Suche und Versuchungen um nationale Größe auf dem Westbalkan - Mythen, Akteure, Implikationen - Teil 1 - ÖMZ

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Suche und Versuchungen um nationale Größe auf dem Westbalkan - Mythen, Akteure, Implikationen - Teil 1 - ÖMZ
Suche und Versuchungen
um nationale Größe auf
dem Westbalkan - Mythen,
Akteure, Implikationen - Teil 1
Wulf Lapins/Enes Velija
                                                                                                       Michel & Gabrielle Therin-Weise / Alamy Stock Photo

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               er französische Aufklärungsphilosoph,          Serbien (2014) wurden ebenfalls längst Beitrittsverhand-
               François-Marie Arouet, bekannt unter dem       lungen aufgenommen. Selbst der von den EU-Ländern
               Namen Voltaire, prägte die Erkenntnis:         Spanien, Slowakei, Rumänien, Griechenland und Zypern
„Die Mythologie ist die erstgeborene Schwester der            aus jeweiligen innenpolitischen Motiven nicht anerkannte
Geschichtskunde“. Ziel der von den beiden Autoren             Kosovo konnte immerhin 2016 mit Brüssel ein Assoziie-
erstellten zweiteiligen Politikanalyse in dieser und der      rungs- und Stabilisierungsabkommen schließen. So weit,
folgenden Ausgabe der ÖMZ ist es, auf einer aufbereiteten     aber nicht auch schon so gut.
und diskutierten empirischen Basis einen Überblick über           Bereits seit Jahren stehen sich nämlich in den Haupt-
Reflexionen, Deskriptionen und Konzeptionen des alba-         städten der EU die beiden politischen Denkschulen Ver-
nischen Strebens nach nationaler Größe zu geben, diesem       tiefung oder Erweiterung der EU-Integration kontrovers
Mythos nachzuspüren, der im Kontext einer potenziellen        gegenüber5) - und bedingen deshalb als ihren kleinsten
Ausgestaltung massive negative Wirkmächtigkeit auf dem        gemeinsamen Nenner eine Enlargement Fatigue,6) die
Westbalkan entfalten würde. Die im Zuge der Bearbeitung       sich inzwischen sogar zu einem Erweiterungswiderstand
recherchierten und problematisierten Quellen erweitern        auswächst.7) Der erneute Aufwuchs indes einer politisch-
und ergänzen die bisherigen Wissensbestände und schaffen      systematischen Aussaat von ethnischen nationalpopulis-
durch die Struktur eines historischen Längsschnitts und       tischen/nationalistischen Ressentiments und Spannungen
systematischen Querschnitts einen wissenschaftlichen          auf dem Westbalkan, oft verwoben mit religiösem
Mehrwert. Die jugoslawischen Sezessions- und Erbfol-          Fundamentalismus,8) und mit in allen Ländern hoher
gekriege der 1990er-Jahre1) mündeten politisch in sieben      Arbeitslosigkeit9) sowie strukturellen Defiziten auf den
Staatsgründungen auf dem Westbalkan. Die Region ist           Gebieten Rechtsstaatlichkeit, demokratische Institutionen,
geographisch mittlerweile von EU-Staaten umgeben. Vor         öffentliche Verwaltung und wirtschaftliche Entwicklung10)
diesem Hintergrund ist die Union besonders an Stabilität      impliziert v.a. in den jungen Generationen negative Fol-
in diesem Raum interessiert. Der EU-Erweiterungskom-          gen: „In der gesamten Region, v.a. in den sechs Ländern
missar Johannes Hahn prägte dazu 2018 die Formel:             des Westlichen Balkans (WB6), sind Jugendliche weiter-
„Entweder exportieren wir Stabilität oder wir importieren     hin von hoher Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsbe-
Instabilität.“2) Ganz in diesem Sinn wählten die EU-Staats-   dingungen betroffen (...) In allen SOE-Ländern wird die
und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen bereits am        Korruption im Bildungswesen als besonders gravierend
21. Juni 2003 in Thessaloniki dazu die vermeintliche          eingeschätzt. Dies hat sich in den letzten fünf Jahren
Ideallösung: „Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der      in den meisten Ländern noch verstärkt. Die Akzeptanz
Europäischen Union.“3) Slowenien (2004) und Kroatien          informeller Praktiken wie Nutzung von Beziehungen,
(2013) sind schon Mitglieder der Gemeinschaft. Nord-          Bestechung oder Steuerbetrug findet sich relativ häufig
mazedonien (2004)4) und Bosnien-Herzegowina (2016)            unter den Jugendlichen in der Region und ist seit 2008
haben Beitritte beantragt. Und mit Montenegro (2012) und      noch erheblich gestiegen (…) Es gibt eine signifikante

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Suche und Versuchungen um nationale Größe auf dem Westbalkan - Mythen, Akteure, Implikationen - Teil 1 - ÖMZ
Lapins/Velija: Suche und Versuchungen um nationale Größe auf dem Westbalkan - Mythen,
Akteure, Implikationen - Teil 1

Zahl junger Menschen, die „eine Führung, die das Land              Wer die intellektuellen Früchte nicht mehr direkt vom
mit starker Hand zum Wohl der Gemeinschaft regiert“,           Baum der Erkenntnis von der Hand in den Mund isst,
als gute Option ansehen, wobei diese Meinung seit 2008         vollzieht den Schritt von der hastigen Wissensaufnahme
in der gesamten Region stark an Zustimmung gewonnen            zum tragfähigen analytischen Triebaufschub. In diesem
hat. (…) Die große Mehrheit der jungen Menschen in der         Sinne thematisieren, problematisieren und reflektieren
Region fühlt sich in der nationalen Politik nicht vertre-      die Autoren in ihrem Beitrag Chancen und Umsetzbarkeit
ten.“11) Diese wirtschafts- und beschäftigungspolitische       einer potenziellen Vereinigung aller Albaner in einem
Perspektivenlosigkeit bildet einen starken Triebfaktor für     albanischen Großstaat. Vor einem solchen „Groß“- oder
anhaltende Migrationen in die EU-Staaten.12)                   „Panalbanien“ wird auf dem Westbalkan und in der
     Damit aber noch nicht genug. Region-fremde Akteure        Europäischen Union mit dem an die Kriegsursachen
wie die Türkei, USA, Russland, China und die arabischen        erinnernden Rückblick gewarnt.21) Diese politische Denk-
Golfstaaten nehmen mit unterschiedlichen Politiken und         figur wird mit den folgenden Fragestellungen bearbeitet:
Interessenlagen Einfluss auf die EU-Unterstützungs- so-        Wann, wie und wo ist diese politische Idee entstanden? In
wie Förderprozesse auf dem Westbalkan und fordern die          welchem Maß durchzieht sie als emotionale, memorierte
Union damit auch an der geopolitischen Front heraus.13)        und imaginierte Chiffre die albanische Geschichte? Und
Sie bieten den politischen und ökonomischen korrupten          welchen politischen Stellenwert nimmt sie aktuell, zuwei-
Eliten immer wieder indirekt oder direkt Rückhalt14) und       len auch als Sprechfigur, in der aktuellen albanischen und
ermöglichen somit Optionen, die von Brüssel geforderten        kosovarischen Politik ein?
demokratischen Transformationsschritte zu verzögern                Im historischen Selbstverständnis sehr vieler Albaner
oder auch völlig zu unterlaufen. Die Union steht vor           repräsentiert ihr Land in seiner derzeitigen staatlichen Ver-
einem kaum lösbaren Dilemma: Durch die unbestimmte             fasstheit noch keinen vollständigen Staat, denn zum Teil
zeitliche Verweildauer im Wartezimmer zur ersehnten            signifikante albanische Bevölkerungsteile würden eben
EU-Vollmitgliedschaft, durch die zwar begründeten,             nicht freiwillig-selbstbestimmt in den umliegenden West-
aber mangels Reformwillen oder -fähigkeit langen Bei-          balkanstaaten Kosovo, Serbien, Montenegro, Nordmaze-
trittsfristen, verliert sie in der Region an Strahlkraft wie   donien und Griechenland leben. Vor diesem Hintergrund
auch Glaubwürdigkeit und öffnet zugleich das Einfallstor       spricht man in nationalpatriotischen und nationalistischen
für die Zunahme von Autoritarismus, Klientelismus und          Kreisen von „Revanche für die Geschichte“, in seriösen
Neopatrimonialismus.15) Aber die Beispiele Bulgarien           akademischen Zirkeln von der „offenen albanischen Fra-
und Rumänien offenbaren auch, dass wiederum eine zu            ge“. Protagonisten eines „Großalbaniens“ postulieren, ihr
frühe EU-Mitgliedschaft ohne erreichte und v.a. auch           Land sei in der Vergangenheit benachteiligt worden, Stich-
nachhaltige Rechtsstaats- und Demokratiereife16) CVM/          wort „Historische Ungerechtigkeit“. Denn die jeweiligen
Kooperations- und Kontrollverfahren der EU notwendig           nationalen Fragen der Serben, Mazedonier, Slowenen und
machen.17) Die damalige vorzeitige Beitrittsentscheidung       Kroaten seien nach den jugoslawischen Kriegen mit der
überwölbt den heutigen Diskurs über eine EU-Integration        Schaffung von Nationalstaaten gelöst worden. Allein dem
des Westbalkans. Aber wie so oft in der politischen Debat-     einzigen nicht-slawischen Volk auf dem Westbalkan, den
te: Hinterher hat man es vorher schon gewusst.                 Albanern als drittgrößte Ethnie im vormaligen Jugosla-
                                                               wien, werde das verwehrt.22) Die Idee eines vereinigten
                Problemstellung                                Albaniens bestimmt bereits seit Jahrzehnten die politische
    Im vorangestellten Kapitel wurden einleitend Rah-          Unterströmung in Albanien und im Kosovo.
men, Bezüge und Wechselwirkungen der gravierendsten                „Im Prozess der Identitätsfindung nach der langen
Probleme auf dem Westbalkan zum Hintergrundverständ-           Isolierung während der Diktatur von Enver Hoxha, aber
nis des Nachfolgenden holzschnittartig thematisiert. In        auch während der demokratischen Wende, haben Mythen
diesem Hauptteil problematisieren die Autoren Wurzeln,         sowie ein historisch geprägtes Bedrohungsempfinden
Wirkkräfte, Narrative und potenzielle Konsequenzen             Hochkonjunktur (...) Weit verbreitet, sogar bei der politi-
des zwischen Wachkoma und Tagtraum oszillierenden              schen und kulturellen Elite des Landes, ist zum Beispiel
Strebens nach nationaler Größe - als ein noch nicht ausrei-    der Mythos von der Herkunft der Albaner als „ältestes
chend gesättigtes Forschungsdesiderat. Nationalismus und       Volk Südosteuropas“. Wie andere Mythen diente und dient
mythologisierende Historiographie bilden den Humus für         dieser v.a. der Selbstbehauptung gegenüber Vorurteilen der
balkanische Großstaaten-Projekte.18) Sie „erinnern an die      Nachbarn.“23) In der sicherheitspolitischen Analyse ist es
ungebrochene Tradition des Kleinstaaten-Imperialismus,         ein Topos, „politische Realität und Bedrohungsszenarien
an die gegeneinander gerichteten Nationalismen und die bis     entstehen durch Sprache und Deutungszuweisungen.“24)
heute erschreckende Wirksamkeit der über Generationen          Und auch der Revolutionstheoretiker Karl Marx wusste:
gepflegten Vorurteile und Feindbilder.“19) Im Zentrum des      „Allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt,
Erkenntnisinteresses sowohl für die regionale als auch die     sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die
EU-Ebene steht Albanien als achter Westbalkanstaat. Seit       Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert,
seiner Staatsgründung 1912 befindet sich das Land in einer     und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal
Gemengelage aus Konkurrenz, Rivalität und friedlicher          wird.“25) Auf dem Westbalkan könnte sich demzufolge
Koexistenz um Einfluss ringend in der Region mit Serbien,      ein ethno-politischer Gestaltungswille mit zugleich auch
das 1878 auf dem Berliner Kongress der europäischen            geopolitischen Implikationen entwickeln, die sich negativ
Großmächte als souveräner Staat anerkannt wurde.20)            auf die Herausbildung einer Stabilitätsstruktur in der Re-

