Studie Das Leitbild von der "Urbanen Mischung" - IBA Berlin 2020 - Stadtentwicklung ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ Geschichte, Stand der Forschung, Ein‐ und Ausblicke Studie im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, Berlin Bearbeitung: Freie Planungsgruppe Berlin, Dr. Nikolai Roskamm Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, SBD‐IBA Herr Joachim Günther Am Köllnischen Park 3 10179 Berlin Februar 2013 INHALT Einleitung......................................................................................................................................................2 1) Die Geschichte der Trennung/Mischung ...........................................................................................3 • Trennung durch Zonierung .................................................................................................... 3 • Großstadtfeindschaft und Gartenstadt ................................................................................. 4 • Funktionstrennung ................................................................................................................. 6 • Die gegliederte Stadt ............................................................................................................. 7 • Urbanität ................................................................................................................................ 9 • Die gemischte Stadt ............................................................................................................. 11 • Von Brüchen und Kontinuitäten .......................................................................................... 13 2) Der Stand der Forschung ................................................................................................................15 • Nutzungsmischung ............................................................................................................... 15 • Soziale Mischung.................................................................................................................. 18 • Ethnische Mischung ............................................................................................................. 21 • Neue Urbane Mischung ....................................................................................................... 25 3) Ein‐ und Ausblicke ..........................................................................................................................27 • „Urbane Mischung“ beim PRAE‐IBA‐Konzept ...................................................................... 27 • Das „Strategische Gutachten“ ............................................................................................. 28 • Das Leitbild der Nutzungsmischung ..................................................................................... 29 • Das Leitbild der Sozialen Mischung ..................................................................................... 30 • Mischung, anders ................................................................................................................. 31 Literatur......................................................................................................................................................37 Anhang: Steckbriefe
Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ Einleitung Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Um‐ Erfolgsfaktoren gewesen ist, eingefahrene Vorge‐ welt bereitet die Internationale Bauausstellung Berlin hensweisen radikal zu hinterfragen (SenStadt 2011b, 2020 vor. In den bisherigen Überlegungen zur thema‐ 24). Mit dem hier vorgelegten Gutachten soll diese tischen und programmatischen Ausrichtung der IBA IBA‐Tugend auch auf der analytischen Ebene ange‐ 2020 wird die „gemischte Stadt“ beziehungsweise das wendet werden. Üblicherweise wird in den verfügba‐ Ziel der „Urbanen Mischung“ als ein Leitbild des über‐ ren städtebaulichen Untersuchungen und Studien greifenden Mottos "Draußenstadt wird Drinnenstadt" zum Thema der „Urbanen Mischung“ das Leitbild von gesetzt: Mit der IBA soll sich dem Thema der sozial, der gemischten Stadt an den Anfang gestellt, um dann kulturell, strukturell und funktional gemischten Stadt herauszuarbeiten, wie das gesetzte Leitbild am besten gewidmet werden. Durch diesen Ansatz wird auf den umgesetzt werden kann; die Frage nach dem Warum gegenwärtigen fachlichen Grundkonsens in der städ‐ rückt dabei oftmals in den Hintergrund (siehe Kapitel tebaulichen Planung fokussiert: „Urbane Mischung“ 2). Die in diesem Gutachten vertretene These lautet ist heute ein zentrales, wenn nicht das zentrale Leit‐ dagegen, dass erst mit einem grundsätzlich hinterfra‐ bild von Städtebau und Stadtplanung. genden Vorgehen ein Ansatz möglich wird, der nicht Allerdings ist das nicht immer so gewesen. Im lediglich den dominanten Wertekanon des aktuellen Gegenteil hat sich die städtebauliche Disziplin Ende Städtebaus verlängert, sondern dazu in der Lage ist, des 19. Jahrhunderts maßgeblich mit dem gegenteili‐ für sich selbst stehende inhaltliche Akzente zu setzen. gen Leitbild der Trennung, genauer: der Funktions‐ Die Strategie der hier vorgelegten Studie besteht also trennung konstituiert, das bis in die 1960er Jahre in darin, das Leitbild der „gemischten Stadt“ zu prüfen, den städtebaulichen Fachdebatten unangefochten die dahinter liegenden Routinen zu beleuchten und gewesen ist. Der daraus abgeleitete städtebauliche den Kern herauszuarbeiten, der im Zentrum des Beg‐ Funktionalismus – das Denken von Stadt in aufgeteil‐ riffs „Urbane Mischung“ zu finden ist. Schließlich soll ten, getrennten und gegliederten Funktionen –, war am Ende diskutiert werden, ob (und wenn ja: wie) das verbindende Element beinahe sämtlicher Ansätze dieser Kern zugänglich für neue Inhalte ist, respektive für die Neu‐ und Umgestaltung des Urbanen. Stadt‐ in eine neue Richtung gewendet werden kann. planung und Städtebau sind in ihren ersten einhun‐ Gegliedert ist die Studie in drei Teile. Erstens dert Jahren als Fachdisziplinen Apparate der Trennung wird untersucht, wie das Leitbild der „Urbanen Mi‐ und der Entmischung gewesen. Erst in den 1960er schung“ historisch zustande gekommen ist; dafür ist Jahren wurde dem Leitbild der Nutzungstrennung ein Blick in die Geschichte des modernen Städtebaus hörbar widersprochen. In den 1970er und 1980er zu werfen und vom eindrucksvollen Wandel des Ziels Jahren etablierte sich diese Umkehrung des klassi‐ von der funktionsgetrennten Stadt zur gemischten schen städtebaulichen Ansatzes und wurde bald dar‐ Stadt zu berichten. Zweitens wird der Stand der For‐ auf zum dominierenden