Sven Schultze: Auftrag: "Grüne Woche". Die Landwirtschaftsausstellung als Angelegenheit deutsch-deutscher Systemkonkurrenz.

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Sven Schultze: Auftrag: "Grüne Woche". Die Landwirtschaftsausstellung als Angelegenheit deutsch-deutscher Systemkonkurrenz.
Sven Schultze: Auftrag: „Grüne
                 Woche“. Die
                 Landwirtschaftsausstellung als
                 Angelegenheit deutsch-deutscher
                 Systemkonkurrenz.
                 In: Susanne Muhle, Hedwig Richter und Juliane
                 Schütterle (Hg.): Die DDR im Blick. Ein
                 zeithistorisches Lesebuch.
                 Berlin: Metropol 2008, S. 169 – 178.

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Auftrag: „Grüne Woche“

Die Landwirtschaftsausstellung als Angelegenheit
deutsch-deutscher Systemkonkurrenz

Im Januar 1960 unterrichtete Walter Ulbricht alle Ersten Sekretäre der Bezirks-
und Kreisleitungen der SED, dass Maßnahmen getroffen worden seien, „um
zu verhindern, dass DDR-Bürger, besonders Bauern, die ‚Grüne Woche‘ besu-
chen“. Überhaupt solle jeder Bürger davon überzeugt werden, „dass es unwürdig
ist, nach Westberlin zu fahren“.1 Ulbricht, Generalsekretär des ZK der SED und
de facto erster Mann im Staat, hatte gute Gründe für sein persönliches Ein-
greifen, denn schließlich stand in jenem Jahr der „Frühling auf dem Lande“
vor der Tür. Gemeint war die Kollektivierung bzw. „Vergenossenschaftlichung“
der DDR-Landwirtschaft, also die Umwandlung von Privatbetrieben in land-
wirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Dafür galt es, sämtliche Kräfte
zur Bekämpfung innerer wie äußerer Feinde zu mobilisieren und „Maßnah-
men zu treffen, um die Besucherzahl der ‚Grünen Woche‘ aus der DDR auf
ein Minimum zu reduzieren“. Denn in der Vorstellungswelt der ostdeutschen
Partei- und Staatsführung hatte alle „Feindtätigkeit“ ihre Ursprünge im Wes-
ten und hier, unterm Funkturm in Berlin-Charlottenburg, meinte man einen
solchen Ort „gegnerischer“ Tätigkeit ausgemacht zu haben. In dem Prozess der
Neugestaltung der Agrarpolitik durch die SED stellt sich nicht nur die Frage

1   Das Schreiben „An alle Genossen 1. Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen der SED“
    wurde am 21. 1. 1960 verschickt, also unmittelbar vor Beginn der „Grünen Woche“. Alle
    folgenden Zitate im Text stammen aus Unterlagen des Bundesarchivs in Berlin, der Bun-
    desbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und
    dem Deutschen Rundfunkarchiv in Potsdam.
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nach dem Stellenwert der alljährlichen „Grünen Woche“, sondern auch nach
den Maßnahmen der Machthaber gegen die Landwirtschaftsmesse.
     Die westliche Konkurrenz erzeugte für die Planer der DDR-Wirtschaft
einen ungeheuren Druck, der sich auch bei der Kollektivierung des Agrar-
sektors niederschlug. Hier sollte sich die vorgebliche Überlegenheit des plan-
wirtschaftlichen Systems sowie der „Neuerermethoden“ in der Landwirtschaft
beweisen. Spätestens als 1952 die Kollektivierung zum offiziellen Anliegen der
Partei wurde, war hierfür eine vollständige „Umerziehung“ der Landbevölke-
rung notwendig. Der Erfolg dieser versuchten Vereinnahmung aber hing ent-
scheidend von der Alternativlosigkeit seiner Angebote ab. West-Berlin stellte in
dieser Hinsicht einen Knackpunkt dar, weil es bis zum Mauerbau von seinem
Umland aus leicht erreicht werden konnte und durch reichhaltigere Konsum-
angebote, Folgen des „Wirtschaftswunders“ im Westen, zum „Schaufenster“
wurde. Die Stadt besaß daneben auch eine alte Ausstellungstradition – Berlin
war bereits dreimal Gastgeber der DLG-Wanderausstellungen gewesen, von
1926 bis 1939 gab es jährlich die „Grüne Woche“, und viele weitere internatio-
nale Messen und Ausstellungen unterschiedlichen Charakters wurden in der
Stadt ausgerichtet –, die nun nach dem Krieg langsam zu ihrer alten Größe
und Bedeutung zurückfand. Berlins Regierender Bürgermeister Ernst Reuter
betonte, dass „jede in Berlin veranstaltete Ausstellung den Landsleuten hinter
dem Eisernen Vorhang zeigen [solle], was die freie Welt zu leisten vermag“.
Damit meinte er vor allem auch die „Grüne Woche“, die nach der Industrie-
ausstellung die am stärksten besuchte Exposition Berlins war. Alle zuständigen
Stellen in der DDR äußerten offen die entsprechende Besorgnis, „dass durch die
im Januar in Westberlin durchgeführte ‚Grüne Woche‘, ideologischer Einfluss
auf die Besucher aus der DDR genommen [wird]“.
     Als Publikums- und Fachausstellung mit Messecharakter informiert die
„Grüne Woche“ bis heute über Neuheiten der Land- und Ernährungswirtschaft
sowie des Gartenbaus und dient ebenfalls als Handelsforum, womit sie die
Leistungs- und Lehrschau vereint.
     Seit der ersten „Grünen Woche“ nach dem Krieg, die während der sowje-
tischen Berlin-Blockade 1948 stattfand, waren deren Besucher aus der SBZ und
DDR eine feste und stets wachsende Größe im Publikum geworden: Bis zum
Mauerbau 1961 betrug ihr Anteil zwischen 30 und 50 Prozent. Die Bauern bilde-
ten nur einen Teil der ostdeutschen Besucherpopulation ab. Der andere – mög-
Auftrag „Grüne Woche“                    171

