TENDENZ - Bayerische Landeszentrale für neue Medien
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TENDENZ 1.20 Das Magazin der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien www.blm.de Klimawandel? Wie digitale Kommunikation die öffentliche Meinungsbildung verändert NEUE RISIKEN NEUE KONZEPTE NEUE AKTEURE GIFT AUS DER GRAUZONE FAKTEN STATT FAKES DIGITALE MEINUNGSFÜHRER Wie Hass und Hetze die Wie sich Desinformation Wie Influencer Diskussionen Online-Debatten gefährden effektiv bekämpfen lässt im Internet beeinflussen
INHALT T I T E L : rose pistola, Shutterstock.com: Alex Gontar, ya_blue_ko, sobakapavlova | B AC KC OV E R : rose pistola, Lauritta/Shutterstock.com | I N H A LT : PolaRocket/photocase.de; rose pistola, andrey2017, Public Domain; iStock.com/kaer_istock; Wikimedia Commons, Rewinside, CC BY 3.0; Heather M. Edwards/Unsplash.com 12 20 4 16 22 KLIMAWANDEL? | WIE DIGITALE KOMMUNIKATION DIE ÖFFENTLICHE MEINUNGSBILDUNG VERÄNDERT TITELTHEMA INFLUENCER Das Partizipationsparadoxon Digitale Meinungsführer? Die öffentliche Meinung unserer Medien- und Netzwerk Influencer erzielen im Internet große Reichweiten. gesellschaft wird zunehmend durch ökonomische Sie können öffentliche Debatten prägen und sind Algorithmen-Logik geprägt. Außer Partizipation können eine Herausforderung für Politik und Journalismus. auch Propaganda und Hass die Folgen sein. Von Matthias Kurp 22 Ein Klimawandel? Von Jan-Hinrik Schmidt 4 DIGITALE MEDIENKOMPETENZ Aufklärung im digitalen Zeitalter POLITISCHE KOMMUNIKATION Weil die Grenzen zwischen Information und Desinforma- Zwischen Emotion und Desinformation tion im Internet immer undeutlicher werden, sind Wissen Das Internet und soziale Online-Netzwerke haben unsere und Aufklärung wichtiger denn je. Kommunikation verändert. Einerseits bieten Social- Von Ines Welzenbach-Vogel 25 Media-Instrumente neue Plattformen zur politischen Teilhabe. Aber sie können auch die Demokratie INTERVIEW gefährden. »Ein hoher Preis, den man zahlt« Von Wolfgang Schweiger 12 Hasnain Kazim findet sich mit Hass-Botschaften im Inter- HASS UND HETZE net nicht ab. Trotz Bedrohungen sucht er die Auseinan- Gefährliches Gift aus der Grauzone dersetzung mit allen, die Meinungsfreiheit mit Pöbelei oder Hetze verwechseln. Pöbler, Trolle, Shitstorms, Hassprediger: Ein kleiner Teil Von Nora Frerichmann 18 der Online-Gemeinde schafft es immer wieder, das Meinungsklima zu vergiften – und beruft sich dabei aus- MEDIENFORSCHUNG gerechnet auf den Artikel 5 des Grundgesetzes. Von Nora Frerichmann 16 Wie Google, Facebook & Co. die Meinungsbildung beeinflussen FACT-CHECKING Die Medienanstalten lassen erforschen, welche Rolle Fakten statt Fakes Suchmaschinen und Social-Media-Plattformen für Lügen und Verschwörungstheorien verbreiten sich online Medienvielfalt und Meinungsbildung spielen. 28 in Sekundenschnelle. Umso wichtiger wird Fact-Checking. SERVICE Wie lässt sich Propaganda stoppen und der Wahrheits- gehalt von Aussagen wirkungsvoll prüfen? Literaturtipps 15 Von Alexander Sängerlaub 20 Medienticker Bayern 31 2 | TENDENZ 1. 20
