diese Umkehrung des klassi‐            von der funktionsgetrennten Stadt zur gemischten
schen städtebaulichen Ansatzes und wurde bald dar‐            Stadt zu berichten. Zweitens wird der Stand der For‐
auf zum dominierenden und anerkannten neuen städ‐             schung dargestellt und dabei einerseits die Ergebnisse
tebaulichen Paradigma. In den 1990er Jahren setzte            der umfangreichen Forschungen zum Thema „Nut‐
sich das Leitbild der Nutzungsmischung – nicht zuletzt        zungsmischung im Städtebau“ aus den 1990er Jahren
befördert durch die Berliner IBA 1987 – in allen städ‐        dargestellt; andererseits wird die soziologische For‐
tebaulichen Bereichen durch, zumindest was die pro‐           schung zum Thema „Soziale Mischung“ und „ethni‐
grammatischen Ebene betrifft. Die Leipzig‐Charta von          sche Mischung“ rekapituliert. Schließlich wird auch
2007 bündelt diese Entwicklung zu einem übergrei‐             die aktuellen Debatten über die „Renaissance der
fenden städtebaulichen Grundkonsens, der heute                Städte“ betrachtet. Drittens wird untersucht, wie das
weitgehend unwidersprochen ist.                               Leitbild von der „Urbanen Mischung“ für eine IBA
       Ziel der hier vorgelegten Studie ist es, heraus‐       Berlin 2020 fruchtbar gemacht werden kann und die
zuarbeiten, welchen inhaltlichen Gehalt, welche The‐          bisher vorgelegten Ansätze für die IBA 2020 hierauf
sen und welche Möglichkeiten/Unmöglichkeiten mit              geprüft. Abgerundet wird die Untersuchung von sechs
dem Leitbild von der „Urbanen Mischung“ verbunden             Steckbriefen, in denen Geschichte, Erfolge und Miss‐
sind. Internationale Bauausstellungen sind in der             erfolge von dezidierten Steuerungsansätzen skizziert
Vergangenheit immer Räume für ungewohnte, inno‐               werden, die eine „Urbane Mischung“ zum Ziel gehabt
vative und auch für kritische Ansätze gewesen. Gera‐          haben.
de der IBA 1987 wird attestiert, dass es einer ihrer

                                                          2
1) Die Geschichte der Trennung/Mischung

Die Geschichte der Trennung/Mischung
Das aktuelle städtebauliche Leitbild der Mischung            innen nach außen abnehmend die zulässigen Höchst‐
wendet sich gegen die getrennte Stadt, die ihrerseits        maße des Maßes der baulichen Nutzung vorgaben.
das ureigene Produkt des klassischen modernen Städ‐          Erste Formen von Zonenbauplänen gab es 1874 in
tebaus ist. Die These, die der folgenden Analyse zu‐         Budapest, 1878 in Dresden und 1879 in Erfurt. Zu
grunde liegt, lautet, dass Mischung und Trennung             Anfang handelte es sich dabei um die rudimentäre
untrennbar zusammengehören. Um die Geschichte                Form einer Abstufung der Bebauungsdichte in ge‐
der Mischung zu erzählen, ist daher erst einmal die          schlossene und offene Bebauung (Fisch 1990, 185),
Geschichte der Trennung zu untersuchen. Aus diesem           bald darauf wurden Zonenbauordnungen mit mehr als
Grunde wird hier eine wissenschaftsgeschichtliche Be‐        diesen beiden Zonen verabschiedet (1884 in Altona
trachtung unternommen, in der das Begriffspaar Tren‐         und 1891 in Frankfurt/Main). In Berlin wurde 1892 als
nung/Mischung zusammen betrachtet wird. In der               erste Zonenbauordnung die Bauordnung für die Berli‐
historischen Herleitung werden die wichtigsten Strän‐        ner Vororte beschlossen. Die differenzierteste Zonen‐
ge der Begriffsgeschichte zum Konzept der Tren‐              bauordnung war die Münchener Staffelbauordnung
nung/Mischung exemplarisch zusammengefasst und               von 1904, in der die Festlegungen an eine umfangrei‐
somit ein Überblick hergestellt, der für ein tieferes        che Gebäudetypologie (die Staffeln) gekoppelt wur‐
Verständnis des Leitbildes „Urbane Mischung“ not‐            den. Unter dem Dach der Zonierung wurden ganz
wendig ist. Dabei werden die Ursprünge des Ideals            unterschiedliche Inhalte versammelt: Funktions‐ und
der Trennung/Mischung beleuchtet und insbesondere            Nutzungstrennung spielten zwar noch kaum eine
auf die Entwicklung der entsprechenden städtebauli‐          Rolle, in verschiedene Zonen (also getrennt) aufgeteilt
chen Leitbilder fokussiert.                                  werden sollten insbesondere die Bauweisen und Bau‐
                                                             dichten.
                                                                     Die Zonierungsplanung war nach der städte‐
•   Trennung durch Zonierung
                                                             baulichen Lehrmeinung „von großer sozialer Be‐
Der instrumentelle Städtebau ist eine Weiterentwick‐         deutung“ (Stübben 1902, 8). Deshalb wird in dieser
lung der seit dem Mittelalter bestehenden bauord‐            Gründungsdebatte auch das Thema der „Sozialen
nungsrechtlichen Traditionen. Die reformerische Städ‐        Mischung“ diskutiert: „Wer kann auch sein Auge der
tebaubewegung, die im Zuge der Stärkung der kom‐             Tatsache verschließen, dass die ärmere Klasse vieler
munalen Selbstverwaltung und eingebunden in die              Wohltaten verlustig geht, die ein Durcheinanderwoh‐
Diskurse der Gesundheitspflege entstanden ist, setzte        nen gewährt. Nicht Abschließung, sondern Durchdrin‐
sich von Anfang an das sozialreformerisch motivierte         gung scheint mir aus sittlichen und darum aus staatli‐
Ziel, einheitliche und allgemein geltende städtebauli‐       chen Rücksichte das Gebotene zu sein“ (Hobrecht
che Regelungen herauszuarbeiten und durchzusetzen,           1868, 513). Auch Reinhard Baumeister plädiert für
um damit die städtische Alltagswirklichkeit neu zu           eine maßvolle Vermischung der sozialen Klassen, eine
ordnen. Die bauordnungsrechtlichen (auf das einzelne         „völlige Vermischung aller Klassen“ könne dagegen
Grundstück bezogenen) Regelungen wurden dabei zur            nicht befriedigen: Die Trennung der Klassen bringe
stadtplanerischen und städtebaulichen Steuerung              „sociale Gefahren und auch hygienische Uebelstände
ausgeweitet. Dieser Maßstabs‐ und Qualitätssprung            mit sich“, dagegen müsse eine „Mischung der Woh‐
markiert die Entstehung des modernen Städtebaus als          nungsclassen“ günstig ausfallen „für den Ausgleich
eigene und bald auch als an den Universitäten gelehr‐        der socialen Gegensätze, für das moralische Verhalten
te Disziplin.                                                beider Theile und ganz speciell auch für die Gesund‐
        In dieser Phase entstanden die ersten Ansätze,       heit der Aermeren“ (Baumeister/Miquel 1889, 30).
städtebauliche Mischung/Trennung durchzusetzen.                      In der Praxis führte die komplexe Begrün‐
Die Zusammensetzung der Stadt sollte insbesondere            dungskonstruktion aus volkswirtschaftlichen und
mit dem Instrument der „Zonierung“ gesteuert wer‐            betriebswirtschaftlichen Annahmen sowie die unter‐
den. Die Vorschriften der Zonenplanung wurden in             schiedlichen Trennungs‐ und Mischungsansätze zu
einem größeren Stadtplan abgestuft, wobei die Stufen         recht widersprüchlichen Ergebnissen der Zonie‐
„aufgrund der bestehenden Bodenwerte“ sowie mit              rungsplanung. Zudem gab es von den Grundbesitzern
Rücksicht auf die „erwünschte Bauweise“ gewählt              erhebliche Widerstände, da sie ihre wirtschaftlichen
wurden (Baumeister 1906, 67). Mit dieser Begrün‐             Verwertungsmöglichkeiten beschränkt sahen (und die
dung wurden Ende des 19. Jahrhunderts in vielen              zeitgenössischen Gemeindevertretungen in Deutsch‐
deutschen Städten Zonen‐ und Staffelbauordnungen             land waren aufgrund des bestehenden Wahlrechts
verabschiedet, die in verschiedenen Bereichen von            überall Hausbesitzerparlamente). Auf der anderen

