Analyse und Empfehlungen von Caritas Europa zum neuen Migrations- und Asyl-Paket der EU - Meine Caritas
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Dezember 2020 Positionspapier Analyse und Empfehlungen von Caritas Europa zum neuen Migrations- und Asyl-Paket der EU Einleitung Am 23. September hat die Europäische Kommission (EK) ein neues Migrations- und Asyl-Paket1 vorgestellt, das aus wichtigen legislativen und nichtlegislativen Vorschlägen besteht. Die Legislativvorschläge werden als nächstes im Europäischen Parlament (EP) und in den Mitgliedstaaten der EU (MS) verhandelt. Das geltende Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS), das sowohl ungerecht als auch dysfunktional ist, bedarf dringend der Verbesserung. Die unterschiedliche Anwendung der EU-Asylvorschriften in den einzelnen MS führt zu unterschiedlichen Aussichten auf Schutz und zu unterschiedlichen Aufnahmestandards für Asylsuchende. Die Überarbeitung des Dublin-Systems, welches den MS mit EU-Außengrenzen bei der Bearbeitung von Asylanträgen eine überproportionale Verantwortung überträgt, ist dringend notwendig. Mit dem Paket sollen die Fehler der Vergangenheit korrigiert und die EU-Asylvorschriften reformiert werden, indem ein Kompromiss geschlossen wird, der den großen Unterschieden zwischen den Positionen der einzelnen MS zum Solidarausgleich Rechnung trägt. Caritas Europa war in die Konsultationen der Europäischen Kommission zur Vorbereitung des Pakets involviert und hat die jüngsten Entwicklungen sehr genau verfolgt. Die Reformvorschläge werden große Auswirkungen auf die Arbeitsbereiche unserer Mitglieder haben, die seit Jahren mit verschiedenen Aspekten von Migrationswegen beschäftigt sind: Von der Nothilfe und Asylaufnahme über langfristige Integration von Migrant_innen bis zu freiwilliger Rückkehr und Reintegrationsberatung . Die Erfahrung unserer Mitglieder im Laufe der letzten Jahre hat gezeigt, dass das System dringend mehr Verantwortungsteilung und Solidarität sowie eine humanere Politik braucht, die sowohl rechtstheoretisch als auch praktisch die Menschenwürde und Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt. Die Analyse verschiedener Aspekte des Pakets basiert auf den potenziellen Folgen der Vorschläge für das Leben von Migrant_innen und Geflüchteten. Sie baut auf unserer ersten Reaktion auf das Paket2 und unserer gemeinsamen Stellungnahme mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen auf3. Caritas Europa hat das Paket auch aus dem Blickwinkel der katholischen Soziallehre und der kürzlich veröffentlichten Enzyklika Fratelli Tutti analysiert, in der das Fehlen der Menschenwürde an den Grenzen beklagt und zu einer geschwisterlicheren, ausgeglicheneren und humaneren Behandlung von Migrant_innen auf Grundlage der vier Worte willkommen heißen, schützen, fördern und integrieren aufgerufen wird.4 Insgesamt erkennen wir an, dass es Bemühungen gibt, eine positivere Sicht auf Migration zu fördern, die Rechte von Kindern und Familien zu stärken und dem Schutz der Grundrechte an den Grenzen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Nichtsdestotrotz bedauern wir, dass Ansätze aus der Vergangenheit weitergeführt werden, die der 1 https://ec.europa.eu/info/publications/migration-and-asylum-package-new-pact-migration-and-asylum-documents-adopted-23- september-2020_en 2 https://www.caritas.eu/on-the-new-eu-pact-on-migration-and-asylum/ 3 https://www.caritas.eu/eu-pact-risky-elements-and-positive-aspects/ 4 §22, 129-132, http://www.vatican.va/content/francesco/en/encyclicals/documents/papa-francesco_20201003_enciclica-fratelli- tutti.html 1
Rückführung und Migrationsprävention durch verstärkte Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern Vorrang vor Maßnahmen zur Erleichterung der Mobilität geben. Wir haben Sorge, dass Vorschläge zur Ausweitung beschleunigter Grenzverfahren in der Praxis zum Nachteil von Migrant_innen und Geflüchteten gereichen könnten, so wie unsere Mitglieder es bei dem in Italien und auf den griechischen Inseln umgesetzten Hotspot-Ansatz beobachtet haben. Wir befürchten außerdem, dass die Komplexität des vorgeschlagenen Solidaritätsmechanismus und das Konzept der „Rückführungspatenschaft“ nicht zu einer verlässlichen Solidarität und gemeinsamen Verantwortungsübernahme der Mitgliedstaaten vor Ort führt, sondern zu Lasten der Menschenrechte und Menschenwürde gehen wird. Die im Positionspapier beschriebenen Empfehlungen an die Abgeordneten des EP und die Mitglieder des Rats sollen das Paket funktionaler und sowohl für Migrant_innen als auch für MS gerechter machen. Die Errichtung weiterer Lager wie dem Lager Moria5 und das Leid an den EU-Außengrenzen soll so vermieden werden. 1. Screeningverfahren an der Grenze Die EK hat eine neue Verordnung6 vorgeschlagen, die ein Screening für alle Staatsangehörigen von Drittstaaten, die ohne Papiere an den Außengrenzen ankommen, vorsieht. Dies soll auch für Menschen gelten, die auf dem Seeweg angekommen sind. Das Screening soll helfen, den Zugang zum Schengenraum stärker zu kontrollieren und die Menschen dem zuständigen Verfahren zuzuführen (d.h. Rückführungsverfahren oder Asylverfahren). Wenn das Screening an der Grenze stattfindet, soll es innerhalb von fünf Tagen stattfinden (im Hoheitsgebiet eines MS, wie etwa am Flughafen, innerhalb von drei Tagen). Eine Verlängerung um weitere fünf Tage ist in Ausnahmefällen möglich. Der Vorschlag legt allerdings nicht fest, wo die Menschen während des Screenings7 unterkommen; der Zugang zum EU-Hoheitsgebiet ist in jener Phase nicht erlaubt. Gemäß dem Vorschlag soll das Screening die folgenden Elemente umfassen: Untersuchung von Gesundheit und besonderer Schutzbedürftigkeit, Identifizierung, Sicherheitsüberprüfung und Speicherung biometrische Daten in der entsprechenden Datenbank. Diese Informationen werden in ein Auswertungsformular8 aufgenommen, in dem sensible Daten einschließlich erster Anzeichen zur Staatsangehörigkeit enthalten sind. Auf dieser Grundlage werden die Menschen dann den einzelnen Verfahren zugewiesen. Dies ist kritisch zu betrachten, weil das Screening und die Verwendung biometrischer Daten sich auf die Modalitäten und die Geschwindigkeit des Asylverfahrens der jeweiligen Person auswirken. Eine Hauptsorge besteht darin, dass das Ergebnis eines Screenings auf Grundlage eines Verfahrens, das man als beliebigesVerfahren bezeichnen könnte (Angabe zur Staatsangehörigkeit9 in dem Auswertungsformular , Art. 14 Abs. 2: „das Screening weist auf alle Elemente hin, die auf den ersten Blick für die Überführung des betreffenden Drittstaatsangehörigen in das beschleunigte Prüfungsverfahren oder das Grenzverfahren relevant erscheinen“), Asylbewerber dem beschleunigten Grenzverfahren zuführen kann, ohne dass ihnen Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Eine weitere Sorge besteht darin, dass keine mündliche oder unabhängige Information und Beratung vorgesehen ist, da „Die Informationen [ ] schriftlich und – in Ausnahmefällen und bei Bedarf – mündlich unter Inanspruchnahme von Dolmetschleistungen erteilt“ werden (Artikel 8 Absatz 3). 5 https://www.caritas.eu/moria-fires-caritas-calls-for-the-safety-of-migrants/ 6 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?qid=1601291190831&uri=COM:2020:612:FIN 7 Art. 6.1. “Orte, die sich an den oder in der Nähe der Außengrenzen befinden”. 8 Siehe Artikel 13 und Vorlage in den Anhängen. 9Die Verordnung verwendet die Benennung Identifizierung der Staatsangehörigkeit, da die sichere Bestätigung der Staatsangehörigkeit von Menschen an der Grenze für die Mitarbeitenden vor Ort ein bekanntes Problem darstellt. 2
