Stadt Ihrer Die Geschichte - Stadt im Wandel - European ...

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Stadt im Wandel

                   Die Geschichte
                                        Ihrer
                      Stadt
                   Greg Clark, Tim Moonen und Jake Nunley

Stadt im Wandel                                            1
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Die Geschichte
                           Ihrer
  Stadt
 Stadtentwicklung in Europa von 1970 bis 2020
     Greg Clark, Tim Moonen und Jake Nunley
Stadt Ihrer Die Geschichte - Stadt im Wandel - European ...
Die Geschichte Ihrer Stadt
© Europäische Investitionsbank, 2019
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pdf: QH-06-18-216-DE-N ISBN 978-92-861-3868-3 doi:10.2867/74693
eBook: QH-06-18-216-DE-E ISBN 978-92-861-3877-5 doi:10.2867/325553

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Im ersten Essay unserer Städteserie zeigen wir, wie sich die Städte
     Europas nach dem postindustriellen Strukturwandel in
 pulsierende Metropolen verwandelten, die in puncto Wohlstand
          und Lebensqualität den weltweiten Vergleich
                     nicht scheuen müssen.

1. Einleitung
1.1 Europa und das Jahrhundert der Metropolen
Die Städte Europas stellen sich im Jahr 2018 wie ein Brennglas auf die Zukunft dar. Die europäischen Metropolen sind
Bevölkerungsmagnete, Drehscheiben für Beschäftigung und Kultur, und natürlich sind sie politische Hauptstädte.
Wandel und Wettbewerb liegen in der Luft. Dabei hängt Europas wirtschaftliche Zukunft wesentlich von einem Netz
heterogener mittelgroßer Städte ab, die kleiner, kompakter und klarer eingrenzbar als ihre Pendants auf anderen
Kontinenten sind. Im globalen Vergleich verfügen Europas Städte nicht über die Strahlkraft und Macht, die mit zehn
oder mehr Millionen Einwohnern und dem Sitz von Weltkonzernen einhergehen. Sie sind aber auf andere Weise
weltweit führend. Sie spielen auf wichtigen internationalen Bühnen wie Kultur, Gesundheit, Wissen und Bildung oder
Nachhaltigkeit vorne mit. Bei der Lebensqualität und Krisenfestigkeit schneiden sie häufig sehr gut ab – ein großes
Plus, gerade wenn man an den Klimawandel, die Instabilität in der Welt und den wirtschaftlichen Wandel denkt.

Abbildung 1: Lage und relative Größe europäischer Städte heute

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In dieser Essayreihe zeigen wir, wie sich die europäischen Städte in den vergangenen 50 Jahren entwickelt haben und
wie die Aussichten für die Zukunft sind. Das Zeitalter der Urbanisierung – das Jahrhundert der Metropolen – ist bereits
zu einem Drittel verstrichen. Im groben Zeitraum zwischen 1980 und 2080 wird eine neue große Wanderung in die
Städte stattfinden. Zum Ende dieses Jahrhunderts werden 80 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. In Europa
wird sogar ein Urbanisierungsgrad von rund 90 Prozent erwartet.

Im Jahrhundert der Metropolen wird sich das Bevölkerungswachstum auf unserem Planeten voraussichtlich
verlangsamen. Neue Technologien werden entstehen. Als Stichworte seien nur Smart Living, autonomes Fahren und
die Automatisierung der Arbeit genannt. Auch unsere größte Aufgabe – der Kampf gegen die Erderwärmung und den
Klimawandel – fällt in dieses Jahrhundert der Urbanisierung. Es könnte sehr wohl von unseren Städten abhängen, ob
und in welchem Maße uns die neue räumliche Konzentration von Menschen und Wirtschaftstätigkeit, kombiniert mit
maschinellem Lernen und exponentiellen Technologien, helfen wird, die wirtschaftliche Teilhabe zu verbessern und
unseren Planeten zu bewahren. Dazu benötigen die Städte aber bestimmte Werkzeuge und Kapital. Voraussetzung
dafür sind wiederum stabile politische Systeme, die in der Lage sind, auf die dynamischen Kapitalmärkte, die globale
Unsicherheit, geopolitische Turbulenzen und den Populismus zu reagieren.

Die Herausforderungen sind also klar – und Europas Städte stehen mittlerweile für Aktion und Innovation. Zu Beginn
unserer Geschichte dieser Städte werfen wir einen Blick auf die vergangenen 50 Jahre. Welche Rezepte für die
Urbanisierung in Europas Städten gibt es bislang, und welche Rolle haben Investitionen dabei gespielt? Woher stammen
die Investitionen in den Wandel? Und wie lässt sich das Finanzierungs- und Investitions-Know-how auf die Zukunft
übertragen, damit die Wanderung in die Städte ein Erfolg wird?

1.2 Europas Städte: Die vergangenen 50 Jahre
Der Blick auf die Entwicklung der europäischen Städte von 1970 bis 2020 befördert Überraschendes zutage. Heute
leben in den 28 EU-Ländern 72 Prozent der Einwohner in Städten und städtischen Regionen. Hinter diesem
Durchschnittswert verbergen sich jedoch große Unterschiede. Der Urbanisierungsgrad variiert zwischen etwa 50 Prozent
(Luxemburg, Rumänien, Kroatien) und über 80 Prozent (Italien, Niederlande, Großbritannien). Schaut man genauer
hin, unterscheiden sich die europäischen Städte auch nach Größe und Art beträchtlich.

Abbildung 2: A
              nteil der Stadtbewohner in der EU und in den einzelnen Ländern in Prozent der
             Gesamtbevölkerung

In Europa gibt es heute eine Mischung aus kleinen, mittelgroßen und großen Städten, die jeweils eigene Aufgaben
erfüllen und sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen befinden. Den gängigen Definitionen zufolge gibt es in
Europa keine Megastadt, denn kein städtisches Gebiet hat mehr als zehn Millionen Einwohner. Nur in den urbanen
Ballungsräumen rund um London, Paris und Mailand leben jeweils mehr als zehn Millionen Menschen.

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Im Jahr 2012 gab es laut OECD und EU-Kommission in der EU (plus Schweiz, Kroatien, Island und Norwegen) insgesamt
828 Städte. Darunter sind zwei Weltstädte (London und Paris), sechs große urbane Ballungsräume, deren Zentrum
jeweils rund drei Millionen Einwohner hat (Athen, Berlin, Madrid, Barcelona, Mailand und Neapel), 18 kleinere Metropolen
(eine bis zwei Millionen Einwohner) und 38 Großstädte (500 000 bis eine Million Einwohner). Die Hälfte der zuletzt
genannten Großstädte liegt in Deutschland, Frankreich und Großbritannien.

28 Prozent aller Stadtbewohner in Europa leben in Städten mit weniger als 250 000 Einwohnern. Dieser Anteil ist
geringer als in Afrika (33 Prozent), aber höher als in Nordamerika (17 Prozent). Rund 26 Prozent leben in Städten mit
einer bis fünf Millionen Einwohnern und rund 14 Prozent in Städten mit über fünf Millionen Einwohnern.

Abbildung 3: Anteil der Stadtbevölkerung gegenüber dem Gesamtgebiet in Prozent, nach Kontinent

Abbildung 4: Anteil der Stadtbewohner in Prozent der Gesamtbevölkerung nach Kontinent, in Prozent

Europa war jedoch nicht immer so städtisch geprägt. In den vergangenen 50 Jahren hat sich die Städtestruktur
grundlegend geändert. In dieser Zeit entwickelte sich Europa von einem industriell und vor allem ländlich geprägten
zu einem Kontinent der Städte und Metropolen.