E DITOR IAL AUTORI NNEN + AUTOREN Siegfried Schneider, Präsident der Bayerischen Dr. Jan-Hinrik Schmidt ist Senior Researcher Landeszentrale für digitale interaktive Medien und politische für neue Medien Kommunikation am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut in Hamburg und erforscht Effekte sozialer Online-Netzwerke. 4 Dr. Wolfgang Schweiger ist Professor des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft und Onlinekommunikation an der Universität Hohenheim. Er forscht unter anderem zur Meinungsbildung im Internet. DIGITALE 12 Nora Frerichmann ist Medienjournalistin AUFKLÄRUNG in Köln. Sie arbeitet unter anderem für die Medienkolumne »Altpapier«, den MDR und die Nachrichtenagentur epd. Sie studierte Journalistik und Amerikanistik an der TU Dortmund. 16 In Zeiten der Corona Krise und der notwendigen sozialen Alexander Sängerlaub leitet im Berliner Think Tank Stiftung Neue Verantwortung Distanz zu unseren Mitmenschen erleben wir so deutlich wie selten, den Bereich »Stärkung digitaler Öffentlich- welch eine zentrale Rolle Information und Kommunikation in unse- keit«. Als Journalist war er unter anderem rem Leben spielen. Ohne die Informationen von Medien und Journa- Chefredakteur des utopischen Politik lismus wäre vieles nicht möglich gewesen: nicht die Einschätzung der magazins »Kater Demos«. aktuellen Situation, nicht die Orientierung für unser eigenes Verhal- 20 ten und wohl auch nicht die Verständigung darüber, welche Freiheiten Dr. Matthias Kurp ist Professor im Fach wir aufzugeben bereit sind, um das Virus einzudämmen. Social- bereich Journalismus/Kommunikation der Media-Plattformen und Video-Konferenzen bieten uns eine Reihe von HMKW Hochschule für Medien, Kommuni kation und Wirtschaft in Köln. Zuvor arbeitete Chancen, auch in Zeiten des »Social Distancing« ein bisschen Nor- er freiberuflich als Medienforscher und malität und soziale Nähe aufrechtzuerhalten. Nie zuvor registrierten Journalist (Print, Online, TV, Hörfunk). Netzbetreiber so viel Datenverkehr. Nie zuvor hatten digitale Medien- P O R T R A I T S : Gabi Hartmann/BLM (Editorial); Leibniz-Institut für Medienforschung, Universität Hohenheim, privat, Me Chuthai, Uwe Völkner/Fox, Uschi Schmidt, BLM 22 angebote eine größere Bedeutung. Nie zuvor aber ließen sich online Dr. Ines Welzenbach-Vogel ist seit 2008 auch so viele falsche Fakten und Verschwörungstheorien verbreiten, Geschäftsführerin des Medienzentrums der waren verunsicherte Menschen so anfällig für Fakes und Fiktion. Universität Koblenz-Landau am Campus Und während der Klimawandel als Umweltthema angesichts still ste- Landau. Sie lehrt und forscht zur Rezeption hender Motoren und Industrieanlagen nicht mehr oberste Priorität und Wirkung von Medien(inhalten). hat, droht das Meinungsklima mancherorts zu kippen. 25 Wir erleben zurzeit einen grundlegenden Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die öffentliche Meinungsbildung wird – jenseits der Bettina Pregel ist stellvertretende Bereichs- leiterin Kommunikation im Bereich Technik, klassischen Massenmedien – zunehmend durch die Effekte von Auf- Medienwirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit merksamkeitsökonomie und Empörungsdemokratie, von »alterna- der BLM. Die gelernte Redakteurin tiven Fakten« (Fake News), von Social Bots, von News-Aggregation und Pressereferentin arbeitete zuvor bei per Algorithmus und neuen medialen Instanzen wie Intermediären Zeitungen und Fachzeitschriften. 28 bestimmt. Die Mediengesellschaft wandelt sich zur Netzwerkgesell- schaft mit erheblichen Folgen für das gesellschaftliche und politi- sche Klima. Massen- und Individualkommunikation gehen ineinan- der über, Journalismus und Public Relations, Fiktion und Wahrheit I M PRESSUM lassen sich medial oft kaum noch voneinander unterscheiden. Zugleich können sich Menschen, die Hass und Hetze verbreiten, hinter Das Magazin TENDENZ der Bayerischen Landeszentrale für Pseudonymen verstecken, und die Sprache wirkt in vielen Social- neue Medien erscheint halbjährlich, der Bezug ist kostenlos. Für namentlich gekennzeichnete Beiträge sind die Autoren verantwortlich; Media-Postings