Außerdem soll eine Gesundheitskontrolle zeigen, ob eine sofortige Versorgung notwendig ist, es sein denn, die „zuständigen Behörden [sind] der Auffassung, dass keine medizinische Erstuntersuchung erforderlich ist“. Der Vorschlag beinhaltet auch, dass gegebenenfalls überprüft werden soll, ob es sich um eine besonders schutzbedürftige Person, ein Opfer von Folter oder eine Person mit besonderen Aufnahme- oder Verfahrensbedürfnissen handelt. In diesen Fällen soll angemessene Unterstützung, auch für Minderjährige, geboten werden (Artikel 9). Die Tatsache, dass diese Formulierung nahelegt, dass besondere Schutzbedürftigkeit und Gesundheit nicht systematisch überprüft werden, sondern entsprechende Kontrollen Ermessenssache sind, ist besorgniserregend. Ein willkommenes Element ist, dass die MS einen unabhängigen Mechanismus zur Überwachung der Einhaltung der Grundrechte im Zusammenhang mit dem Screening einrichten müssen (Artikel 7). Überwacht werden unter anderem die Einhaltung nationaler Vorschriften über die Inhaftnahme (Gründe und Dauer)10, die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung und der Zugang zum Asylverfahren. Einschlägige nationale, internationale und nichtstaatliche Organisationen (Nichtregierungsorganisationen, NRO) und Stellen können zur Teilnahme an der Überwachung eingeladen werden. Die MS sollten die Ergebnisse ihres nationalen Überwachungsmechanismus in ihre in der vorgeschlagenen Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement (siehe nachstehend) genannten nationalen Strategien integrieren. Weit verbreitete und hinlänglich dokumentierte Vorwürfe des Push-Backs und der Gewalt an den Grenzen bestimmter MS, in manchen Fällen unter Mitwissen der staatlichen Behörden, zeigen deutlich, wie notwendig ein wirklich unabhängiger Überwachungsmechanismus ist, der Missbrauch identifiziert und mehr Rechenschaftspflicht und Sanktionen mit sich bringt. Empfehlungen von Caritas Europa: • Wir empfehlen entsprechende Änderungen, um sicherzustellen, dass das Ergebnis des Auswertungsformulars nicht beliebig nach Ermessen herbeigeführt werden kann, und dass Bewerber_innen Zugang zu Rechtshilfe und Rechtsmitteln haben, wenn sie das Ergebnis des Auswertungsformular anfechten wollen. • Wir empfehlen dringend eine unabhängige mündliche Beratung für Migrant_innen und Asylsuchende zum frühestmöglichen Zeitpunkt, denn der erste Kontakt mit Europäischen Behörden findet im Rahmen des Screeningverfahrens statt und hat Auswirkungen auf das anschließende Asylverfahren. • Wir fordern, dass die am Screeningverfahren beteiligten Behörden angemessen geschult und ausgebildet werden, entsprechende Informationen von Asylsuchenden einzuholen, da die während des Screeningverfahrens eingeholten Informationen für das Asylverfahren relevant sind. • Wir empfehlen die Stärkung des Artikels 9 um sicherzustellen, dass alle besonderen Schutzbedürftigkeiten und Erkrankungen, auch wenn sie nicht direkt sichtbar sind, systematisch untersucht und diagnostiziert werden. Dabei sind die kulturellen und medizinischen Eigenheiten zu beachten und es ist eine angemessene Versorgung durch eine qualifizierte medizinische oder psychologische Fachkraft anzubieten. • Wir fordern Änderungen, um die systematische Inhaftnahme während der Screeningphase zu verhindern und sicherzustellen, dass die UNHCR-Haftbestimmungen angewendet werden11. 10 Die Tatsache, dass der Überwachungsmechanismus die Haftbedingungen überwachen soll, weist auf die Gefahr hin, dass Inhaftnahme während der Screeningphase ein weit verbreitetes Mittel darstellen könnte. 11 https://www.refworld.org/pdfid/503489533b8.pdf 3
• Wir fordern die Überarbeitung von Artikel 7, um das Mandat des Überwachungsmechanismus über die Screening-Phase hinaus auszuweiten und die Beteiligung der EU-Behörden und externen Akteure zu verbessern und damit eine echte Unabhängigkeit, wirksame Rechenschaftslegung und einen Sanktionsmechanismus sicherzustellen12. 2. Asyl- und Rückführungsverfahren an der Grenze Die EK hat einen geänderten Vorschlag für eine Verordnung zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes13 gemacht, der auf früheren Verhandlungen mit dem EP und dem Rat aufbaut. Der Vorschlag führt Vorschriften zu Asyl- und Rückführungsverfahren an der Grenze ein, um die Verfahren zu beschleunigen, die Verbindung zwischen Asyl und Rückführung zu verstärken sowie die Rückkehrquote zu erhöhen und Sekundärmigration in EU-Länder zu reduzieren, indem die Antragsteller_innen an der Grenze festgehalten werden. Wie oben beschrieben wird eine Person – auf Grundlage des Ergebnisses des Auswertungsformulars, das im Rahmen des Screeningverfahrens erstellt wurde, dem entsprechenden Verfahren zugeführt: entweder zum Rückführungsverfahren, wenn kein Schutzantrag gestellt wurde – oder zum „normalen“ Asylverfahren oder dem Grenz-Asylverfahren, je nachdem wie wahrscheinlich es ist, dass Schutz gewährt wird. Wenn ein Grenzverfahren angewendet wird, werden Entscheidungen über die Unzulässigkeit des Antrags (z. B. Konzept des ersten Asylstaats, des sicheren Drittstaats) oder über die Begründetheit eines Antrags (z. B. sicherer Herkunftsstaat, unbegründeter Antrag) im Rahmen eines beschleunigten Prüfungsverfahrens getroffen. Die MS müssen Grenzverfahren über die Begründetheit eines Antrags anwenden, wenn eine Person aus einem Land kommt, in dem die Schutzquote gemäß Eurostat unter 20 % liegt14, wenn der Anspruch eindeutig als missbräuchlich eingestuft wird (z. B. der/die Antragsteller_in gegenüber den Behörden falsche Angaben gemacht hat) oder wenn der/die Antragsteller_in eine Bedrohung der Sicherheit darstellt. In anderen Fällen steht es den MS frei, Grenzverfahren anzuwenden, sie müssen dies aber nicht (z. B. gemäß den Konzepten des sicheren Drittstaats und des sicheren Herkunftsstaats15). Ein MS kann sich auch entscheiden, das Grenzverfahren nicht anzuwenden, wenn der