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Suche und Versuchungen um nationale Größe auf dem Westbalkan - Mythen, Akteure, Implikationen - Teil 1 - ÖMZ
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gion und damit auch auf die europäische Sicherheits- und     Minderheiten keine Rücksicht.27) Der damalige Gastgeber,
Friedensordnung auswirken würden. Zugegeben, der Weg         Reichskanzler Otto v. Bismarck, leugnete sogar schlicht
vom Konjunktiv zum Indikativ ist in der Politik nie grad-    die Existenz einer albanischen Nation, obwohl diese be-
linig, aber auch nicht unpassierbar. Mit anderen Worten:     reits erstmals 1595 namentlich erwähnt wurde.28) Albanien
Nur weil die Eintrittswahrscheinlichkeit eines solches       war für ihn lediglich ein geographischer Begriff.29) Auch
Szenarios wie auch die potenzielle Schadenswirkung           für die Osmanen existierte keine albanische Nationalität,
zwei unbekannte Größen darstellen, sollte dies nicht zur     weil sie Konfession und Nationalität als identisch setzten.
Annahme einer bloßen „black swan theory“26) verleiten.       Bismarcks Anmerkung „reflektierte zwar korrekt die
                                                             damalige realpolitische Lage, für die Albaner hingegen
                Liga von Prizren                             manifestierte sich in diesem Ausspruch die generelle
     Die Analyse einer verstehenden Deutung der seit         Ethno-Ignoranz der Großmächte.“30)
Jahren immer wieder aufkommenden Diskussion der po-               Albanische Nachbarstaaten waren bereits vor dem
litischen Idee eines staatlichen Zusammenschlusses aller     Berliner Kongress Bündnisse mit europäischen Mäch-
Albaner auf dem Westbalkan erfordert einen historischen      ten eingegangen und dafür mit zum Teil erheblichen
Abriss über die erste albanische Nationalbewegung, die       Gebietszugewinnen belohnt worden. Dies zum Anlass
Gründung des albanischen Nationalstaates, das Königreich     nehmend, initiierten albanische Intellektuelle gemeinsam
„Großalbanien“ im Zweiten Weltkrieg, Albanien und das        mit den einflussreichsten muslimischen Führern aus dem
Hoxha-Regime, die Albaner im damaligen Jugoslawien           Kosovo, dem Sandžak und dem heutigen Westmazedo-
sowie den Kosovo-Staat. Ein solcher geschichtlicher          nien am 10.6.1878 in der Bajrak-Moschee in Prizren/
Längsschnitt kann mit Blick auf die immense Ereignis-        Kosovo einen Zusammenschluss, der als „Liga von
dichte in diesem Zeitraum nur als kursorischer Überblick     Prizren“ (alb. Lidhja e Prizrenit) bezeichnet wird und
mit tatsächlich auch alleiniger Konzentration auf die        in der albanischen Geschichtsschreibung als Kulmina-
großalbanische Nationalidee geleistet werden.                tionspunkt der „Albanischen Nationalen Wiedergeburt“
     In der Südosteuropaforschung herrscht weitgehend        (alb. Rilindja Kombëtare Shqiptare) gilt.31) Sie forderten
Konsens, dass die Liga von Prizren die Geburtsstunde         die uneingeschränkte Autonomie sämtlicher albanischer
der albanischen Nationalbewegung war. Die europäischen       Siedlungsgebiete innerhalb des Osmanischen Reichs wie
Großmächte nahmen bei ihrem Ziel der Errichtung einer        auch die Wiederherstellung ihrer privilegierten Stellung
stabilen Friedensordnung für Südosteuropa bzw. den West-     (u.a. Befreiung von Steuern, das Tragen von Waffen als
balkan im Berliner Vertrag auf dem Berliner Kongress         Muslime) gegenüber der christlichen Bevölkerung.
(13.6.-13.7.1878) im Zuge der Verteilung von Territorien          Lediglich eine radikale Gruppe in der Liga forderte
auf die dort ansässigen Bevölkerungen und deren nationale    mit Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht eine al-

                                                                                             Dimitar Chobanov / Alamy Stock Photo

   Am 10.6.1878 gründeten albanische Intellektuelle die Vereinigung der „Liga von Prizren“ mit dem Ziel, aus den
   von Albanern bewohnten osmanischen Gebieten einen albanischen Nationalstaat zu schaffen. (Bild: Komplex
   der Albanischen Liga und die Bajrak-Moschee in der Altstadt, Prizren, Kosovo).