und anerkannten neuen städ‐ schung dargestellt und dabei einerseits die Ergebnisse tebaulichen Paradigma. In den 1990er Jahren setzte der umfangreichen Forschungen zum Thema „Nut‐ sich das Leitbild der Nutzungsmischung – nicht zuletzt zungsmischung im Städtebau“ aus den 1990er Jahren befördert durch die Berliner IBA 1987 – in allen städ‐ dargestellt; andererseits wird die soziologische For‐ tebaulichen Bereichen durch, zumindest was die pro‐ schung zum Thema „Soziale Mischung“ und „ethni‐ grammatischen Ebene betrifft. Die Leipzig‐Charta von sche Mischung“ rekapituliert. Schließlich wird auch 2007 bündelt diese Entwicklung zu einem übergrei‐ die aktuellen Debatten über die „Renaissance der fenden städtebaulichen Grundkonsens, der heute Städte“ betrachtet. Drittens wird untersucht, wie das weitgehend unwidersprochen ist. Leitbild von der „Urbanen Mischung“ für eine IBA Ziel der hier vorgelegten Studie ist es, heraus‐ Berlin 2020 fruchtbar gemacht werden kann und die zuarbeiten, welchen inhaltlichen Gehalt, welche The‐ bisher vorgelegten Ansätze für die IBA 2020 hierauf sen und welche Möglichkeiten/Unmöglichkeiten mit geprüft. Abgerundet wird die Untersuchung von sechs dem Leitbild von der „Urbanen Mischung“ verbunden Steckbriefen, in denen Geschichte, Erfolge und Miss‐ sind. Internationale Bauausstellungen sind in der erfolge von dezidierten Steuerungsansätzen skizziert Vergangenheit immer Räume für ungewohnte, inno‐ werden, die eine „Urbane Mischung“ zum Ziel gehabt vative und auch für kritische Ansätze gewesen. Gera‐ haben. de der IBA 1987 wird attestiert, dass es einer ihrer 2
1) Die Geschichte der Trennung/Mischung Die Geschichte der Trennung/Mischung Das aktuelle städtebauliche Leitbild der Mischung innen nach außen abnehmend die zulässigen Höchst‐ wendet sich gegen die getrennte Stadt, die ihrerseits maße des Maßes der baulichen Nutzung vorgaben. das ureigene Produkt des klassischen modernen Städ‐ Erste Formen von Zonenbauplänen gab es 1874 in tebaus ist. Die These, die der folgenden Analyse zu‐ Budapest, 1878 in Dresden und 1879 in Erfurt. Zu grunde liegt, lautet, dass Mischung und Trennung Anfang handelte es sich dabei um die rudimentäre untrennbar zusammengehören. Um die Geschichte Form einer Abstufung der Bebauungsdichte in ge‐ der Mischung zu erzählen, ist daher erst einmal die schlossene und offene Bebauung (Fisch 1990, 185), Geschichte der Trennung zu untersuchen. Aus diesem bald darauf wurden Zonenbauordnungen mit mehr als Grunde wird hier eine wissenschaftsgeschichtliche Be‐ diesen beiden Zonen verabschiedet (1884 in Altona trachtung unternommen, in der das Begriffspaar Tren‐ und 1891 in Frankfurt/Main). In Berlin wurde 1892 als nung/Mischung zusammen betrachtet wird. In der erste Zonenbauordnung die Bauordnung für die Berli‐ historischen Herleitung werden die wichtigsten Strän‐ ner Vororte beschlossen. Die differenzierteste Zonen‐ ge der Begriffsgeschichte zum Konzept der Tren‐ bauordnung war die Münchener Staffelbauordnung nung/Mischung exemplarisch zusammengefasst und von 1904, in der die Festlegungen an eine umfangrei‐ somit ein Überblick hergestellt, der für ein tieferes che Gebäudetypologie (die Staffeln) gekoppelt wur‐ Verständnis des Leitbildes „Urbane Mischung“ not‐ den. Unter dem Dach der Zonierung wurden ganz wendig ist. Dabei werden die Ursprünge des Ideals unterschiedliche Inhalte versammelt: Funktions‐ und der Trennung/Mischung beleuchtet und insbesondere Nutzungstrennung spielten zwar noch kaum eine auf die Entwicklung der entsprechenden städtebauli‐ Rolle, in verschiedene Zonen (also getrennt) aufgeteilt chen Leitbilder fokussiert. werden sollten insbesondere die Bauweisen und Bau‐ dichten. Die Zonierungsplanung war nach der städte‐ • Trennung durch Zonierung baulichen Lehrmeinung „von großer sozialer Be‐ Der instrumentelle Städtebau ist eine Weiterentwick‐ deutung“ (Stübben 1902, 8). Deshalb wird in dieser lung der seit dem Mittelalter bestehenden bauord‐ Gründungsdebatte auch das Thema der „Sozialen nungsrechtlichen Traditionen. Die reformerische Städ‐ Mischung“ diskutiert: „Wer kann auch sein Auge der tebaubewegung, die im Zuge der Stärkung der kom‐ Tatsache verschließen, dass die ärmere Klasse vieler munalen Selbstverwaltung und eingebunden in die Wohltaten verlustig geht, die ein Durcheinanderwoh‐ Diskurse der Gesundheitspflege entstanden ist, setzte nen gewährt. Nicht Abschließung, sondern Durchdrin‐ sich von Anfang an das sozialreformerisch motivierte gung scheint mir aus sittlichen und darum aus staatli‐ Ziel, einheitliche und allgemein geltende städtebauli‐ chen Rücksichte das Gebotene zu sein“ (Hobrecht che Regelungen herauszuarbeiten und durchzusetzen, 1868, 513). Auch Reinhard Baumeister plädiert für um damit die städtische Alltagswirklichkeit neu zu eine maßvolle Vermischung der sozialen Klassen, eine ordnen. Die bauordnungsrechtlichen (auf das einzelne „völlige Vermischung aller Klassen“ könne dagegen Grundstück bezogenen) Regelungen wurden dabei zur nicht befriedigen: Die Trennung der Klassen bringe stadtplanerischen und städtebaulichen Steuerung „sociale Gefahren und auch hygienische Uebelstände ausgeweitet. Dieser Maßstabs‐ und Qualitätssprung mit sich“, dagegen müsse eine „Mischung der Woh‐ markiert die Entstehung des modernen Städtebaus als nungsclassen“ günstig ausfallen „für den Ausgleich eigene und bald auch als an den Universitäten gelehr‐ der socialen Gegensätze, für das moralische Verhalten te Disziplin. beider Theile und ganz speciell auch für die Gesund‐ In dieser Phase entstanden die ersten Ansätze, heit der Aermeren“ (Baumeister/Miquel 1889, 30). städtebauliche Mischung/Trennung durchzusetzen. In der Praxis führte die komplexe Begrün‐ Die Zusammensetzung der Stadt sollte insbesondere dungskonstruktion aus volkswirtschaftlichen und mit dem Instrument der „Zonierung“ gesteuert wer‐ betriebswirtschaftlichen Annahmen sowie die unter‐ den. Die Vorschriften der Zonenplanung wurden in schiedlichen Trennungs‐ und Mischungsansätze zu einem größeren Stadtplan abgestuft, wobei die Stufen recht widersprüchlichen Ergebnissen der Zonie‐ „aufgrund der bestehenden Bodenwerte“ sowie mit rungsplanung. Zudem gab es von den Grundbesitzern Rücksicht auf die „erwünschte Bauweise“ gewählt erhebliche Widerstände, da sie ihre wirtschaftlichen wurden (Baumeister 1906, 67). Mit dieser Begrün‐ Verwertungsmöglichkeiten beschränkt sahen (und die dung wurden Ende des 19. Jahrhunderts in vielen zeitgenössischen Gemeindevertretungen in Deutsch‐ deutschen Städten Zonen‐ und Staffelbauordnungen land waren aufgrund des bestehenden Wahlrechts verabschiedet, die in verschiedenen Bereichen von überall Hausbesitzerparlamente). Auf der anderen 3
Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ Seite wurde jedoch festgestellt, dass eine Baube‐ ren massive Verstädterung unaufhaltsam und ge‐ schränkung dann, wenn sie nicht nur das eigene setzmäßig geschwächt werden würde. Der Bauern‐ Grundstück, sondern auch die aller Nachbarn betraf, stand wurde in dieser „Jungbrunnenideologie“ als auch wertsteigernd wirken konnte. Ein Villengrund‐ „Urquell“, „Urstand“, „Urmaterial“ und „Vorratsbe‐ stück ließ sich besonders gut verkaufen, wenn dem hälter für alle übrigen Stände“ idealisiert, die Groß‐ Käufer garantiert wurde, dass er nicht von fünfstöcki‐ stadt war verlorenes Terrain, dem Untergang und gen Mietskasernen eingekreist werden würde (Fisch dem proletarischen Siechtum geweiht (Bergmann 1990, 186). Die erzieherische und paternalistische 1970, 144). Die großstadtfeindlichen und argrar‐ Note hinsichtlich der Sozialen Mischung ergab schließ‐ freundlichen Doktrinen bilden den Kern des zu Ende lich „eine Ambiguität, die das staatlich geförderte des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten vaterländisch‐ `Durchmischungsziel´ auch späterhin nie ganz verlo‐ konservativen Denkens, in dessen Kontext sich Ende ren hat“ (Harlander 2000, 110). des 19. Jahrhunderts die Diskussion über das richtige Die tatsächlichen Auswirkungen der Zonen‐ städtebauliche Selbstverständnis entwickelte (vgl. bauordnungen auf die Stadtentwicklung lassen sich Durth/Gutschow 1988). insgesamt allerdings nur schwer festmachen. Das liegt Im Zentrum dieser Debatten stand bald das nicht zuletzt daran, dass die städtebaulichen Instru‐ Konzept der Gartenstadt, das durch den völkisch‐ mente selbst zur Produktion der materiellen Wirklich‐ nationalen Publizisten Theodor Fritsch in die deutsch‐ keit beigetragen haben (und beitragen) und dass die sprachige städtebauliche Debatte eingeführt wurde abgestufte Baudichte volkswirtschaftliche und städte‐ (1896). Auch Fritsch konzipiert seine Stadtvision dezi‐ bauliche Realitäten herstellte (oder verfestigte). Der diert als antistädtisches Modell, sein Ausgangspunkt Anfangsgedanke des instrumentellen Städtebaus war ist ein ausgeprägter Hass auf die bestehende Groß‐ es jedenfalls, die vorhandene Stadt anhand „wissen‐ stadt, die er als „Lasterparadiese“ und „wüste Stein‐ schaftlich“ ermittelter Kriterien neu zu ordnen und in haufen“ (1896, 4f.) bezeichnet. Fritsch postuliert, dass einzelne definierte Bereiche aufzutrennen. Durch die „dem Volke in seinen Großstädten und Industrie‐ Benennung und Festlegung von Zonen wurden einer‐ Zentren schwere Gefahren“ drohten und dass die seits bereits bestehende Trennungen nachvollzogen Bewohner der Städte einem „raschen Aussterben und verfestigt, andererseits wurden solche Trennun‐ preisgegeben“ seien (1912, 28). Trotz dieser Kritik gen aber auch durch den Städtebau erst hergestellt. betrachtet Fritsch die Stadt jedoch auch als eine Not‐ Die Aufteilung der Stadt in getrennte Bereiche (qua wendigkeit. Man dürfe „nicht verhelen“, so erklärt Benennung und qua Verordnung) ist der Gründungs‐ Fritsch, dass es „für eine größere Nation und ihre akt des modernen Städtebaus. manchfachen Bedürfnisse notwendiger Weise Städte geben“ müsse. Aus diesem Grunde sollte man sie „wenigstens vernünftig anlegen“. Was den alten • Großstadtfeindschaft und Gartenstadt Um die Herkunft des städtebaulichen Ideals der funktionalen Trennung einordnen zu können, ist neben dem instrumentellen Städtebau und seinen Zonierungen auch die Entwicklung der Debatte zu betrachten, in der die Suche nach dem Bild einer künftigen, besseren, schöneren und sozial gerechte‐ ren Stadt im Vordergrund steht, in der also über städtebauliche Konzepte und Leitvorstellungen so‐ wie über das geeignete städtebauliche Selbstver‐ ständnis gerungen wurde. Eingebunden war diese städtebauliche Debatte in eine politische Stim‐ mungslage, die Ende des 19. Jahrhunderts von einer breiten Ablehnung des verhandelten Gegenstandes – der bestehenden Stadt – geprägt gewesen ist. Der inhaltliche Kern der sich mit allgemeinen Ausprä‐ gungen des Zeitgeistes wie Kulturpessimismus und Fin‐de‐siècle‐Stimmung verbündenden Großstadt‐ feindschaft (Engeli 1999, 33) bestand in der These, dass das flache Land und seine Bevölkerung durch Foto: Eva Brüggmann, 1962, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtba‐ Bundesarchiv: Bild 183‐92806‐0003 4
1) Die Geschichte der Trennung/Mischung Stadtvierteln am meisten fehle sei die „innere Ord‐ Bei der Einordnung des Konzepts der Garten‐ nung“ und „der Plan“. Fritschs Ideal ist eine kleine, stadt wird heute einerseits festgestellt, dass die überschaubare Stadt, die sich in spiralförmig erwei‐ „Ideologie der Gartenstadt“ eine „historische Auffor‐ ternden bautypologisch und klassengetrennten Zonen derung eines resignierenden Städtebaus an die Bes‐ entwickelt und in der sich Grund und Boden in Ge‐ serverdienenden“ gewesen sei, die „am Proletariat meindeeigentum befinden. Im Zentrum von Fritschs und den Lasten der Industrialisierung anscheinend Zukunftsstadt stehen die „monumentalen Gebäude“, unheilbar kränkelnde Stadt“ zu verlassen und „sich dann folgen „vornehme Villen“, „feinere Wohnhäu‐ auf dem billigen Land im Eigenheim“ neu anzusiedeln ser“, Wohn‐ und Geschäftshäuser, Arbeiter‐Wohnun‐ (Rodriguez‐Lores 1991, 75). Das „gartenstädtische gen, kleine Werkstätten, Fabriken und ländliche Be‐ Rezept zur Rettung der Menschen“, so eine promi‐ triebe (ebd.). nente Kritikerin, sei „die Vernichtung der Großstadt“ Im Jahre 1897 veröffentlichte Ebenezer Ho‐ gewesen (Jane Jacobs, zitiert nach Bergmann 1970, ward seine Schrift Garden Cities of Tomorrow, die in 163). Andererseits wird die Gartenstadtidee als aus der heutigen städtebaulichen Rezeption der Garten‐ der Verschmelzung von „bürgerlich‐romantischen und stadt im Vordergrund steht. Die Gartenstadt von Ho‐ sozialistischen Gedanken“ hervorgegangene „ebenso ward ist eine von der Einwohnerzahl her begrenzte naiv wie pragmatisch klingende Liaison“ bezeichnet Ansiedlung auf dem Land, in der die Naturnähe mit (de Bruyn 1996, 171) oder auch als Synonym, für alle den Vorteilen der städtischen Lebensweise verbunden „fortschrittlichen Bemühungen, durch Städtebau die werden sollte (Howard 1968 [1897]). Bei Howard Lebensbedingungen der unteren Mittelschichten zu verschmelzen die jeweiligen Vorteile aus Stadt und heben“ (Schubert 2004, 92). Unbestritten ist, dass das Land im Begriff „Landstadt“. Zu diesen Vorteilen zählt Modell „sehr schnell zum populärsten Planungsmodell er das Gesellschaftsleben, die soziale Solidarität und der Moderne“ aufgestiegen (de Bruyn 1996, 173) und das reiche kulturelle Angebot. Ebenso wie Stadt und „von Liebknecht