zuweilen barsch, verletzend und unversöhnlich. für unverlangt eingesandte Beiträge wird keine Haftung übernommen. Auch das ist eine Form von Klimawandel, mit der wir uns ausein- Herausgeber und Anschrift der Redaktion: andersetzen müssen. Bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) Wenn Fake News Demokratie destabilisieren, wenn Bürger Heinrich-Lübke-Straße 27, 81737 München Bereich Technik, Medienwirtschaft und Öffentlichkeitsarbeit ihren Glauben an Wohlfahrtsstaat und soziale Gerechtigkeit verlieren Telefon: 089/6 38 08-318 | www.blm.de und zugleich mit Desinformation das Meinungsklima vergiften, sind Leitung: Bettina Pregel, bettina.pregel@blm.de Zivilcourage, Medienkompetenz und digitale Aufklärung gefragt. Redaktion: Prof. Dr. Matthias Kurp Redaktionsschluss: 4. Mai 2020 Mit dieser Tendenz-Ausgabe möchten wir ein wenig dazu beitragen. Art Direction: ROSE PISTOLA, rosepistola.de Druck: novaconcept schorsch GmbH, Kulmbach IHR SIEGFRIED SCHNEIDER 1. 20 TENDENZ | 3
A R T W O R K : rose pistola; Unsplash.com: Dmitriy, Ludvig Wiese; iStock.com/South_agency Soziale Netzwerke ermöglichen eine verstärkte Teilhabe an Meinungsbildung. Allerdings tragen sie auch zur Polarisierung bei und können zu einem gesellschaftlichen Klimawandel führen.
THEMA: M E I N UNGSBI LDUNG IM WANDEL Klimawandel? Wie digitale Kommunikation die öffentliche Meinungs- bildung verändert Das Problem: Meinungs- äußerungen finden in der digitalen Kommuni- kation nicht selten anonym statt, so dass eine kritische Aus- einandersetzung nicht möglich ist. Ein Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung ist nicht auszuschließen. 1. 20 TENDENZ | 5
Internetanbieter können durch Tracking eine Fülle von Daten über nahezu alle Aspekte unseres Alltags sammeln. Der Macht, daraus ökonomischen Profit zu schöpfen, steht bislang keine adäquate gesellschaftliche Gegenmacht gegenüber. 6 | TENDENZ 1. 20
THEMA: M E I N UNGSBI LDUNG IM WANDEL A R T W O R K : rose pistola; Unsplash.com: Prince Akachi, Nathan Dumlao; Shutterstock.com: SOROKAJPG, Alex Gontar, koya979 Es gärt in sozialen Online- Netzwerken: Populistische Rhetorik schlägt oft in enthemmte Hassrede um, die nicht mehr vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt ist. 1. 20 TENDENZ | 7
THEMA: M E I NUNGSBILDUNG IM WAN DEL Das Partizipati Strukturwandel der Öffentlichkeit in Zeiten digitaler Intermediäre Die Entwicklung von der Medien- zur Netzwerkgesellschaft eröffnet Spielräume für mehr Partizipation, verändert aber auch sämtliche Kommunikationsstrukturen. Die öffentliche Meinungsbildung wird zunehmend durch Intermediäre wie Google, Facebook oder YouTube beeinflusst – geprägt durch eine ökonomisch motivierte Algorithmen- Logik. Außer Partizipation können auch Propaganda, Hass und Shitstorms die Folgen sein. Ein Klimawandel? T E X T Jan-Hinrik Schmidt Diese Leistungen, die Medienöffentlichkeit erstreckt sich auch auf fiktionale Inhalte oder erbringen kann und soll, beruhen auf ver- kulturelle Angebote. Sie wirken gesellschaft- schiedenen Mechanismen. Erstens vermit- lich synchronisierend und integrierend, da teln Medien Informationen zu Ereignissen sie orientierende Werte, Normen und Rol- oder Themen, die über den alltäglich erfahr- lenvorbilder kommunizieren und das kollek- baren Nahraum hinaus gehen: Die beiläufige tive Erinnern ermöglichen. Aufnahme von Informationen, die interes- Zugleich vermitteln Medien einen Ein- sierte Lektüre der journalistischen Bericht- druck von der großen Vielfalt an Interessen erstattung zu einem aktuellen Thema, die und Zielen, die in ausdifferenzierten Gesell- gezielte Suche nach