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Lapins/Velija: Suche und Versuchungen um nationale Größe auf dem Westbalkan - Mythen,
            Akteure, Implikationen - Teil 1

            banische Nationalregierung. Die Verwaltungssegmen-           Hälfte der albanischen Nation außerhalb der Staatsgrenzen
            tierung (im Osmanischen Reich gab es vier albanische         lebte“34) und zumeist unter serbische Herrschaft geriet,
            Verwaltungsbezirke) im Kontext eines fehlenden               da Serbien der Löwenanteil des heutigen Kosovo zuge-
            einheitlichen albanischen Alphabets,32) einer nur gering     sprochen wurde.“35) Am 28.11.1912 wurde auf einem
            ausgeprägten Urbanisierung in den albanisch besiedelten      konstituierten albanischen Nationalkongress mit Reprä-
            Gebieten, der religiösen Trennung in römisch-katholische     sentanten aus süd- und mittelalbanischen Gebieten die
            Mirditen (10%), muslimische Mehrheitsbevölkerung             Freiheit und Unabhängigkeit Albaniens ausgerufen.36)
            (70%), griechisch-orthodoxe Gläubige (20%) sowie der         Auf der Londoner Botschafterkonferenz von Österreich-
            ethnisch-sprachlichen Teilung in die beiden ethnischen       Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien
            Großgruppen der Gegen in Nordalbanien, Kosovo und            und Russland anerkannten diese europäischen Groß-
            Nordmazedonien und der Tosken im südlichen Albanien,         mächte am 16.12.1912 die Loslösung des neu gebildeten
            waren hemmende Faktoren für die Herausbildung eines          albanischen Staates vom Osmanischen Reich.37)
            albanischen Nationalbewusstseins.                                Zur Machtabsicherung und für dringend benötigte
                                                                         Investitionen seines im Dezember 1924 mit jugoslawi-
                  Die albanische Nationalstaats-                         scher Unterstützung erfolgreichen Putsches gegen die
                    gründung und die Folgen                              liberale Fan Noli-Regierung versuchte der Führer der
                Das Ende der zwei Balkankriege zwischen 1912 und         muslimischen Großgrundbesitzer und jetzt neuer alba-
            1913 war zugleich der Auftakt der territorialen Neuord-      nischer Präsident, Ahmet Zogu, dann aber den Einfluss
            nung auf dem Balkan. Das Osmanische Reich musste             Jugoslawiens 1925 durch ein geheimes Militärabkommen
            umfangreiche Gebiete an die Nachbarstaaten abtreten.         mit der faschistischen Mussolini-Regierung einzuhegen.
            Die damalige Grenzziehung ist die der heutigen Türkei.       Im Kontext von albanischen Zahlungsunfähigkeiten
            Serbiens Eroberung des Kosovo 1912 sowie der Ver-            und den beiden Tirana-Pakten 1926 (Freundschaft- und
            such der Inkorporierung auch besetzter nordalbanischer       Sicherheitsabkommen) und 1927 (Defensivbündnis)
            Gebiete in seinen Staatsverband scheiterten jedoch am        verlor der Westbalkanstaat faktisch seine Souveränität.38)
            Widerstand Österreich-Ungarns und seiner Unterstützung       Am 1.9.1928 krönte sich Zogu zum König von Albani-
            der Bildung eines unabhängigen albanischen Staates mit       en (konstitutionelle Monarchie) und behauptete seinen
            dem Ziel, ein Bollwerk gegen Serbien zu errichten. Damit     Machtanspruch mit seiner Nachkommenschaft des Nati-
            versperrte Österreich-Ungarn den ökonomisch und geo-         onalhelden Skanderbeg. Neun Jahre später endete bereits
            politisch strategisch-wichtigen Zugang zur Adriaküste für    die Regentschaft. Seine Weigerung, Albanien mit Italien
            Serbien.33) Zudem „entstand der albanische Staat 1912/13     unter der Krone von Viktor Emanuel III. zu vereinen,
            nur, um Großmachtinteressen an der Adria auszutarieren.      bestrafte Benito Mussolini mit militärischer Invasion (7.4.
            Mit ihm erst kam die „albanische Frage“ auf, weil rund die   bis 12.4.1939)39) und setzte nach der Flucht der albanischen
                                                                                                  Regierung einen italienischen
                                                                                                  Statthalter ein, der wiederum
                                                                                                  eine albanische Marionettenre-
                                                                                                  gierung berief. Reichsmarschall
                                                                                                  Göring übermittelte am 15.4. im
                                                                                                  Auftrag Hitlers Mussolini die
                                                                                                  „herzlichsten Glückwünsche zur
                                                                                                  Regelung der albanischen Ange-
                                                                                                  legenheit.“40)

                                                                                                          Die Bildung eines
                                                                                                           „Großalbanien“
                                                                                                        im Zweiten Weltkrieg
                                                                                                           Nach dem erfolglosen italie-
                                                                                                       nischen Angriff auf Griechenland
                                                                                                       am 28.10.1940 stellte Mussolini
                                                                                                       ein Hilfeersuchen an Deutsch-
                                                                                                       land. Der deutsche Angriff star-
                                                                                                       tete daraufhin am 6.4.1941 auf
                                                                                                       Jugoslawien und Griechenland.
                                                                                                       Kurz darauf, am 17.4., kapitu-
                                                                                                       lierten die jugoslawischen und
                                                                           TopFoto / picturedesk.com   eine Woche später am 23.4. die
Der albanische Präsident Ahmet Zogu konnte trotz seiner Selbstkrönung zum König von                    griechischen Streitkräfte. „In der
Albanien am 1.9.1928 die verlorene Souveränität wegen des Militärabkommens mit der                     ‚Neuordnung‘ auf dem Balkan
„Mussolini-Regierung“ von 1925 nicht mehr wiedererlangen (Bild: Zogu und seine Generäle                nach der deutsch-italienisch-un-
bei der Truppenparade zum Unabhängigkeitstag, 21.12.1933).                                             garisch-bulgarischen Besetzung

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PeerReview

von Jugoslawien und Griechenland konnte sich Italien                Stalin gab hierzu seine Zustimmung.49) Damit wäre die
für Albanien die bisher jugoslawischen Gebiete Kosovo          komplexe und komplizierte Kosovo-Problematik gelöst
(Amselfeld) und Metochien und einen Grenzstreifen in           worden. Gleichwohl hätte eine solche Balkankörperschaft
Mazedonien einverleiben. Die Fläche Albaniens wuchs            unter Titos Führung eine machtpolitische Konkurrenz für
dabei um ca. 50%, sein Staatsvolk um ca. 75%.“41) Die-         die Sowjetunion bedeutet. Die Jalta-Konferenz (4.2.1945-
ser Schritt schuf erstmalig und bislang nicht wiederholt       11.2.1945) beschloss ganz im Sinne der UdSSR die Seg-
ein vereinigtes albanisches territoriales Konstrukt, und       mentierung des Westbalkans in Einflusszonen und verhin-
„Großalbanien“ als „ein willkürliches Produkt Italiens         derte damit die Realisierung einer Balkan-Vereinigung.50)
und Deutschlands“42) bekam seine Begriffsprägung.                   Durch Stalins erfolgreich-klandestine Instrumenta-
Im November 1942 gründete sich in Albanien die anti-           lisierung des albanischen Kommunistenführers Enver
kommunistische und nationalistische Balli Kombëtar/            Hoxha, sich von Tito abzuwenden und sich vielmehr
Nationale Front mit dem Ziel der Einheit der ethnischen        Moskau zuzuwenden, verstärkten sich aufkommende Mei-
Albaner in einem einzigen unabhängigen Staat. Er sollte        nungsverschiedenheiten zwischen den Führungsriegen der
zusätzlich von Albanien auch das südliche Montenegro,          jugoslawischen Kommunisten und denen des sowjetischen
den Kosovo, das westliche Mazedonien und die Region            großen Bruders. Der Konflikt zwischen Tito und Stalin um
Epirus umschließen.43)                                         Albanien gipfelte schließlich im beidseitigen Bruch sowie
     Nach der Kapitulation Italiens am 8.9.1943 und dem        im Rauswurf Jugoslawiens aus der Kominform im Juni
Einmarsch deutscher Truppen in Albanien am darauf-             1948.51) Die Eingliederung Albaniens und schließlich die
folgenden Tag erklärte am 16.10. eine von den neuen            Vereinigung aller Albaner unter der Führung Jugoslawiens
Besatzern gebilligte Nationalversammlung „die Neu-             war damit vom politischen Tisch, und die Schließung der
tralität Albaniens, widerrief die 1939 von den Italienern      Grenze zwischen Jugoslawien und Albanien sollte die
oktroyierte Verfassung und setzte jene von 1928 wieder         albanischen Gemeinschaften für über 40 Jahre spalten.52)
in Kraft. An die Stelle des Königs trat nun jedoch ein
vierköpfiger Regentschaftsrat, in dem die vier großen
                                                                            Tirana mäandert in der
Religionsgemeinschaften des Landes vertreten waren.“44)                   gesamtalbanischen Frage ...
Dem neuen albanischen Staat kam lediglich eine funktio-            Enver Hoxhas politische Paranoia vor Machtverlust
nale Bedeutung im deutschen militärischen Interesse zu.        manifestierte sich in den vier Jahrzehnten seines Totali-
So nahm die Reichsregierung in Berlin auch erst nach           tarismus in der brutalen Stabilisierung seines Regimes
vielem zögernden Hin und Her am 12. Juli 1944 formelle         durch eine rigide Selbstisolierung (ab 1978) des Landes.
diplomatische Beziehungen mit Tirana auf und verstand          Tirana übte hinfort auch nur rhetorisch Kritik an der
den Rechtsstatus als nur „relative Souveränität“.45) Um den    Situation der Albaner im jugoslawischen Kosovo, um
Rückhalt in der albanischen Bevölkerung auszudehnen            einen offenen Konflikt mit dem militärisch-ökonomisch
und weiter zu festigen, beschworen auch die deutschen          überlegenen Belgrad zu verhindern. Die Abkapselung
Nachfolger - aus rein machtpolitischem Interesse - stets die   des kommunistischen Albaniens vom Rest der Welt und
nationale albanische Identität und ein ethnisch homogenes      die unterentwickelten albanisch besiedelten Gebiete in
Großalbanien.46)                                               Jugoslawien wirkten sich alles andere als förderlich ge-
                                                               genüber Vereinigungsgedanken mit albanisch bewohnten
    Albanien auf dem jugoslawisch-                             Territorien (insbesondere Kosovo) in Jugoslawien aus.
      sowjetischen „Schachbrett“                               Derartige Umstände boten somit keine realistische Grund-
    Die weitere politische Gestaltung eines „Großalbani-       lage zur Verfolgung großalbanischer Ambitionen. Der
ens“ verfolgten die Tito-Partisanen nicht weiter. Zwar wur-    Schlussakkord der kommunistischen Herrschaft wurde
de auf der Konferenz von Bujan (31.12.1943-2.1.1944)           1990 mit einem Studentenaufstand eingeleitet und am
die Vereinigung von Kosovo und Albanien in Aussicht            Abb.1                         Bevölkerungsanteile Jugoslawien 1981
gestellt, jedoch nur taktisch, um die kosovo-albanische
Bevölkerung für den antifaschistischen Kampf gegen die                                                                      36,3%                Serben
Besatzungsmächte zu mobilisieren.47) Eine Umsetzung                                                                         19,8%                Kroaten