Herkunftsstaat der Person bei der Rückübernahme nicht kooperiert. Rechtbehelfe nach nationalem Recht sind vorgesehen (einstufiges Beschwerdeverfahren), allerdings mit gekürztem Zeitrahmen (z. B. zwischen einer Woche und zwei Monaten je nach Fall) und mit einigen Einschränkungen (z. B. Beschränkung der aufschiebenden Wirkung einer Klage je nach Fall). Das Asylverfahren an der Grenze soll einschließlich eventueller Klageerhebungen höchstens zwölf Wochen (ab dem Zeitpunkt der Registrierung des Antrags) dauern. Während dieser Zeit dürfen die Antragsteller_innen in das Hoheitsgebiet des MS nicht einreisen (Fiktion der Nichteinreise); deshalb ist Inhaftnahme eine der Hauptsorgen. Auch wenn der Vorschlag die Inhaftnahme nicht ausdrücklich vorschreibt, besagt er doch, dass die „Personen an der Außengrenze oder in der Nähe der Außengrenze oder in Transitzonen“ (Artikel 41a Absatz 2) untergebracht werden sollen, und betont, dass MS auf das Mittel der Inhaftnahme zurückgreifen dürfen, um die Einreise in das Hoheitsgebiet (Erwägungsgrund 40f) entsprechend anderer Gesetzgebung (z. B. Aufnahmebedingungen) zu verhindern. Um die Verbindung zwischen Asyl und Rückführung zu verstärken und ein Untertauchen zu verhindern, wird zeitgleich mit der Ablehnung eines 12 Siehe auch folgende Empfehlungen von NROs: https://www.ecre.org/turning-rhetoric-into-reality-new-monitoring-mechanism-at- european-borders-should-ensure-fundamental-rights-and-accountability/ 13 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?qid=1601291268538&uri=COM:2020:611:FIN 14 Es sollte auch erwähnt werden, dass angesichts der großen Diskrepanzen zwischen den Schutzquoten der einzelnen MS die Aufnahmequote in einem Land sehr niedrig sein kann, in einem anderen Land dagegen sehr hoch. 15 Siehe Artikel 41 des Vorschlags, zu lesen gemäß dem Vorschlag zur Asylverfahrensverordnung von 2016 in Verhandlung, https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2016/EN/1-2016-467-EN-F1-1.PDF 4
Asylantrags eine Rückkehrentscheidung herausgegeben (Artikel 35 Buchstabe a). Das anschließende Rückführungsverfahren dauert ebenfalls höchstens zwölf Wochen, einschließlich der 15 Tage für die freiwillige Rückführung. Der Vorschlag (Artikel 41a, 6-7) präzisiert, dass Inhaftnahme eingesetzt werden kann, um ein Untertauchen zu verhindern und die Rückführung zu organisieren, und entspricht damit der Neufassung der Rückführungsrichtlinie16. Die Dauer der Inhaftierung würde dann zur vorherigen Wartezeit während des Asylverfahrens an der Grenze hinzugezählt. In Krisensituation oder bei höherer Gewalt (siehe nachstehend) wäre ein zusätzlicher Zeitrahmen von acht Wochen pro Asylverfahren und Rückführungsverfahren möglich. In folgenden Fällen gelten Ausnahmen und Garantien: Unbegleitete Minderjährige und Familien mit Kindern unter zwölf Jahren sind vom Grenzverfahren ausgeschlossen, sofern sie nicht als Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung gelten (Artikel 41 Absatz 5, Artikel 40 Absatz 5 Buchstabe b). Zusätzlich muss der MS die Anwendung von Grenzverfahren in manchen Fällen unterlassen (Artikel 41 Absatz 9) (z. B. wenn für Antragsteller_innen mit besonderen Verfahrensbedürfnissen nicht die erforderliche Unterstützung bereitgestellt werden kann, wenn medizinische Gründe vorliegen oder wenn die Garantien und Bedingungen für die Inhaftnahme nicht länger erfüllt werden). „Gehört der Antragsteller einer bestimmten Personengruppe an, für die die niedrige Anerkennungsquote aufgrund eines besonderen Verfolgungsgrunds nicht als repräsentativ für ihren Schutzbedarf angesehen werden kann“, ist eine Ausnahme von der Verpflichtung zur Durchführung eines beschleunigten Grenzverfahrens für Antragstellende aus Ländern, in denen die Schutzquote unter 20 % liegt, vorgesehen. Mehrere Elemente dieses Vorschlags bergen das Risiko, den Hotspot-Ansatz zu replizieren, der entlang der italienischen und der griechischen Grenze umgesetzt wurde, und dessen Mängel die Caritas- Organisationen vor Ort selbst beobachtet haben. Dazu gehören unter anderem: Überforderung bei Personal und Behörden aufgrund mangelnder Kapazitäten und Personalabdeckung, unangemessene und überfüllte Einrichtungen, auch für besonders schutzbedürftige Gruppen, verbreitete Inhaftnahme, Übersehen von besonderen Schutzbedürftigkeiten und mangelnde medizinische Versorgung, mangelnde Respektierung der Rechte Minderjähriger usw. Außerdem können beschleunigte Verfahren dazu führen, dass unter Zeitdruck Fehler unterlaufen und Schutzansprüche übersehen werden, und dass Antragsteller_innen in der Praxis angemessener Zugang zu Rechtsbeistand oder zure Möglichkeit, das Recht auf Beschwerde auszuüben, häufig fehlt 17. Caritas Europa ist deshalb besorgt, dass dieser Vorschlag die MS mit EU-Außengrenzen stärker belastet, den Zugang zu gerechten und effizienten Asylverfahren unterminiert und zur Zunahme von Inhaftnahmen und inhumanen Aufnahmebedingungen führt, da Migrant_innen im Grenzbereich festgehalten werden. 16Die Neufassung der Rückführungsrichtlinie sieht eine Höchstdauer der Inhaftnahme von sechs Monaten vor, wobei unter bestimmten Umständen eine Verlängerung um bis zu zwölf Monate möglich ist. 17 Für eine detaillierte Analyse der Durchführung von Grenzverfahren in Europa und deren negativen Auswirkungen siehe auch die Evaluierung der europäischen Umsetzung von Asylverfahren an den Grenzen durch den Wissenschaftlichen Dienst der Europäischen Union: https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2020/654201/EPRS_STU(2020)654201_EN.pdf) sowie den EASO-Bericht zu Grenzverfahren (https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/publications/Border-procedures-asylum- applications-2020.pdf. 5
Empfehlungen von Caritas Europa: • Wir rufen dazu auf, den Einsatz der Grenzverfahren nicht verpflichtend zu machen und die Verwendung der umstrittenen Konzepte des sicheren Drittstaats und sicheren Herkunftsstaats zu begrenzen. Der Vorschlag sollte außerdem die Schutz- und Verfahrensstandards im Grenzverfahren gemäß dem Asylverfahrensvorschlag18 von 2016 nicht senken, sondern Garantien verstärken. Das Kriterium der 20 % Anerkennungsrate, das auf Grundlage der Staatsangehörigkeit diskriminiert, sollte gestrichen werden. • Um die Verfahren zu beschleunigen, könnte wie vom UNHCR vorgeschlagen eine beschleunigte und vereinfachte Fallbearbeitung für Asylanträge, die offensichtlich gut begründet sind, erfolgen19. • Die im Vorschlag enthaltenen Garantien sollten ausgeweitet werden; Artikel 41 Absatz 5 sollte geändert werden, um sicherzustellen, dass Familien mit Kindern unter 18 Jahren (statt 12 Jahren) vom Grenzverfahren ausgeschlossen sind, um der internationalen Begriffsbestimmung eines Kindes zu entsprechen20. • Der Vorschlag sollte geändert werden, um MS davon abzuhalten, Inhaftnahme als Standardoption einzusetzen, und um Alternativen zur Inhaftnahme sowie die Anwendung der UNHCR- Haftbestimmungen zu fördern21. • Wir schlagen vor, dass die Übernahme direkt im Anschluss an das Screeningverfahren stattfindet. Wenn die gesetzgebenden Körperschaften damit nicht einverstanden sind, empfehlen wir, dass Antragsteller_innen, deren Asylanträge im vom Grenzverfahren vorgesehenen Zeitraum noch nicht bearbeitet wurden, von einem anderen MS übernommen werden. 