bis Himmler“ beliebt gewesen ist Land sollen mit der Gartenstadt auch die verschiede‐ (Durth/Gutschow 1988, 168). nen sozialen Klassen versöhnt werden. Howard wollte Die kontroversen Bewertungen des Garten‐ in seinem Planungsmodell das private Grundeigentum stadtmodells lassen sich vor allem darauf zurückfüh‐ abschaffen und das gesamte Siedlungsterrain zum ren, dass sich hier zwei unterschiedliche Denklinien – kollektiven Eigentum der Gemeinde erklären, um die die Diskurse des völkisch‐nationalen Konservatismus aus der wirtschaftlichen Entwicklung resultierenden und der reform‐sozialistischen Moderne – einander Wertsteigerungen als kommunale Einnahmen verbu‐ näherten und beide im Gartenstadtgedanken ihr städ‐ chen zu können. Allerdings trennt auch Howard die tebauliches Leitmotiv fanden. Die Idee der Garten‐ Zonen seiner Gartenstadt in verschiedene funktionale stadt wurde zum Vorbild einer Vielzahl von städtebau‐ Bereiche, die sich kreisförmig nach außen entwickeln. lichen Konzepten, in denen sich sozialrevolutionäre Hoffnungen auf eine Stadt für die arbeitende Klasse mit Elementen der konservativen Stadtfeindschaft mischten (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 58). Die sozialistischen und die völkischen Ideen trafen sich bei der Ablehnung der bestehenden städtischen bauli‐ chen Strukturen und Eigentumsverhältnisse. In den beiden Gründungsgeschichten des Konzepts der Gar‐ tenstadt von Fritsch und Howard zeigt sich der Ur‐ sprung sowohl des modernen als auch des völkisch‐ nationalen Diskurses. Die Großstadtkritik machte „kausal ein baulich‐räumliches Phänomen“ für die mit Industrialisierung und Verstädterung verbundenen gesellschaftlichen Probleme verantwortlich (Schubert 2004, 31). Damit steht das Gartenstadtmodell für den die Geschichte des Städtebaus dominierenden Ansatz, durch eine Manipulation der gebauten Umwelt gestal‐ tend auf soziale Prozesse und Beziehungen einwirken zu wollen. Abbildung: The Garden City Concept, E. Howard, 1902; T aus "Garden Cities of tomorrow", Sonnenschein publishing. 5
Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ • Funktionstrennung und in seinen Thesen erhebt er den Städtebau zu der bestimmenden gesellschaftlichen Aufgabe. Das Nach dem ersten Weltkrieg veränderte und erweiter‐ „Werkzeug des Menschen“, so schreibt Le Corbusier, te sich das Spektrum der städtebaulichen Debatte. Die sei „zu allen Zeiten dem Menschen in die Hand gege‐ vorherrschende Stimmung der Weimarer Republik ben“ gewesen, nun müsse man „dem dummen Men‐ war ein „komplexes Amalgam aus expressionistischer schen beibringen, wie er seine Werkzeuge zu gebrau‐ Schwärmerei, sozialistischen Utopieelementen, Anti‐ chen hat“ (Le Corbusier 1926, 239). Le Corbusiers Wilhelminismus und Großstadtkritik“, in der zum Blick auf die bestehende Stadt unterscheidet sich Aufbruch zur neuen Stadt, zur neuen Wohnung und dabei kaum vom herrschenden städtebaulichen Dis‐ zum neuen Menschen gerufen wurde. Erhalten blieb kurs seiner Zeit. Für Le Corbusier waren die Großstäd‐ jedoch die „Frontstellung gegen den gründerzeitlichen te „fruchtlose Gebilde: sie verbrauchen den Körper, Moloch Großstadt“ (Harlander 2006, 26f.). In der sie arbeiten dem Geiste entgegen, die Unordnung, die Weimarer Republik entstand erstmals eine systema‐ sich in ihnen vervielfältigt, wirkt verletzend: ihre Ent‐ tisch angelegte Wohnungspolitik, die Lösung der artung verwundet unsere Eigenliebe unsere Würde. „Wohnungsfrage“ wurde auf allen Ebenen des Staates Sie sind des Zeitalters nicht würdig: sie sind unsrer zur vordringlichen Aufgabe der Sozialpolitik erklärt nicht mehr würdig“ (1929, VII). Das Zentrum der Städ‐ (vgl. Kuhn 2012a). Der Anspruch auf gesunde Woh‐ te sei „tödlich erkrankt, ihre Umfriedung ist wie vom nung wurde in die Reichsverfassung aufgenommen Ungeziefer zerfressen“ (1929, 83). Der Augenblick sei und bot die Basis für weitreichende Staatsinterventi‐ gekommen, den modernen Städtebau zu schaffen, onen. Mit der neu eingeführten Hauszinssteuer wurde „weil eine Kollektivleidenschaft aufgewacht ist unter die finanzielle Grundlage für eine staatliche Städte‐ dem Drucke der brutalsten Not, geleitet von einem bauförderung gelegt (Häußermann/Läpple/Siebel hohen Gefühle für Wahrheit.“ Haus, Straße und Stadt 2008, 55f.; Durth/Gutschow 1988, 175; Peltz‐Dreck‐ müssten in Ordnung gebracht werden, wenn sie mann 1978, 59). Das Gartenstadtkonzept wurde vor „nicht den Grundgesetzen zuwiderlaufen sollen, auf allem in den sozialdemokratisch regierten Kommunen denen wir selbst aufgebaut sind.“ (1929, 15). Wie ein auf den Arbeitersiedlungsbau angewendet, allerdings solcher moderner Städtebau zu handeln habe, wird ohne die ursprünglichen sozio‐ökonomischen Be‐ von Le Corbusier ebenfalls offen gelegt: „Ich denke standteile dabei umzusetzen. Bei den dann tatsächlich also ganz kühl daran, dass man auf die Lösung verfal‐ errichteten Arbeiter‐ und Kleinbürgersiedlungen der len muß, das Zentrum der Großstädte niederzureißen Wohnungsbaugenossenschaften, die nur aufgrund und wieder aufzubauen, dass man ebenfalls den ihrer landschaftlich schönen Lage als Gartenstädte schmierigen Gürtel der Vorstädte niederreißen, diese bezeichnet wurden, blieb von Howards Konzept ledig‐ weiter hinausverlegen und an ihre Stelle nach und lich die Naturnähe und das preisgünstige Wohnen nach eine freie Schutzzone setzen muß“ (1929, 83). übrig, Howards ökonomisches Model hatte mit den Le Corbusier avanciert mit seinem Stadt‐ und realisierten Projekten dagegen nicht mehr viel zu tun Städtebauverständnis zum Begründer des städtebau‐ (Harlander 2006, 26f.). Auf der konzeptionellen Ebene lichen Funktionalismus beziehungsweise des Modells formte sich – als Gegenbewegung zum historizisti‐ der Funktionstrennung. Er ergänzt dabei den Fort‐ schen Stil der Heimatschutzbewegung und des kon‐ schritt der konstruktiven und materiellen Möglichkei‐ servativen Teils der Gartenstadtvertreter – das archi‐ ten mit einem planerisch‐organisatorischen Ansatz, tektonische und städtebauliche Konzept des Neuen der die Trennung der „menschlichen Funktionen in Bauens. Ziel der ersten architektonischen Moderne Wohnen, Arbeiten, Kultivierung von Körper/Geist und (für deren Entwicklung etwa der Deutsche Werkbund Fortbewegung (und der Anwendung dieser Funktiona‐ und das Bauhaus stehen) war es, ausgehend von den lisierung auf den Städtebau) zum Ausgangspunkt hat. neuen verfügbaren Materialien und Bautechniken Le Corbusiers Modell der Funktionstrennung war in eine völlig neue Form der Architektur und des Städte‐ der städtebaulichen Debatte schnell erfolgreich. Auf baus zu entwickeln. dem ersten Congrès International d’Architecture Mo‐ Der bedeutendste Vertreter des städtebauli‐ derne (CIAM) in La Sarraz wird Städtebau als „seinem chen Modells der Funktionstrennung ist der Schweizer Wesen nach“ funktioneller Natur deklariert. Als die Architekt Le Corbusier. Le Corbusier betrachtete den drei grundlegenden Funktionen, über deren Erfüllung industriellen und seriellen Wohnungsbau als die ent‐ der Städtebau zu wachen hat, werden genannt: „1. scheidende Errungenschaft der „modernen Bau‐ wohnen; 2. arbeiten; 3. sich erholen. Sein Gegenstand kunst“, als „Revolutionierung der Architektur“ (1926, sind: a) Aufteilung des Bodens; b) Organisation des 166f.). Le Corbusiers Ziel war es, die Stadt nach den Verkehrs; c) Gesetzgebung.“ (Le Corbusier 1962). In Prinzipien industrieller Rationalisierung, optimaler der berühmten Charta von Athen, dem Abschlussdo‐ Besonnung, Belichtung und Durchlüftung zu gestalten 6