wäre zudem wegen des zu erwartenden serbischen Wi-
derstands nicht realisierbar gewesen.
    Der albanische „Einheitsstaat“ löste sich nach dem
Ende der deutschen Besetzung am 29.11.1944 wieder auf,                                                                        8,9%               Slawische Muslime
und die Vorkriegsverhältnisse wurden wiederhergestellt.
                                                                                                                                                 Slowenen
Als vorläufige Lösung wurde der Kosovo im September                                                                          7,8%
                                                                                                                             7,7%                Albaner
1945 zur autonomen Region innerhalb der serbischen                                                                           6,0%                Mazedonier
Teilrepublik erklärt, um einen Ausgleich zwischen den ju-                                                                    5,4%                Jugoslawen*
goslawischen Nationen herzustellen und einem serbischen                                                                      2,6%                Montenegriner
                                                                                                                             1,9%                Ungarn
Übergewicht innerhalb der jugoslawischen Föderation                                                                          1,7%                Sonstige
entgegenzuwirken.48) Eine endgültige Einigung sollte
beim angestrebten Zusammenschluss der sozialistischen          *Bei der Volkszählung 1981 war es möglich, als Nationalität „Jugoslawe“ anzugeben.                         Gestaltung:
Systeme in Albanien und Jugoslawien im Sinne der „Bal-         Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung: Innerstaatliche Konflikte: Mazedonien.
                                                               https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54789/mazedonien,
                                                                                                                                                                     Redaktion ÖMZ /
                                                                                                                                                                      Katrin Endlicher
kanföderation“ 1948 erfolgen.                                  Stand: 9.4.2021.

ÖMZ 3/2021                                                                                                                                               287
Lapins/Velija: Suche und Versuchungen um nationale Größe auf dem Westbalkan - Mythen,
                            Akteure, Implikationen - Teil 1

                            20.2.1991 durch die Schleifung der Statue Enver Hoxhas                                                                               Medizinischen Fakultät und Leibarzt von Enver Hoxha
                            in Tirana symbolträchtig und öffentlichkeitswirksam in                                                                               gewesen. Im Wahlkampf schob er den regierenden so-
                            Szene gesetzt.53) Mit dem Ende des kommunistischen                                                                                   zialistischen Parteien die Verantwortung für den Verlust
                            Systems kehrte die ungelöste albanische Frage in das                                                                                 des Kosovos in der Vergangenheit zu und insinuierte
                            öffentliche Bewusstsein zurück und wurde politisch                                                                                   einen potenziellen Zusammenschluss Albaniens mit dem
                            instrumentalisiert.                                                                                                                  Kosovo.54) Und ein Jahr später, nunmehr albanischer
                                                                                                                                                                 Präsident, trug er in einer Rede kryptisch vor: „Wir
                                                          Die Konservativen                                                                                      Albaner sind sieben Millionen Menschen, aufgeteilt
                                In dieser Hinsicht führten politische Analytiker den                                                                             auf fünf Staaten. Wir üben uns in Selbstbeherrschung,
                            Wahlsieg der konservativen Demokratischen Partei/DP                                                                                  was kein Zeichen von Furcht oder Zögern, sondern von
                            Albaniens bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom                                                                                  Stärke ist.“ „Die fünf Staaten waren Albanien, Serbien,
                            22.3.1992 auch auf die politische Wahlrhetorik Sali Be-                                                                              Montenegro, Mazedonien und Griechenland.“55) Bei
                            rishas zurück, der im Dezember 1990 auf dem Gelände                                                                                  einer anderen Gelegenheit im März 1992 sprach er sich
                            der Universität von Tirana diese Partei mitbegründet                                                                                 für eine „Albania unification“/Vereinigung der albanisch
                            hatte. Während der Diktatur war er Parteisekretär der                                                                                besiedelten Gebiete aus.56)

Abb.2                                                                        Siedlungsgebiete der Volksgruppen Jugoslawien 1981

                  ÖSTERREICH
                           Klagenfurt
                                                                   Maribor
                                                                    Dr
                                                                       au
                                                                                                                                        UNGARN
                             Kranj
                                                       Celje
                                 Ljubljana                           Krapina
                                                                                       Koprivnica        Dra
                                                                                                             u                      Pécs
                   SLOWENIEN                                                                                                                                           Subotica
      Triest                                                            Zagreb             Vitrovitica                                                                                                                           RUMÄNIEN
                                                                                                                                                            Sombor
                                                                        KROATIEN                                                    Osijek
                              Rijeka                      Karlovac
                                                                                                                                                       Do
                                                                                                Sav                                                      na                               Zrenjanin                              Resita
                                                                                                    e                                                        u
                                                                                                                                                                               Novi Sad
               Pula                                                                      Prijedor                                                                      Sa
                                                                                                                                                                         ve
                                                                     Bihac                                                             Brcko
                                                                                                      Banja Luca
                                                                                                                              Doboj                                                            Belgrad
                                                                                                                                                                            Sabac
                                                    Gospic
                                                                                                         BOSNIEN                               Tuzla                                                         Pozarevac
                                                                                                                         na
                                                                                                                     Bos                                                                                                                     Do
                                                                                                                                                                                                                                                na
                                                 Zadar                                                           UND                                                                                                                              u
                                                                                                                                                                                               SERBIEN
                                                                                                                                                              Dr
                                                                                                                                                                 ina

                                                                                                HERZEGOWINA
                                                                                                                                                                                                               Morava

                                                                                               Livno                                  Sarajevo
                                                                   Sibenik
                                                                                                                                                                                                  Kraljevo
                                                                               Split                                                                                                                              Kruševac

                                                                                                                     Mostar                                                                                                      Niš
                                                                                                                                                       Pljevlja
                             A                                                                                                                                                                                                                 Pirot
                                  D
                                        R                                                                                                                                                                          Leskovac
                                             I                                                                           Trebinje      MONTENEGRO
                                                   A                                                                                                                                                                                                      Sofija
                                                         T                                                Dubrovnik                                                                    Peja                  Pristina
                                                               I                                                                                    Podgorica                                 KOSOVO
                                                                    S                                                                          Kotor
                                                                                                                                                                                              Gjakova         Gjilan
                                                                         C
                                                                               H
                                                                                                                                                                                                                                            BULGARIEN
                                                                                   E                                                                   Bar
         ITALIEN                                                                           S                                                                                                             Tetovo         Skopje
                                                                                                                                                                                       Drin

                                                                                                    M
                                                                                                         E
           Legende:                                                                                              E                                                                                           MAZEDONIEN                        Strumica
           Serben (mehrheitlich orthodoxe Christen)                                                                  R
                                                                                                                                                                                                                                            Va

           Kroaten (mehrheitlich Katholiken)
                                                                                                                                                                                                                                              rda