Im Jahr 1961 lebten 37 Prozent der Bevölkerung in den 828 Städten des Kontinents. Bis 1981 stieg dieser Anteil auf
40 Prozent. Dort verharrte er geraume Zeit, bis zuletzt ein neues, kräftiges Wachstum der Innenstädte einsetzte.
Dagegen konnten Kleinstädte, Vorstädte und stadtnahe Regionen ihren Bevölkerungsanteil in den vergangenen fünf
Jahrzehnten stetig steigern, da die Menschen zum einen aus den Innenstädten in die Vorstädte und Stadtrandgebiete
und zum anderen aus ländlichen Gebieten in kleinere Städte zogen. Neben diesen grundsätzlichen Verschiebungen –
von ländlichen zu städtischen Regionen, aus den Kernstädten in die Vorstädte und von Einzelstädten hin zu Netzen
von Nachbarorten – waren in jüngster Zeit noch zwei weitere Trends zu erkennen: eine Reurbanisierung, die zu einer

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Wiederbelebung der europäischen Innenstädte führt, und eine Metropolisierung, bei der sich benachbarte Städte,
Vorstädte und Kleinstädte formell oder informell zusammenschließen und Nahverkehrsnetze und öffentliche
Dienstleistungssysteme gemeinsam nutzen.

1.3 Ein europäisches Stadtsystem?
Die 28 Mitgliedsländer sind der EU in unterschiedlichen Phasen ihrer Entstehung und Erweiterung beigetreten, mit
ihren jeweils eigenen, historisch gewachsenen Stadtsystemen und Stadthierarchien. Jedes Land wusste bei seinem
Aufbruch nach Europa genau, wie seine Städte zusammenarbeiteten und welches nationale Stadtsystem dem zugrunde
lag.

Durch die Integration in die EU öffneten sich diese gewachsenen Systeme für externe Einflüsse: Es ergaben sich
Handelsmöglichkeiten, Bevölkerungsverschiebungen und neue Verkehrskonzepte, die Städte konnten sich wirtschaftlich
spezialisieren, und der Austausch und die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg nahmen zu. Mit der
Weiterentwicklung der EU haben Europas Städte diese neuen Chancen genutzt und sich in einem sehr viel weiter
gespannten, kontinentalen Rahmen in einem stärker integrierten Europa positioniert. Weil die Städte auf die neuen
Wahlmöglichkeiten und die neue Konnektivität reagiert haben, ist inzwischen ein neues Phänomen zu beobachten.
Es bildet sich ein europäisches, interdependentes und polyzentrisches Stadtsystem neben den nationalen
Stadtsystemen heraus, die ihrerseits dynamischer geworden sind.

Das neue europäische Stadtsystem ist außerordentlich heterogen. Ihm gehören nicht nur die 28 Hauptstädte
mit ihren bisherigen unveränderten Rollen an, sondern auch andere, sehr unterschiedliche Städte
mit besonderen Spezialisierungen (etwa in den Bereichen moderne Produktion, Finanzwesen,
Wirtschaftsdienstleistungen, Kreativwirtschaft, Bildung, Technologie, Häfen und Logistik, Energie, Tourismus, Gesundheit
oder Kultur). Städte wie München, Rotterdam, Krakau, Göteborg, Lyon, Manchester, Basel, Barcelona, Cork, Antwerpen,
Bologna oder Oulu sind in ihrem nationalen Stadtsystem weder die größte Stadt noch die Hauptstadt, haben aber
ihre Chance im Zuge der EU-Integration ergriffen und sind Spezialisten auf europäischer Ebene geworden.

Dabei sind auch neue, grenzüberschreitende Ballungsräume entstanden wie Wien–Bratislava, Kopenhagen–Malmö
oder Triest–Ljubljana. Diese Makro-Stadtnetze haben häufig historische Wurzeln (Österreich und Ungarn) oder profitieren
von geografischen Verbindungen wie Meeren (Ostseeregion oder Union für den Mittelmeerraum), Flüssen (regionale
Stadtnetze im Rhein-Ruhrgebiet oder an der Donau) oder Gebirgen (transalpine Städtezusammenarbeit in der Schweiz,
Frankreich und Italien).

Zunehmend entstehen auch eng miteinander verknüpfte Stadtcluster, die sich auf moderne Dienstleistungen,
Innovationen oder die Kreativwirtschaft spezialisiert haben und dadurch zusammengehalten werden, dass sie Menschen,
Arbeitsplätze, Kapital und Ideen anziehen. In Städtegruppen wie der Metropolregion im Nordwesten Europas
(Amsterdam, Brüssel, Frankfurt, Paris, London) werden inzwischen insgesamt über 70 Prozent aller modernen
Transaktionen in der EU abgewickelt. Sie zeichnen sich durch eine übergreifende Unternehmenspräsenz und mobile
Arbeitskräfte aus und profitieren zunehmend von integrierten Schienennetzen und einem dichten Flugnetz. Derzeit
entsteht ein Cluster aus mitteleuropäischen Hauptstädten (Berlin, Warschau, Prag, Budapest, Wien, Bratislava),
die dank ihrer guten Verkehrsverbindungen als Standort für hochmoderne Wirtschaftszweige dienen. Auch
skandinavische Städte (Oslo, Göteborg, Stockholm, Malmö, Kopenhagen) bauen ihre Zusammenarbeit aus und
verbessern ihre Verkehrsverbindungen. Sie wollen zu einer Region mit insgesamt zehn Millionen Einwohnern werden,
in der jede Stadt ihre Spezialisierung einbringt und gleichzeitig ihr Gewicht für das gemeinsame Ganze in die Waagschale
wirft.

Dieses neue europäische Stadtsystem besteht aus unterschiedlichen Stadttypen. Dazu gehören zum Beispiel:

     • westeuropäische Groß- und Hauptstädte, die als Zentren dienen,

     • Städte, die sich nach einer Deindustrialisierung wieder erholen und durch Investitionen neu erfunden haben,

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• Mittelmeerstädte, die in den Tourismus und die damit verbundene Infrastruktur und Dienstleistungen investiert
    haben, und

  • ost- und mitteleuropäische Städte, die den Zusammenbruch der Sowjetunion überwunden und in die Anpassung
    an eine moderne Marktwirtschaft investiert haben.

Abbildung 5: Europäische Städtecluster und ihre Verkehrsverbindungen

Mehrere wirtschaftliche und demografische Trends tragen zur Entwicklung dieses neuen Stadtsystems bei. Dazu
gehören die größere Mobilität der Bevölkerung, höhere ausländische Direktinvestitionen, moderne Technologie- und
Innovationssysteme sowie die damit einhergehende Unternehmens- und Wirtschaftsorganisation. Um sich darauf
einstellen und ihre individuelle Zukunft gestalten zu können, benötigten Europas Städte unterschiedliche
Arten von Investitionen – ein zentrales Thema unserer Essayreihe.

Zu Beginn des Essays geben wir einen Überblick über grundlegende wirtschaftliche und demografische Trends, die
im vergangenen halben Jahrhundert Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Städte hatten. Danach befassen
wir uns genauer mit dem neuen europäischen Stadtsystem und zeigen, was dieses System so einzigartig macht, wie
es sich im Zeitablauf entwickelt hat und welche Resonanz es gefunden hat. Wir fragen, was diese Umwälzungen
überhaupt möglich machte, und konzentrieren uns dabei auf die Rolle von Anpassungsinvestitionen. Abschließend
befassen wir uns mit den Bereichen, in denen die Investitionstätigkeit besonders hoch war, und mit der Frage nach
dem Beitrag unterschiedlicher Institutionen wie etwa der EIB. Damit wollen wir zeigen, warum es notwendig ist, dass
Europa im Jahrhundert der Metropolen in ein flexibles und widerstandsfähiges Stadtsystem investiert, in dem die
einzelnen Städte wechselseitig immer verknüpfter werden.