„Grüne Woche“ in Berlin 1953: Lange Schlangen vor der „Ostkasse“
am Messedamm Ecke Masurenallee.
Quelle: Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. 0023028 / Fotograf: Bert Sass

licherweise größere – Teil waren die Tagesausflügler, nämlich zumeist Arbeiter
(inklusive der zahlreichen Grenzgänger) oder Rentner aus Berlin oder den um-
liegenden Kreisen. Sie folgten nicht nur den sogenannten Lockaktionen für
Ostbewohner, die die „Grüne Woche“ alljährlich bot, sondern behandelten die
Ausstellung als willkommenen Teil ihrer Freizeitgestaltung und zum Erwerb von
in der DDR raren Gütern und Waren (wie beispielsweise Nägel oder Saatgut).
     Durch ihre politische wie wirtschaftliche Bedeutung – die ehemalige
Reichshauptstadt stellte das größte geschlossene Verbrauchergebiet Deutsch-
lands dar –, ihre Lage im Spannungsgebiet Berlin und im Zentrum der DDR
gewann die Landwirtschaftsmesse schnell an Relevanz. Eben dies war für die
Partei- und Staatsführung der DDR nicht tolerierbar: Jedes Jahr im Winter
besuchten hunderttausende DDR-Bürger das „Schaufenster des Westens“, den
„Agentensumpf “ West-Berlin, um durch diese populäre und traditionsreiche
Ausstellung am wirtschaftlichen Aufschwung des Westens teilzuhaben. Die
Gegnerschaft innerhalb des Kalten Krieges sorgte für die politische Aufladung
172                                    Sven Schultze