1) Die Geschichte der Trennung/Mischung kument des IV. CIAM‐Kongresses von 1933 wird pos‐ gewerblichen Immissionen zu verstehen, wird zu die‐ tuliert: „Die Schlüssel zum Städtebau liegen in folgen‐ ser Zeit dagegen kaum thematisiert. den vier Funktionen: wohnen, arbeiten, sich erholen Die durch die Charta gestellten Aufgaben be‐ (in der Freizeit), sich bewegen“ (1962, 118). Die städ‐ standen darin, ein allgemein gültiges und verbindli‐ tebaulichen Planungen sollten die Struktur der Viertel ches städtebauliches Regelwerk zu schaffen, und die bestimmen, denen jeweils eine der vier Schlüsselfunk‐ Trennung der Stadt nicht mehr nur nach baulichen tionen zugewiesen wurde, und deren „entsprechende Kriterien, sondern nach Funktionen vorzunehmen. Lokalisierung innerhalb des Ganzen fixieren“ (1962, Diesen beiden Aufgaben nahm sich die städtebauliche 119). Die künftig als funktionelle Einheit definierte Planung in Folge auch in Deutschland an. Seit 1934 Stadt müsse dann harmonisch in jedem ihrer Teile wurde im Reichsarbeitsministerium an einem Entwurf wachsen, da sie über Räume und Verbindungen ver‐ für ein Reichsbaugesetz gearbeitet, infolge der Kriegs‐ füge, in denen sich die Entwicklungsetappen im ereignisse wurden diese Kodifizierungsbestrebungen Gleichgewicht vollziehen können; den Erfordernissen im Jahr 1942 jedoch vorerst eingestellt. Die Trennung des Gebietes unterworfen, dazu bestimmt, den Rah‐ der Stadt nach funktionellen Gesichtspunkten wurde men für die vier Schlüsselfunktionen abzugeben, wer‐ erstmals mit der Bauregelungsverordnung von 1936 in de die Stadt nicht mehr das ordnungslose Resultat das Planungsrecht aufgenommen. Durch die Baupoli‐ zufälliger Initiativen sein, sondern den Charakter eines zeiverordnung konnten nun Kleinsiedlungsgebiete, „im voraus durchdachten Unternehmens“ annehmen, Wohngebiete, Geschäftsgebiete und Gewerbegebiete das den strengen Regeln eines allgemeinen Planes ausgewiesen werden. Die Bauregelungsverordnung ist unterworfen ist. Es sei von dringlicher Notwendigkeit, damit die Vorläuferin der Baunutzungsverordnung, dass jede Stadt ihr Programm aufstellt und die Geset‐ die bis heute die Funktionstrennung in verschiedenen ze erlässt, die seine Verwirklichung gestatten. Zu‐ Baugebietstypen zum stadtplanerischen Grundprinzip sammengenommen sei das ein „totaler Städtebau“, erhebt (siehe unten). der imstande ist, das Gleichgewicht in der Provinz und im Lande herzustellen (1962, 123). • Die gegliederte Stadt Die Charta von Athen, die maßgeblich von den Ideen Le Corbusiers geprägt ist, gilt zurecht als diskur‐ Die gegliederte Stadt ist die städtebauliche Weiter‐ siver Höhepunkt des modernen Städtebaus und zeigt entwicklung des Prinzips der Funktionstrennung. Die noch einmal, wie des Denken der Funktionstrennung Entwicklung dieses Leitbilds lässt sich exemplarisch entstanden ist und auf welchen Annahmen es beruht. anhand des Wirkens des Stadtplaners Johannes Göde‐ Der moderne Städtebau ist eine Disziplin, die sich ritz nachvollziehen. Ende der 1930er Jahre schreibt konstitutiv gegen die vorhandene städtische Alltags‐ Göderitz zwei Grundsatzbeiträge zu den Themen wirklichkeit gerichtet hat und die bestehende Stadt Städtebau und Altstadtsanierung. Erst nach dem poli‐ als krankes, lasterhaftes und vor allem als ungeordne‐ tischen Umbruch des Jahres 1933 sei hier „Klarheit tes Gebilde ablehnte. Die selbstgestellte Aufgabe des geschaffen worden“, so formuliert Göderitz: Der neu‐ modernen Städtebaus sollte es sein, „objektive“, zeitliche Städtebau umfasse „die Ordnung des völki‐ „wissenschaftliche“ und „wahre“ Kategorien und Ge‐ schen Lebensraums“ (Göderitz 1938a, 1015). Mit dem setze zu schaffen, mit denen die Stadt von Grund auf Städtebau setze der Staat die Ziele für die „Ordnung neu geordnet werden sollte. Mit der Trennung und des deutschen Lebensraumes“ und regele das Bauen Aufteilung der Stadt – in Bereiche verschiedener „auf deutschen Boden nach den Lebensnotwendigkei‐ Bauweise und verschiedener Dichten – wurde der ten des Volkes“ (ebd. 1021f.). Göderitz fordert den klassische Ansatz des sozialreformerischen instrumen‐ „Umbau“ und die „Auflockerung“ der überalterten, tellen Städtebaus in das Programm des modernen ungesunden und „sonstwie den neuzeitlichen An‐ Städtebaus integriert. Der neue Ansatz der Funktions‐ forderungen nicht mehr entsprechenden“ Stadtvier‐ trennung war eine Weiterentwicklung dieser Traditi‐ tel. In den Städten zeigten sich so viele Missstände, on, welche die bautypologische Trennung um eine or‐ dass sich „deren Beseitigung zu einer technischen, ganisatorische/soziale Dimension erweiterte. Die sozialen und finanziellen Sonderausgabe“ herausge‐ Funktionstrennung rückte damit in den Kern des theo‐ bildet habe (Göderitz 1938b, 15f.). Der Städtebau, so retischen Ansatzes des modernen Städtebaus und prognostiziert Göderitz, werde „zu einem großen Teil wurde dort mit dem neoliberalen Ansatz verbunden, Städteumbau“. Die der Begründung dieser ›Gesun‐ die Stadt als ein Unternehmen zu denken. Die aus dungsplanung‹ zugrunde liegende Analyse bewegt heutiger Sicht naheliegende Interpretation, die Tren‐ sich in den bekannten Bahnen des Städtebaudiskur‐ nung als Schutz (beispielsweise des Wohnens) vor ses. Der „Stadtkörper“ sei „krank“ und müsse daher „gesundet“ werden. In den Großstädten hätten sich, 7
Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ so schreibt Göderitz, „sozial und politisch unerträgli‐ erörtert und nicht frühzeitig genug“ beantwortet che Zustände“ gebildet, die Städte böten Unterschlupf werden könnte. Der Städtebau habe für die Zeit nach für „asoziale Elemente, Prostitution und Verbrecher‐ dem Krieg eine „besonders ernste Verpflichtung“ zu welt“. Ganze Stadtteile würden „in ihrer Anlage und erfüllen, nicht nur die baulichen Schäden, auch die vor allem in ihren Wohnverhältnissen den neuzeitl‐ „Schädigungen am Volkskörper“ müssten wieder ichen Leistungsansprüchen“ nicht mehr genügen. Be‐ gutgemacht werden (ebd. 84f.). Sei dagegen der troffen seien vor allem die Altstadtviertel, aber auch „Stadtkörper durch und durch gesund“, so würden die „in neuerer Zeit, vor allem seit der zweiten Hälfte auch die „in ihm lebenden und ihn bildenden Men‐ des vorigen Jahrhunderts aufgrund schlechter Bau‐ schen gesunden Sinnes sein“. Im Städtebau seien die ordnungen dicht und vielgeschossig bebauten Stadt‐ Lösungen zu bevorzugen, die geeignet seien, zum teile“ seien „ungesund“ (ebd.). Die „erforderliche „Ausgleich der schweren Verluste des Volkes an Gut Auflockerung“ werde eine „Herabzonung“ notwendig und Blut den gesunden und leistungsfähigen Stadt‐ machen und damit eine „Senkung der Wohndichte“ körper zu schaffen“. Auf die „volksbiologischen, ethi‐ herbeiführen, in vielen Fällen sei der Abriss ganzer schen und gesundheitlichen Vorzüge“ des Einfamili‐ Blöcke oder gar die „Niederlegung von Stadtteilen“ enhauses mit Garten sei daher besonders zu verwei‐ erforderlich (ebd.). sen. Zur Durchführung dieser Vorstellungen seien Im Januar 1945 – also noch während des „wenige, aber durchgreifende“ neue boden‐ und bau‐ Kriegsgeschehens – formuliert Göderitz den Entwurf rechtliche Regelungen erforderlich (ebd.). für ein Thesenpapier, das die Begriffe Gliederung und Vor dem Hintergrund dieser Debatten wurde in Auflockerung als zentrale Aufgaben des Städtebaus Deutschland 1 schon bald nach Kriegsende über ein erklärt (DASRL 1945). Die Gliederung der Stadt entwi‐ Bundesbaugesetz diskutiert. In einem Rechtsgutach‐ ckelt Göderitz ganz im Kontext der nationalsozialisti‐ ten des Bundesverfassungsgerichts von 1954 wurde schen Städtebaudebatte: „Große Massen von Men‐ die städtebauliche Planung (nach Art. 74 Ziff. 18 GG) schen“ sollten organisiert werden, indem man sie in in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes ver‐ „kleinere, übersehbare, einander über und unterge‐ wiesen. Das alte Baupolizeirecht solle dabei nur Bun‐ ordnete Einheiten“ aufgliedere; zu orientieren sei sich desrecht werden, insofern es „Bestandteile des Pla‐ dabei an der militärischen Gliederung in Kompanie‐ nungsrechts“ enthalte (Schöning 1968, 18). Die Fest‐ stärken (DASRL 1945, 571). Wie die „Masse der Men‐ setzung von „Art und Maß der baulichen Nutzung“ schen durch Gruppierung und Gliederung“ organisiert wird durch das Karlsruher Gutachten als eine städte‐ und übersichtlich gemacht werde, so leitet Göderitz bauliche und nicht mehr – wie nach der früheren den räumlichen aus dem militärischen Gliederungsge‐ preußischen Regelung – als eine baupolizeiliche Ange‐ danken ab, könne auch der Stadtraum – die „Masse legenheit definiert (Wambsganz 1959, 26). Im Jahre der städtischen Baugebiete“ – als das „bauliche und 1960 wurde das Bundesbaugesetz (BBauG) verab‐ räumliche Gefäß des menschlichen Lebens“ nur durch schiedet. Mit dem BBauG wurde eine vereinheitli‐ Gliederung in Stadtzellen geordnet und organisiert chende Kodifikation der städtebaurechtlichen Rege‐ werden (ebd.). lungen umgesetzt und eine allgemeine Rechtsgrund‐ Zusammen mit Roland Rainer und Hubert lage für die städtebauliche Planung in der Bundesre‐ Hoffmann fasst Göderitz im Jahre 1957 seine seit den publik Deutschland geschaffen. Zentrales Instrument 1930er Jahren vertretenen Thesen in der Schrift Die des Bundesbaugesetzes ist die Bauleitplanung, als gegliederte und aufgelockerte Stadt zusammen, die dessen Zweck im BBauG die „Ordnung und die Steue‐ zum Standardwerk des westdeutschen Nachkriegs‐ rung der städtebaulichen Entwicklung“ definiert wer‐ städtebaus geworden ist. Je mehr – so wird hier wei‐ den. Die Gemeinden sollen – so lautet das allgemeine terhin auf die konservativ‐völkische Bevölkerungsde‐ Modell der formellen Stadtplanung – mit Bauleitplä‐ batte aus der ersten Jahrhunderthälfte rekurriert – nen die städtebauliche Entwicklung auf ihrem Ge‐ die „lebensstarke Landbevölkerung“ gegenüber der meindegebiet steuern. Wie diese Steuerung konkret Bevölkerung der Großstädte, die „ihre Volkszahl nicht stattfinden soll, wird in der Baunutzungsverordnung aus eigener Kraft erhalten können“, zurück trete, um BauNVO geregelt. so stärker müsse sich der „ungünstige Bevölkerungs‐ Bereits im Jahre 1949 war – unter Vorsitz von aufbau dieser immer zahlreicher werdenden Groß‐ Johannes Göderitz – ein Arbeitsausschuss der Deut‐ städte in der Vergreisung des gesamten Volkes aus‐ schen Akademie für Städtebau und Landesplanung wirken“ (Göderitz/Rainer/Hoffmann 1957, 9). Die DASL (der Nachfolgerin der DASRL) gegründet wor‐ „allgemeine bevölkerungspolitische Lage“ und die den, um den Entwurf für eine Baunutzungsverord‐ Folgen des Krieges machten es zu einer „brennenden Lebensfrage“, die „nicht ernst und gründlich genug 1 Zur Entwicklung in der DDR vgl. Harlander 2012b. 8
1) Die Geschichte der Trennung/Mischung nung zu erstellen (Schöning 1968, 18). Die beiden ckerten und gegliederten Stadt büßte im städtebauli‐ Kernelemente der 1962 beschlossenen BauNVO sind chen Diskurs an Deutungshoheit ein, die klassische die Ausgestaltung der Regelungen über die Art und Beweisführung, dass nur eine funktional getrennte das Maß der baulichen Nutzung. Diese Kernelemente Stadt den bestehenden Zustand von Chaos und entsprechen direkt dem, was in der städtebaulichen Krankheit in Ordnung bringen könne, verlor deutlich Debatte seit den 1930er Jahren als die grundlegende an Überzeugungskraft. Im Rahmen dieser Diskussion Aufgabe des Städtebaus weitgehend akzeptiert wur‐ wurde als Antithese zur Auflockerung der Stadt ein de: Die Gliederung der Stadt durch die Festsetzung Zielbild entworfen, welches durch Bezeichnungen wie der Art der Nutzung, die Auflockerung durch die Rege‐ gemischte Stadt und kompakte Stadt seinen begriffli‐ lung des Maßes der Nutzung. Die Festsetzung der Art chen Ausdruck fand. Erstmals wurde damit im städte‐ der Nutzung nach der BauNVO funktioniert über die baulichen Diskurs für eine funktionale Durchmischung Gliederung der städtischen Wirklichkeit in unter‐ und eine hohe Einwohner‐ und Bebauungsdichte schiedliche Gebietstypen – etwa in Wohngebiete, plädiert, die grundlegenden Werte also um 180 Grad Mischgebiete und Gewerbegebiete. In der BauNVO gedreht: Eine funktionale Nutzungsmischung wurde werden diese Gebietstypen definiert und es wird nun tendenziell als etwas Erstrebenswertes angese‐ geregelt, welche Nutzungen in den Gebietstypen hen und dem Ideal der „gemischten Stadt der kurzen jeweils zulässig, ausnahmsweise zulässig oder unzu‐ Wege“ der Boden bereitet. lässig sind. In der gemeindlichen Bauleitplanung wer‐ den die