2. Europas Städte: Die vergangenen 50 Jahre
2.1 Bevölkerungs- und Besiedlungstrends
Die Einwohnerzahl der EU-Mitgliedstaaten hat sich von rund 650 Millionen im Jahr 1970 auf etwa 750 Millionen im
Jahr 2018 erhöht. Von diesem Zuwachs um 100 Millionen Menschen profitierten vor allem größere und mittlere Städte.
Inzwischen verzeichnen jedoch die größten Städte und die Hauptstädte das stärkste Bevölkerungswachstum, auf
Kosten von mittelgroßen und kleineren Städten. Von 2002 bis 2012 erhöhte sich die Einwohnerzahl der EU-28 insgesamt
um drei Prozent. In den Ballungsräumen um die Hauptstädte herum lag dagegen der Zuwachs bei sieben Prozent.
Dieses Muster ist nicht überall zu beobachten, aber besonders deutlich in den flächenmäßig größeren europäischen
Ländern, wo die internationalen Entfernungen größer sind. Stark ausgeprägt ist es etwa in London, Stockholm, Paris
und Warschau.1

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Die Bevölkerung einer Stadt verändert sich vor allem durch die Zuwanderung oder Abwanderung. Auch die steigende
Lebenserwartung, sinkende Fertilitätsraten und neue gesellschaftliche Standards wie das höhere Heiratsalter und
steigende Scheidungsquoten wirken sich auf die Einwohnerzahlen der Städte aus.

Abbildung 6: Ursachen für die Entwicklung der europäischen Bevölkerung, 1961–2016

Migration
Wanderungsbewegungen waren in den vergangenen Jahrzehnten die wichtigste Ursache für das Bevölkerungswachstum
in europäischen Städten. Dabei kamen die Zuwanderer aus den Regionen eines Landes ebenso wie aus anderen EU-
Ländern oder Ländern außerhalb der EU.2 Zwischen 2002 und 2012 überstieg die Nettozuwanderung in sieben von
zehn europäischen Städten die natürliche Veränderung, und von 1980 bis 2009 stieg Europas Bevölkerung durch
Zuwanderung um 26,5 Millionen Menschen (3,8 Prozent) an.3 Dabei hat der Zuzug in europäische Städte im Zeitablauf
an Bedeutung gewonnen. Ab dem Ende der 1980er-Jahre bis Mitte der 1990er-Jahre beschleunigte sich die Zuwanderung
rasch. Ursache dafür waren verschiedene, teils miteinander zusammenhängende Faktoren wie zum Beispiel:

      • die Liberalisierung politischer Regime

      • die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas

      • geopolitische Instabilität im Nahen Osten und in Afrika

Ende der 1990er-Jahre flauten die Wanderungsströme von Ost nach West ab, da sich in Osteuropa inzwischen das
Wirtschaftswachstum verstärkte, neue Jobs entstanden und der Lebensstandard stieg. Parallel zur Entwicklung von
Marktwirtschaft und Demokratie in Ost- und Mitteleuropa wurde die wirtschaftliche und politische Integration in
Westeuropa vorangetrieben, und die Zuwanderung hielt unverändert an. Seit den 1990er-Jahren wurden die
Bevölkerungsverluste in westeuropäischen Städten, die auf Sterbeüberschüsse zurückgingen, durch Zuwanderungen
mehr als ausgeglichen. Die unterschiedlichen Wachstumsraten bei den Einwohnerzahlen sind nicht auf die natürliche
Bevölkerungsentwicklung, sondern auf Nettozuwanderung und -abwanderung zurückzuführen.4

Lebenserwartung
Die Bevölkerungsstruktur der europäischen Städte wurde in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere auch durch
die steigende Lebenserwartung beeinflusst.

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Abbildung 7: Entwicklung der Lebenserwartung und Fertilitätsrate, EU-Durchschnitt, 1970–2016

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbesserte sich die Gesundheitsversorgung in ganz Europa beträchtlich. Aber
die Lebenserwartung entwickelte sich in den einzelnen Ländern ganz unterschiedlich. Hinter dem stetigen Anstieg
insgesamt verbergen sich beträchtliche Differenzen zwischen einzelnen europäischen Regionen.

In Nord-, West- und Südeuropa erhöhte sich die Lebenserwartung aufgrund des medizinischen Fortschritts und eines
veränderten Verhaltens allmählich. Im Jahr 1985 waren in diesen drei Regionen kaum noch Unterschiede festzustellen.
Inzwischen sterben in diesen Regionen nur noch sehr wenige Menschen in einem Alter unter 65 Jahren; statistisch
gesehen können dort 85 Prozent bis 90 Prozent der Neugeborenen damit rechnen, dass sie ihren 65. Geburtstag
erleben. Dagegen hat sich die Lebenserwartung in Mittel- und Osteuropa nicht zuletzt aufgrund des politischen und
wirtschaftlichen Regimewechsels weniger stetig erhöht. Inzwischen nimmt sie jedoch auch dort deutlich zu.5

Abbildung 8 – Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt, NUTS-2-Regionen, 2015

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Aufgrund der höheren Lebenserwartung altert die Bevölkerung, verstärkt durch die sinkende Fertilität. Die niedrigere
Mortalität führte in den vergangenen Jahrzehnten in zweifacher Hinsicht zu Veränderungen in den höheren Altersklassen:
Nicht nur erreichen immer mehr Menschen das Rentenalter, sie beziehen auch länger Rente.

Abbildung 9: Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung, EU

Abbildung 10: Fertilitätsrate, NUTS-3-Regionen, 2015

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Neue gesellschaftliche Normen
Eine weitere Ursache für die Alterung der europäischen Stadtbevölkerung ist darin zu sehen, dass sich neue
gesellschaftliche Normen herausgebildet haben. Ab etwa Mitte der 1960er-Jahre bis zum Ende der 1980er-Jahre gerieten
traditionelle Familienmodelle unter Druck. Gleichzeitig bildete sich ein neues Modell heraus – nicht zuletzt, weil
rechtliche Vorgaben gelockert wurden (Legalisierung und Vereinfachung von Scheidungen, Legalisierung von
Schwangerschaftsabbrüchen und Verhütungsmitteln usw.).6

Seit dem Ende der 1980er-Jahre haben sich nach und nach neue Familienmodelle etabliert. Neue Formen des
Zusammenlebens fanden zunehmend Akzeptanz, es wurde ein entsprechender Rechtsrahmen geschaffen, und
eheähnliche Gemeinschaften sowie Familien, bei denen die Eltern nicht verheiratet sind, werden inzwischen anerkannt.
Eheschließungen finden später und seltener statt – ein klarer Gegensatz zu den Nachkriegsjahren (dem „goldenen
Zeitalter der Ehe“), in denen ein hoher Prozentsatz der Menschen früh heiratete. Aufgrund dieser Entwicklungen und
der besseren beruflichen Möglichkeiten für Frauen sank die Fertilitätsrate in Europa.