                                                         3
Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“

Seite wurde jedoch festgestellt, dass eine Baube‐            ren massive Verstädterung unaufhaltsam und ge‐
schränkung dann, wenn sie nicht nur das eigene               setzmäßig geschwächt werden würde. Der Bauern‐
Grundstück, sondern auch die aller Nachbarn betraf,          stand wurde in dieser „Jungbrunnenideologie“ als
auch wertsteigernd wirken konnte. Ein Villengrund‐           „Urquell“, „Urstand“, „Urmaterial“ und „Vorratsbe‐
stück ließ sich besonders gut verkaufen, wenn dem            hälter für alle übrigen Stände“ idealisiert, die Groß‐
Käufer garantiert wurde, dass er nicht von fünfstöcki‐       stadt war verlorenes Terrain, dem Untergang und
gen Mietskasernen eingekreist werden würde (Fisch            dem proletarischen Siechtum geweiht (Bergmann
1990, 186). Die erzieherische und paternalistische           1970, 144). Die großstadtfeindlichen und argrar‐
Note hinsichtlich der Sozialen Mischung ergab schließ‐       freundlichen Doktrinen bilden den Kern des zu Ende
lich „eine Ambiguität, die das staatlich geförderte          des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten vaterländisch‐
`Durchmischungsziel´ auch späterhin nie ganz verlo‐          konservativen Denkens, in dessen Kontext sich Ende
ren hat“ (Harlander 2000, 110).                              des 19. Jahrhunderts die Diskussion über das richtige
        Die tatsächlichen Auswirkungen der Zonen‐            städtebauliche Selbstverständnis entwickelte (vgl.
bauordnungen auf die Stadtentwicklung lassen sich            Durth/Gutschow 1988).
insgesamt allerdings nur schwer festmachen. Das liegt                Im Zentrum dieser Debatten stand bald das
nicht zuletzt daran, dass die städtebaulichen Instru‐        Konzept der Gartenstadt, das durch den völkisch‐
mente selbst zur Produktion der materiellen Wirklich‐        nationalen Publizisten Theodor Fritsch in die deutsch‐
keit beigetragen haben (und beitragen) und dass die          sprachige städtebauliche Debatte eingeführt wurde
abgestufte Baudichte volkswirtschaftliche und städte‐        (1896). Auch Fritsch konzipiert seine Stadtvision dezi‐
bauliche Realitäten herstellte (oder verfestigte). Der       diert als antistädtisches Modell, sein Ausgangspunkt
Anfangsgedanke des instrumentellen Städtebaus war            ist ein ausgeprägter Hass auf die bestehende Groß‐
es jedenfalls, die vorhandene Stadt anhand „wissen‐          stadt, die er als „Lasterparadiese“ und „wüste Stein‐
schaftlich“ ermittelter Kriterien neu zu ordnen und in       haufen“ (1896, 4f.) bezeichnet. Fritsch postuliert, dass
einzelne definierte Bereiche aufzutrennen. Durch die         „dem Volke in seinen Großstädten und Industrie‐
Benennung und Festlegung von Zonen wurden einer‐             Zentren schwere Gefahren“ drohten und dass die
seits bereits bestehende Trennungen nachvollzogen            Bewohner der Städte einem „raschen Aussterben
und verfestigt, andererseits wurden solche Trennun‐          preisgegeben“ seien (1912, 28). Trotz dieser Kritik
gen aber auch durch den Städtebau erst hergestellt.          betrachtet Fritsch die Stadt jedoch auch als eine Not‐
Die Aufteilung der Stadt in getrennte Bereiche (qua          wendigkeit. Man dürfe „nicht verhelen“, so erklärt
Benennung und qua Verordnung) ist der Gründungs‐             Fritsch, dass es „für eine größere Nation und ihre
akt des modernen Städtebaus.                                 manchfachen Bedürfnisse notwendiger Weise Städte
                                                             geben“ müsse. Aus diesem Grunde sollte man sie
                                                             „wenigstens vernünftig anlegen“. Was den alten
•   Großstadtfeindschaft und Gartenstadt
Um die Herkunft des städtebaulichen Ideals der
funktionalen Trennung einordnen zu können, ist
neben dem instrumentellen Städtebau und seinen
Zonierungen auch die Entwicklung der Debatte zu
betrachten, in der die Suche nach dem Bild einer
künftigen, besseren, schöneren und sozial gerechte‐
ren Stadt im Vordergrund steht, in der also über
städtebauliche Konzepte und Leitvorstellungen so‐
wie über das geeignete städtebauliche Selbstver‐
ständnis gerungen wurde. Eingebunden war diese
städtebauliche Debatte in eine politische Stim‐
mungslage, die Ende des 19. Jahrhunderts von einer
breiten Ablehnung des verhandelten Gegenstandes
– der bestehenden Stadt – geprägt gewesen ist. Der
inhaltliche Kern der sich mit allgemeinen Ausprä‐
gungen des Zeitgeistes wie Kulturpessimismus und
Fin‐de‐siècle‐Stimmung verbündenden Großstadt‐
feindschaft (Engeli 1999, 33) bestand in der These,
dass das flache Land und seine Bevölkerung durch                                         Foto: Eva Brüggmann, 1962,
die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtba‐                                Bundesarchiv: Bild 183‐92806‐0003