                                                                                                                                                                              Tirane
                                                                                                                                                                                                                                                 r

           Slowenen (mehrheitlich Katholiken)
           Mazedonier (mehrheitlich orthodoxe Christen)
           Bulgaren
             Neapel (mehrheitlich orthodoxe Christen)                                                                                                                                                               Bitola
           Slawische Muslime (Bosniaken, Goranen,                                                                                                                                                                                         GRIECHEN-
           Torbeschen, muslimische Serben, Montenegriner
           Albaner (mehrheitlich Muslime)                                                                                                                                                                                                   LAND
           Ungarn (mehrheitlich Protestanten)                                                                                                                      ALBANIEN
           Rumänen, Walachen (mehrheitlich orthodoxe Christen)                                                                                                                                                                                             Thessaloniki
           Türken (mehrheitlich Muslime)
           Gebiete ohne ethnische Bevölkerungsmehrheit

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung: Innerstaatliche Konflikte: Mazedonien. https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54789/mazedonien,                                                               Gestaltung: Redaktion ÖMZ /
Stand: 9.4.2021.                                                                                                                                                                                                                                         Katrin Endlicher

                            288                                                                                                                                                                                                                      ÖMZ 3/2021
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     Nach internationalem Druck hielt sich Berisha nicht       Europäischen Union“) nicht mehr ernst? Es geht ins-
nur mit ideenpolitischen Äußerungen zu Großalbanien            besondere um Nord-Mazedonien und Albanien. Beide
zurück, sondern revidierte vielmehr öffentlich seine vor-      Staaten haben nach Auffassung von EU-Kommission,
herige Position mit der Aussage: „the concept of a greater     EU-Parlament und EU-Ex-Ratspräsident Donald Tusk
Albania is not considered in serious Albanian political        alle Bedingungen erfüllt, um Beitrittsverhandlungen
circles“.57) Er agierte vielmehr wie der französische Innen-   mit der EU aufzunehmen. Doch Frankreichs Präsident
minister Léon Gambetta nach der erzwungenen Abtretung          Emmanuel Macron blockiert. Die Niederlande und Dä-
von Elsass-Lothringen nach der französischen Niederlage        nemark sekundieren in der Ablehnung der Aufnahme von
von 1871, „toujours y penser, jamais en parler“ - immer        Beitrittsgesprächen, jedoch ohne sich so zu exponieren
daran denken, niemals davon sprechen. Ganz in diesem           wie Macron. Sein „Nein“ ist mit Blick auf die rechtspo-
Sinne war auch seine Antwort in einem FAZ-Interview            pulistische Opposition und ihre Warnung vor potenziellen
zwei Tage vor der kosovarischen Proklamierung seiner           „Masseneinwanderungen“ innenpolitisch motiviert. Er
staatlichen Unabhängigkeit (17.2.2008) auf die Frage, ob       argumentiert mit seiner Sorge vor einer Vielzahl von asyl-
nicht die Vereinigung von Albanien und Kosovo logisch          suchenden Albanern. Doch die Fakten sprechen gegen ihn.
wäre: „Die Albaner im Kosovo haben für ihre Unabhän-           Nach Eurostat ersuchten 2019 lediglich 8.010 Personen
gigkeit gekämpft. Bewegungen für eine Vereinigung mit          aus Albanien in Frankreich erstmalig um Asyl.64)
Albanien haben sowohl in Prishtina als auch in Tirana nur          Und so scheint es, dass, je weiter die EU-Perspektive
wenige Hundert Stimmen erhalten. Ich sehe kein Potenzial       in die Ferne rückt, desto eher einige albanische Poli-
für den Zusammenschluss beider Länder. Für heute gilt,         tiker geneigt scheinen, dem großalbanischen Traum
dass alle in Albanien die Unabhängigkeit des Kosovos           zu verfallen, weil sie keine nennenswerten politischen
wollen. Und für morgen gilt, dass wir in der Europäischen      Leistungserfolge vorweisen können und eben auch keine
Union vereint sein werden.“58) Nach diplomatischem             glaubhaften Versprechungen und Prognosen für eine nahe
Druck der USA59) übte Berisha sich hernach in rhetorischer     Zukunft in der EU zu präsentieren haben. Dazu können
Selbstdisziplin.                                               sie sich auf eine breite gesellschaftliche Unterströmung
     Doch der panalbanische Impetus war nur vorrüber-          stützen. Bereits 2010 ergab eine vom Meinungsfor-
gehend eingehegt und obsiegte wieder auf einer Regie-          schungsinstitut „Gallup“ und dem „European Fund for
rungssondersitzung am 28.11.2012 zur 100-Jahr-Feier            the Balkans“ durchgeführte Umfrage, dass 62% der
der albanischen Unabhängigkeit, als er ankündigte: „Alle       Albaner in Albanien, 81% der Albaner im Kosovo und
Albaner, die die albanische Staatsbürgerschaft erwerben        51,9% der albanisch-stämmigen Bevölkerung in Maze-
wollen, werden sie bekommen.“60) Sein Vorhaben machte          donien (heutiges Nordmazedonien) die Schaffung eines
er wenig später auch öffentlich: „Ich darf die Albaner         „Großalbaniens“ unterstützen würden, wohingegen die
davon in Kenntnis setzen, dass die Regierung ein Gesetz        Zustimmung gegenüber einem lediglich aus Albanien
vorbereiten wird, das die Gewährung der albanischen            und Kosovo bestehenden großalbanischen Staat, d.h. ohne
Staatsbürgerschaft an alle Albaner vorsieht, egal, wo          Nordmazedonien, hingegen von nur 33,7% der Albaner
sie leben. Verstreut in verschiedenen Staaten, sehen sich      in Albanien, 29,2% im Kosovo und 7,2% in Nordmaze-
die Albaner als Brüder durch gemeinsame Gene, Kultur           donien befürwortet wurde.65)
und Identität, vereint durch ihren Traum von Europa“.61)           Aber es gab auch konservative Spitzenpolitiker wie
Insbesondere, weil er sich explizit an die Albaner „von        den Staatspräsidenten Bujar Nishani/ (2012-2017), die mit
Preveza bis Presevo, von Skopje bis Podgorica“ wandte,         deutlichen, nicht zu weiteren Spekulationen geeigneten
riefen seine Zusagen sogleich nachvollziehbare Sorgen          Verlautbarungen versuchten, der Sprache der exekutiven
um einen klandestinen Auftakt für ein Großalbanien her-        Politik entgegenzuwirken: „Albania does not have any
vor. Denn: „Skopje und Podgorica sind die Hauptstädte          open problem with any of the regional states. Particularly
Mazedoniens und Montenegros.“62) Dass der erhoffte und         Albania and the Albanians have never had interests which
erstrebte albanische Vereinigungsprozess nach Berisha          threatens the integrity of negboring [sic!] countries.“66)
final erst im Zuge der EU-Mitgliedschaft des Westbalkans
im „Schoße Europas“ stattfinden werde, trug gleichwohl                   Die Sozialistische Partei
nicht zur Entspannung bei. Denn „was wird geschehen,               Die Vereinigungsidee schien jedoch politisch lediglich
wenn der „Schoß Europas“ nicht länger aufnahmefähig            in der albanischen konservativen politischen Elite behei-
ist? Werden die Albaner im ärmsten Teil Europas auf das        matet zu sein.67) Die Sozialistische Partei, seit 1997 mit
Projekt der nationalen Vereinigungen im Rahmen der             Parlamentsmehrheit Nachfolger der DP, postulierte, dass
EU verzichten, wenn sich herausstellt, dass nichts aus         ein „Greater Albania“ nicht auf ihrer politischen Agenda
der EU-Integration der Staaten des Westbalkans wird?           stehen würde.68) In diesem ideenpolitischen Kosmos
Auf eine friedliche Vereinigung der Albaner zu wetten,         argumentierte auch der ehemalige sozialistische Minister-
das hieße, auf die Erweiterung der EU in absehbarer Zeit       präsident, Fatos Nano, als er in einem Reuters-Interview
zu setzen.“63)                                                 von Anfang Dezember 1999 eine engere politische und
                                                               ökonomische Konnektivität der Albaner auf dem Westbal-
 Dilemma der EU-Westbalkan-Politik                             kan forderte, allerdings mit dem expliziten Hinweis, dass
    Die aber zögert, zaudert und taktiert. Doch warum?         dies aber keine Grenzverschiebungen implizieren würde.
Nimmt Brüssel das Versprechen von Thessaloniki vom             Seiner Überzeugung nach bedeutete eine größere Mobili-
21.6.2003 („Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der         tätsgewährung berechtigte Chancen um nationalistische

ÖMZ 3/2021                                                                                                          289
Lapins/Velija: Suche und Versuchungen um nationale Größe auf dem Westbalkan - Mythen,
                  Akteure, Implikationen - Teil 1