Europaweit nahm die Zahl der Scheidungen in den vergangenen 50 Jahren zu. Dabei war der Anstieg im Norden und
Westen, wo die rechtlichen Änderungen weitreichender waren, stärker. Inzwischen werden etwa 40 Prozent bis
50 Prozent der Ehen geschieden; 1970 waren es noch 10 Prozent bis 20 Prozent.7

De- und Reurbanisierung
Von den 1960er-Jahren bis in die 1980er-Jahre sanken die Einwohnerzahlen in zahlreichen westeuropäischen Städten,
weil sich die Menschen vor Verwerfungs- und Entfremdungserscheinungen schützen wollten, hervorgerufen durch
den Verlust von Arbeitsplätzen in den Innenstädten durch die Deindustrialisierung.8 Dies hatte Konsequenzen für den
Wohnungsmarkt, die Nahversorgung, die Schulen und den öffentlichen Nahverkehr und wirkte sich vor allem in den
ärmsten Stadtvierteln aus, wo der Großteil der Arbeitsplätze verloren ging. Familien zogen auf der Suche nach einem
angenehmeren Umfeld in die Vorstädte. Durch Armut, Arbeitslosigkeit und eine stärkere Polarisierung entstand eine
deutlich sichtbare Kluft zwischen ärmeren und reicheren Stadtteilen.9

Ab den späten 1980er-Jahren zogen die Menschen jedoch wieder in die Städte zurück. In den 1990er-Jahren verlangsamte
sich der Bevölkerungsrückgang in 40 Prozent der Städte in der EU, und ab dem Jahr 2000 lebten die Menschen wieder
lieber in der Stadt, sodass die Einwohnerzahl nur noch in 30 Prozent der Städte sank.10 Ein Grund dafür sind
Stadtsanierungsprojekte, die das Leben in den Innenstädten wieder attraktiver machten (vgl. Kapitel 3). Der wirtschaftliche
und demografische Wandel spielte jedoch ebenfalls eine wichtige Rolle.

Abbildung 11: Zahl der europäischen Städte, deren Bevölkerung wächst oder schrumpft, 1960–2005

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Abbildung 12: Bevölkerungswachstum und -rückgang, NUTS-3-Regionen, 1990–2000

Das Entstehen der Dienstleistungswirtschaft war beispielsweise einer der Gründe, warum die Menschen häufiger
umzogen. Die zunehmende Akzeptanz von eheähnlichen Gemeinschaften und steigende Immobilienpreise führten
dazu, dass mehr Menschen zur Miete wohnten. Heute mieten die meisten Menschen in der EU ihre Wohnung, wobei
der Anteil der Mieter in Städten doppelt so hoch ist wie in ländlichen Regionen (45 Prozent bzw. 23 Prozent).11 In
Ländern wie Großbritannien, Deutschland und Frankreich werden inzwischen die finanziellen Anreize für eine
Zersiedlung zurückgenommen. Stattdessen soll eine dichtere Besiedlung gefördert werden, um so die Nachfrage nach
lokalen Versorgungsleistungen und die Wirtschaftstätigkeit zu steigern.12

14                                                                                              Stadt im Wandel
Abbildung 13: Durchschnittliches Wachstum der Stadtbevölkerung pro Jahr im Vergleich zum
durchschnittlichen nationalen Bevölkerungswachstum pro Jahr in Europa, 1960–2005

Quelle: aus http://www.policy.hu/mykhnenko/Turok&Mykhnenko2007Cities.pdf

Ökonomische Trends
Zwischen 1970 und 2020 sind verschiedene Phasen der Wirtschaftsentwicklung in den EU-Ländern zu beobachten.
Auch wenn nicht überall eine Deindustrialisierung stattfand, gehen grundsätzlich langfristig Arbeitsplätze im
verarbeitenden Gewerbe verloren. Gleichzeitig kam es zum Aufschwung der Dienstleistungswirtschaft und in jüngerer
Zeit der Kreativ-, Wissens- und Innovationswirtschaft. Darüber hinaus bekam der Tourismus- und Freizeitsektor einen
Schub, und durch die verstärkte EU-Integration und preiswerte Reisemöglichkeiten entwickelten sich ein ausgeprägter
Städtetourismus und eine florierende Freizeitbranche.

1960er- bis 1980er-Jahre: Deindustrialisierung und Ölkrise
Von 1945 bis 1973 zogen aufgrund von Handels- und Arbeitsabkommen zahlreiche Menschen aus ländlichen Regionen
und aus dem europäischen Süden in nordeuropäische Städte. Damals befanden sich die produktivsten Ballungsräume
des Kontinents in einem Dreieck zwischen Amsterdam, Mailand und Paris. In dieser Region lagen auch führende
schweizerische und westdeutsche Städte.

Ende der 1960er-Jahre setzte die Deindustrialisierung der europäischen Städte ein. Sie gerieten aufgrund ihrer veralteten
Infrastruktur und der Verschiebungen im globalen Wirtschaftssystem unter Druck, und das verarbeitende Gewerbe
wanderte zunehmend in asiatische Städte ab. Durch die Ölkrise im Jahr 1973 wurde die Deindustrialisierung noch
einmal merklich beschleunigt.

Bis zum Anfang der 1980er-Jahre kletterten die Arbeitslosenquoten in zahlreichen europäischen Städten auf ein
gefährlich hohes Niveau. Fabriken wurden geschlossen, und in den neuen Wirtschaftsstrukturen wurden Gastarbeiter
als billige Arbeitskräfte nicht mehr benötigt. Die Einwohnerzahlen der industriell geprägten Städte gingen zurück und
die Städte dehnten sich stärker ins Umland aus, weil die Menschen aus den zunehmend verarmenden Innenstädten
fortzogen.

1990er-Jahre: Der Aufstieg der Dienstleistungswirtschaft
Der langjährige Wirtschaftsabschwung nach der Ölkrise führte dazu, dass sich neue Sektoren auf europäischer
Ebene entwickelten, allen voran die Finanz- und Wirtschaftsdienstleistungen. In den 1990er-Jahren wurde der
Dienstleistungssektor der mit Abstand wichtigste Arbeitgeber in europäischen Städten. Heute sind 80 bis 90 Prozent
aller Arbeitsplätze in den fünf größten städtischen Arbeitsmärkten der EU-Länder (London, Paris, Berlin, Madrid und

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Rom) dem Dienstleistungssektor zuzurechnen.13 Die zunehmende Bedeutung von Finanzdienstleistungen zeigt sich
auch daran, dass der Wert der gehandelten Aktien im Verhältnis zum BIP zunimmt (Abbildung 14).

Abbildung 14: Gesamtwert der gehandelten Aktien in % des BIP, EU, 1975–2014

Quelle: Weltbank

In mittel- und osteuropäischen Städten dominiert der Dienstleistungssektor bisher nicht ganz so deutlich. Viele dieser
Städte holen jedoch gegenüber ihren westeuropäischen Pendants auf. Insgesamt verzeichnete der Dienstleistungssektor
im vergangenen Jahrzehnt seine stärkste Expansion in mittel- und osteuropäischen Städten. Dies spiegelt den raschen
und tief greifenden strukturellen und wirtschaftlichen Wandel wider, der dort in den vergangenen Jahren stattgefunden
hat.14

Seit den 2000er-Jahren: Globalisierung und Integration
Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war von Stabilisierung und stärkerer Integration geprägt. Neue politische
und wirtschaftliche Strukturen in Ost- und Mitteleuropa verfestigten sich, und die Osterweiterung der EU führte zu
einer verstärkten europäischen Integration. Die parallel verlaufende europäische Integration und die Globalisierung
stießen eine neue kontinentale Dynamik an, bei der sich Europa auf die bewährten Stärken von London und Paris
stützt. Diese beiden Städte sind Portale für Wirtschaft, Investitionen und Tourismus.15

Sinkende Transport- und Kommunikationskosten ermöglichen es, industrielle Prozesse in unterschiedliche Phasen
aufzuteilen und diese jeweils an separaten Standorten anzusiedeln.16 Dadurch hat sich der grenzüberschreitende
Handel innerhalb einzelner Industriesektoren und zwischen Ländern mit einem unterschiedlichen wirtschaftlichen
Entwicklungsstand intensiviert. Im 21. Jahrhundert sind die Volkswirtschaften daher nicht mehr so einfach anhand
ihrer Industriezweige zu unterscheiden; vielmehr haben sich subtilere und schwerer zu erfassende ökonomische
Unterscheidungsmerkmale und Bindeglieder entwickelt.17