der „Grünen Woche“ – neben dem Geschäft ging es vor allem auch um
Politik, Ideologie, Propaganda und Prestige. Ausstellungen, insbesondere
Landwirtschafts-, Industrie- und Gewerbeausstellungen, eignen sich hervorra-
gend als Medien für politische Propaganda und Plattformen nationaler Selbst-
darstellung. Und die „Grüne Woche“ stand wie kaum eine andere Exposition
für hohen Lebensstandard und die Präsentation von Wohlstand. Nirgendwo
sonst war das „Schaufenster“ so reichlich gefüllt und zum Anfassen nahe.
     Bereits 1952 lassen sich erste Aktivitäten der DDR-Machthaber gegen
die „Grüne Woche“ beobachten. So untersagten sie die Teilnahme der ost-
deutschen Aussteller und Händler, die 1948, 1949 und 19512 noch hatten
dabei sein können. Überdies ließen sie hunderte gefälschte Eintrittskarten in
Umlauf bringen. Der Schaden dieser Aktion war zwar gering, doch neben der
entstandenen Verwirrung setzte der Osten in doppelter Hinsicht ein Zeichen.
Zum einen war dies der Beginn einer Kampagne gegen die „Grüne Woche“,
die bis zum Mauerbau nicht mehr abreißen sollte. Zum anderen war es ein Vor-
geschmack auf Repressionsmaßnahmen, die später im Zuge der Kollektivie-
rungskampagnen gegen die eigenen Bürger angewandt werden sollten. Auch
wenn die DDR-Führung solche Absichten zu diesem Zeitpunkt noch beharr-
lich dementierte, müssen diese Aktionen doch bereits im Zusammenhang mit
ihrem agrarpolitischen Kurswechsel gesehen werden.
     Offensichtlich war die privatbäuerliche Landwirtschaft der Bundesre-
publik ökonomisch erfolgreicher. Das gab zwar der SED keinen Anlass zum
Umdenken, bildete jedoch für die bedrängten Privatbauern in der DDR einen
Bezugspunkt und bedeutete für die Funktionäre vor Ort ein dauerhaftes Pro-
blem. Kontakte zu westdeutschen Bauernverbänden und Besuche der „Grünen
Woche“ in West-Berlin fanden daher die besondere Aufmerksamkeit des Minis-
teriums für Staatssicherheit (MfS). Im Zusammenhang mit den Kollektivie-
rungskampagnen kam es zu zahlreichen Repressionen gegen private Bauern
und Gewerbetreibende.3 Die gesellschaftliche Inakzeptanz dieses „kalten Bür-
gerkrieges“ (Jens Gieseke) lässt sich auch an den Besucherzahlen der „Grünen

2     Aufgrund von Baumaßnahmen fiel sie 1950 aus.
3     Vgl. hierzu auch Regina Teske, Staatssicherheit auf dem Dorfe. Zur Überwachung der
      ländlichen Gesellschaft vor der Vollkollektivierung 1952 bis 1958, Berlin 2006, S. 65.
      Weiterführend zur Landwirtschaft der DDR und der Bundesrepublik vgl. Ulrich Kluge,
      Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft im 20. Jahrhundert (= Enzyklopädie Deutscher
Auftrag „Grüne Woche“                                  173

Woche“ ablesen: Je drastischer und unpopulärer die Maßnahmen, desto höher
der ostdeutsche Besucheranteil. In den Jahren 1952 und 1953 überstieg die Zahl
der Gäste aus dem Osten die Zahl der West-Besucher deutlich. Daher wurden
die Maßnahmen gegen „Westberlinfahrer“, die insbesondere die „Grüne Wo-
che“ besuchten, 1956 nochmals verschärft. Das Resultat: Die Besucherzahlen
aus Ostdeutschland gingen um fast die Hälfte zurück (siehe Tabelle).

Die Besucherzahlen der Grünen Woche von 1948–1961

 Jahr                  Besucher               davon:
                       insgesamt              West                    Ost
1948                         136 000                    —                       —
1949                         205 272                 136 651                  68 621
1951                         283 632                 150 551                131 081
1952                         485 000                 220 000                265 000
1953                         501 000                 233 000                268 000
1954                         424 000                 230 000                194 000
1955                         512 000                 266 000                246 000
1956                         298 897                 166 565                132 332
1957                         428 500                 227 500                201 000
1958                         416 500                 271 500                145 000
1959                         418 000                 285 000                133 000
1960                         468 000                 312 000                156 000
1961                         455 000                 270 000                185 000

    Buchstäblich „vor Ort“ geriet die Ausstellung zum dauerhaften Betäti-
gungsfeld der Staatssicherheit, der Volkspolizei (VP), des Ministeriums für
Land- und Forstwirtschaft (Sektor Agrarpropaganda) sowie der Vereinigung
der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB), um nur die Wichtigsten zu nennen.
    Um die Position von Staatsmacht und Staatssicherheit auf dem Lande
zu verbessern, begann das MfS ab 1953/54 verstärkt mit der Anwerbung von