Gebietstypen dann in den Bebauungsplänen • Urbanität festgesetzt, um damit die baulich‐räumliche Entwick‐ lung zu steuern. Mit der BauNVO ist der Städtebau Entscheidenden Anteil an dieser Kehrtwende hatte damit an seinem selbstgesetzten Ziel angekommen: die Eröffnungsrede der Volkswirtschaftler Edgar Salin die BauNVO ist das verbindliche und bundesweit gel‐ auf der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städte‐ tende Instrument, mit dem das „Wohl der Allgemein‐ tages. Edgar Salin nimmt in seinem Grundsatzreferat heit“ durch die Trennung der Stadt in vordefinierte Bezug auf die historischen Entstehungslinien des Beg‐ funktionale Bereiche gewährleistet werden sollte und riffs Urbanität in der Antike. Urbanität ist hier als das zum allgemeinen stadtplanerischen Standard stadtbürgerliches Ideal definiert gewesen, als eine geworden ist. sich nur in einem speziellen städtischen Umfeld her‐ Erst nach der Einführung der BauNVO regte ausbildende Geisteshaltung der Offenheit, Toleranz sich hörbare Kritik an diesem Ansatz und es begann und Humanität (Salin 1960, 14f.). Im europäischen eine umfangreiche Debatte, in der Zweifel am Bild der Feudalismus habe der Einzelne dagegen kaum mehr gegliederten und aufgelockerten Stadt als nicht mehr Teil am städtischen Geschehen genommen und daher zeitgemäßer Metapher für die „Lebensvorgänge und sei in dieser historischen Phase der Begriff praktisch einer daraus hergeleiteten Stadtform“ geäußert wer‐ komplett von der Gebrauchsfläche verschwunden. den (Fahrenholtz 1963, 74). In dieser Fachdebatte wurde zum einen die Weiterentwicklung und thematische Auffächerung des städtebaulichen Diskurses sichtbar, zum anderen die dabei bis heute vermutlich ausführ‐ lichste und reflektierteste Auseinan‐ dersetzung mit den beiden Grundfes‐ ten der instrumentellen Stadtpla‐ nung – der Auflockerung und der Gliederung – geführt. Einerseits wur‐ de in den 1960er Jahren also das Konstrukt Trennung durch die BauN‐ VO zum einheitlichen Planungsrecht bestimmt und tief in den institutio‐ nellen Grundfesten der Stadtplanung verankert. Andererseits wurde dieser Gebrauch jedoch auch erstmals Ziel einer vielschichtigen und vielstimmi‐ Foto: Jane Jacobs 1961, Quelle: New York World‐Telegram and the Sun Newspa‐ gen Kritik. Das Konzept der aufgelo‐ per, Library of Congress, Reproduction No.: LC‐USZ‐62‐137838 9
Studie für die IBA Berlin 2020 Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ Erst nach der französischen Revolution könne vor monialen Städtebau vier Bausteine, die in ihrem Zu‐ allem in Paris eine wieder erstarkende ›Urbanität‹ sammenwirken zum Entstehen von Stadt (den Begriff festgestellt werden, in Deutschland habe sich die Urbanität verwendet Jacobs nicht) führen würden: ›Urbanität‹ dagegen deutlich weniger ausprägen Erstens die Mischung von verschiedenen – möglichst können. Mit der Machtübernahme der Nationalsozia‐ mehr als zwei – unterschiedlichen primären Funktio‐ listen, so Salin weiter, seien „alle guten Ansätze“ er‐ nen (etwa von Wohnen und Arbeiten) an einem Ort, stickt worden, der „Sieg des Ungeistes“ habe bewusst zweitens eine nicht zu große Dimensionierung der und erfolgreich die „Urbanität von den Wurzeln her Baublöcke, drittens eine Mischung der Gebäude hin‐ vernichtet“ (ebd. 22f.). Da die deutsche Vergangen‐ sichtlich ihres Alters und ihres Zustandes und viertens heit noch „völlig unbewältigt“ hinter den Deutschen die Konzentration von „genügend Menschen“ auf liege, sei dieser überaus folgenschwere Tatbestand in einem Raum (Jacobs 1963, 95). Die Flucht aus der seiner „geschichtlichen Endgültigkeit“ noch kaum Stadt (wie bei Howards Gartenstadtmodell) sei keine wahrgenommen worden. Salin bezeichnet das Jahr zeitgemäße Antwort auf die städtischen Probleme, 1933 als „das Ende der deutschen Urbanität“, die Fortschritte in der Medizin, der Hygiene, der Epide‐ „Verbrecher“ hätten „für Zeit und Ewigkeit“ die „hu‐ miologie und im Arbeitsrecht hätten die soziale Lage, manistische Humanität“ genommen. Salin empfiehlt die einst untrennbar mit den Bedingungen des hoch‐ den deutschen Städtebauern daher, „auf lange hin‐ verdichteten Stadtlebens verbunden gewesen sei, aus“ das „Wort Urbanität ganz zu vermeiden“ (ebd. grundsätzlich geändert. Jacobs leistet damit Pio‐ 24). Salins Vortrag ist dabei weit entfernt von der nierarbeit: Mischung und Dichte hatte im städtebauli‐ Postulierung eines neuen städtebaulichen Leitbildes. chen Diskurs vor ihr noch niemand als Ziel formuliert. Salin diskutiert, welche neuen Handlungsfelder der Die ersten deutlich wahrnehmbaren Rufe nach einer Stadtpolitik und Stadtplanung in Frage kommen kön‐ Umkehr der klassischen städtebaulichen Perspektive nten, das größte Augenmerk legt er auf die Ermögli‐ erklingen somit nicht aus den eigenen Reihen, son‐ chung der politischen Teilhabe und der allgemeinen dern im Rahmen einer von außerhalb in den Diskurs Bildung. Salin plädiert dafür, die Städte wieder zu hineingetragenen disziplinären Fundamentalkritik. einer „Burg der Demokratie“ zu entwickeln und die Im gleichen Jahr wie Jacobs veröffentlichte der Bevölkerung einer Stadt in eine „Gemeinschaft von Soziologe Hans Paul Bahrdt sein Buch Die moderne Stadtbürgern“ zu verwandeln. Vor allem die Bildung Großstadt und auch hier beschäftigt sich ein außer‐ sei als „existentielle Stadtaufgabe“ anzuerkennen und halb der Disziplin stehender Protagonist mit den zu betreiben, Mitbestimmung, Mitverantwortung und grundlegenden Belangen des Städtebaus. In seinen Selbstverwaltung seien Schlüsselwörter für die künfti‐ Ausführungen fundiert Bahrdt dabei eine „Kritik der ge Stadtgestaltung. Diese Bereiche sind aber gerade Großstadtkritik“, in der er die historischen Wurzeln keine baulich‐räumlichen Themenfelder, Salin fokus‐ der traditionellen Großstadtfeindschaft aufdeckt siert auf gesellschaftliche Inhalte. Allerdings können (Bahrdt 1969 [1961], 132). Zudem formuliert er eine Inhalt und Umstände von Salins Vortrag – ein Volks‐ soziologische Perspektive und fordert die Mitwirkung wirtschaftler, der eine kulturphilosophische Rede vor der Soziologie im Städtebau ein. Zwar ließe sich „aus der versammelten Riege der Städtebauer hält – als der Soziologie kein städtebaulicher Entwurf“ deduzie‐ Anzeichen der Öffnung der städtebaulichen Debatte ren (ebd. 34) und der Soziologe müsse dem Städte‐ für eine soziologische und politische Perspektive ge‐ bauer klarmachen, dass sich „durch den Umbau der nommen werden. Städte“ nur „wenig an der Gesellschaft“ ändern ließe, Forciert wurde diese Entwicklung dadurch, dennoch ist es für Bahrdt ein wichtiges Anliegen, die dass sich erstmals Widerstand gegen die bestehende Soziologie im städtebaulichen