2.3 Räumliche Entwicklungen 1970er- bis 2000er-Jahre
Von den 1970er-Jahren bis 2000 schob die Stadtentwicklung in Europa eine Reihe klar unterscheidbarer
Raumplanungstrends an, die ihrerseits beträchtliche Auswirkungen auf das Städtesystem des Kontinents hatten. Diese
Entwicklungen fallen in drei Kategorien:

      • Sowjetisierung und De-Sowjetisierung Mittel- und Osteuropas

      • Deindustrialisierung, Aufschwung der Dienstleistungswirtschaft und zunehmende Ungleichheiten zwischen
        einzelnen Regionen

16                                                                                                 Stadt im Wandel
• Verbesserung der Verkehrsverbindungen, grenzüberschreitende Reisen und Migration und Entwicklung einer
    neuen Tourismus- und Freizeitwirtschaft

Weitreichende politische Veränderungen wirkten sich in diesem Zeitraum ebenfalls auf die europäische Stadtlandschaft
aus. Spanien gelang der Übergang von einer Diktatur zu einer Demokratie, und 13 der inzwischen 28 EU-Mitgliedstaaten
entwickelten sich von Staaten des Sowjetblocks zu ausgewachsenen Marktwirtschaften.

Deindustrialisierung und Aufschwung der Dienstleistungswirtschaft
Ab den 1970er-Jahren setzte in zahlreichen westeuropäischen Städten ein langfristiger Deindustrialisierungsprozess
ein. Produktionsstandorte für das verarbeitende Gewerbe wurden merklich verkleinert. In den 1980er- und 1990er-
Jahren gingen in europäischen Städten im Durchschnitt zwischen 30 Prozent und 80 Prozent der Arbeitsplätze im
verarbeitenden Gewerbe verloren. Die Deindustrialisierung verschärfte in allen Fällen die Ungleichheit in den Städten,
da die Arbeitsplätze vor allem in ärmeren Vierteln wegbrachen. Außerdem vergrößerte sie zuweilen die Ungleichheiten
zwischen verschiedenen Regionen. Dies war vor allem dann zu beobachten, wenn sich die Industriestandorte wie in
Italien, Großbritannien oder Deutschland in bestimmten Regionen eines Landes ballten und wenn die Deindustrialisierung
größere städtische Regionen auf einmal erfasste, etwa im Rhein-Ruhrgebiet.

Durch den Aufschwung der Dienstleistungswirtschaft ab den 1980er-Jahren drifteten die einzelnen Regionen noch
deutlicher auseinander. Mit der zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors verlagerten internationale
Unternehmen ihren Fokus auf bestimmte Knotenpunkte der europäischen Wirtschaft, insbesondere große
westeuropäische Städte wie Paris, London oder Brüssel.

Diese neuen Dienstleistungszentren waren in allen Ländern häufig andere Städte als die alten Industriezentren. Die
räumlichen Auswirkungen dieser beiden Phänomene – Deindustrialisierung und Aufschwung der
Dienstleistungswirtschaft – erhöhten die Ungleichheiten zwischen Städten. In Deutschland führte dies zu einer
intensiveren Spezialisierung der einzelnen Städte und einer klareren Arbeitsteilung, insbesondere zwischen Frankfurt,
das sich zum Finanzzentrum entwickelte, und Berlin, wo noch die Folgen des Sozialismus zu spüren waren.

Die Deindustrialisierung wirkte sich jedoch auch auf die mittel- und osteuropäischen sozialistischen Staaten aus. Die
sowjetische Wirtschaft wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren immer komplexer und erforderte eine immer
detailliertere Aufsplitterung der Kontrollgrößen und Produktionsmittel. Mit der steigenden Zahl von Unternehmen,
Kombinaten und Ministerien begann die Wirtschaft zu stagnieren. Sie reagierte immer langsamer auf den Wandel und
setzte immer geringere Wachstumsanreize.18 Mehr Menschen zogen aus kleineren in größere Städte oder gleich in die
Hauptstadt, was den Niedergang weiter beschleunigte. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems Anfang der
1990er-Jahre setzte sich die Deindustrialisierung in diesen kleineren Städten verstärkt fort, da sich die Wirtschaft rasch
auf die zunehmend dominierende postindustrielle Dienstleistungswirtschaft umstellen musste.

Bessere Verkehrsverbindungen
Von den 1970er-Jahren bis 2000 wurden auch die Verkehrsverbindungen deutlich verbessert. Autobahnen, Schienennetze
und der Flugverkehr wurden in Europa über die Jahre hinweg immer weiter ausgebaut. Durch den einsetzenden
Massenflugverkehr und die steigende Zahl internationaler Autobahn- und Zugverbindungen nahmen der
grenzüberschreitende Konsum und das grenzüberschreitende Pendlertum vor allem in Regionen wie Frankreich,
Italien, der Schweiz und Österreich bis Anfang der 1980er-Jahre geradezu explosionsartig zu. Nationale Grenzen verloren
an Bedeutung. Insbesondere das Schienennetz wurde Ende der 1980er-Jahre und Anfang der 1990er-Jahre sehr rasch
ausgebaut (Abbildung 15).

Stadt im Wandel                                                                                                       17
Abbildung 15: Gesamtlänge des Schienennetzes in der EU (in km)

Quelle: Weltbank

Wachsende Freizeitwirtschaft
In den 1970er-Jahren wurden die Grundlagen des Massentourismus geschaffen. Angesichts der guten Wirtschaftslage
boten Reiseveranstalter zunehmend preiswerte Auslandsreisen an. Reisebüros und Tourismusorganisationen entstanden,
und Pauschalreisen waren sogar im Kaufhaus zu buchen. Später blühte der Chartertourismus auf und ermöglichte
noch preiswertere Urlaube.19

Gleichzeitig wurden Flugreisen immer erschwinglicher. Insbesondere ab Mitte der 1980er-Jahre kam es zu einem
wirtschaftlichen und regulatorischen Umbruch in der europäischen Luftfahrt. Durch verschiedene
Gesetzgebungsinitiativen schuf die EU langsam einen einheitlichen Luftverkehrsmarkt. So konnten sich Staaten nicht
mehr so leicht gegen die Einführung neuer Beförderungstarife wehren, und die Fluggesellschaften erhielten mehr
Spielraum zur gemeinsamen Nutzung von Sitzkapazitäten.20 Dies beflügelte den Tourismus auf dem gesamten Kontinent
ungemein. 1991 machten 32 Millionen europäische Teenager und Erwachsene im Ausland Urlaub. Ihre Zahl hatte sich
damit seit 1951 mehr als verdreifacht.21 Dadurch wurden wiederum verschiedene räumliche Entwicklungen ausgelöst:

Immer mehr Menschen wollten ihren Ruhestand an Orten verbringen, die sie zuvor im Urlaub kennengelernt hatten,
insbesondere in südeuropäischen Ländern wie Spanien, Portugal oder Italien.

Die Arbeit folgte – ebenfalls vor allem in Mittelmeerländern – verstärkt saisonalen Mustern.

Abbildung 16: Zahl der beförderten Flugpassagiere, EU, 1970–2016

Quelle: Weltbank

18                                                                                              Stadt im Wandel
2000er-Jahre
Seit den 2000er-Jahren haben sich viele dieser Entwicklungen verstärkt. Durch die Verlagerung hin zur Innovations-
und Kreativwirtschaft konzentrierte sich die Wirtschaftstätigkeit weiter. Gleichzeitig erlebten neue Regionen, die auf
diese Sektoren spezialisiert waren, einen Aufschwung. Die Städte spezialisierten sich ebenfalls weiter, je nachdem, wie
gut sie sich auf neue Sektoren einstellen konnten, etwa die Freizeitwirtschaft, Gesundheits- und Lebenswissenschaften
und maritime Industrien.