3. Gemeinsame Verantwortungsteilung und Solidarität Die meisten erwarteten Legislativvorschläge beziehen sich auf die Regeln zur gemeinsamen Verantwortung und Solidarität zwischen den MS. Der Vorschlag der EK zu einer Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement22 besteht aus drei Hauptteilen: 1) Bestimmungen zu einem gemeinsamen Rahmen für das Asyl- und Migrationsmanagement; 2) Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen MS: und 3) Solidaritätsmechanismus. Wir konzentrieren uns hier auf einige Elemente der letzten beiden Teile. Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen MS Die dysfunktionale Dublin-Verordnung, die eine überproportionale Verantwortung für die Bearbeitung der Asylanträge an die Ersteinreisetaaten an den Außengrenzen der EU überträgt, verschwindet im Vorschlag offiziell. Das System dahinter bleibt jedoch bestehen, wenn auch mit vereinfachten Verwaltungsverfahren23. Die Zuweisung der staatlichen Verantwortung für die Bearbeitung eines Asylantrags beruht weiterhin auf einer Hierarchie von Kriterien, darunter das umstrittene Ersteinreisekriterium. Dies ist besorgniserregend, denn es wird die Probleme des Dublin-Systems nicht in nennenswertem Umfang lösen24. 18 Artikel 45 (Konzept des sicheren Drittstaats) und Artikel 47 (Konzept des sicheren Herkunftsstaats) https://www.caritas.eu/wordpress/wp-content/uploads/2016/06/160601-PP-Safe-countries-of-origin.pdf 19 https://www.refworld.org/docid/5b589eef4.html 20 Artikel 1 der UN-Kinderrechtskonvention, https://www.ohchr.org/en/professionalinterest/pages/crc.aspx 21 https://www.refworld.org/pdfid/503489533b8.pdf 22 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?qid=1601291110635&uri=COM:2020:610:FIN 23 Bestimmungen zu abhängigen Personen und Ermessensklauseln (Artikel 24–25) bleiben fast unverändert. 24 Die Verantwortung erlischt, wenn der Antrag später als drei Jahre (statt der bisherigen zwölf Monate) nach dem Datum des Grenzübergangs eingereicht wird, womit die Verantwortung noch häufiger auf das Ersteinreiseland fällt. 6
Dennoch hat die EK mit einigen begrüßenswerten Änderungsvorschlägen versucht, die Verbindung zwischen Asylbewerber_in und dem jeweils für den Antrag zuständigen Staat zu stärken. Beispielsweise wurden die Kriterien und Verfahren zur Familieneinheit verbessert und vereinfacht (z. B. wird der Begriff der Familie auf Geschwister und während der Reise gebildete Familien ausgeweitet), und das Kindeswohl wird gestärkt. Rechtsmittel werden jedoch im Vorschlag eingeschränkt: Artikel 33 begrenzt diese in Bezug auf die Anwendung der Ermessensklausel, was in der Praxis große Auswirkungen auf die Familieneinheit haben kann. Auch die Fristen für Anträge auf Familiennachzug werden verkürzt. Ein neues und begrüßenswertes Kriterium zur Bestimmung der Zuständigkeit ist der Besitz eines Prüfungszeugnisses oder sonstigen Befähigungsnachweises aus einem EU-MS (Artikel 20). Für ein funktionierendes europäisches Asylsystem und zur Reduzierung von Sekundärmigration ist es äußerst wichtig, für Menschen, deren Antrag auf internationalen Schutz anerkannt wurde, Mobilität zwischen den MS zu ermöglichen25. Ein positiver Anreiz für Asylbewerber_innen, in dem MS zu bleiben, der für ihren Asylantrag zuständig ist, wäre die Einführung von Freizügigkeit innerhalb der EU für Menschen mit Anspruch auf internationalen Schutz, wenn sie ein Stellenangebot haben. Auch wenn wir den Vorschlag zur Änderung der Richtlinie über den langfristigen Aufenthalt begrüßen, der es Menschen mit Anspruch auf internationalen Schutz ermöglichen soll, nach drei – statt wie bisher nach fünf Jahren – eine langfristige Aufenthaltserlaubnis zu erhalten (die Freizügigkeit innerhalb der EU ermöglicht), fürchten wir, dass dies keinen ausreichenden Anreiz für eine Bekämpfung der Sekundärmigration darstellt26. Wir bedauern auch, dass ein bestrafender Ansatz zur Prävention der Sekundärmigration bestehen bleibt, da Antragsteller_innen, die sich nicht im zuständigen MS aufhalten, kein Recht auf entsprechende Aufnahmebedingungen haben, wenn sie sich in einem anderen EU-MS aufhalten (Artikel 10). Empfehlungen von Caritas Europa: • Die Kriterien, die die Familieneinheit ermöglichen und die Verbindung zwischen Asylbewerber_in und dem für den Asylantrag zuständigen Land stärken könnten, sollten vom MS weiter gestärkt und richtig umgesetzt werden, was gegenwärtig nicht der Fall ist (z. B. Kriterien der Familienzugehörigkeit werden oft nicht beachtet). Das Kriterium der Familieneinheit muss mit funktionierenden Rechtsbehelfen einhergehen, um die praktische Umsetzung des Prinzips der Familieneinheit zu stärken. Dazu sollten im Zusammenhang mit der Anwendung der Ermessensklausel in Artikel 33, Absatz 1 Buchstabe b Rechtsbehelfe aufgenommen werden, da sich dies in der Praxis auf die Familieneinheit auswirken kann. • Um die EU-Grenzstaaten zu entlasten, sollte das Ersteinreisekriterium nur im Screeningverfahren angewendet werden, jedoch nicht bei der Bearbeitung des Asylantrags. • Statt eines Ansatzes der Bestrafung von Sekundärmigration sollten positive Anreize geschaffen werden, um sicherzustellen, dass Bewerber_innen im jeweiligen MS bleiben. Menschen, deren Antrag auf internationalen Schutz anerkannt wurde, sollten eine begrenzte Freizügigkeit innerhalb des Schengenraums haben, wenn sie nachweisen können, dass sie in einem anderen MS eine feste Arbeitsstelle haben. Artikel 10, der entsprechende Aufnahmebedingungen aussetzt, wenn eine Person sich nicht im zuständigen MS aufhält, sollte gestrichen werden. Es ist wichtig, dass neue Regelungen eingeführt werden, welche bei der Bestimmung des zuständigen MS entsprechend dem Bericht des EP zum Dublin-Vorschlag 2016 den Präferenzen und Verbindungen zu einem bestimmten MS des/der Asylbewerber_in Rechnung tragen27. Man könnte beispielsweise ein „Zuteilungssystem“ einführen. 25 Dies gilt insbesondere, so lange sich die Anerkennungsrate und die Aussicht auf Arbeit zwischen den MS stark unterscheiden. 26 Artikel 71 „Änderungen der Richtlinie über den langfristigen Aufenthalt“ (Richtlinie 2003/109/EG) 27 https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-8-2017-0345_EN.pdf 7