Geschehen einzubin‐ städtebauliche Praxis regte und auf die theoretische den. Bahrdt steht damit am Beginn der Entwicklung Ebene reproduziert wurde. Großen Einfluss auf den der Stadtsoziologie zur „Stadtplanungssoziologie“, mit städtebaulichen Diskurs entfaltete vor allem das Buch der die Themen Urbanität und Mischung zunehmend The Death and the Life of Great American Cities von auf der städtebaulichen Agenda erscheinen. Jane Jacobs, in dem die Autorin – selbst Aktivistin der Nach der von Soziologen wie Bahrdt geleiste‐ in einigen amerikanischen Städten aufkommenden ten Analyse der disziplinären Großstadtfeindschaft Bürgerbewegung gegen die Flächensanierungen – wurde die Debatte dem stadtsoziologischen Stadtdis‐ eine grundsätzliche Kritik an den Grundfesten der kurs geöffnet. Damit wird zu diesem Zeitpunkt ein Stadtplanung übt (1961). In ihrer Streitschrift protes‐ weiterer Grundlagentext in die Debatte eingespeist, tiert Jacobs gegen die vorherrschende Stadtplanung und zwar das Essay Urbanism as a Way of Life (1938) und das dieser Praxis zugrunde liegende Stadtver‐ von Louis Wirth. Wirth stellt die „für unsere Zivilisati‐ ständnis. Jacobs entwickelt als Gegenbild zum hege‐ on überlegene Bedeutung der Stadt“ dem mageren 10
1) Die Geschichte der Trennung/Mischung Wissen „über das Wesen der Urbanität und den Pro‐ baulichen Diskurs, dass im Städtebau erst die Groß‐ zess der Urbanisierung“ gegenüber (Wirth 1997, 44). stadtfeindschaft überwunden werden musste, bevor Wirths zentrale These ist die Loslösung von Urbanität die soziologische Toleranzthese diskutierbar wurde. und Urbanisierung aus ihrem rein physisch‐realen Immerhin bedeutete dieser Wechsel ja, dass die The‐ Zusammenhang. Urbanität definiert er als die Lebens‐ se „Großstadt produziert Seuchen und Revolte“ durch form der Menschen in der Stadt, also als Gefühl, Zu‐ die Antithese „städtische Mischung führt zu Offenheit stand, Attitüde. Wirths Ansatz ist es, heraus zu finden, und Toleranz“ abgelöst wurde – mithin (zumindest was dieses Gefühl ausmacht und vor allem, wodurch auf den ersten Blick) eine recht fundamentale Kehrt‐ es hervorgerufen wird. Nach Wirth kann Stadt als wende. relativ große, dichte und dauerhafte Siedlung von sozial heterogenen Individuen definiert werden (1938, • Die gemischte Stadt 8). Wirth postuliert, dass der Großstadtbewohner dazu neige „ein gewisses Feingefühl einer Welt künst‐ Zwischen der Neubewertung von Mischung als etwas licher Erzeugnisse gegenüber zu erlangen und zu kul‐ tendenziell Positives und Erstrebenswertes, die sich tivieren“ (Wirth 1997, 54). Die „Konfrontation diver‐ im städtebaulichen Diskurs der 1960er Jahre (wenn gierender Persönlichkeiten und Lebensformen“ schaf‐ auch mit unterschiedlicher Konsequenz) erstaunlich fe im Allgemeinen eine „relativistische Betrachtungs‐ schnell etablierte, und der praktischen Anwendung weise“ und ein „Gefühl der Toleranz Unterschieden des Konstrukts, klaffte allerdings noch eine gewaltige gegenüber“, was wiederum eine „Voraussetzung der Lücke. Der Konzeption des Städtebauförderungsge‐ Rationalität und der Säkularisierung des Lebens“ sei. setzes, an der wiederum Johannes Göderitz maßgeb‐ In der Folge der diskursiven Interventionen von lich beteiligt gewesen ist (Fahrenholtz 1963, 69), lag Salin, Jacobs, Bahrdt und anderen wandelte sich das weiterhin der „Gesundungsansatz“ der 1930er Jahre städtebauliche Selbstverständnis. Ziel war es nun zugrunde. In den 1960er Jahren begann die Praxis der weniger, durch städtebauliche Planung die Gesell‐ Flächensanierung (im wahrsten Sinne) durchzuschla‐ schaft grundsätzlich zu ändern, sondern der Gesell‐ gen. Erklärtes Ziel der Stadtsanierung war es, die schaft (wie sie ist) mit städtebaulichen Mitteln zu verhassten Gründerzeitviertel zu beseitigen und auf dienen, mithin „eine wichtige Erkenntnis und ein deren Trümmern die aufgelockerte und gegliederte bedeutsamer Fortschritt“ von den „häufig recht ge‐ Stadt zu errichten. Auch renommierte Städtebautheo‐ walttätigen ideologischen Forderungen des Städte‐ retiker waren in dieser Zeit in die Praxis der Flächen‐ baues“ (Schmidt‐Relenberg, 1968, 41). Das Leitbild sanierung eingebunden; bei der Sanierungsplanung der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ wurde für ein Gebiet im Berliner Bezirk Wedding im Jahre zunehmend hinterfragt und kritisiert und dieser Kritik 1963 stellte lediglich eines der von den 12 deutsch‐ lag eine „grundsätzlich ›stadtfreundliche‹ Tendenz“ sprachigen Städtebaulehrstühlen erarbeiteten Gut‐ zugrunde. Diese „positive Hinwendung zum Städti‐ achten die Strategie des Totalabrisses grundsätzlich in schen“ und zur „städtischen Lebensweise“ kulminiert Frage (vgl. Geist/Kürvers 1989, 594f.). im „Schlagwort Urbanität“ (ebd. 208) und der These, Mitte der 1960er Jahre formierte sich auch in dass die „städtische Lebensweise“ eine „gesamtge‐ den deutschen Städten erster Protest der Bewohne‐ sellschaftlich relevante Funktion“ erfülle, indem sie rInnen gegen die städtebauliche Praxis der Flächensa‐ „allgemeine humane Qualitäten“ und speziell die nierung (vgl. Geist/Kürvers 597f.). Der Widerstand „Toleranz der Beteiligten“ untereinander erfordere gegen die Flächensanierungen (und damit gegen die und erzeuge (ebd. 113). Der Einzug des soziologischen herrschende Städtebaupolitik), der ab Mitte der Denkens in den städtebaulichen Diskurs der 1960er 1970er Jahre zu einer allmählichen Umkehr dieser Jahre bringt damit grundlegende Neuerungen. Die städtebaulichen Praxis führte, ist im Kontext der in städtebauliche Diskussion wird für eine soziologische den 1960er Jahren gegründeten allgemeinen Politisie‐ Perspektive geöffnet, die Stadtsoziologie bietet sich rung der gesellschaftlichen Debatten zu sehen. 1968 als Hilfswissenschaft für den Städtebau an und wird revoltierten – nach französischem Vorbild – die deut‐ auch als solche angenommen. Auf dieser Ebene wird schen Studenten, Mitte 1969 wurde mit Willy Brandt der Wechsel bei der städtebaulichen Bewertung von der erste sozialdemokratische Bundeskanzler der Trennung/Mischung unterstützt (eingeleitet). Mit der Bundesrepublik gewählt. Stadtplanung und Städtebau Analyse der klassischen Großstadtfeindschaft wird änderten sich in dieser Zeit grundlegend, die jungen auch diese zentrale städtebauliche Kategorie seziert und kritischen Stimmen der Zunft gewannen zuneh‐ und das ehemalige Vermeidungsedikt zum positiven mend an Einfluss. Die exemplarisch nachvollzogenen Ziel gewendet. Deutlich wird bei der Ankunft des Änderungen des städtebaulichen Diskurses – auch die stadtsoziologischen Mischungsparadigmas im städte‐ Etablierung der soziologischen Perspektive und die 11
Sie können auch lesen