    Geschichte, Band 73), München 2005; Christel Nehrig, Agrarpolitik, in: Clemens Burrich-
    ter/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis
    2000. Gesellschaft – Staat – Politik: Ein Handbuch, Berlin 2006, S. 755–776; Jens Schöne,
    Frühling auf dem Lande? Die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft, Berlin 2005.
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Geheimen Informatoren (GI).4 Ein Teil dieser GI wurde in der Aufklärung
und Einschätzung der „Grünen Woche“ eingesetzt mit der Aufforderung,
„im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit […] zur sogenannten
‚Grünen Woche’ in Westberlin“ zu fahren. Spezielle Einzelaufträge umfass-
ten meist die „Aufklärung“ westdeutscher Bauernorganisationen wie des
Deutschen Bauernverbandes (DBV), den Stand der Deutschen Landwirt-
schaftsgesellschaft (DLG), des Deutschen Bauernverlages sowie außerdem
des Rundfunks im amerikanischen Sektor (RIAS), der Kampfgruppe gegen
Unmenschlichkeit (KgU), des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche
Fragen und des Untersuchungsausschusses Freiheitlicher Juristen (UFJ), die
sämtlich auf der „Grünen Woche“ vertreten waren. Damit bot die Ausstellung
in der Tat Teilen des institutionellen Netzwerkes der amerikanischen Libera-
tion Policy eine Plattform und trug wohl nicht unwesentlich zur Schürung
der „Agentenhysterie“ jener Zeit bei. Diese Form der amerikanischen Außen-
politik entstand im Umfeld des späteren Außenministers John F. Dulles als
offensive Alternative zur Containment-Politik der Truman-Administration,
womit versucht wurde, über das zentrale Konzept der Eindämmung des
Kommunismus hinauszugehen und durch offene und verdeckte Maßnahmen
den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme aktiv zu befördern. Vor
allem die Sendungen des RIAS Berlin, in denen man „die Landwirte in der
Zone vor leichtfertig empfohlenen sogenannten Neuerer-Methoden“ warnte
„und [versuchte] ihnen – soweit es mit den Mitteln des Rundfunks möglich
ist – Hinweise zu geben, die dazu beitragen können, den Existenzkampf der
selbständigen Bauern zu unterstützen“, wurden in Zeiten des Kalten Krieges
von der DDR als Kampfansage verstanden. Der Sender, der fast in der ganzen
Republik und darüber hinaus zu empfangen und vielleicht der erfolgreichste
Propagandasender des Westens überhaupt war, versuchte direkten Kontakt
zu seinen Hörern im Osten zu halten: Auf einer großen Ausstellung wie der
„Grünen Woche“ ließ sich das am besten realisieren. So suchten beispielswei-
se 1953 etwa 3000 Menschen aus der DDR die vom RIAS auf der „Grünen
Woche“ eingerichtete „Kontaktstelle für Ostbesucher“ auf, wo sie Beratung

4     Der Druck, schnell GI in genügender Zahl zur Aufklärung der „Grünen Woche“ zu bekom-
      men, ließ besonders in den Jahren zwischen 1954 und 1956 oftmals auch Informatoren von
      geringerer Eignung zum Einsatz kommen. So wählte beispielsweise ein in einer Berliner
      Bahnhofskneipe „angeworbener“ GI für sich den sinnfälligen Decknamen „Grog“.
Auftrag „Grüne Woche“                                   175

und Auskunft erhalten konnten. Meist ging es um Fragen, welche Folgen die
Nichteinhaltung des Ablieferungssolls oder das Zurücklassen der Wirtschaft
bei der Flucht in den Westen nach sich ziehen konnten. Im Gegenzug ga-
ben die Besucher „Informationen zur Lage in der Zone“, zum Empfang des
Senders in einzelnen Regionen sowie über Störmaßnahmen von DDR-Seite.
Die gesammelten Berichte und Daten flossen nicht selten ins Programm des
Senders ein.5 Sowohl der UFJ als auch die KgU hatten ihre eigene Sendezeit
beim RIAS.
     Die Arbeit des MfS gegen die „Grüne Woche“ wurde dem Selbstverständnis
nach als „aktive Spionageabwehr“ betrachtet. In der Hauptsache waren damit
die Hauptabteilung II (Spionageabwehr) mit ihren Abteilungen 3 (u. a. Aufklä-
rung von CIA-Stellen in West-Berlin) und 8 (Betreuung konspirativer Objekte),
befasst. Ziel war es, „die Teilnehmer aus den jeweiligen Bezirken festzustellen
und sie operativ zu bearbeiten“, um ihnen „Feindtätigkeit“ nachzuweisen. Die
genauen Aufträge an die GI bestanden in der Hauptsache darin, sich die ei-
gentliche Ausstellung anzusehen und dann entweder die Stände der Deutschen
Landwirtschaftsgesellschaft oder des Deutschen Bauernverbandes aufzu-
suchen. Generell sollten sie (möglichst nach Bezirken geordnet) DDR-Bürger
feststellen, die die „Grüne Woche“ besuchten. Diese Ermittlungstätigkeit wurde
als „Bearbeitung negativer bäuerlicher Elemente“ verstanden. Informanten, die
sich durch eine Tätigkeit für die Staatssicherheit rehabilitieren mussten, wur-
den beauftragt, Großbauern – ohnehin eine besondere Feindkategorie – nach
West-Berlin zu begleiten und ihr Verhalten auf dem Ausstellungsgelände „auf
das sorgfältigste zu beobachten“.
     Während die Staatssicherheit direkt vor Ort Aufklärung betrieb, fiel es
der Volkspolizei zu, den Reiseverkehr, besonders „von Personen aus land-
wirtschaftlichen Betrieben“, zu kontrollieren. Wer sich verdächtig machte, die
„Grüne Woche“ besuchen zu wollen, wurde den Untersuchungsorganen über-
geben. Schon im Vorfeld des Ausstellungsbeginns, im Januar und Februar je-
den Jahres, erhielten die Abschnittsbevollmächtigten der VP6 die Personalien