Solidaritätsmechanismus Aufgrund der weiter bestehenden Diskrepanzen zwischen den MS in Bezug auf den Anwendung von verpflichtenden Übernahmen hat die EK versucht, den unterschiedlichen Positionen Rechnung zu tragen, indem sie einen hochkomplexen Solidaritätsmechanismus eingeführt hat, der je nach Migrationssituation des jeweiligen Landes unterschiedlich funktionieren würde. In Fällen von „Migrationsdruck“ oder nach Ausschiffung geretteter Migranten wäre jeder MS verpflichtet, zum Solidaritätsmechanismus beizutragen28, ist dabei aber in der Wahl der Mittel frei. Zur Verfügung stehen Übernahme29, Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau sowie Rückführungspatenschaft (Artikel 45). Was die Ausschiffung nach Such- und Rettungseinsätzen (Artikel 47–49) angeht, wird die EK den voraussichtlichen Bedarf (z. B. an Übernahmeplätzen) der jeweiligen MS im jährlichen Migrationsmanagementbericht30 bewerten und dann den von anderen MS erwarteten Beitrag anhand eines Verteilungsschlüssels bestimmen31. Der MS muss die EK über den gewünschten Solidaritätsbeitrag (in einem Plan für Solidaritätsmaßnahmen im Zusammenhang mit Such- und Rettungseinsätzen) unterrichten. Wenn die EK Engpässe feststellt, wird ein Solidaritätsforum einberufen, um die Beiträge der MS an den Bedarf anzupassen. Die EK wird dann einen Durchführungsrechtsakt verabschieden, in dem die von den MS vorgeschlagenen Solidaritätsmaßnahmen beschrieben werden, und für jeden unter Druck stehenden MS einen Solidaritätspool einrichten. Für den Fall, dass es zu wenig Übernahmezusagen gibt, wird ein komplexer Korrekturmechanismus anhand einer kritischen Masse vorgesehen, um den Beitrag der MS anzupassen und an diesem Punkt auch die Möglichkeit zu geben, auf dem Wege einer Rückführungspatenschaft beizutragen. EU- Agenturen (z. B. Asylagentur, Frontex) sind daran beteiligt, den Einsatz des Solidaritätspools zu überwachen und die EK zu informieren, wenn der Bedarf akut wird. Was Übernahmen angeht, so betreffen diese nur Asylbewerber_innen, die noch nicht ins Grenzverfahren aufgenommen wurden. Falls der Solidaritätsmechanismus durch Migrationsdruck ausgelöst wird (Artikel 50–53), erstellt die EK einen Bericht (auf Anfrage eines MS, der sich auf Druck beruft, oder auf eigene Initiative). In dem Bericht werden die Kapazitäten der MS und die Maßnahmen, die für eine Entlastung notwendig sind, auf Grundlage verschiedenster Kriterien eingeschätzt und ein Plan für Solidaritätsmaßnahmen wird aufgestellt. Dabei haben die MS ab dem Beginn des Verfahrens mehr Möglichkeiten zur Solidarität, einschließlich Übernahme und Rückführungspatenschaft. Ein System, das ähnlich komplex wie oben beschrieben ist, wird auch für die Erfüllung des Bedarfs vorgesehen. In diesem Szenario kann die Übernahme auch für Menschen gelten, deren Antrag auf internationalen Schutz anerkannt wurde. Abgesehen davon, dass dieser Solidaritätsmechanismus extrem komplex ist, was Zweifel an seiner Effizienz bei der Entlastung der Grenzstaaten und der Schaffung eines verlässlichen und nachhaltigen Solidaritätsmechanismus aufkommen lässt, ist auch die Einführung der „Rückführungspatenschaft“ (Artikel 55) als Option für einen Beitrag zur Solidarität ein viel und kontrovers diskutierter Punkt. Das Konzept sieht vor, dass ein „unterstützendes Land“ die Rückführung32 einer Person, gegen die eine 28 Neben diesen beiden Szenarien, in denen die Pflicht zur Solidarität besteht, ist ein freiwilliger Solidaritätsbeitrag jederzeit möglich (Artikel 56). 29 Finanzielle Unterstützung durch die EK umfasst 12.000 € für die Übernahme eines unbegleiteten Kindes und 10.000 € für die eines Erwachsenen. 30 Dieser Bericht wird die voraussichtliche Entwicklung der Migrationslage und die Vorsorgeplanung der Union und der MS (einschließlich der erwarteten Ausschiffungen und Kapazitätsbedarfe) aufzeigen. 31 Artikel 54: 50 % der Bevölkerungszahl und 50 % des BIP. 32 Die unterstützenden Länder können wählen, welche Nationalitäten rückgeführt werden, und Maßnahmen zur Rückführung können etwa folgende Schritte enthalten: Beratung und finanzielle oder anderweitige materielle Unterstützung bei der Rückführung und Reintegration, Unterstützung des politischen Dialogs mit dem Herkunftsstaat, um eine Rückübernahme und die Ausstellung gültiger Reisedokumente zu erreichen, sowie die praktische Organisation für die Durchsetzung der Rückführung (Charterflüge). 8
Rückkehrentscheidung ergangen ist, innerhalb von acht Monaten in ihren Herkunftsstaat vollziehenen kann. Gelingt dies nicht, wird die Person in das „unterstützende Land“ überstellt und das Rückführungsverfahren dort fortgesetzt. Die rechtliche Verantwortung für die Rückführung liegt dennoch bei dem Land, das die Rückkehrentscheidung gefällt hat. Caritas Europa ist besorgt, dass die „Rückführungspatenschaft“ als Möglichkeit der „Solidarität“ angesehen wird, die als der Übernahme gleichwertig gilt. Außerdem wirft die praktische Durchführung mehrere Fragen auf. Wie funktioniert der Mechanismus in der Praxis und wie ermöglicht er eine Rückführung, wenn dadurch zusätzliche Bürokratie aufgebaut wird und zusätzliche Akteure beteiligt werden, wodurch die Verantwortlichkeiten und Rechenschaftspflichten verschwimmen33? Welche Garantien bestehen, um die Grundrechte der Menschen zu schützen und Inhaftnahmen zu vermeiden? Bei komplizierten Rückführungen kommt noch dazu, dass der Mechanismus zu unnötigen Transfers von Menschen führt, wodurch es mehr Menschen im Schwebezustand geben wird und das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit der Menschen stark beeinträchtigt wird. Im Falle einer Krise oder höherer Gewalt (siehe nachstehend) wird die Funktionsweise des Solidaritätsmechanismus verändert, um eine verstärkte Solidarität zu ermöglichen (z. B. können auch Asylsuchende im Grenzverfahren übernommen werden), und der Zeitrahmen für die Umsetzung einer Rückkehrentscheidung unter der Rückführungspatenschaft bevor einem Transfer vorgenommen wird, wirdvon acht auf vier Monate verkürzt. Empfehlungen von Caritas Europa: • Wir fordern die Abschaffung der Rückführungspatenschaft als Option und fordern eine Änderung des Vorschlags, so dass sichergestellt wird, dass weiterhin ein Anreiz für eine Übernahme als gehaltvollerer und effizienterer Beitrag zur Solidarität besteht. • Die Funktionsweise des Solidaritätsmechanismus sollte vereinfacht werden, damit er verlässlich und nachhaltig wird. 4. Krise und höhere Gewalt Die EK hat auch einen Vorschlag für eine Verordnung zur Bewältigung von Krisensituationen und höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl34 veröffentlicht, die eine Reihe von Abweichungen von den Vorschriften im Bereich Asyl, Rückführung und Solidarität beschreibt, die in anderen zum Paket gehörenden Dokumenten legislativer Art vorgesehen sind. Außerdem enthält