Die Verkehrsverbindungen zwischen den europäischen Städten wurden seit den 2000er-Jahren weiter ausgebaut. Im
Jahr 2009 war das Hochgeschwindigkeits-Schienennetz in Europa über 7 500 Kilometer lang, und bis 2020 soll es noch
einmal verdoppelt werden. Hochgeschwindigkeitszüge haben die Reisezeit zwischen wichtigen europäischen Städten
merklich verkürzt. Zwischen Brüssel und Frankfurt verkürzte sich die Fahrzeit um 43 Prozent und zwischen Brüssel und
London um 60 Prozent.22

Auch die Flugverbindungen zwischen den europäischen Städten sind deutlich dichter geworden. Seit dem Jahr 2007
wurden die Direktverbindungen europaweit um 16 Prozent ausgebaut, was vor allem auf das Wachstum und die
Expansion der Billigfluggesellschaften und den stetigen Anstieg des Tourismus zurückzuführen ist. Die planmäßigen
wöchentlichen Sitzkapazitäten innerhalb der EU erhöhten sich von 5,5 Millionen im Jahr 1992 auf 13,9 Millionen im
Jahr 2015, und die Zahl der regelmäßigen Flugverbindungen zwischen EU-Mitgliedstaaten stieg von 874 auf 3 522,
was einem durchschnittlichen Wachstum um 6,2 Prozent pro Jahr entspricht.23

Seit dem Jahr 2000 ist die Beschäftigung in europäischen Städten um rund sieben Prozent angestiegen, im Rest der
EU dagegen zurückgegangen. Auch das BIP wuchs in den Städten schneller als in anderen Regionen, nämlich in einer
Größenordnung von rund 50 Prozent.24 Zahlreiche europäische Städte liegen im Hinblick auf Produktivität, Beschäftigung,
Bildungsstand und Innovationsfähigkeit über dem nationalen Durchschnitt. Dies ist nicht zuletzt auf die Globalisierung
des Dienstleistungssektors zurückzuführen, die zu einer Konzentration auf bestimmte Städte und ihr Umland geführt
hat. Für Städte mit mittlerem Einkommen steigt allerdings das Risiko, in die sogenannte „Middle-Income Trap“ zu
geraten. Denn wenn Produktivität und Löhne ansteigen, werden diese Städte möglicherweise für arbeitsintensive
Wirtschaftszweige oder gering qualifizierte Tätigkeiten unattraktiv.25

Abbildung 17: BIP pro Kopf in Ballungsräumen im Vergleich zum nationalen Durchschnitt, 2013

Quelle: Europäische Kommission

Stadt im Wandel                                                                                                    19
Mittelgroße und kleinere Städte sind eher auf eine Nischenrolle in internationalen Wertschöpfungsketten angewiesen,
um sich eine gute Wettbewerbsposition zu schaffen. Ihnen fällt es gerade in Westeuropa schwer, die notwendige
Produktivität zu erreichen. Sie schneiden vor allem dann schwach ab, wenn sie nicht zu den sechs bis zehn größten
in ihrem Land gehören. Ihre Produktion liegt dann deutlich unter dem jeweiligen nationalen Durchschnitt.26 Solchen
Städten fällt es schwer, Einwohner und gute Arbeitskräfte zu halten. Dies gilt insbesondere, wenn sie außerhalb der
sogenannten „Blauen Banane“ – einer Achse von Manchester bis Mailand – liegen. Viele dieser Städte müssen neue
Strategien entwickeln, um sich international besser zu positionieren. Unter anderem müssen sie die Beziehungen zu
Nachbarstädten vertiefen und neu überdenken, wie sie sich im globalen Wettbewerb behaupten wollen.27

Die mitteleuropäischen Städte integrieren sich in unterschiedlichem Tempo und mit unterschiedlichem Erfolg in die
Weltwirtschaft. Einige größere Städte haben den Übergang zur Marktwirtschaft relativ reibungslos bewältigt, ihre
Wirtschaft diversifiziert und internationale Investitionen angezogen. Dazu gehören Bratislava sowie mehrere Städte
in Polen, die dank einer klaren Ausrichtung nationaler Strategien beträchtliche Fortschritte erzielen. Zahlreiche andere
Haupt- und Großstädte der Region verfügen durchaus über das Potenzial, um sich erfolgreich in der europäischen
Wirtschaft zu behaupten. Sie müssen sich jedoch noch weiter modernisieren. Das gilt vor allem für die „Urban
Governance“ – die eigenverantwortliche Steuerung der Verwaltung in einer Kultur der Bürgerbeteiligung – ebenso
wie für die Koordination und den Infrastrukturausbau. Nötig ist das besonders für den Cluster aus mitteleuropäischen
Städten, dem u. a. Berlin, Budapest, Prag, Wien und Warschau angehören. Hier ist noch keine gemeinsame
Wachstumsdynamik entstanden.28

Städte in Süd- und Osteuropa dagegen können von der Dynamik des letzten Konjunkturzyklus größtenteils nicht mehr
profitieren. Sie leiden unter den negativen Auswirkungen der Globalisierung. Vielfach handelt es sich um Niedrigrisiko-
Städte in Ländern mit mittlerem Risiko, die jedoch mit einer problematisch hohen Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen
haben. In Rom, Mailand, Athen und Madrid gehen die Investitionen und die Performance im Finanzdienstleistungs­
sektor im laufenden Zyklus aufgrund der wirtschaftlichen Fundamentaldaten zurück. Barcelona ist von diesen
Entwicklungen nicht so stark betroffen, was vor allem auf Investitionen in smarte Technologien und neue Unternehmen
zurückzuführen ist.

2.4 Politische Entwicklungen
Neben diesen demografischen und wirtschaftlichen Entwicklungen sind auch verschiedene politische Entwicklungen
klar zu erkennen. Seit 1970 haben die Städte mit unterschiedlichen Strategien auf den gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Wandel reagiert (vgl. die nachstehende Tabelle).

In den 1970er- und 1980er-Jahren ging es in der Stadtentwicklungspolitik in Europa überwiegend darum, die durch
die Deindustrialisierung entstandenen Probleme in den Innenstädten und in abgelegenen Regionen (vor allem in
Westeuropa) zu lösen. Daher fanden in den 1970er-Jahren erste Boden- und Umweltsanierungen statt. Verschmutzte
und halb aufgegebene Flächen wurden dadurch wieder nutzbar und attraktiv. Gleichzeitig waren Arbeitsplätze,
Unternehmen und Bildung wichtige Themen; die Städte führten vorrangig Qualifizierungs- und Unterstützungsprogramme
durch, um ehemaligen Industriearbeitern und einer neuen Generation von marginalisierten Jugendlichen neue Arbeit
im Dienstleistungssektor zu verschaffen.

In den 1980er-Jahren verschob sich der Fokus etwas auf eine umfassende Sanierung der Innenstädte. Die Städte führten
umfangreiche Sanierungsprogramme für ganze Viertel durch. Im Mittelpunkt standen vor allem relativ neue
Sozialwohnungsviertel und ältere und verfallende Innenstadtbereiche, die von der Deindustrialisierung in Mitleidenschaft
gezogen worden waren.29 Zugleich wollten die Städte wieder ein Gesicht gewinnen und investierten dafür in zentrale
öffentliche Plätze und Baudenkmäler. Für diesen Wandel wurden neue, öffentlich geförderte Einrichtungen ins Leben
gerufen.