                                                         4
1) Die Geschichte der Trennung/Mischung

Stadtvierteln am meisten fehle sei die „innere Ord‐                     Bei der Einordnung des Konzepts der Garten‐
nung“ und „der Plan“. Fritschs Ideal ist eine kleine,           stadt wird heute einerseits festgestellt, dass die
überschaubare Stadt, die sich in spiralförmig erwei‐            „Ideologie der Gartenstadt“ eine „historische Auffor‐
ternden bautypologisch und klassengetrennten Zonen              derung eines resignierenden Städtebaus an die Bes‐
entwickelt und in der sich Grund und Boden in Ge‐               serverdienenden“ gewesen sei, die „am Proletariat
meindeeigentum befinden. Im Zentrum von Fritschs                und den Lasten der Industrialisierung anscheinend
Zukunftsstadt stehen die „monumentalen Gebäude“,                unheilbar kränkelnde Stadt“ zu verlassen und „sich
dann folgen „vornehme Villen“, „feinere Wohnhäu‐                auf dem billigen Land im Eigenheim“ neu anzusiedeln
ser“, Wohn‐ und Geschäftshäuser, Arbeiter‐Wohnun‐               (Rodriguez‐Lores 1991, 75). Das „gartenstädtische
gen, kleine Werkstätten, Fabriken und ländliche Be‐             Rezept zur Rettung der Menschen“, so eine promi‐
triebe (ebd.).                                                  nente Kritikerin, sei „die Vernichtung der Großstadt“
        Im Jahre 1897 veröffentlichte Ebenezer Ho‐              gewesen (Jane Jacobs, zitiert nach Bergmann 1970,
ward seine Schrift Garden Cities of Tomorrow, die in            163). Andererseits wird die Gartenstadtidee als aus
der heutigen städtebaulichen Rezeption der Garten‐              der Verschmelzung von „bürgerlich‐romantischen und
stadt im Vordergrund steht. Die Gartenstadt von Ho‐             sozialistischen Gedanken“ hervorgegangene „ebenso
ward ist eine von der Einwohnerzahl her begrenzte               naiv wie pragmatisch klingende Liaison“ bezeichnet
Ansiedlung auf dem Land, in der die Naturnähe mit               (de Bruyn 1996, 171) oder auch als Synonym, für alle
den Vorteilen der städtischen Lebensweise verbunden             „fortschrittlichen Bemühungen, durch Städtebau die
werden sollte (Howard 1968 [1897]). Bei Howard                  Lebensbedingungen der unteren Mittelschichten zu
verschmelzen die jeweiligen Vorteile aus Stadt und              heben“ (Schubert 2004, 92). Unbestritten ist, dass das
Land im Begriff „Landstadt“. Zu diesen Vorteilen zählt          Modell „sehr schnell zum populärsten Planungsmodell
er das Gesellschaftsleben, die soziale Solidarität und          der Moderne“ aufgestiegen (de Bruyn 1996, 173) und
das reiche kulturelle Angebot. Ebenso wie Stadt und             „von Liebknecht bis Himmler“ beliebt gewesen ist
Land sollen mit der Gartenstadt auch die verschiede‐            (Durth/Gutschow 1988, 168).
nen sozialen Klassen versöhnt werden. Howard wollte                     Die kontroversen Bewertungen des Garten‐
in seinem Planungsmodell das private Grundeigentum              stadtmodells lassen sich vor allem darauf zurückfüh‐
abschaffen und das gesamte Siedlungsterrain zum                 ren, dass sich hier zwei unterschiedliche Denklinien –
kollektiven Eigentum der Gemeinde erklären, um die              die Diskurse des völkisch‐nationalen Konservatismus
aus der wirtschaftlichen Entwicklung resultierenden             und der reform‐sozialistischen Moderne – einander
Wertsteigerungen als kommunale Einnahmen verbu‐                 näherten und beide im Gartenstadtgedanken ihr städ‐
chen zu können. Allerdings trennt auch Howard die               tebauliches Leitmotiv fanden. Die Idee der Garten‐
Zonen seiner Gartenstadt in verschiedene funktionale            stadt wurde zum Vorbild einer Vielzahl von städtebau‐
Bereiche, die sich kreisförmig nach außen entwickeln.           lichen Konzepten, in denen sich sozialrevolutionäre
                                                                Hoffnungen auf eine Stadt für die arbeitende Klasse
                                                                mit Elementen der konservativen Stadtfeindschaft
                                                                mischten (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 58). Die
                                                                sozialistischen und die völkischen Ideen trafen sich bei
                                                                der Ablehnung der bestehenden städtischen bauli‐
                                                                chen Strukturen und Eigentumsverhältnisse. In den
                                                                beiden Gründungsgeschichten des Konzepts der Gar‐
                                                                tenstadt von Fritsch und Howard zeigt sich der Ur‐
                                                                sprung sowohl des modernen als auch des völkisch‐
                                                                nationalen Diskurses. Die Großstadtkritik machte
                                                                „kausal ein baulich‐räumliches Phänomen“ für die mit
                                                                Industrialisierung und Verstädterung verbundenen
                                                                gesellschaftlichen Probleme verantwortlich (Schubert
                                                                2004, 31). Damit steht das Gartenstadtmodell für den
                                                                die Geschichte des Städtebaus dominierenden Ansatz,
                                                                durch eine Manipulation der gebauten Umwelt gestal‐
                                                                tend auf soziale Prozesse und Beziehungen einwirken
                                                                zu wollen.

Abbildung: The Garden City Concept, E. Howard, 1902;
            T

aus "Garden Cities of tomorrow", Sonnenschein publishing.