der Vorschlag einen Mechanismus zum vorübergehenden Schutz. Eine Krise ist im Vorschlag (Artikel 1) als außergewöhnliche Situation eines Massenzustroms definiert, die dazu führt, dass das Asyl-, Aufnahme- oder Rückkehrsystem des MS nicht mehr funktioniert (oder die unmittelbare Gefahr des Eintretens einer solchen Situation) und dadurch schwerwiegende Folgen für das Funktionieren des GEAS hätte. Höhere Gewalt wird nicht ausdrücklich definiert, wird aber in der Begründung des Vorschlags als unvorhersehbare Ereignisse beschrieben, auf die sich der MS nicht hätte vorbereiten können, wie etwa die Covid-19-Pandemie und die politischen Krisen, die im März 2020 an der griechisch-türkischen Grenze auftraten (S.4). Im Krisenfall muss ein MS die EK bitten, das Bestehen einer Krisensituation zu bestätigen, während im Falle von höherer Gewalt der MS die EK lediglich über die Situation zu informieren hat. 33 Wer ist bei einer Rückführungspatenschaft rechenschaftspflichtig? Der MS, der die Rückkehrentscheidung fällt, der unterstützende MS, Frontex unter dem erweiterten Rückführungsmandat? 34 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?qid=1601295614020&uri=COM:2020:613:FIN 9
In diesen Situationen gelten ggf. viele Ausnahmevorschriften und Abweichungen von den normalen Regeln in anderen Rechtssetzungsdokumenten (Asyl, Solidarität, Rückführung), so dass MS die rechtliche Verpflichtung unter den EU-Asylvorschriften umgehen können, was auf Asylsuchende umfassende Auswirkungen hat. Im Krisenfall kann ein MS die Bestimmungen des Grenzverfahrens auf die Begründetheit eines Antrags von Personen anwenden, die aus Ländern mit einer Anerkennungsrate von 75 % oder weniger kommen. Eine Verlängerung des Asylverfahrens an der Grenze sowie des Rückführungsverfahrens um acht Wochen ist vorgesehen, und Haft wäre einfacher anzuwenden, da man von einem Risiko des Untertauchens ausgeht, sofern nichts anderes bewiesen wurde35. Wenn die Rückführungspatenschaft innerhalb von vier Monaten (statt wie bisher acht Monaten) nicht erfolgreich umgesetzt wurde, würde außerdem ein Transfer an den unterstützenden Staat erfolgen. Außerdem kann innerhalb von vier Wochen ein Asylantrag registriertwerden. Eine Verlängerung der Frist bis auf maximal zwölf Wochen insgesamt ist möglich. Für Fälle höherer Gewalt sind Änderungen des Zeitrahmens für die Verfahren gemäß dem Solidaritätsmechanismus und für die Bestimmung des für den Antrag zuständigen MS vorgesehen (d.h. Überstellungen zum Zweck der Aufnahme/Wiederaufnahme) sowie eine Frist von vier Wochen für die Registrierung eines Asylantrags. Ein begrüßenswertes Element in einer Krisensituation ist die Möglichkeit, den Asylantrag auszusetzen und für einen Zeitraum von zwölf Monaten unmittelbaren Schutz zu gewähren36 (Artikel 10), wenn Antragsteller_innen in außergewöhnlichen Situationen eines bewaffneten Konflikts einem hohen Risiko, willkürlicher Gewalt ausgesetzt zu sein, gegenüberstehen und nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Empfehlungen von Caritas Europa: • Um eine missbräuchliche und subjektive Verwendung der Ausnahmen bei „Krisen und höherer Gewalt“ zu vermeiden, müssen die Ausnahmevorschriften eingeengt werden und dürfen wirklich nur in absoluten Ausnahmesituationen angewandt werden. Dazu sollte höhere Gewalt definiert werden. Dabei sollte die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einbezogen und die Möglichkeiten sollten auf die Abweichung von der Verantwortung in Bezug auf die Registrierung von Asylanträgen beschränkt werden. • Die Möglichkeit für MS unter Artikel 10, einen unmittelbaren Schutzstatus zu gewähren, sollte aufrechterhalten und praktisch umgesetzt werden. 5. Legale Schutzwege Laut UNHCR sind weltweit 1,45 Millionen Geflüchtete besonders schutzbedürftig und warten auf eine Umsiedlung. In Anerkennung des erhöhten globalen Schutzbedarfs hat die EK Empfehlungen zu legalen Schutzwegen in die EU veröffentlicht37 (nicht verbindliches Dokument). Es ruft die MS dazu auf, mehr Neuansiedlungsplätze zu schaffen und komplementäre Zugangswege wie zum Beispiel 35 Artikel 5, zu lesen im Zusammenhang mit der Neufassung der Rückführungsverordnung, https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/soteu2018-returning-illegally-staying-third-country-nationals-directive- 634_en.pdf 36 Die EK muss einen Durchführungsbeschluss verabschieden, um diese Maßnahme zu bewilligen, siehe Artikel 10 Absatz 4. Es ist zu betonen, dass ein ähnlicher Mechanismus im Rahmen der Richtlinie über die Gewährung vorübergehenden Schutzes, die durch diesen Vorschlag aufgehoben wird, nie von den MS angewandt wurde. 37https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/commission_recommendation_on_legal_pathways_to_protection_in_the_eu_promoting _resettlement_humanitarian_admission_and_other_complementary_pathways.pdf 10
Patenschaftsprogramme auszuweiten38 sowie die Qualität dieser Programme zu verbessern39. Familienbezogene humanitäre Aufnahmeprogramme sowie komplementäre Zugangswege zu Ausbildung und Arbeit (z. B. Universitäts-/Studienprogramme, Programme zur Förderung der Arbeitskräftemobilität in Zusammenarbeit mit dem Privatsektor) sollen ebenfalls gefördert werden. Dazu sollen auch Mittel aus dem EU-Haushalt (z. B. AMIF) zur Verfügung gestellt werden. Um die Zusammenarbeit innerhalb der EU in diesem Bereich zu verbessern, ruft die EK auch zur raschen Annahme des EU-Neuansiedlungsrahmens auf, der derzeit zwischen EP und Rat verhandelt wird. Um Drittstaaten, die eine große Zahl an Flüchtlingen aufnehmen, zu entlasten, ruft die EK alle MS auf, ihre Neuansiedlungsaktivitäten auf die Türkei, den Libanon, Jordanien sowie die Länder entlang der zentralen Mittelmeerroute (Libyen, Niger, Tschad, Ägypten, Äthiopien, Sudan sowie auf Notevakuierungsmechanismen aus Libyen, Niger und Ruanda) zu konzentrieren. Caritas Europa begrüßt diese positiven Maßnahmen, ist aber wegen der Umsetzung der 29.500 Neuansiedlungszusagen besorgt, welche die MS anlässlich des Global Refugee Forum 2019 bis Ende 2020 gemacht haben.40 Angesichts der Herausforderungen der COVID-19-Pandemie41 ruft die EK die MS auf, die zugesagten 29.500 Neuansiedlungen über einen Zeitraum von zwei statt nur einem Jahr umzusetzen (01.01.20– 31.12.21). Weitere Neuansiedlungsprogramme sollten ab 2022 geplant und über den Asyl- und Migrationsfonds finanziert werden, der mit dem nächsten EU-Haushalt für 2021-2027 (§21) verfügbar sein wird. Das bedeutet, dass ein erhebliches Risiko besteht, dass 2021 keine neuen Neuansiedlungszusagen gemacht werden, sofern die MS nicht entscheiden, diese über staatlich finanzierte nationale Neuansiedlungsprogramme umzusetzen. Empfehlungen von Caritas Europa42: • Wir rufen die EU-MS auf, die 29.500 Neuansiedlungszusagen 2020 zu erfüllen und den Menschen, die auf Neuansiedlung warten, Zugang zu EU-Ländern zu gewähren, um Covid-19-Hygienemaßnahmen einzuhalten. • Wir rufen die MS auf, unter Beachtung prioritärer Situationen gemäß UNHCR, mindestens 35.000 neue und zusätzliche Plätze für 2021 zuzusagen und Neuansiedlung aus dem mehrheitlich von der EU finanzierten Nothilfe-Transitmechanismus im Niger und in Ruanda zu verstärken. • Um die Probleme der Covid-19-Pandemie zu überwinden und den Neuansiedlungsprozess wieder in Gang zu bringen, rufen wir die Staaten auf, Zuweisungen auf Grundlage der Unterlagen sowie innovative Online-Interviews als effiziente Methode zur Auswahl für die Neuansiedlung zu fördern. 