5   Vgl. dazu auch Bernd Stöver, Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Libera-
    tion Policy im Kalten Krieg 1947–1991, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 234.
6   Ein ABV war in der DDR ein Polizist der Volkspolizei, der für die polizeilichen Aufgaben
    in einzelnen Straßen oder Wohngebieten zuständig war. Seit 1952, hatte er u. a. die Führung
    des Hausbuches und den Ernteeinsatz zu kontrollieren.
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all jener Bürger, die in den Vorjahren zur Messe gereist waren. Diesen Perso-
nen wurden in der Regel die Personalausweise abgenommen und durch Formu-
lare ersetzt, die für Berlin keine Gültigkeit besaßen. Weitaus schlimmer war
es jedoch, wenn man auf der Rückreise aus Berlin mit sogenanntem „Hetz-
material“ erwischt wurde. Dabei handelte es sich zumeist um Broschüren,
Bücher oder Flugblätter, die auf der „Grünen Woche“ zuhauf verteilt wurden
oder zur Mitnahme bereitlagen. In solchen Fällen stand in der Regel eine län-
gere „Bearbeitung durch die Untersuchungsorgane“ an. In jedem Falle wurden
„bekannt gewordene Personen an die Dienststelle des MfS“ gemeldet.
      Um das Netz so eng wie möglich zu knüpfen, koordinierten sämtliche be-
teiligte VP-Kreisämter ihre Einsätze. Je nach Entfernung zu Berlin und nach
der Anzahl potenzieller „Westberlinfahrer“ variierten die Maßnahmen von
Kreis zu Kreis. Neben der obligatorischen Kontrolle auf wichtigen Straßen
und dem Notieren von Nummernschildern auf Parkplätzen, unterbreitete die
Volkspolizei auch weitergehende Vorschläge, um den Besuch der Ausstellung zu
verhindern. Zu den am erfolgversprechendsten Maßnahmen zählte sicherlich
das Veranstalten „von Modenschauen, Sportveranstaltungen, Inventurschluss-
verkauf, Bäuerinnennachmittage[n] usw.“ durch die staatlichen Geschäfte des
Konsum und der Handelsorganisation (HO), die insbesondere an den Wochen-
enden während der „Grünen Woche“ durchgeführt wurden. Zudem wurde
der Wochenendurlaub für Schüler von Landwirtschaftsschulen im fraglichen
Zeitraum eingeschränkt. Weiter empfahl die VP, „eine entsprechende Agita-
tionsarbeit in den Gemeinden und Betrieben zu organisieren und während der
Zeit der ‚Grünen Woche‘ (besonders an den Wochenenden) gute Kultur- und
Sportveranstaltungen durchzuführen.“ Wer von den Betroffenen hätte wohl
vermutet, dass ihm die „Grüne Woche“, als Drehscheibe der Systemkonkurrenz
zwischen Ost und West, in den mitunter weit von Berlin entfernten Heimatort
zusätzliche Kulturveranstaltungen und Freizeitangebote bringen konnte?
      Dank der Zusammenarbeit zwischen Volkspolizei und Staatssicherheit
waren die Bezirke, aus denen die meisten Besucher der „Grünen Woche“
kamen, schnell ausgemacht: Leipzig, Magdeburg, Halle und Ost-Berlin.
      Das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft der DDR war in den fünf-
ziger Jahren ebenfalls gezwungen, sich mit der „Grünen Woche“ auseinanderzu-
setzen. Es sah in ihr eine Gefährdung seiner Arbeit zur Umerziehung – nicht nur
der ländlichen – Bevölkerung. Funktionäre aus dem „Sektor Agrarpropaganda“
Auftrag „Grüne Woche“                         177