                                                            5
Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“

•   Funktionstrennung                                        und in seinen Thesen erhebt er den Städtebau zu der
                                                             bestimmenden gesellschaftlichen Aufgabe. Das
Nach dem ersten Weltkrieg veränderte und erweiter‐           „Werkzeug des Menschen“, so schreibt Le Corbusier,
te sich das Spektrum der städtebaulichen Debatte. Die        sei „zu allen Zeiten dem Menschen in die Hand gege‐
vorherrschende Stimmung der Weimarer Republik                ben“ gewesen, nun müsse man „dem dummen Men‐
war ein „komplexes Amalgam aus expressionistischer           schen beibringen, wie er seine Werkzeuge zu gebrau‐
Schwärmerei, sozialistischen Utopieelementen, Anti‐          chen hat“ (Le Corbusier 1926, 239). Le Corbusiers
Wilhelminismus und Großstadtkritik“, in der zum              Blick auf die bestehende Stadt unterscheidet sich
Aufbruch zur neuen Stadt, zur neuen Wohnung und              dabei kaum vom herrschenden städtebaulichen Dis‐
zum neuen Menschen gerufen wurde. Erhalten blieb             kurs seiner Zeit. Für Le Corbusier waren die Großstäd‐
jedoch die „Frontstellung gegen den gründerzeitlichen        te „fruchtlose Gebilde: sie verbrauchen den Körper,
Moloch Großstadt“ (Harlander 2006, 26f.). In der             sie arbeiten dem Geiste entgegen, die Unordnung, die
Weimarer Republik entstand erstmals eine systema‐            sich in ihnen vervielfältigt, wirkt verletzend: ihre Ent‐
tisch angelegte Wohnungspolitik, die Lösung der              artung verwundet unsere Eigenliebe unsere Würde.
„Wohnungsfrage“ wurde auf allen Ebenen des Staates           Sie sind des Zeitalters nicht würdig: sie sind unsrer
zur vordringlichen Aufgabe der Sozialpolitik erklärt         nicht mehr würdig“ (1929, VII). Das Zentrum der Städ‐
(vgl. Kuhn 2012a). Der Anspruch auf gesunde Woh‐             te sei „tödlich erkrankt, ihre Umfriedung ist wie vom
nung wurde in die Reichsverfassung aufgenommen               Ungeziefer zerfressen“ (1929, 83). Der Augenblick sei
und bot die Basis für weitreichende Staatsinterventi‐        gekommen, den modernen Städtebau zu schaffen,
onen. Mit der neu eingeführten Hauszinssteuer wurde          „weil eine Kollektivleidenschaft aufgewacht ist unter
die finanzielle Grundlage für eine staatliche Städte‐        dem Drucke der brutalsten Not, geleitet von einem
bauförderung gelegt (Häußermann/Läpple/Siebel                hohen Gefühle für Wahrheit.“ Haus, Straße und Stadt
2008, 55f.; Durth/Gutschow 1988, 175; Peltz‐Dreck‐           müssten in Ordnung gebracht werden, wenn sie
mann 1978, 59). Das Gartenstadtkonzept wurde vor             „nicht den Grundgesetzen zuwiderlaufen sollen, auf
allem in den sozialdemokratisch regierten Kommunen           denen wir selbst aufgebaut sind.“ (1929, 15). Wie ein
auf den Arbeitersiedlungsbau angewendet, allerdings          solcher moderner Städtebau zu handeln habe, wird
ohne die ursprünglichen sozio‐ökonomischen Be‐               von Le Corbusier ebenfalls offen gelegt: „Ich denke
standteile dabei umzusetzen. Bei den dann tatsächlich        also ganz kühl daran, dass man auf die Lösung verfal‐
errichteten Arbeiter‐ und Kleinbürgersiedlungen der          len muß, das Zentrum der Großstädte niederzureißen
Wohnungsbaugenossenschaften, die nur aufgrund                und wieder aufzubauen, dass man ebenfalls den
ihrer landschaftlich schönen Lage als Gartenstädte           schmierigen Gürtel der Vorstädte niederreißen, diese
bezeichnet wurden, blieb von Howards Konzept ledig‐          weiter hinausverlegen und an ihre Stelle nach und
lich die Naturnähe und das preisgünstige Wohnen              nach eine freie Schutzzone setzen muß“ (1929, 83).
übrig, Howards ökonomisches Model hatte mit den                      Le Corbusier avanciert mit seinem Stadt‐ und
realisierten Projekten dagegen nicht mehr viel zu tun        Städtebauverständnis zum Begründer des städtebau‐
(Harlander 2006, 26f.). Auf der konzeptionellen Ebene        lichen Funktionalismus beziehungsweise des Modells
formte sich – als Gegenbewegung zum historizisti‐            der Funktionstrennung. Er ergänzt dabei den Fort‐
schen Stil der Heimatschutzbewegung und des kon‐             schritt der konstruktiven und materiellen Möglichkei‐
servativen Teils der Gartenstadtvertreter – das archi‐       ten mit einem planerisch‐organisatorischen Ansatz,
tektonische und städtebauliche Konzept des Neuen             der die Trennung der „menschlichen Funktionen in
Bauens. Ziel der ersten architektonischen Moderne            Wohnen, Arbeiten, Kultivierung von Körper/Geist und
(für deren Entwicklung etwa der Deutsche Werkbund            Fortbewegung (und der Anwendung dieser Funktiona‐
und das Bauhaus stehen) war es, ausgehend von den            lisierung auf den Städtebau) zum Ausgangspunkt hat.
neuen verfügbaren Materialien und Bautechniken               Le Corbusiers Modell der Funktionstrennung war in
eine völlig neue Form der Architektur und des Städte‐        der städtebaulichen Debatte schnell erfolgreich. Auf
baus zu entwickeln.                                          dem ersten Congrès International d’Architecture Mo‐
        Der bedeutendste Vertreter des städtebauli‐          derne (CIAM) in La Sarraz wird Städtebau als „seinem
chen Modells der Funktionstrennung ist der Schweizer         Wesen nach“ funktioneller Natur deklariert. Als die
Architekt Le Corbusier. Le Corbusier betrachtete den         drei grundlegenden Funktionen, über deren Erfüllung
industriellen und seriellen Wohnungsbau als die ent‐         der Städtebau zu wachen hat, werden genannt: „1.
scheidende Errungenschaft der „modernen Bau‐                 wohnen; 2. arbeiten; 3. sich erholen. Sein Gegenstand
kunst“, als „Revolutionierung der Architektur“ (1926,        sind: a) Aufteilung des Bodens; b) Organisation des
166f.). Le Corbusiers Ziel war es, die Stadt nach den        Verkehrs; c) Gesetzgebung.“ (Le Corbusier 1962). In
Prinzipien industrieller Rationalisierung, optimaler         der berühmten Charta von Athen, dem Abschlussdo‐
Besonnung, Belichtung und Durchlüftung zu gestalten