                  Großalbanien-Bestrebungen abzuwehren. „The emphasis         Umrissen eines großalbanischen Reiches, dem Schriftzug
                  should be on promoting free movement between peoples        „autochthonous“/einheimisch und dem albanischen Un-
                  of Albania, Macedonia and Kosovo, which would help to       abhängigkeitsdatum sowie den Porträts der ehemaligen
                  avert pressure from ideas associated with greater Albania.  albanischen Nationalistenführer Isa Boletini und Ismail
                  It is all about creating new ways of co-existence, firstly  Qemali für einen ausgemachten Eklat.73) Im Stadion hatten
                  amongst Albanians, so that we are seen as emancipated       bis dahin Tausende lautstark den gewünschten Tod von
                                                                              Albanern skandiert. Das Spiel musste abgebrochen und
                  and democratic and a factor for stability in the Balkans“.69)
                       Wahrscheinlich aufgrund internationalen Drucks ver-    ein zuvor vereinbartes Zusammentreffen von Aleksandar
                  öffentlichte der damalige Außenminister Paskal Milo 2001    Vucic und Edi Rama, der erste Besuch eines albanischen
                  eine offizielle kleine Publikation seines Ministeriums mit  Regierungschefs in Serbien seit 68 Jahren, auf November
                  den Kernsätzen: „The platform of a „Greater Albania“ is     verschoben werden. Fast zu einer Staatskrise schraubte
                  not popular in Albania. This does not mean that the Alba-   sich das Ganze hoch, als der Bruder des albanischen Pre-
                  nians of Albania are less nationalistic than others or that miers von serbischen Sicherheitskräften, als potenzieller
                  they do not want close relations with their compatriots in  Drohnenakteur in der VIP-Lounge verdächtigt, verhaftet
                  other countries. There is no connection between the two.    wurde.74)
                  (…) In the official policy of the Government of Albania           In einem Interview mit der FAZ bemühte sich der
                  there is not, nor has there been, any reference to or any   albanische Regierungschef kurz darauf mit Blick auf die
                  aim at the creation of a „Greater Albania.“ On the contrary,aufmerksame internationale Beobachtung, wie Tirana
                  there have been clear and unequivocal statements that such  die Belgrader Geschehnisse bewertet, um verbale Dees-
                  an idea is counterproductive and contrary to the objectives kalation und betonte insbesondere die strikte Negierung
                  of Albania to be integrated into a United Europe.“70)       jeglicher panalbanischer Ambitionen: „Großalbanien ist
                       Nach der am 17.2.2008 einseitig deklarierten Un-       in erster Linie eine Urangst der Serben, die gelegentlich
                  abhängigkeit Kosovos71) schienen die politischen Span-      auch in anderen Nachbarländern erscheint oder von dem
                  nungen mit Serbien endlich durch die am 19. April 2013      einen oder anderen ausländischen Journalisten aufgegrif-
                  unter Vermittlung der EU erreichte Vereinbarung über        fen wird, der glaubt, eine große Wahrheit aufzudecken,
                  die Grundsätze der bilateralen Normalisierung72) mit        wenn er von Großalbanien spricht. Aber hier endet die Ge-
                  dem Fernziel des EU-Beitritts beider Staaten politisch-     schichte auch schon. Großalbanien ist nicht unser Projekt,
                  diplomatisch eingehegt worden zu sein. Es zeigte sich       genauso wenig wie das Stückchen Stoff, das, überladen
                  jedoch, dass der Heilungsprozess unter diesem Wund-         mit albanischen Symbolen, über dem Belgrader Stadion
                  pflaster sich als sehr langwierig erweisen wird. So reichte flatterte, unsere Flagge ist oder die Flagge irgendeines
                  während des EM-Qualifikationsspiels zwischen Serbien        anderen Albanien, das wir angeblich planen. Es ist auch
                  und Albanien in Belgrad im Oktober 2014 die Provoka-        nicht wahr, dass großalbanische Parteien stärker werden.
                  tion der Flaggenhissung mittels einer Drohne, mit den       In Albanien gibt es eine Partei, die in diese Richtung geht,
                                                                                                         doch sie hat nicht einmal 1% der
                                                                                                         Stimmen bei der Parlamentswahl
                                                                                                         bekommen und sich wie ein Tropfen
                                                                                                         Salz im Wasser aufgelöst. Unser
                                                                                                         wirkliches Projekt ist ein großes
                                                                                                         Europa, nicht ein großes Albanien.
                                                                                                         (...) Großalbanien ist ein Mythos, der
                                                                                                         von denen lebendig erhalten wird,
                                                                                                         die ihn gegen die Albaner verwenden
                                                                                                         wollen.“75)
                                                                                                               Aus mehr zeitlicher Distanz und
                                                                                                         damit auch vermehrter Kenntnis
                                                                                                         von Kontexten und Hintergründen
                                                                                                         könnte Sali Berishas zwar nicht
                                                                                                         explizit formulierte, jedoch für seine
                                                                                                         Anhänger so intendiert-perzipierte
                                                                                                         panalbanische Rhetorik weniger eine
                                                                                                         stringente nationalistische Program-
                                                                                                         matik als vielmehr eine taktisch-
                                                                                                         innenpolitische Dimension der
                                                                                                         Machtabsicherung gehabt haben.
                                                                                                         Gleiches muss wohl auch für Edi
                                                                     SRDJAN SUKI / EPA / picturedesk.com Rama angenommen werden. Beide
Der Dauerkonflikt zwischen Serbien und Albanien führte auch während des EM-Qualifikati-                  Spitzenpolitiker sind keine verkapp-
onsspiels 2014 in Belgrad zum Eklat. Eine Flagge mit albanischen Symbolen, ferngesteuert                 ten Nationalisten. Ihre nationalpa-
von einer Drohne, führte zu heftigen Krawallen und letztendlich zum Abbruch des Spieles                  triotische/nationalistische Sprache
(Bild: Stadion Partizana in Belgrad, Serbien, 14.10.2014).                                               aktiviert jedoch maßgebliche, hierfür

                  290                                                                                                            ÖMZ 3/2021
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                                                                                                                               Review