wurden inoffiziell auf die Messe delegiert, um sie insbesondere im Hinblick auf
die Darstellung und Verbreitung bundesdeutscher Agrarpolitik, landwirtschaft-
licher Neuheiten und neuer Landtechnik zu besichtigen und auszuwerten. Wert-
volle Informationen brachten die Funktionäre auch über den Besucherstrom
auf der „Grünen Woche“ mit zurück. Anhand der von ihnen vorgenommenen
Zählungen, Schätzungen und Befragungen konnte man nicht nur die Zahl
und die Stimmung der Besucher aus der DDR abschätzen, sondern auch ver-
suchen, Rückschlüsse auf die Akzeptanz der Politik der Bonner Regierung
in West-Berlin zu ziehen. Ab und an verteilten sie auch unauffällig Broschüren
und kleinere Flugschriften, welche die „Neuerermethoden“ in der Landwirt-
schaft propagierten oder Werbung für die Landwirtschaftsausstellung der DDR
in Leipzig-Markkleeberg machten. Eine beliebte Methode bestand darin, sich in
Pressekonferenzen anlässlich der Eröffnung der „Grünen Woche“ zu begeben
und provokante Fragen zu stellen, wie es 1960 auf dem Presseempfang und etwas
später bei den öffentlichen Runden der Bauernverbände geschah.
     Beraten wurde mit den verantwortlichen Leuten im Ministerium auch,
„ob seitens des Gartenbaus Tagungen, Erfahrungsaustausche, Begehungen von
Anlagen während dieser Zeit durchgeführt werden sollten“. Offenbar fürch-
tete man Gespräche zwischen den Besuchern aus der DDR mit Ausstellern und
offiziellen Stellen. Vor allem der DBV und die DLG galten als „Feinde der
Neuerermethoden“ und wurden dementsprechend „bearbeitet“.
     Eine weitere Instanz in diesem institutionellen Überwachungszirkel stell-
te die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe dar, deren Aufträge ebenfalls
die „Grüne Woche“ betrafen. Sie war 1946 aus den Bodenreformkommissio-
nen hervorgegangen und verstand sich in den fünfziger Jahren zunehmend als
sozialistische Massenorganisation der Genossenschaftsbauern und -gärtner.
Ihr oblag es, Mitgliedern Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften
(LPG), vor allem deren Vorsitzenden oder auch potenziellen Gründern
den Besuch der „Grünen Woche“ als einen Akt politischer „Diversion“ zu
verleiden. Die Namen jener Mitglieder, die trotzdem fuhren, wurden in der
Presse oder in internen Veröffentlichungen publik gemacht. Vereinzelt – meist
bei „Wiederholungstätern“ – kam es zu Ausschlüssen aus den LPG. Tagungen
zu dieser Zeit in und um Berlin waren unbedingt zu vermeiden. Die VdgB hat-
te bei ihrer Arbeit gegen die „Grüne Woche“ allerdings einen schweren Stand,
denn sie hatte ihr kaum etwas entgegenzusetzen. Die „Grüne Woche“ 1955 war
178                                       Sven Schultze