                                                         6
1) Die Geschichte der Trennung/Mischung

kument des IV. CIAM‐Kongresses von 1933 wird pos‐               gewerblichen Immissionen zu verstehen, wird zu die‐
tuliert: „Die Schlüssel zum Städtebau liegen in folgen‐         ser Zeit dagegen kaum thematisiert.
den vier Funktionen: wohnen, arbeiten, sich erholen                     Die durch die Charta gestellten Aufgaben be‐
(in der Freizeit), sich bewegen“ (1962, 118). Die städ‐         standen darin, ein allgemein gültiges und verbindli‐
tebaulichen Planungen sollten die Struktur der Viertel          ches städtebauliches Regelwerk zu schaffen, und die
bestimmen, denen jeweils eine der vier Schlüsselfunk‐           Trennung der Stadt nicht mehr nur nach baulichen
tionen zugewiesen wurde, und deren „entsprechende               Kriterien, sondern nach Funktionen vorzunehmen.
Lokalisierung innerhalb des Ganzen fixieren“ (1962,             Diesen beiden Aufgaben nahm sich die städtebauliche
119). Die künftig als funktionelle Einheit definierte           Planung in Folge auch in Deutschland an. Seit 1934
Stadt müsse dann harmonisch in jedem ihrer Teile                wurde im Reichsarbeitsministerium an einem Entwurf
wachsen, da sie über Räume und Verbindungen ver‐                für ein Reichsbaugesetz gearbeitet, infolge der Kriegs‐
füge, in denen sich die Entwicklungsetappen im                  ereignisse wurden diese Kodifizierungsbestrebungen
Gleichgewicht vollziehen können; den Erfordernissen             im Jahr 1942 jedoch vorerst eingestellt. Die Trennung
des Gebietes unterworfen, dazu bestimmt, den Rah‐               der Stadt nach funktionellen Gesichtspunkten wurde
men für die vier Schlüsselfunktionen abzugeben, wer‐            erstmals mit der Bauregelungsverordnung von 1936 in
de die Stadt nicht mehr das ordnungslose Resultat               das Planungsrecht aufgenommen. Durch die Baupoli‐
zufälliger Initiativen sein, sondern den Charakter eines        zeiverordnung konnten nun Kleinsiedlungsgebiete,
„im voraus durchdachten Unternehmens“ annehmen,                 Wohngebiete, Geschäftsgebiete und Gewerbegebiete
das den strengen Regeln eines allgemeinen Planes                ausgewiesen werden. Die Bauregelungsverordnung ist
unterworfen ist. Es sei von dringlicher Notwendigkeit,          damit die Vorläuferin der Baunutzungsverordnung,
dass jede Stadt ihr Programm aufstellt und die Geset‐           die bis heute die Funktionstrennung in verschiedenen
ze erlässt, die seine Verwirklichung gestatten. Zu‐             Baugebietstypen zum stadtplanerischen Grundprinzip
sammengenommen sei das ein „totaler Städtebau“,                 erhebt (siehe unten).
der imstande ist, das Gleichgewicht in der Provinz und
im Lande herzustellen (1962, 123).
                                                                •   Die gegliederte Stadt
        Die Charta von Athen, die maßgeblich von den
Ideen Le Corbusiers geprägt ist, gilt zurecht als diskur‐       Die gegliederte Stadt ist die städtebauliche Weiter‐
siver Höhepunkt des modernen Städtebaus und zeigt               entwicklung des Prinzips der Funktionstrennung. Die
noch einmal, wie des Denken der Funktionstrennung               Entwicklung dieses Leitbilds lässt sich exemplarisch
entstanden ist und auf welchen Annahmen es beruht.              anhand des Wirkens des Stadtplaners Johannes Göde‐
Der moderne Städtebau ist eine Disziplin, die sich              ritz nachvollziehen. Ende der 1930er Jahre schreibt
konstitutiv gegen die vorhandene städtische Alltags‐            Göderitz zwei Grundsatzbeiträge zu den Themen
wirklichkeit gerichtet hat und die bestehende Stadt             Städtebau und Altstadtsanierung. Erst nach dem poli‐
als krankes, lasterhaftes und vor allem als ungeordne‐          tischen Umbruch des Jahres 1933 sei hier „Klarheit
tes Gebilde ablehnte. Die selbstgestellte Aufgabe des           geschaffen worden“, so formuliert Göderitz: Der neu‐
modernen Städtebaus sollte es sein, „objektive“,                zeitliche Städtebau umfasse „die Ordnung des völki‐
„wissenschaftliche“ und „wahre“ Kategorien und Ge‐              schen Lebensraums“ (Göderitz 1938a, 1015). Mit dem
setze zu schaffen, mit denen die Stadt von Grund auf            Städtebau setze der Staat die Ziele für die „Ordnung
neu geordnet werden sollte. Mit der Trennung und                des deutschen Lebensraumes“ und regele das Bauen
Aufteilung der Stadt – in Bereiche verschiedener                „auf deutschen Boden nach den Lebensnotwendigkei‐
Bauweise und verschiedener Dichten – wurde der                  ten des Volkes“ (ebd. 1021f.). Göderitz fordert den
klassische Ansatz des sozialreformerischen instrumen‐           „Umbau“ und die „Auflockerung“ der überalterten,
tellen Städtebaus in das Programm des modernen                  ungesunden und „sonstwie den neuzeitlichen An‐
Städtebaus integriert. Der neue Ansatz der Funktions‐           forderungen nicht mehr entsprechenden“ Stadtvier‐
trennung war eine Weiterentwicklung dieser Traditi‐             tel. In den Städten zeigten sich so viele Missstände,
on, welche die bautypologische Trennung um eine or‐             dass sich „deren Beseitigung zu einer technischen,
ganisatorische/soziale Dimension erweiterte. Die                sozialen und finanziellen Sonderausgabe“ herausge‐
Funktionstrennung rückte damit in den Kern des theo‐            bildet habe (Göderitz 1938b, 15f.). Der Städtebau, so
retischen Ansatzes des modernen Städtebaus und                  prognostiziert Göderitz, werde „zu einem großen Teil
wurde dort mit dem neoliberalen Ansatz verbunden,               Städteumbau“. Die der Begründung dieser ›Gesun‐
die Stadt als ein Unternehmen zu denken. Die aus                dungsplanung‹ zugrunde liegende Analyse bewegt
heutiger Sicht naheliegende Interpretation, die Tren‐           sich in den bekannten Bahnen des Städtebaudiskur‐
nung als Schutz (beispielsweise des Wohnens) vor                ses. Der „Stadtkörper“ sei „krank“ und müsse daher
                                                                „gesundet“ werden. In den Großstädten hätten sich,

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Studie für die IBA Berlin 2020                                                Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“