empfängliche Wählergruppen. Mehr noch, sie nehmen              dazu ermuntert, gegenüber der eigenen Regierung weitere
billigend in Kauf, dass damit in den Nachbarstaaten das        Forderungen als bisher im Bereich der Minderheitenrechte
großalbanische Stereotyp bedient werden kann, das dann         zu verlangen. Mazedonische Nationalisten wiederum wit-
empört zurückgewiesen wird, mit der Maßgabe, sich              terten darin den Auftakt zu einer Teilung des Landes und
wiederum als Opfer von Anschuldigungen zu stilisieren.         in Anbetracht der großalbanischen Rhetorik zudem einen
     Im Wahlkampf vom Juni 2017 spielte Rama, wie              Zwischenschritt zur Schaffung eines Großalbaniens.82)
seinerzeit Berisha, virtuos die panalbanische gezinkte EU-         Internationale Beobachter bewerteten hingegen auch
Karte. „Wenn alle Länder, in denen Albaner leben, zur EU       die Berufungen 2019 von Gent Cakaj zum stellvertre-
gehören, sind alle vereint. Oder aber ohne Europa - dann,      tenden albanischen Außenminister und Besa Shahini zur
so sagt er, würde man „andere Wege“ finden.“76) Die Bot-       Bildungsministerin, die beide aus dem Kosovo stammen,
schaft richtete sich nach innen: Er und seine sozialistische   nur als eine „symbolische Entscheidung“, die keinerlei
Partei seien die neuen Lordsiegelbewahrer der albanischen      politischen Einfluss im Kosovo implizieren würde.83)
Frage. Es war zugleich auch eine deutliche Ansage an           Derartige politische Schritte sind auf dem Westbalkan mit
Brüssel: Eine weitere Verzögerung des Beitrittsprozesses       seiner dominierenden ablehnenden Kompromisskultur,
impliziere negative Folgen auf dem Westbalkan.                 autokratischen Eliten, desillusionierten, emotional auf-
     Bereits zwei Jahre zuvor schaffte seine Regierung         putschbaren Bevölkerungen in traditionellen heroischen
jedoch Fakten, die ein bis dahin existierendes Tabu über-      Gesellschaften und v.a. vorherrschenden stereotypen
schritten. Im März 2015 fand eine pompös inszenierte           Opfernarrativen, eine albanische Brinkmanship.84)
Zusammenkunft der albanischen und kosovarischen                    In einem Folgebeitrag in der ÖMZ Heft 4/2021
Regierung unter dem Slogan „Ein Land - ein Volk - ein          thematisieren die beiden Autoren die Funktion und
Traum“ (albanisch Një tokë - Një popull - Një ëndërr) statt,   Gewichtung des albanischen Kosovo im Kontext der
und es wurden zahlreiche Abkommen zwischen den beiden          großalbanischen Denkfigur - und gehen der Frage nach,
Staaten unterzeichnet. Die seit 2014 beobachtete Zunahme       wer hierfür die intellektuellen Träger und Treiber sind.
derartiger Treffen, oft in Form von medial arrangierten        Sie stellen in einem kurzen zeitgeschichtlichen Abriss die
„joint unions“ abgehalten, weisen nach genauerer Betrach-      groß- bzw. panalbanischen Manifestationen in Südserbien
tung wenig gehaltvolle Substanz auf und sind nicht mehr        und Mazedonien/Nordmazedonien vor und diskutieren
als „nationalistische Show“.77) Und die „Show must go on“.     schließlich die Problematik eines serbisch- kosovarischen
Auf einer Wahlkampfveranstaltung im Juni 2017 äußerte er       Gebietsaustausches.                                     ■
sich dahingehend, dass eine Vereinigung sämtlicher Alba-
ner Albaniens und Kosovos in einem Staat unvermeidbar                                                           (Wird fortgesetzt)
sei.78) Der kosovarische Präsident Hashim Thaçi äußerte
sich dazu zustimmend in die gleiche Richtung und akzen-        ANMERKUNGEN:
tuierte, wenn die EU ihre Vereinbarungen nicht einhielte,
                                                               1) Dem gewaltsamen Zerfall des jugoslawischen Vielvölkerstaats lagen
stehe einem Zusammenschluss Albaniens, Kosovos und             etliche sozioökonomische und innenpolitische Desintegrationsgeschehen
des albanisch dominierten Südserbiens nichts mehr im           zugrunde. Beispielhaft vgl. Dunja Melcic (Hrsg.): Der Jugoslawienkrieg,
Wege.79) Am 18.2.2018, im Rahmen der Feierlichkeiten           Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Wiesbaden
zum zehnten Jahrestag der Unabhängigkeit des Kosovo,           2007; Zeljko Brkic: Ökonomische Ursachen des Zerfalls Jugoslawiens
                                                               und der Transformationsprozess in Kroatien 1990-2000, Diplomarbeit
zündelte Rama erneut kalkuliert, rhetorisch-panalbanisch       Universität Trier 2001, https://www.uni-trier.de/fileadmin/forschung/
mit seinem Plädoyer einer Union zwischen Albanien und          ZES/Schriftenreihe/050.pdf (25.9.2020) sowie Peter Imbusch: Der
Kosovo, die durch eine gemeinsame Außen- und Sicher-           Staatszerfall Jugoslawiens. In: Peter Imbusch/Ralf Zoll, Ralf (Hrsg.)
heitspolitik, ein gemeinsames Bildungssystem und einen         Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung, Wiesbaden 2010,
                                                               S.221-248. Josip Tito wird zugeschrieben, dass er sein kompliziertes und
gemeinsamen Präsidenten, wenn auch nicht in absehbarer         stets spannungsgeladenes Staatsgebilde so beschrieben haben soll: „Ich
Zeit, dann doch in Zukunft realisiert werden könnte.80)        regiere ein Land mit zwei Alphabeten, drei Sprachen, vier Religionen und
     Zügig erfolgte das Echo aus den Nachbarländern.          fünf Nationalitäten, die in sechs Republiken leben, von sieben Nachbarn
Die bosnischen Serben wollten in solch einem Fall die          umgeben sind und mit acht Minderheiten auskommen müssen.“ Offen-
                                                               sichtlich wurde er jedoch falsch zitiert, denn in Jugoslawien existierten
Abspaltung ihrer serbischen Republik (Republika Srpska)        mit Serbisch-orthodox, Katholisch, Muslimisch drei Religionen und mit
aus dem bosnischen Gesamtstaat vorantreiben und sich           Serbokroatisch, Slowenisch, Makedonisch und Albanisch vier Sprachen.
der Mutterrepublik Serbien anschließen, die bosnischen         2) Christoph Hasselbach, https://www.dw.com/de/kommentar-der-
Kroaten wiederum einen Anschluss an Kroatien fordern.          westbalkan-in-der-eu-ist-eine-illusion/a-43840013 (25.9.2020).
                                                               3) Vgl. file:///C:/Users/User/Downloads/Gipfeltreffen_EU_-_west-
Und auch die nordmazedonisch-albanischen Kräfte be-            liche_Balkanstaaten_Thessaloniki_21._Juni_2003.pdf (25.9.2020).
kämen dann bestimmt ebenfalls einen Motivationsschub,          4) Die Umbenennung von Mazedonien in Nordmazedonien wurde am
die Spaltung Nordmazedoniens und die Eingliederung             12.2.2019 wirksam.
mehrheitlich von Albanern bewohnter Landesteile in einen       5) Anne Faber: Die Weiterentwicklung der Europäischen Union, http://
                                                               proyectos.cchs.csic.es/euroconstitution/library/working%20papers/
großalbanischen Staat einzufordern. Der Wettlauf zwi-          Faber%202007.pdf (25.9.2020).
schen der europäischen und der nationalistischen Perspek-      6) Vgl. Vanja Mladineo/Dario Čepo/Valentino Petrović https://
tive hatte sich bereits 2015 im damals noch so benannten       www.friendsofeurope.org/insights/enlargement-fatigue-is-a-symp-
Mazedonien gezeigt. Die bewaffneten Zusammenstöße im           tom-of-weakening-european-values/ (25.9.2020).
                                                               7) Vgl. Spyros Economides: From Fatigue to Resistance: EU En-
Mai zwischen dortigen Sicherheitskräften und radikalen         largement and the Western Balkans, https://www.dahrendorf-forum.
Albanern im Norden des Landes hinterließen 22 Tote.81)         eu/wp-content/uploads/2020/03/From-Fatigue-to-Resistance.pdf
Edi Rama hatte zuvor albanische Politiker in Mazedonien        (25.9.2020).

ÖMZ 3/2021                                                                                                                        291
Lapins/Velija: Suche und Versuchungen um nationale Größe auf dem Westbalkan - Mythen,
Akteure, Implikationen - Teil 1