In den 1990er-Jahren verschob sich der Schwerpunkt erneut. Nun stand die Wettbewerbsfähigkeit der Städte insgesamt
im Mittelpunkt. Mit dem zunehmenden Tourismus versuchten die Städte, Besucher anzuziehen, und investierten
verstärkt in Kulturgüter. Sie bewarben sich häufiger um die Ausrichtung weltweiter Sportereignisse, schufen international

20                                                                                                    Stadt im Wandel
konkurrenzfähige Museen und machten ihre Stadtzentren durch die Einrichtung von Fußgängerzonen und einen
stärkeren Fokus auf öffentliche Räume attraktiver. Durch bessere Wohnbedingungen wollten sie führende globale
Unternehmen und kreative Kreise anziehen, von denen sie zunehmend abhängiger wurden. Auch der Verkehr wurde
zu einem wichtigen Thema. In den 1990er-Jahren entwickelte die EU-Kommission das transeuropäische Verkehrsnetz,
um die Verkehrsverbindungen und die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends zeigte sich, dass die Schaffung von kohärenten Governance-Strukturen auf Ebene
der Ballungsräume immer wichtiger für die Wettbewerbsfähigkeit wurde. Dieses Thema stand nun ganz oben auf der
Tagesordnung. Die Städte entwarfen neue Strukturen wie mehrschichtige Verwaltungsbehörden für einen Ballungsraum,
neue einheitliche Metropolregionen oder in manchen Fällen auch übergeordnete gemeinsame Behörden und direkt
gewählte Bürgermeister für den gesamten Ballungsraum. Auch die Lebensqualität gewann an Bedeutung. Die Städte
wollten wachstumsbedingte Probleme wie Staus, Luftverschmutzung und unerschwingliche Preise für das Wohnen lösen.

Derzeit stehen vor allem einzelne Sektoren und Vorhaben im Mittelpunkt. Nur wenige europäische Städte können
noch mit einem nennenswerten Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum rechnen. Denn das Wachstum der
Weltwirtschaft lahmt, die finanziellen Spielräume sind kleiner geworden, und die Risikobereitschaft ist weithin gering.
Daher geht es derzeit vor allem darum, das Geschäftsklima in europäischen Städten zu verbessern und so die
wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.30 Die Städte stellen dabei vor allem auf Sektoren wie intelligente Spezialisierung
und Technologie und Innovation insgesamt ab, um so neue Wachstumschancen zu schaffen. Die Themen Krisenfestigkeit
und Klimawandel rückten ebenfalls in den Vordergrund.

                                           Makroentwicklungen                                 Stadtentwicklungs-
 Zeitraum        EU-Mitglieder                                     Wichtige Ereignisse
                                           in Europa                                          strategien
                                                                                              Ersetzung von
                                           Erste Reformen zur
                 9 (6 Gründungs-                                   Deindustrialisierung und   Arbeitsplätzen
 1970er-Jahre                              Schaffung eines
                 mitglieder, 3 neu)                                Ölkrise
                                           Binnenmarktes                                      Umweltsanierung
                                                                                              Probleme in den
                                                                                              Innenstädten

 1980er-Jahre    12   (3 neu)              „Blaue Banane“          Globalisierung             Wohnungsbau

                                                                                              Schaffung eines eigenen
                                                                                              Profils
                                                                                              Kultur und Tourismus
                                           Transeuropäische        Zusammenbruch des
 1990er-Jahre    15 (3 neu)                Netzwerke               Sowjetsystems              Wettbewerbsfähigkeit
                                           EU-Osterweiterung                                  Governance in
                                                                   Globale Finanzkrise        Ballungsräumen
 2000er-Jahre    27 (12 neu)               Regionale               Terrorismus
                                           Makrostrategien                                    Lebensqualität
                                                                                              Spezialisierung auf smarte
                                                                                              Technologien
                                                                   Sparpolitik
 2010er-Jahre    28 (1 neu)                Große Megaregionen                                 Resilienz
                                                                   Brexit
                                                                                              Technologie und Innovation

3. Das neu entstehende europäische Stadtsystem
3.1 Das heutige europäische Stadtsystem
Das europäische Städtesystem zeigt sich außerordentlich heterogen. In Europa gibt es derzeit über 1 000 kleine,
mittlere und große Städte, die jeweils ihre spezifische Rolle und Funktion haben.

Im weltweiten Vergleich weisen viele urbane Regionen in Europa eine polyzentrische Struktur auf, bei der sich die
Einzugsbereiche mehrerer kleiner und großer Städte überschneiden. Diese Städte wiederum sind Teil einer
polyzentrischen Konurbation. Die Menschen leben in einer Stadt, arbeiten in einer anderen und kaufen in einer dritten
ein. Zuweilen haben sich diese Konurbationen auch grenzüberschreitend gebildet.31

Stadt im Wandel                                                                                                           21
Dieses interdependente Stadtsystem steht im klaren Gegensatz zur Situation in den 1970er-Jahren. Damals hatten die
Städte wenig miteinander zu tun und waren in eine eng definierte, nationale, urbane Hierarchie eingebunden.

Im europäischen Stadtsystem gibt es derzeit folgende Stadttypen:

Internationale Zentren mit gesamteuropäischem oder globalem Einfluss. Dazu gehören Wissenszentren, die
international Spitzenpositionen in der Industrie, in der Wirtschaft und im Finanzsektor einnehmen, sowie etablierte
Hauptstädte, die klar an der Spitze der Städtehierarchie eines Landes stehen, und Hauptstädte, die sich neu erfunden
und zu Konjunkturlokomotiven für neue Mitgliedsländer entwickelt haben.

Spezialisierte Schwerpunktstädte, die mit ihrer Wirtschaft zumindest auf einigen Gebieten eine wichtige internationale
Rolle spielen. Dazu zählen nationale Dienstleistungszentren, die wichtige Aufgaben im Dienstleistungssektor eines
Landes erfüllen, sowie Städte im Wandel, die sich nach dem Industriezeitalter nun neu orientieren, und Einfuhrzentren
oder größere Städte mit einer umfangreichen Hafeninfrastruktur. Auch Städte, die Plattformen für Innovation und
internationale Aktivitäten bieten, als Forschungs- und Bildungszentren fungieren oder für Touristen hoch attraktiv sind
oder einen stark auf den Tourismus ausgerichteten Dienstleistungssektor aufweisen, gehören in diese Kategorie.

Regionale Zentren, etwa deindustrialisierte Städte und Satellitenstädte sowie regionale Märkte und regionale Zentren
für öffentliche Dienstleistungen.32

Abbildung 18: Typologie der europäischen Städte, seit 2007

Quelle: Europäische Kommission

Derzeit verfügt Europa nur über zwei wirkliche Weltstädte, die aufgrund ihrer Größe, ihrer Qualitätsmerkmale und
ihrer Erfahrung als globale Zentren fungieren können: London und Paris. Im Gegensatz zu anderen Regionen hängt

22                                                                                                  Stadt im Wandel
Europa in sehr hohem Maß von erfolgreichen „mittleren“ Metropolen in erfolgreichen nationalen
Volkswirtschaften ab. Dort wird ein beträchtlicher Teil von Europas Welthandel abgewickelt.33 Die EU verfügt
insgesamt über 271 Metropolregionen, in denen im Jahr 2013 insgesamt 59 Prozent der Bevölkerung lebten. Außerdem
befanden sich dort 62 Prozent der Arbeitsplätze, und 68 Prozent des BIP wurden dort erwirtschaftet. Dies zeigt, wie
stark sich die Bevölkerung, die Wirtschaftstätigkeit und die Beschäftigung in diesen Metropolregionen ballen.34