so schreibt Göderitz, „sozial und politisch unerträgli‐       erörtert und nicht frühzeitig genug“ beantwortet
che Zustände“ gebildet, die Städte böten Unterschlupf         werden könnte. Der Städtebau habe für die Zeit nach
für „asoziale Elemente, Prostitution und Verbrecher‐          dem Krieg eine „besonders ernste Verpflichtung“ zu
welt“. Ganze Stadtteile würden „in ihrer Anlage und           erfüllen, nicht nur die baulichen Schäden, auch die
vor allem in ihren Wohnverhältnissen den neuzeitl‐            „Schädigungen am Volkskörper“ müssten wieder
ichen Leistungsansprüchen“ nicht mehr genügen. Be‐            gutgemacht werden (ebd. 84f.). Sei dagegen der
troffen seien vor allem die Altstadtviertel, aber auch        „Stadtkörper durch und durch gesund“, so würden
die „in neuerer Zeit, vor allem seit der zweiten Hälfte       auch die „in ihm lebenden und ihn bildenden Men‐
des vorigen Jahrhunderts aufgrund schlechter Bau‐             schen gesunden Sinnes sein“. Im Städtebau seien die
ordnungen dicht und vielgeschossig bebauten Stadt‐            Lösungen zu bevorzugen, die geeignet seien, zum
teile“ seien „ungesund“ (ebd.). Die „erforderliche            „Ausgleich der schweren Verluste des Volkes an Gut
Auflockerung“ werde eine „Herabzonung“ notwendig              und Blut den gesunden und leistungsfähigen Stadt‐
machen und damit eine „Senkung der Wohndichte“                körper zu schaffen“. Auf die „volksbiologischen, ethi‐
herbeiführen, in vielen Fällen sei der Abriss ganzer          schen und gesundheitlichen Vorzüge“ des Einfamili‐
Blöcke oder gar die „Niederlegung von Stadtteilen“            enhauses mit Garten sei daher besonders zu verwei‐
erforderlich (ebd.).                                          sen. Zur Durchführung dieser Vorstellungen seien
        Im Januar 1945 – also noch während des                „wenige, aber durchgreifende“ neue boden‐ und bau‐
Kriegsgeschehens – formuliert Göderitz den Entwurf            rechtliche Regelungen erforderlich (ebd.).
für ein Thesenpapier, das die Begriffe Gliederung und                 Vor dem Hintergrund dieser Debatten wurde in
Auflockerung als zentrale Aufgaben des Städtebaus             Deutschland 1 schon bald nach Kriegsende über ein
erklärt (DASRL 1945). Die Gliederung der Stadt entwi‐         Bundesbaugesetz diskutiert. In einem Rechtsgutach‐
ckelt Göderitz ganz im Kontext der nationalsozialisti‐        ten des Bundesverfassungsgerichts von 1954 wurde
schen Städtebaudebatte: „Große Massen von Men‐                die städtebauliche Planung (nach Art. 74 Ziff. 18 GG)
schen“ sollten organisiert werden, indem man sie in           in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes ver‐
„kleinere, übersehbare, einander über und unterge‐            wiesen. Das alte Baupolizeirecht solle dabei nur Bun‐
ordnete Einheiten“ aufgliedere; zu orientieren sei sich       desrecht werden, insofern es „Bestandteile des Pla‐
dabei an der militärischen Gliederung in Kompanie‐            nungsrechts“ enthalte (Schöning 1968, 18). Die Fest‐
stärken (DASRL 1945, 571). Wie die „Masse der Men‐            setzung von „Art und Maß der baulichen Nutzung“
schen durch Gruppierung und Gliederung“ organisiert           wird durch das Karlsruher Gutachten als eine städte‐
und übersichtlich gemacht werde, so leitet Göderitz           bauliche und nicht mehr – wie nach der früheren
den räumlichen aus dem militärischen Gliederungsge‐           preußischen Regelung – als eine baupolizeiliche Ange‐
danken ab, könne auch der Stadtraum – die „Masse              legenheit definiert (Wambsganz 1959, 26). Im Jahre
der städtischen Baugebiete“ – als das „bauliche und           1960 wurde das Bundesbaugesetz (BBauG) verab‐
räumliche Gefäß des menschlichen Lebens“ nur durch            schiedet. Mit dem BBauG wurde eine vereinheitli‐
Gliederung in Stadtzellen geordnet und organisiert            chende Kodifikation der städtebaurechtlichen Rege‐
werden (ebd.).                                                lungen umgesetzt und eine allgemeine Rechtsgrund‐
       Zusammen mit Roland Rainer und Hubert                  lage für die städtebauliche Planung in der Bundesre‐
Hoffmann fasst Göderitz im Jahre 1957 seine seit den          publik Deutschland geschaffen. Zentrales Instrument
1930er Jahren vertretenen Thesen in der Schrift Die           des Bundesbaugesetzes ist die Bauleitplanung, als
gegliederte und aufgelockerte Stadt zusammen, die             dessen Zweck im BBauG die „Ordnung und die Steue‐
zum Standardwerk des westdeutschen Nachkriegs‐                rung der städtebaulichen Entwicklung“ definiert wer‐
städtebaus geworden ist. Je mehr – so wird hier wei‐          den. Die Gemeinden sollen – so lautet das allgemeine
terhin auf die konservativ‐völkische Bevölkerungsde‐          Modell der formellen Stadtplanung – mit Bauleitplä‐
batte aus der ersten Jahrhunderthälfte rekurriert –           nen die städtebauliche Entwicklung auf ihrem Ge‐
die „lebensstarke Landbevölkerung“ gegenüber der              meindegebiet steuern. Wie diese Steuerung konkret
Bevölkerung der Großstädte, die „ihre Volkszahl nicht         stattfinden soll, wird in der Baunutzungsverordnung
aus eigener Kraft erhalten können“, zurück trete, um          BauNVO geregelt.
so stärker müsse sich der „ungünstige Bevölkerungs‐                   Bereits im Jahre 1949 war – unter Vorsitz von
aufbau dieser immer zahlreicher werdenden Groß‐               Johannes Göderitz – ein Arbeitsausschuss der Deut‐
städte in der Vergreisung des gesamten Volkes aus‐            schen Akademie für Städtebau und Landesplanung
wirken“ (Göderitz/Rainer/Hoffmann 1957, 9). Die               DASL (der Nachfolgerin der DASRL) gegründet wor‐
„allgemeine bevölkerungspolitische Lage“ und die              den, um den Entwurf für eine Baunutzungsverord‐
Folgen des Krieges machten es zu einer „brennenden
Lebensfrage“, die „nicht ernst und gründlich genug
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                                                                  Zur Entwicklung in der DDR vgl. Harlander 2012b.

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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung

nung zu erstellen (Schöning 1968, 18). Die beiden ckerten und gegliederten Stadt büßte im städtebauli‐
Kernelemente der 1962 beschlossenen BauNVO sind chen Diskurs an Deutungshoheit ein, die klassische
die Ausgestaltung der Regelungen über die Art und Beweisführung, dass nur eine funktional getrennte
das Maß der baulichen Nutzung. Diese Kernelemente Stadt den bestehenden Zustand von Chaos und
entsprechen direkt dem, was in der städtebaulichen Krankheit in Ordnung bringen könne, verlor deutlich
Debatte seit den 1930er Jahren als die grundlegende an Überzeugungskraft. Im Rahmen dieser Diskussion
Aufgabe des Städtebaus weitgehend akzeptiert wur‐ wurde als Antithese zur Auflockerung der Stadt ein
de: Die Gliederung der Stadt durch die Festsetzung Zielbild entworfen, welches durch Bezeichnungen wie
der Art der Nutzung, die Auflockerung durch die Rege‐ gemischte Stadt und kompakte Stadt seinen begriffli‐
lung des Maßes der Nutzung. Die Festsetzung der Art chen Ausdruck fand. Erstmals wurde damit im städte‐
der Nutzung nach der BauNVO funktioniert über die baulichen Diskurs für eine funktionale Durchmischung
Gliederung der städtischen Wirklichkeit in unter‐ und eine hohe Einwohner‐ und Bebauungsdichte
schiedliche Gebietstypen – etwa in Wohngebiete, plädiert, die grundlegenden Werte also um 180 Grad
Mischgebiete und Gewerbegebiete. In der BauNVO gedreht: Eine funktionale Nutzungsmischung wurde
werden diese Gebietstypen definiert und es wird nun tendenziell als etwas Erstrebenswertes angese‐
geregelt, welche Nutzungen in den Gebietstypen hen und dem Ideal der „gemischten Stadt der kurzen
jeweils zulässig, ausnahmsweise zulässig oder unzu‐ Wege“ der Boden bereitet.
lässig sind. In der gemeindlichen Bauleitplanung wer‐
den die Gebietstypen dann in den Bebauungsplänen
                                                           • Urbanität
festgesetzt, um damit die baulich‐räumliche Entwick‐
lung zu steuern. Mit der BauNVO ist der Städtebau Entscheidenden Anteil an dieser Kehrtwende hatte
damit an seinem selbstgesetzten Ziel angekommen: die Eröffnungsrede der Volkswirtschaftler Edgar Salin
die BauNVO ist das verbindliche und bundesweit gel‐ auf der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städte‐
tende Instrument, mit dem das „Wohl der Allgemein‐ tages. Edgar Salin nimmt in seinem Grundsatzreferat
heit“ durch die Trennung der Stadt in vordefinierte Bezug auf die historischen Entstehungslinien des Beg‐
funktionale Bereiche gewährleistet werden sollte und riffs Urbanität in der Antike. Urbanität ist hier als
das zum allgemeinen stadtplanerischen Standard stadtbürgerliches Ideal definiert gewesen, als eine
geworden ist.                                              sich nur in einem speziellen städtischen Umfeld her‐
        Erst nach der Einführung der BauNVO regte ausbildende Geisteshaltung der Offenheit, Toleranz
sich hörbare Kritik an diesem Ansatz und es begann und Humanität (Salin 1960, 14f.). Im europäischen
eine umfangreiche Debatte, in der Zweifel am Bild der Feudalismus habe der Einzelne dagegen kaum mehr
gegliederten und aufgelockerten Stadt als nicht mehr Teil am städtischen Geschehen genommen und daher
zeitgemäßer Metapher für die „Lebensvorgänge und sei in dieser historischen Phase der Begriff praktisch
einer daraus hergeleiteten Stadtform“ geäußert wer‐ komplett von der Gebrauchsfläche verschwunden.
den (Fahrenholtz 1963, 74). In dieser
Fachdebatte wurde zum einen die
Weiterentwicklung und thematische
Auffächerung des städtebaulichen
Diskurses sichtbar, zum anderen die
dabei bis heute vermutlich ausführ‐
lichste und reflektierteste Auseinan‐
dersetzung mit den beiden Grundfes‐
ten der instrumentellen Stadtpla‐
nung – der Auflockerung und der
Gliederung – geführt. Einerseits wur‐
de in den 1960er Jahren also das
Konstrukt Trennung durch die BauN‐
VO zum einheitlichen Planungsrecht
bestimmt und tief in den institutio‐
nellen Grundfesten der Stadtplanung
verankert. Andererseits wurde dieser
Gebrauch jedoch auch erstmals Ziel
einer vielschichtigen und vielstimmi‐    Foto: Jane Jacobs 1961, Quelle: New York World‐Telegram and the Sun Newspa‐
gen Kritik. Das Konzept der aufgelo‐                       per, Library of Congress, Reproduction No.: LC‐USZ‐62‐137838