8) Vgl. Vedran Džihić: Zur Symbiose zwischen Politik und Religion          Kaser, Karl/Robert Pichler: Kosovo Kosova. Mythen, Daten, Fakten.
am Beispiel Bosnien und Herzegowina, https://www.bundesheer.at/             Klagenfurt u.a. 1999, S.101.
pdf_pool/publikationen/rel_exterm_vs_fried_beweg_06_symbio-                 21) Jan Richard: Mythischer Traum für Albaner, Albtraum eines seit
se_rel_politik_bsp_bih_v_dzihic_19.pdf (25.9.2020); derselbe, Neuer         Jahrzenten nur schlafenden Projekts eines „natürlichen Albaniens für
Islamismus und islamische Radikalisierung am Balkan: Aktuelle               die Nachbarn? „Oder ist es bloß ein Bluff von albanischen Mafiosi,
Entwicklungen und Gefahrenpotentiale, https://silo.tips/download/           die für ihre schmutzigen Geschäfte ein politisches Deckmäntelchen
neuer-islamismus-und-islamische-radikalisierung-am-balkan-aktuelle-         brauchen?“ Der (Alb-)Traum von einem Großalbanien, https://www.
entwicklungen (25.9.2020).                                                  wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/153740_Der-Alb-Traum-von-
9) Vgl. Stefan Pavleski: Arbeitslosigkeit in Südosteuropa im Kontext       einem-Grossalbanien.html (25.9.2020).
der EU-Integration, Dissertation FU-Berlin 2016, https://publishup.         22) Vgl. Peter Schubert: Zündstoff im Konfliktfeld des Balkan, Die
uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/40428/file/          albanische Frage, Baden-Baden, 1997, S.15.
pes07.pdf (25.9.2020)                                                       23) Pani Pandeli: Der Rückfall ins Nationale, https://www.dw.com/de/
10) Vgl. Fortschrittsberichte 2019 der EU zu Westbalkan-Beitritts-         der-r%C3%BCckfall-ins-nationale/a-15620230 (25.9.2020).
kandidaten mit hier einzelnen Länderberichten, https://ec.europa.eu/        24) Theresa Ulrich: Neue Ansätze der Sicherheitsstudien. In: Theresa
germany/news/20190529-eu-kommission-beitrittsverhandlungen-                 Ulrich, Thomas /Pankratz (Hrsg.): Neue Ansätze der Sicherheitsstudien.
nordmazedonien-und-albanien_de (25.9.2020).                                 Eine Einführung. Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie
11) Friedrich-Ebert-Stiftung, Jugendstudie Südosteuropa 2018/2019,         Wien, 8/2017. S.42.
http://library.fes.de/pdf-files/id-moe/15277-20190408.pdf (25.9.2020).      25) Karl Marx: Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie:
12) Vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Beschäftigung    Eine Einleitung. In: MEW, Institut für Marxismus-Leninismus beim
und Migration in der Region Westbalkan, https://www.berlin-institut.org/    ZK der SED, Berlin 1981. S.385.
fileadmin/Redaktion/Publikationen/PDF/BI_BeschaeftigungUndMigra-            26) Vgl. Nassim Nicholas Taleb: Der Schwarze Schwan. Die Macht
tionInDerRegionWestbalkan_2017.pdf (25.9.2020).                             höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, München 2008.
13) Vgl. Reinhold Lopatka: Auf dem Weg in die EU? Der West-                27) Vgl. Henry A. Kissinger: Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen
balkan vor großen Herausforderungen, https://www.aies.at/down-              der Außenpolitik. Berlin 1994, S.162.
load/2018/AIES-Studien_2018-08.pdf S.18-24 (25.9.2020). Der                 28) Vgl. Hugo Roth: Non-Albanian Elements within the Fabric of the
Einfluss externer Akteure auf dem Westbalkan, https://www.kas.              Albanian People. In: Derselbe, Kosovo Origins, Belgrad 1996, Kapitel 4.
de/c/document_library/get_file?uuid=8fd66199-2cdf-8843-1782-                29) Vgl. William Norton Medlicott: Bismarck, Gladstone and the Concert
cf46aca32a80&groupId=252038 (25.9.2015). Predrag Ćetković, Der              of Europe. London, Cambridge University Press 1956, S.75.
Einfluss Chinas auf dem Westbalkan - und wie er finanziert wird…,           30) Wulf Lapins: Der serbisch-kosovarische Konflikt, Wandel durch
http://www.beigewum.at/wp-content/uploads/KuWe-4_18-Cetkovic.               Annäherung? In: ÖMZ 06/2014. Wien, S.5.
pdf (25.9.2020). Wolfgang Petrisch: Geopolitik am Balkan, https://          31) Vgl. Peter Schubert, a.a.O., S.21. Kritisch zur albanischen Sichtweise,
static1.squarespace.com/static/55c3e7fbe4b03ca91f249a27/t/5bc361            vgl. Noel Malcolm: Kosovo - A short History, Oxford 2002, S.2017-227.
559140b74027b3e495/1539531093947/ (25.9.2020). Hakan Akbulut/               Peter Schubert, a.a.O., S.21.
Vedran Dzihic/Cengiz Günay: Verliert der Westen an Einfluss? Ver-           32) Das heutige albanische Alphabet wurde 1908 auf dem Kongress von
schiebungen der Mächteverhältnisse auf dem Westbalkan, in der Türkei        Manastir (Nord-Mazedonien) angenommen.
und der MENA Region. https://www.oiip.ac.at/cms/media/arbeitspapier-        33) Vgl. Oliver Jens Schmitt: Kosovo. Kurze Geschichte einer zentral-
100-verliert-der-westen-an-einfluss.pdf (25.9.2020). Matthias Bieri:        balkanischen Landschaft. Wien/Köln/Weimar 2008, S.179/180.
Der Westbalkan zwischen Russland und der EU, https://css.ethz.ch/           34) Vgl. Wolf Oschlies, a.a.O., S.14.
content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/   35) Jens Reuter: Der Traum vom Grossalbanien, https://folio.nzz.
pdfs/Bieri-StudieWestbalkan2017.pdf (25.9.2020). Henrik Larsen:             ch/1999/juni/der-traum-vom-grossalbanien (25.9.2020).
Der Westbalkan zwischen EU NATO, Russland und China, https://css.           36) Vgl. Michael Schmidt-Neke: Entstehung und Ausbau der Königsdik-
ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-   tatur in Albanien (1912-1939). Regierungsbildungen, Herrschaftsweise
studies/pdfs/CSSAnalyse263-DE.pdf (25.9.2020).                              und Machteliten in einem jungen Balkanstaat. München 1987, S.24.
14) Vgl. Gudrun Steinacker, https://www.dw.com/de/mein-europa-             37) Vgl. Robert Raymond Kritt: Die Londoner Botschafter-Konferenz
den-korrupten-eliten-des-westbalkans-die-stirn-bieten/a-54303982            1912-1913. Dissertation, Wien 1961.
(25.9.2020); Marion Kraske: Westbalkan: Chancen nutzen, Einfluss            38) Vgl. Giovanni Zamboni: Mussolinis Expansionspolitik auf dem Bal-
ausbauen, Gefahren abwehren, https://www.boell.de/de/2019/10/09/            kan. Italiens Albanienpolitik vom I. bis zum II. Tirana-Pakt im Rahmen
westbalkan-chancen-nutzen-einfluss-ausbauen-gefahren-ab-                    des italienisch-jugoslawischen Interessenkonflikts und der italienischen
wehren?dimension1=division_osoe (25.9. 2020).                               „imperialen“ Bestrebungen in Südosteuropa, Hamburg 1970.
15) Vgl. Vedran Džihić: Der Westbalkan im Fokus - Zentrale Problem-        39) Vgl. C. Peter Chen, https://ww2db.com/battle_spec.php?battle_
felder und Herausforderungen im Vergleich, https://www.oiip.ac.at/cms/      id=160 (25.9.2020). In welchem Maße der Anschluss Österreichs
media/ap-79-westbalkan.pdf (25.9.2020).                                     und die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei in der Perzeption
16) Vgl. Thorsten Geißler: Rechtsstaatliche Probleme bei der EU-Erwei-     von Mussolini Italien nun als schwächerer geopolitischer Akteur im
terung, https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=120e7e0f-       sogenannten bilateralen „Stahlpakt“ spielte und er diese Dysbalance
7403-f908-e412-7ab619dc5876&groupId=280457 (25.9.2020).                     durch die Intervention Albaniens auszugleichen versuchte, ist noch ein
17) Vgl. file:///C:/Users/User/Downloads/Kooperations-_und_Kon-            Forschungsdesiderat.
trollverfahren_Fortschrittsberichte_zu_Bulgarien_und_Rum_nien%20            40) Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945 (ADAP). Ser.
(2).pdf (25.9.2020).                                                        D. Bd. 6. Baden-Baden 1956, Dok. Nr. 172 u. 205.
18) Die causae Groß - Bulgarien, - Griechenland, - Kroatien, -Mon-         41) Christoph Stamm: Zur deutschen Besetzung Albaniens 1943-
tenegro, - Rumänien, - Serbien, - Ungarn werden von Wolf Oschlies           1944, file:///C:/Users/User/Downloads/[21966850%20-%20
thematisiert. In: Derselbe, „Groß“-Staaten auf dem Balkan, SWP- Studie      Milit%C3%A4rgeschichtliche%20Zeitschrift]%20Zur%20deut-
S.30, Berlin, September 2002.                                               schen%20Besetzung%20Albaniens%201943%E2%80%941944.pdf
19) Paul Lendvai: Zwischen Hoffnung und Ernüchterung-Reflexionen           S.100. (25.9.2020).
über den Wandel in Osteuropa, Wien 1994, S.116.                             42) S.176. „Formell war das Gebiet italienische Besatzungszone,
20) Schon während der Gründungsphase des neuen Königreichs der             real aber handelte es sich um ein Groß-Albanien, in dem Albaner wie
Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat) bzw. des ersten jugosla-           in einem souveränen Staat walteten, einschließlich des Rechts zum
wischen Staates am 1. Dezember 1918 bestand erhebliche Uneinigkeit          Waffentragen, eigener Polizei und Freiwilligen-Armee sowie der kaum
hinsichtlich des Aufbaus und der Ausgestaltung des neuen Staates. Die       begrenzten Möglichkeit, Serben und Montenegriner zu vertreiben.“
Verabschiedung einer zentralistischen Verfassung am 28. Juni 1921           Wolf Oschlies, a.a.O. S.13.
führte - nachdem die Kroatische Bauernpartei die Abstimmung boykot-         43) Nach dem Ende der Enver Hodscha-Diktatur konstituierte sich in
tierte und die Kommunisten von der Verfassunggebenden Versammlung           Albanien die nationalistische Splitterpartei Partia Balli Kombëtar in enger
ausgeschlossen und damit sämtliche föderalen Kräfte beseitigt waren         ideenpolitischer Tradition der damaligen Balli Kombëtar.
- zu einer dominanten Machtposition Serbiens innerhalb des Gesamt-          44) Christoph Stamm, a.a.O. S.103.
staates und förderte mit repressiven Methoden eine kontraproduktive         45) Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945 /ADAP, E,
und ineffiziente Funktionsweise des Staates. Vgl. Wolfgang Petritsch/       Bd. 7, Nr. 193.

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