38 Mehrere Caritas-Organisationen richten derzeit vor Ort Patenschaftsprogramme und humanitäre Korridore ein, wie beispielsweise in der gemeinsamen Veröffentlichung mit ICMC Europe im Rahmen des durch AMIF finanzierten Share-Projekts zur Förderung von Patenschaftsprogrammen in Europa zu lesen ist, https://www.caritas.eu/community-sponshorship-europe/ 39 Dies kann durch eine gute Vorbereitung auf die Ausreise, passende Dienstleistungen und Integration bei der Ankunft, richtige Überwachung und Evaluierung geschehen. 40 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_19_6794 41Nach Angaben von UNHCR und IOM hat sich die Neuansiedlung von über 10.000 Menschen wegen COVID-19 verzögert, https://www.unhcr.org/news/press/2020/6/5eeb85be4/joint-statement-un-refugee-chief-grandi-ioms-vitorino-announce- resumption.html 42Weitere Empfehlungen sind in der gemeinsamen Stellungnahme „Resettlement can’t wait“ enthalten, die von Caritas Europa mit unterzeichnet wurde: https://www.caritas.eu/wordpress/wp-content/uploads/2020/09/NGO-joint-statement-Sept-2020_RST- cannot-wait_final.pdf 11
• Wir rufen die EK auf, MS dazu aufzufordern, den Neuansiedlungsstau durch politische Führung und gezieltes Management der finanziellen Unterstützung zu beseitigen. Der neue EU-Haushalt sollte genügend Mittel für Pauschalbeiträge vorhalten, damit die MS einen Anreiz haben, die Neuansiedlung zu beschleunigen. • Zusätzlich zur Neuansiedlung fordern wir die MS auf, komplementäre Zugangswege, wie etwa Patenschaftsprogramme, in enger Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Flüchtlingen zu entwickeln und zu verstärken. Wir schlagen zum Beispiel vor, Europäische Humanitäre Aufnahmeprogramme einzurichten und ein Europäisches humanitäres Visum einzuführen. 6. Reguläre Migration und Integration Die Kommunikation zum neuen Migrations- und Asyl-Paket43 zeigt eine begrüßenswerte Änderung der Sichtweise der EK auf reguläre Migration. Die EK steht der Arbeitsmigration positiver gegenüber und betont den Bedarf an Arbeitskräften in der EU sowie demografische Herausforderungen. Dennoch konzentriert sich die EK hauptsächlich auf das Ziel, hochqualifizierte Migrant_innen anzuwerben. Zu diesem Zweck kündigt die EK die baldige Einführung eines Talentpools an, der als Katalysator für die engere Zusammenarbeit mit Drittstaaten im Bereich Migration dienen wird und fordert den Abschluss der Verhandlungen zur Richtlinie über die Blaue Karte. Die Kommunikation erkennt zwar den positiven Beitrag von Migrant_innen zu unseren Gesellschaften und Wirtschaftssystemen gerade auch während der Covid-19-Pandemie an, übersieht aber geringqualifizierte Migrant_innen, obwohl sie in diesen schwierigen Zeiten eine entscheidende Rolle dabei spielen, unsere Wirtschaftssysteme am Laufen zu halten (z. B. Landwirtschaft, Lebensmittelproduktion und -verteilung, Gesundheitswesen)44. Die EK erwähnt die bevorstehenden rechtlichen Reformen der Richtlinie über den langfristigen Aufenthalt und der Rahmenrichtlinie Arbeitnehmerrechte zur Harmonierung der Bedingungen für die Zulassung und den Aufenthalt bis Ende 2021, ohne weitere Einzelheiten zu nennen, während eine Konsultation zur Zukunft der legalen Migration in die EU angestoßen wurde. Die Kommunikation beschreibt den neuen EU-Aktionsplan für Integration und Inklusion für 2021-202745, mit dem Zielstrategische Empfehlung zu geben und konkrete Maßnahmen zur Förderung der Inklusion von Migrant_innen anzubieten und breitere soziale Kohäsion zu fördern. Durch die Gründung einer Sachverständigengruppe, die aus Expert_innen mit Migrationshintergrund besteht, wird die EK das Mitspracherecht von Migrant_innen in der Asyl- und Migrationspolitik stärken. Caritas Europa begrüßt die Bemühungen zum Umdenken über die Erzählweise der Migration und zur Förderung von Integration und sozialer Inklusion. Dennoch sind wir über die geringe Aufmerksamkeit, die der Pakt der Arbeitsmigration gibt, enttäuscht, ebenso wie über den Mangel an konkreten Vorschlägen zur Schaffung von Gelegenheiten für eine reguläre Migration und Mobilität von Menschen im Vergleich zu dem starken Fokus auf Rückführung. 43 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?qid=1601287338054&uri=COM:2020:609:FIN 44 https://www.caritas.eu/migrants-and-covid-19-challenges-and-opportunities/. Caritas Europa hat den wichtigen Beitrag, den Migrant_innen für unsere Volkswirtschaften und Gesellschaftssysteme leisten, umfassend dokumentiert und dargestellt, siehe unsere „Common Home Publication“: https://www.caritas.eu/common-home-eu/ 45 https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/pdf/action_plan_on_integration_and_inclusion_2021-2027.pdf 12
Empfehlungen von Caritas Europa: • Wir rufen die EU und ihre MS auf, eine positivere Sicht auf Migration zu entwickeln und die positiven Beiträge, die Migrant_innen für unsere Gesellschaften und Wirtschaftssysteme leisten, anzuerkennen. Dieser Perspektivwechsel sollte mit ehrgeizigen Zielen für Integration und soziale Inklusionsmaßnahmen einhergehen, damit Migrant_innen ihr Potenzial ausschöpfen und im jeweiligen Bestimmungsland einen Beitrag leisten und teilhaben können. • Wir rufen die EK auf, konkrete Initiativen anzustoßen, damit die MS Chancen für Arbeitsmigration schaffen, und zwar auch für gering- oder mittelqualifizierte Arbeitskräfte. • Gelegenheiten zur Arbeitsmigration und Arbeitsverträge müssen Migrant_innen einen stabilen und sicheren Status bieten, so dass sie Zugang zum System der sozialen Sicherheit haben, um ein Abgleiten in ungesicherte Arbeitsverhältnisse, Illegalität und Not zu verhindern. Die Staaten sollten den Kontext und die Realität des jeweiligen Landes berücksichtigen und Möglichkeiten für die Legalisierung auf Basis des Einzelfalls untersuchen. • Initiativen zur Anwerbung von Talenten aus dem Ausland (z. B. der Talentpool) müssen einen Braindrain in Entwicklungsländern verhindern46. 