                                                          9
Studie für die IBA Berlin 2020                                          Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“

Erst nach der französischen Revolution könne vor           monialen Städtebau vier Bausteine, die in ihrem Zu‐
allem in Paris eine wieder erstarkende ›Urbanität‹         sammenwirken zum Entstehen von Stadt (den Begriff
festgestellt werden, in Deutschland habe sich die          Urbanität verwendet Jacobs nicht) führen würden:
›Urbanität‹ dagegen deutlich weniger ausprägen             Erstens die Mischung von verschiedenen – möglichst
können. Mit der Machtübernahme der Nationalsozia‐          mehr als zwei – unterschiedlichen primären Funktio‐
listen, so Salin weiter, seien „alle guten Ansätze“ er‐    nen (etwa von Wohnen und Arbeiten) an einem Ort,
stickt worden, der „Sieg des Ungeistes“ habe bewusst       zweitens eine nicht zu große Dimensionierung der
und erfolgreich die „Urbanität von den Wurzeln her         Baublöcke, drittens eine Mischung der Gebäude hin‐
vernichtet“ (ebd. 22f.). Da die deutsche Vergangen‐        sichtlich ihres Alters und ihres Zustandes und viertens
heit noch „völlig unbewältigt“ hinter den Deutschen        die Konzentration von „genügend Menschen“ auf
liege, sei dieser überaus folgenschwere Tatbestand in      einem Raum (Jacobs 1963, 95). Die Flucht aus der
seiner „geschichtlichen Endgültigkeit“ noch kaum           Stadt (wie bei Howards Gartenstadtmodell) sei keine
wahrgenommen worden. Salin bezeichnet das Jahr             zeitgemäße Antwort auf die städtischen Probleme,
1933 als „das Ende der deutschen Urbanität“, die           Fortschritte in der Medizin, der Hygiene, der Epide‐
„Verbrecher“ hätten „für Zeit und Ewigkeit“ die „hu‐       miologie und im Arbeitsrecht hätten die soziale Lage,
manistische Humanität“ genommen. Salin empfiehlt           die einst untrennbar mit den Bedingungen des hoch‐
den deutschen Städtebauern daher, „auf lange hin‐          verdichteten Stadtlebens verbunden gewesen sei,
aus“ das „Wort Urbanität ganz zu vermeiden“ (ebd.          grundsätzlich geändert. Jacobs leistet damit Pio‐
24). Salins Vortrag ist dabei weit entfernt von der        nierarbeit: Mischung und Dichte hatte im städtebauli‐
Postulierung eines neuen städtebaulichen Leitbildes.       chen Diskurs vor ihr noch niemand als Ziel formuliert.
Salin diskutiert, welche neuen Handlungsfelder der         Die ersten deutlich wahrnehmbaren Rufe nach einer
Stadtpolitik und Stadtplanung in Frage kommen kön‐         Umkehr der klassischen städtebaulichen Perspektive
nten, das größte Augenmerk legt er auf die Ermögli‐        erklingen somit nicht aus den eigenen Reihen, son‐
chung der politischen Teilhabe und der allgemeinen         dern im Rahmen einer von außerhalb in den Diskurs
Bildung. Salin plädiert dafür, die Städte wieder zu        hineingetragenen disziplinären Fundamentalkritik.
einer „Burg der Demokratie“ zu entwickeln und die                  Im gleichen Jahr wie Jacobs veröffentlichte der
Bevölkerung einer Stadt in eine „Gemeinschaft von          Soziologe Hans Paul Bahrdt sein Buch Die moderne
Stadtbürgern“ zu verwandeln. Vor allem die Bildung         Großstadt und auch hier beschäftigt sich ein außer‐
sei als „existentielle Stadtaufgabe“ anzuerkennen und      halb der Disziplin stehender Protagonist mit den
zu betreiben, Mitbestimmung, Mitverantwortung und          grundlegenden Belangen des Städtebaus. In seinen
Selbstverwaltung seien Schlüsselwörter für die künfti‐     Ausführungen fundiert Bahrdt dabei eine „Kritik der
ge Stadtgestaltung. Diese Bereiche sind aber gerade        Großstadtkritik“, in der er die historischen Wurzeln
keine baulich‐räumlichen Themenfelder, Salin fokus‐        der traditionellen Großstadtfeindschaft aufdeckt
siert auf gesellschaftliche Inhalte. Allerdings können     (Bahrdt 1969 [1961], 132). Zudem formuliert er eine
Inhalt und Umstände von Salins Vortrag – ein Volks‐        soziologische Perspektive und fordert die Mitwirkung
wirtschaftler, der eine kulturphilosophische Rede vor      der Soziologie im Städtebau ein. Zwar ließe sich „aus
der versammelten Riege der Städtebauer hält – als          der Soziologie kein städtebaulicher Entwurf“ deduzie‐
Anzeichen der Öffnung der städtebaulichen Debatte          ren (ebd. 34) und der Soziologe müsse dem Städte‐
für eine soziologische und politische Perspektive ge‐      bauer klarmachen, dass sich „durch den Umbau der
nommen werden.                                             Städte“ nur „wenig an der Gesellschaft“ ändern ließe,
        Forciert wurde diese Entwicklung dadurch,          dennoch ist es für Bahrdt ein wichtiges Anliegen, die
dass sich erstmals Widerstand gegen die bestehende         Soziologie im städtebaulichen Geschehen einzubin‐
städtebauliche Praxis regte und auf die theoretische       den. Bahrdt steht damit am Beginn der Entwicklung
Ebene reproduziert wurde. Großen Einfluss auf den          der Stadtsoziologie zur „Stadtplanungssoziologie“, mit
städtebaulichen Diskurs entfaltete vor allem das Buch      der die Themen Urbanität und Mischung zunehmend
The Death and the Life of Great American Cities von        auf der städtebaulichen Agenda erscheinen.
Jane Jacobs, in dem die Autorin – selbst Aktivistin der            Nach der von Soziologen wie Bahrdt geleiste‐
in einigen amerikanischen Städten aufkommenden             ten Analyse der disziplinären Großstadtfeindschaft
Bürgerbewegung gegen die Flächensanierungen –              wurde die Debatte dem stadtsoziologischen Stadtdis‐
eine grundsätzliche Kritik an den Grundfesten der          kurs geöffnet. Damit wird zu diesem Zeitpunkt ein
Stadtplanung übt (1961). In ihrer Streitschrift protes‐    weiterer Grundlagentext in die Debatte eingespeist,
tiert Jacobs gegen die vorherrschende Stadtplanung         und zwar das Essay Urbanism as a Way of Life (1938)
und das dieser Praxis zugrunde liegende Stadtver‐          von Louis Wirth. Wirth stellt die „für unsere Zivilisati‐
ständnis. Jacobs entwickelt als Gegenbild zum hege‐        on überlegene Bedeutung der Stadt“ dem mageren