3.2 Vergleiche mit anderen Stadtsystemen
Europäische Städte weisen im globalen Vergleich ein geringes Wachstum und eine mittlere Dichte auf. Seit
dem Jahr 1993 lag das jährliche Einkommenswachstum in den 20 größten Ballungsräumen Europas bei 1,6 Prozent.
Dies ist nicht einmal ein Viertel des Werts, der in vergleichbaren Ballungsräumen in den Schwellenländern erzielt wird
(6,2 Prozent).35 Im Mittel leben in europäischen Städten etwa 3 000 Einwohner pro Quadratkilometer, das sind knapp
doppelt so viel wie in nordamerikanischen, aber nur halb so viel wie in asiatischen oder afrikanischen Städten.36

Mit Ausnahme der Großräume um London und Paris war die Urbanisierung bis in die jüngste Zeit in Europa (im
Gegensatz zu anderen Weltregionen) nicht die wichtigste Wachstumslokomotive. Im Vergleich zu anderen Stadtregionen
leben Stadtbewohner in Europa überwiegend in Städten mit 250 000 bis fünf Millionen Einwohnern. Von
insgesamt 79 Städten, die weltweit über fünf Millionen Einwohner haben, liegen lediglich zehn in Europa. Zudem lebt
nur einer von sieben Stadtbewohnern in Europa in einer solch großen Stadt; weltweit ist es einer von vier. Europäische
Städte stehen daher eher in einem qualitativen als in einem quantitativen Wettbewerb.37

Die relativ geringe Zahl von Megastädten im europäischen System ist nicht zuletzt auf die unterschiedlichen
Nationalstaaten zurückzuführen, die jeweils ein eigenes Stadtsystem und eigene Stadtentwicklungs­prioritäten
aufweisen. Unter anderem deshalb hängt die Entwicklung der europäischen Städte trotz des zunehmend
grenzüberschreitenden Handels und Austauschs und trotz der Herausbildung eines interdependenten, europaweiten
Stadtsystems nach wie vor sehr eng von nationalen Gegebenheiten ab. So schnitten deutsche Städte aufgrund dieser
Eigenheit seit dem Jahr 2007 insgesamt besser ab als britische.38

3.3 Die Entwicklung des europäischen Stadtsystems
Im Zeitablauf führten wirtschaftliche Verschiebungen zum Erfolg unterschiedlicher Städte und zu unterschiedlichen
Beurteilungen des europäischen Stadtsystems.

Der Hintergrund: Europäische Städte von 1945 bis zu den 1970er-Jahren
In den 30 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wandelten sich die europäischen Volkswirtschaften
grundlegend.39 Insbesondere Westeuropa erlebte vom Anfang der 1950er- bis Anfang der 1970er-Jahre das berühmte
Wirtschaftswunder. In dieser Zeit wuchs das reale BIP pro Kopf jährlich im Durchschnitt um gut vier Prozent, und das
gesamte BIP pro Kopf verdoppelte sich nahezu.40

Zu Beginn wuchs die Wirtschaft in Europa allein deshalb sehr kräftig, weil die Kriegsschäden beseitigt wurden, der
Kapitalstock wieder aufgebaut wurde und die Männer wieder in produktiven Sektoren arbeiten konnten. Insofern
kann die rasche wirtschaftliche Expansion der ersten Nachkriegsjahre als Aufholphase angesehen werden. Das Wachstum
speiste sich vor allem aus dem breiten Einsatz neuer Technologien, die zwischen den beiden Weltkriegen entwickelt,
aber noch nicht kommerziell genutzt worden waren.41

Aber selbst in diesen frühen Jahren war das Wachstum nicht in allen Regionen des Kontinents gleich stark. Dadurch
entwickelte sich nach dem Krieg eine klare Industrielandkarte, beruhend auf verschiedenen identifizierbaren Faktoren:

  • die Nähe zu Absatzmärkten, Rohstoffen und preiswerten Arbeitskräften

  • die jeweilige industrielle Spezialisierung vor dem Krieg

  • die neue europäische geopolitische Ordnung nach dem Krieg

Stadt im Wandel                                                                                                   23
Auf nationaler Ebene fand die stärkste Aufholbewegung in Ländern statt, in denen es solidarisch eingestellte
Gewerkschaften, eng zusammenstehende Arbeitgeberverbände und wachstumsorientierte Regierungen gab.42 Das
höchste Industriewachstum verzeichneten die sechs Länder, die im Jahr 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle
und Stahl und später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gründeten – Deutschland, Frankreich, Italien und die
Benelux-Länder –, und Länder, die Unterstützung aus den USA, etwa im Rahmen des Marshall-Plans, erhielten.

Abbildung 19: Häufigste Entstehungsperioden von Wohngebäuden, NUTS-3-Region, 2011

Quelle: Census Hub des Europäischen Statistischen Systems (Europäische Kommission)

Auf der Ebene darunter konzentrierte sich das Wachstum zunehmend auf Regionen, die auf eine frühere industrielle
Spezialisierung zurückgreifen konnten (etwa die Textilproduktion in Norditalien), nahe bei nationalen oder kontinentalen
Absatzmärkten lagen und preiswerte Arbeitskräfte anziehen konnten. Auch Regionen, die in der Nähe von
Rohstoffvorkommen wie Metall oder von Energiequellen wie Flüssen und Bergen lagen, verzeichneten ein höheres
Wachstum. Das Zusammenspiel all dieser Faktoren führte dazu, dass das Wachstum in drei Industrieregionen in Europa
besonders hoch war:

   • Norditalien

   • Mittel- und Nordengland

   • Rhein-Ruhrgebiet

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Abbildung 20: Wichtige Industrieregionen in Europa, 1945–1970

Quelle: http://slideplayer.com/slide/10698625/

In Norditalien profitierte die Wirtschaft nach dem Krieg vor allem von einer stabilen Währung, billigen Rohstoffen,
preiswerten Arbeitskräften und umfangreicher Unterstützung aus den USA. Aber auch noch andere Faktoren waren
von Bedeutung. Dass in der Poebene fossile Energieträger entdeckt wurden, die für die Eisen- und Stahlproduktion
benötigt werden, ermöglichte dem globalen Ölkonzern ENI einen Wachstumsschub und versetzte auch die großen
etablierten Industrien des Landes, darunter die Textilindustrie, in die Lage, weiter zu wachsen. Die Gewerkschaften
waren bis Ende der 1960er-Jahre schwach und politisch uneins. Insbesondere Norditalien profitierte zudem davon,
dass es auf Wasserkraft zurückgreifen konnte, eine kritische Masse an rohstoffverarbeitenden Unternehmen und
Montagebetrieben vorhanden war und moderne Maschinen importiert werden konnten, dank des
Handelsbilanzüberschusses im Textilsektor. All dies ermöglichte die Entwicklung einer wachsenden Elektro- und
Haushaltsgeräteindustrie.

Wahrscheinlich spielte jedoch ein ganz anderer Faktor eine viel wichtigere Rolle: Italiens Bevölkerung war in der
Nachkriegszeit so mobil wie nie zuvor. Nach dem Krieg wuchs die Wirtschaft rasch und kräftig. Der Kontrast zwischen
dem Wohlstand der städtischen Regionen – insbesondere im Industriedreieck Lombardei-Piemont-Ligurien – und der
Härte und Armut des Lebens in gebirgigen und ländlichen Gebieten, vor allem im Süden des Landes, verstärkte sich
zunehmend. Die rasche Industrialisierung der Ballungsräume führte dazu, dass immer mehr Menschen in Städte wie
Rom, Mailand, Turin oder Genua zogen. Dadurch bildeten sich in diesen Regionen wichtige wirtschaftliche
Agglomerationen, die das Wachstum zusätzlich ankurbelten. Insgesamt erzielte Italien von 1956 bis 1964 stetig
Wachstumsraten von über sechs Prozent.43

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