7. Seenotrettung Immer mehr Boote kentern und Migrant_innen kommen ums Leben, da die Kapazitäten für Such- und Rettungseinsätze sehr begrenzt sind. Dies ist auf das mangelnde Engagement der EU-MS sowie auf die juristischen und administrativen Hindernisse zurückzuführen, die manche MS aufbauen, um Such- und Rettungseinsätze durch NROs zu unterminieren47. Als Reaktion auf die Sorge des EP48 und zivilgesellschaftlicher Organisationen, dass das „Schleuser-Paket“ (d. h. die EU-Gesetzgebung zur Bekämpfung von Menschenschmuggel in die EU) zur ungerechtfertigten Kriminalisierung der humanitären Hilfe für Migrant_innen wie etwa bei der Seenotrettung führt, hat die EK „Leitlinien zur Anwendung der EU-Vorschriften betreffend die Definition und Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt“ veröffentlicht49. Dieses nicht-verbindliche Dokument erinnert die MS an ihre Verpflichtung nach Völkergewohnheitsrecht, Schiffsführer anzuweisen, Personen oder Schiffen in Seenot Hilfe zu leisten. Folglich sagt die EK, dass die Schleusungs-Beihilfe-Richtlinie so auszulegen ist, dass die gesetzlich vorgeschriebene humanitäre Hilfe nicht kriminalisiert werden kann und darf. Sie bemerkt außerdem, dass die Kriminalisierung von NROs, die Such- und Rettungsaktionen innerhalb des entsprechenden rechtlichen Rahmens durchführen, eine Verletzung des Völkerrechts darstellt und folglich unter EU-Recht nicht zulässig ist50. Wir begrüßen diese klare Haltung, die auch EK-Präsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union 2020 bekräftigt hat51: „Die Rettung von Menschen in Seenot ist keine Option, sondern Pflicht.“ 46 Siehe Blogbeitrag „Putting Talent Partnerships into Practice“: https://www.cgdev.org/blog/eu-migration-pact-putting-talent- partnerships-practice 47 https://www.iom.int/news/devastating-shipwreck-libya-claims-more-70-lives-iom 48 http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+MOTION+B8-2018- 0314+0+DOC+PDF+V0//EN 49 https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/commission-guidance-implementation-facilitation-unauthorised-entry_en.pdf 50 Auf Seite 7 der Leitlinie wird genauer ausgeführt, dass „Wenn somit Artikel 1 der Schleuser-Richtlinie die Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise unter Strafe stellt, den Mitgliedstaaten gleichzeitig jedoch die Möglichkeit einräumt, keine Sanktionen zu verhängen, wenn der Zweck der Tätigkeit darin besteht, humanitäre Hilfe zu leisten, meint er damit nicht die gesetzlich vorgeschriebene humanitäre Hilfe, da diese nicht unter Strafe gestellt werden kann“. 51 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/SPEECH_20_1655 13
Caritas Europa bedauert dennoch, dass die Leitlinie die MS nicht dazu verpflichtet, Handlungen aus Solidarität zur Unterstützung von Migrant_innen an Land (z. B. Verteilung von Lebensmitteln oder Zurverfügungstellung von Unterkünften) nicht unter Strafe zu stellen. Es wurde tatsächlich mehrfach bewiesen 52– auch in unserem eigenen Forderungspapier – 53dass solche solidarischen Handlungen oft unter Strafe gestellt und stigmatisiert werden. Die EK erkennt die Besorgnis an, die wir und andere Akteure im Rahmen verschiedener Beratungsgespräche geäußert haben, und bezieht sich darauf in den Leitlinien als „Empfehlungen von NRO und Einzelpersonen in der EU“. Die EK sagt, dass das EU-Recht nicht beabsichtigt, humanitäre Hilfe unter Strafe zu stellen und fordert die MS dazu auf, die „Ausnahmeregelung für humanitäre Hilfe“, die in der Schleuser-Richtlinie vorgesehen ist und den MS gestattet, humanitäre Hilfe straffrei zu stellen54,in nationales Recht umzusetzen. Diese vorsichtige Formulierung ist angesichts der weiten Verbreitung des Problems ziemlich enttäuschend. Angesichts der nach wie vor fehlenden Koordination bei Such- und Rettungsaktionen und Ausschiffungen, und als Reaktion auf die Forderungen einiger MS, einen Verhaltenskodex zu Seenotrettungsmaßnahmen durch NRO herauszugeben, hat die EK eine Empfehlung zur Zusammenarbeit zwischen den MS bei Such- und Rettungsaktionen, für die private Schiffe eingesetzt werden,55 ausgesprochen. Das Dokument bezieht sich auf durch NRO durchgeführte Such- und Rettungsaktionen und ruft private Schiffe dazu auf, sicherzustellen, dass die Sicherheitsvorschriften erfüllt sind und die Schiffe ordnungsgemäß registriert sind. Damit wird die Debatte über den angeblichen, durch Such- und Rettungsaktionen von NROs verursachten Pull-Faktor56 wiederbelebt, indem gesagt wird: „Es ist unbedingt eine Situation zu vermeiden, in der Schleuser- oder Menschenhändlernetze, [...] die von privaten Schiffen im Mittelmeer durchgeführte Rettungseinsätze ausnutzen“. Die EK wird eine interdisziplinäre Kontaktgruppe einsetzen, in der die MS im Hinblick auf die Umsetzung dieser Empfehlung zusammenarbeiten und ihre Tätigkeiten untereinander und mit anderen Akteuren koordinieren können57. Caritas Europa bedauert, dass diese Empfehlung nahezulegen scheint, dass NROs Sicherheitsvorschriften nicht beachten und nicht mit den zuständigen nationalen Behörden zusammenarbeiten, gleichzeitig aber bei der mangelnden Zusammenarbeit zwischen den MS zur schnellen Hilfe von Menschen in Seenot und der Zurverfügungstellung eines sicheren Hafens zur Ausschiffung sehr nachsichtig ist. Ebenso sind wir über die Nichterwähnung der Aktivitäten der lybischen Küstenwache besorgt; diese führen zu immer mehr Rückführungen nach Libyen und einer verbreiteten und anhaltenden Verletzung der Menschenrechte58. Auch auf die Notwendigkeit der Erhöhung der Kapazitäten für Such- und Rettungseinsätze durch die MS sowie die Einrichtung einer auf EU-Ebene koordinierten Mission für Such- und Rettungseinsätze, um Todesfälle auf See zu verhindern, wird nicht eingegangen. 52 http://www.resoma.eu/sites/resoma/resoma/files/policy_brief/pdf/Final%20Synthetic%20Report%20- %20Crackdown%20on%20NGOs%20and%20volunteers%20helping%20refugees%20and%20other%20migrants_1.pdf 53 https://www.caritas.eu/criminalisation-solidarity-2/ 54 Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 55 https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/commission-recommendation-_cooperation-operations-vessels-private- entities_en_0.pdf 56 https://cadmus.eui.eu/handle/1814/65024 57 Die Kontaktgruppe wird die Umsetzung der Empfehlungen überwachen und einmal im Jahr einen Bericht für die Kommission veröffentlichen. Die Kommission wird die Arbeit der Kontaktgruppe und die Umsetzung dieser Empfehlung gegebenenfalls bei der Ausarbeitung der Europäischen Strategie für Asyl- und Migrationsmanagement und der jährlichen Migrationsmanagementberichte gemäß der Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement berücksichtigen. 58 https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=26337&LangID=E, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/09/libya-new-evidence-shows-refugees-and-migrants-trapped-in-horrific-cycle-of- abuses/ 14
Sie können auch lesen