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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung

Wissen „über das Wesen der Urbanität und den Pro‐               baulichen Diskurs, dass im Städtebau erst die Groß‐
zess der Urbanisierung“ gegenüber (Wirth 1997, 44).             stadtfeindschaft überwunden werden musste, bevor
Wirths zentrale These ist die Loslösung von Urbanität           die soziologische Toleranzthese diskutierbar wurde.
und Urbanisierung aus ihrem rein physisch‐realen                Immerhin bedeutete dieser Wechsel ja, dass die The‐
Zusammenhang. Urbanität definiert er als die Lebens‐            se „Großstadt produziert Seuchen und Revolte“ durch
form der Menschen in der Stadt, also als Gefühl, Zu‐            die Antithese „städtische Mischung führt zu Offenheit
stand, Attitüde. Wirths Ansatz ist es, heraus zu finden,        und Toleranz“ abgelöst wurde – mithin (zumindest
was dieses Gefühl ausmacht und vor allem, wodurch               auf den ersten Blick) eine recht fundamentale Kehrt‐
es hervorgerufen wird. Nach Wirth kann Stadt als                wende.
relativ große, dichte und dauerhafte Siedlung von
sozial heterogenen Individuen definiert werden (1938,
                                                                •   Die gemischte Stadt
8). Wirth postuliert, dass der Großstadtbewohner
dazu neige „ein gewisses Feingefühl einer Welt künst‐           Zwischen der Neubewertung von Mischung als etwas
licher Erzeugnisse gegenüber zu erlangen und zu kul‐            tendenziell Positives und Erstrebenswertes, die sich
tivieren“ (Wirth 1997, 54). Die „Konfrontation diver‐           im städtebaulichen Diskurs der 1960er Jahre (wenn
gierender Persönlichkeiten und Lebensformen“ schaf‐             auch mit unterschiedlicher Konsequenz) erstaunlich
fe im Allgemeinen eine „relativistische Betrachtungs‐           schnell etablierte, und der praktischen Anwendung
weise“ und ein „Gefühl der Toleranz Unterschieden               des Konstrukts, klaffte allerdings noch eine gewaltige
gegenüber“, was wiederum eine „Voraussetzung der                Lücke. Der Konzeption des Städtebauförderungsge‐
Rationalität und der Säkularisierung des Lebens“ sei.           setzes, an der wiederum Johannes Göderitz maßgeb‐
        In der Folge der diskursiven Interventionen von         lich beteiligt gewesen ist (Fahrenholtz 1963, 69), lag
Salin, Jacobs, Bahrdt und anderen wandelte sich das             weiterhin der „Gesundungsansatz“ der 1930er Jahre
städtebauliche Selbstverständnis. Ziel war es nun               zugrunde. In den 1960er Jahren begann die Praxis der
weniger, durch städtebauliche Planung die Gesell‐               Flächensanierung (im wahrsten Sinne) durchzuschla‐
schaft grundsätzlich zu ändern, sondern der Gesell‐             gen. Erklärtes Ziel der Stadtsanierung war es, die
schaft (wie sie ist) mit städtebaulichen Mitteln zu             verhassten Gründerzeitviertel zu beseitigen und auf
dienen, mithin „eine wichtige Erkenntnis und ein                deren Trümmern die aufgelockerte und gegliederte
bedeutsamer Fortschritt“ von den „häufig recht ge‐              Stadt zu errichten. Auch renommierte Städtebautheo‐
walttätigen ideologischen Forderungen des Städte‐               retiker waren in dieser Zeit in die Praxis der Flächen‐
baues“ (Schmidt‐Relenberg, 1968, 41). Das Leitbild              sanierung eingebunden; bei der Sanierungsplanung
der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ wurde               für ein Gebiet im Berliner Bezirk Wedding im Jahre
zunehmend hinterfragt und kritisiert und dieser Kritik          1963 stellte lediglich eines der von den 12 deutsch‐
lag eine „grundsätzlich ›stadtfreundliche‹ Tendenz“             sprachigen Städtebaulehrstühlen erarbeiteten Gut‐
zugrunde. Diese „positive Hinwendung zum Städti‐                achten die Strategie des Totalabrisses grundsätzlich in
schen“ und zur „städtischen Lebensweise“ kulminiert             Frage (vgl. Geist/Kürvers 1989, 594f.).
im „Schlagwort Urbanität“ (ebd. 208) und der These,                    Mitte der 1960er Jahre formierte sich auch in
dass die „städtische Lebensweise“ eine „gesamtge‐               den deutschen Städten erster Protest der Bewohne‐
sellschaftlich relevante Funktion“ erfülle, indem sie           rInnen gegen die städtebauliche Praxis der Flächensa‐
„allgemeine humane Qualitäten“ und speziell die                 nierung (vgl. Geist/Kürvers 597f.). Der Widerstand
„Toleranz der Beteiligten“ untereinander erfordere              gegen die Flächensanierungen (und damit gegen die
und erzeuge (ebd. 113). Der Einzug des soziologischen           herrschende Städtebaupolitik), der ab Mitte der
Denkens in den städtebaulichen Diskurs der 1960er               1970er Jahre zu einer allmählichen Umkehr dieser
Jahre bringt damit grundlegende Neuerungen. Die                 städtebaulichen Praxis führte, ist im Kontext der in
städtebauliche Diskussion wird für eine soziologische           den 1960er Jahren gegründeten allgemeinen Politisie‐
Perspektive geöffnet, die Stadtsoziologie bietet sich           rung der gesellschaftlichen Debatten zu sehen. 1968
als Hilfswissenschaft für den Städtebau an und wird             revoltierten – nach französischem Vorbild – die deut‐
auch als solche angenommen. Auf dieser Ebene wird               schen Studenten, Mitte 1969 wurde mit Willy Brandt
der Wechsel bei der städtebaulichen Bewertung von               der erste sozialdemokratische Bundeskanzler der
Trennung/Mischung unterstützt (eingeleitet). Mit der            Bundesrepublik gewählt. Stadtplanung und Städtebau
Analyse der klassischen Großstadtfeindschaft wird               änderten sich in dieser Zeit grundlegend, die jungen
auch diese zentrale städtebauliche Kategorie seziert            und kritischen Stimmen der Zunft gewannen zuneh‐
und das ehemalige Vermeidungsedikt zum positiven                mend an Einfluss. Die exemplarisch nachvollzogenen
Ziel gewendet. Deutlich wird bei der Ankunft des                Änderungen des städtebaulichen Diskurses – auch die
stadtsoziologischen Mischungsparadigmas im städte‐              Etablierung der soziologischen Perspektive und die

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