besonders peinlich: Nie zuvor hatten die Aussteller im industriellen Teil der
Schau eine derart heftige Nachfrage von Bauern aus der DDR nach Ersatz-
teilen für Landmaschinen registriert. Die überalterten Fahrzeuge und Maschi-
nen mussten erhalten werden. Es war allerdings kaum möglich, Ersatzteile über
die Sektorengrenzen zu bekommen.
     Eine stete Provokation für die DDR bedeutete es, dass sich die Bundes-
republik immer wieder für die „Grüne Woche“ starkmachte, nicht zuletzt, um
Verbundenheit mit der „Frontstadt Berlin“ zu demonstrieren. Bundeskanzler
Konrad Adenauer besuchte die Ausstellung mehrmals; später übernahm der
Bundespräsident die Schirmherrschaft. Der Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten, Heinrich Lübke, versicherte auf der „Grünen
Woche Berlin“ 1959 in Anbetracht des sowjetischen Berlin-Ultimatums,
das im Mai ablief, die Stadt könne sich „auf ihre Freunde verlassen“. Ein Jahr
später – die Vergenossenschaftlichung in der DDR-Landwirtschaft war bald
erreicht – demonstrierte er die Zugehörigkeit der bundesdeutschen Landwirt-
schaft zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
     Die Einschätzung der DDR-Partei- und Staatsführung, die in der Ausstel-
lung einzig einen „Tummelplatz dunkler Existenzen“7 sehen wollte, ging an je-
der realistischen Einschätzung vorbei. Der Kampf der DDR gegen die „Grüne
Woche“ erwies sich letztlich als wenig wirkungsvoll. Zu groß war die Anzie-
hungskraft dieser Ausstellung sowie West-Berlins im Allgemeinen. Lediglich
2000 bis 4000 DDR-Bürger konnten pro Jahr am Besuch der Ausstellung direkt
gehindert werden. Eines allerdings erreichte die Strategie der SED: Zeitzeugen
berichten noch heute über die angespannte Atmosphäre auf dem Ausstellungs-
gelände in den späten fünfziger Jahren; beinahe unter jedem Ledermantel wurde
die Staatssicherheit vermutet. Die Bearbeitung der „Grünen Woche“ war zwar
sicherlich nicht der wichtigste Bestandteil innerhalb des Ringens der SED um
die ideologische Neuausrichtung der ostdeutschen Agrarpolitik, dennoch ein
integrativer, der viele Ressourcen band. Für das gesellschaftliche und politische
Leben im geteilten Deutschland jedoch bedeutete die „Grüne Woche“ eine
eminente „Schnittstelle“, einen Kontakt-Halter zwischen Ost und West.

7     Vgl. Neues Deutschland vom 28. 1. 1958, S. 2. So die Einschätzung West-Berlins – speziell der
      „Grünen Woche“ – als einem „Agentennest“. Die eigentliche Botschaft des Artikels war, dass
      das „Kontakthalten mit den ostdeutschen Landsleuten“ auf der „Grünen Woche“ von der
      DDR Partei- und Staatsführung nicht erwünscht war, denn „ihr Stecker passt uns nicht“.
Die DDR im Blick
Ein zeithistorisches Lesebuch

Herausgeben von
Susanne Muhle, Hedwig Richter und Juliane Schütterle

im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
ISBN 978-3-940938-04-6

© 2008 Metropol Verlag
Ansbacher Str. 70 · 10777 Berlin
www.metropol-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Aalexx Druck, Großburgwedel
Inhalt

Einleitung
von Susanne Muhle, Hedwig Richter und Juliane Schütterle                                                                               .........................................   11

Herrschaft im Alltag – Alltag der Herrschaft ....................................................... 17

MICHAEL BIENERT
     Wie demokratisch muss es aussehen?
     Die SED und die Inszenierung der „Volkswahlen“ 1950
     in der DDR .................................................................................................................................................................. 19

MICHAEL PL OENUS
     Zweifelnde Hasen im ideologischen Pfeffer
     Anmerkungen zum Pflichtstudium des Marxismus-Leninismus,
     seiner Tiefenwirkung und seinen Verfechtern ..................................................................... 29

TILMANN SIEBENEICHNER
     Vom Mythos einer kämpferischen Klasse
     Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse und „der Schutz der
     sozialistischen Errungenschaften“ ..................................................................................................... 39

JULIANE SCHÜ T TERLE
     Die toten Helden der Arbeit
     Das Grubenunglück auf Schacht 250 im Uranerzbergbau Wismut
     am 16. Juli 1955 ..................................................................................................................................................... 51
Inhalt

RALPH KASCHKA
        Oberbaukrise!
        Die SED, die Deutsche Reichsbahn und das Gleisnetz der DDR
        in den fünfziger Jahren .................................................................................................................................. 59

MICHAEL HEINZ
        Die Geschichte der individuellen Kuh
        Private landwirtschaftliche Produktion in der DDR                                                           ...................................................   69

HEDWIG RICHTER
        Rechtsunsicherheit als Prinzip
        Die Herrnhuter Brüdergemeine und wie der SED-Staat seine
        Untertanen in Schach hielt ........................................................................................................................ 77

D OROTHÉE B ORES
        „Wenn man ihn kalt stellt und ihn echt isoliert“.
        Wolf Biermann als Mitglied des DDR-PEN ........................................................................... 87

Aufbrüche und Ausbrüche ................................................................................................................... 97

FABIAN KL ABUNDE
        Überreden als Strategie
        Die Mauer war nicht genug ...................................................................................................................... 99

ANDREAS STIRN
        Mit dem Rollschinken nach Utopia
        Die „Fritz Heckert“ als sozialistisches Traumschiff und
        realsozialistischer Albtraum .................................................................................................................... 109

ANNA PELKA
        Wie der Pop in den Osten kam
        Mode in der DDR und in Polen in den sechziger Jahren ......................................... 119
Inhalt

PETER WURSCHI
        „Mir ist so langweilig!“
        Jugend, Alltag und die sozialistische Provinz                                             .......................................................................   129

ANGELIKA Z AHN
        Die Ruine der Dresdner Frauenkirche im Widerstreit
        der DDR-Öffentlichkeit .............................................................................................................................. 139

DANIEL SCHWANE
        Eine Geschichte des Scheiterns im Kalten Krieg
        Das „Berliner Wirtschafts-Blatt“ und der West-Ost-Handel .............................. 149

Grenzüberschreitungen ............................................................................................................................. 157

SUSANNE MUHLE
        Mit „Blitz“ und „Donner“ gegen den Klassenfeind
        Kriminelle im speziellen Westeinsatz des
        Ministeriums für Staatssicherheit ..................................................................................................... 159

SVEN SCHULTZE
        Auftrag „Grüne Woche“
        Die Landwirtschaftsausstellung als Angelegenheit
        deutsch-deutscher Systemkonkurrenz .......................................................................................... 169

PATRICIA F. ZECKERT
        „Eine Versammlung von Sehnsucht“
        Die Internationale Leipziger Buchmesse und die Leser in der DDR                                                                                        ..........   179

JENS NIEDERHU T
        „… das geistige Symbol der Einheit des deutschen Volkes“
        1964 kamen in Weimar Wissenschaftler aus beiden Teilen
        Deutschlands zusammen ............................................................................................................................ 189
Inhalt

U TA ANDREA BALBIER
      „Flaggen, Hymnen und Medaillen“
      Die gesamtdeutsche Olympiamannschaft und die
      kulturelle Dimension der Deutschlandpolitik ..................................................................... 201

SUSANNE TIMM
      Vorherrschaft statt Solidarität
      Das Kinderheim Bellin für namibische Flüchtlingskinder
      von 1979 bis 1990 ................................................................................................................................................ 211

Reflexionen und Wahrnehmungen ....................................................................................... 219

JENS HÜ T TMANN
      So sah die DDR im Jahr 2000 einmal aus
      Mutmaßungen über die Zukunft der SED-Diktatur
      in der Bundesrepublik vor 1989 .......................................................................................................... 221

DANIEL FRIEDRICH STURM
      Mailand statt Magdeburg
      Viele Westdeutsche zeigten wenig Interesse an der DDR. Von einer
      staatlichen Einheit mochte die Politik nicht einmal mehr träumen ........... 229

KATHLEEN SCHRÖTER
      „… reif für eine West-Mission“
      Bildende Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik Deutschland                                                                                                     ............   239

JAN SCHEUNEMANN
      „Laßt die Finger weg von der Parteigeschichte“
      Zur Darstellung der Arbeiterbewegung in den Heimatmuseen
      der frühen DDR ..................................................................................................................................................... 249

CHIARA MARMUGI
      Wolf Biermann und sein Meister Brecht                                                         ...............................................................................   261
Inhalt

UD O GRASHOFF
           Selbsttötung oder durch die Staatssicherheit verschleierter Mord?
           Vier Beispiele aus den achtziger Jahren ...................................................................................... 269

BET TINA GREINER
           Der Preis der Anerkennung
           Zur Erinnerungsliteratur über die Speziallagerhaft                                                                                             .....................................................    281

NINA LEONHARD
           Gewinner und Verlierer der Vereinigung
           Berufsbiografische Bilanzen zweier ehemaliger NVA-Offiziere ...................... 291

Essay               ............................................................................................................................................................................................   301

RALPH JESSEN
           Eine Vorschau auf die Rückschau                                                                  ...................................................................................................    303

Abkürzungsverzeichnis ...........................................................................................................................................                                                  311
Register ........................................................................................................................................................................................                  315
Danksagung ...........................................................................................................................................................................                             319
Die Autorinnen und Autoren ...........................................................................................................................                                                             321
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