vertiefenden Informati- schaften existiert. Daraus wiederum können onen über ein persönliches Interessengebiet Konflikte resultieren, die es zu lösen gilt. – in all diesen Situationen liefern Medien Denn nur wenn sie geregelt und produktiv Die dynamische Entwicklung des Inter- die Grundlage dafür, dass wir unsere Hal- ausgetragen werden und in einen Interes- nets, die vor etwa 25 Jahren begonnen hat, tung zu relevanten Themen und anstehen- sensausgleich münden, statt die reine Macht zieht tiefgreifende, gesellschaftliche Folgen den Entscheidungen formieren, verstärken der Stärkeren zu bestätigen, hält eine Gesell- nach sich. Eine davon ist der Wandel von oder verändern können. schaft zusammen. Auch in dieser Hinsicht Öffentlichkeit, verstanden als die kollek- Damit geht einher, dass Medien be- hat die Medienöffentlichkeit eine wichtige tiv wahrnehmbare Sphäre des Austausches stimmte Themen erst auf die »Tagesord- Aufgabe, denn sie sollte möglichst für alle von Informationen und der wechselseitigen nung« der Gesellschaft setzen können, indem Stimmen innerhalb der freiheitlich-demo- Bezugnahme zu Themen von gesellschaft sie diese in ihre Berichterstattung aufnehmen kratischen Grundordnung zugänglich sein. licher Relevanz. Sie kann auch in Situati und als wichtig kennzeichnen (Agenda Set- Dann kann sie eine Arena bilden, in der ge- onen der Kopräsenz entstehen, also bei Ver- ting). Dabei rücken sie in der Regel auch be- sellschaftliche Gruppen um Unterstützung sammlungen, Demonstrationen oder den stimmte Teilaspekte eines Themas in den für kollektive Ziele wettstreiten und bin- alltäglichen Begegnungen auf Marktplät- Vordergrund und legen Interpretationsrah- dende Entscheidungen über die Wege dort- zen, in Kneipen und Cafés. Doch in moder- men nahe (Framing). Und schließlich kön- hin legitimieren. nen Gesellschaften ist sie untrennbar mit der nen Medien einen Eindruck davon ver- VO N M ASS E N M E D I E N Medienkommunikation verbunden, mehr mitteln, wie die Verbreitung verschiedener ZU INTERMEDIÄREN noch: Unsere Demokratie beruht (auch) auf Meinungen in der Gesellschaft aussieht. Wir dieser Medienöffentlichkeit. Medienkom- erhalten in den Medien also auch Anhalts- Über lange Strecken des 20. Jahrhunderts munikation unterstützt die Bürgerinnen und punkte, ob wir mit unserer Meinung eher al- hinweg lieferten publizistische Massenme- Bürger in ihrer freien Meinungs- und Wil- lein dastehen oder uns in der Mehrheit be- dien, also Printmedien sowie Hörfunk und lensbildung, und sie ist darüber hinaus ein finden. Man mag bei diesen Mechanismen Fernsehen, die Grundlage für Medienöf- wichtiger Eckpfeiler des gesellschaftlichen zunächst nur an den Nachrichtenjourna- fentlichkeit und die daran anknüpfenden Zusammenhalts. lismus denken. Doch Medienöffentlichkeit Leistungen. Das Aufkommen des Internets 8 | TENDENZ 1. 20
ionsparadoxon the world more open and connected« (Fas- Medienöffentlichkeit. Zu Intermediären, die sung von 2009). In diesem »Mitmachnetz« im neuen Medienstaatsvertrag stärker regu- sollten Nutzerinnen und Nutzer keine pas- liert werden sollen, gehören Suchmaschinen siven Empfänger der Massenmedien mehr wie Google genauso wie die Social Commu- sein, sondern sich selbst präsentieren und nities Facebook, Instagram, Twitter und Tik- Beziehungen aller Art pflegen können. Tok oder das Videoportal YouTube. Die Betreiber der sozialen Online- DREI PRINZIPIEN Netzwerke hoben in diesem Zuge stets her- D E R A RC H I T E KT U R VO N vor, dass sie »Plattformanbieter« seien, die keine eigenen Inhalte produzieren und zu- INTERMEDIÄREN dem den transportierten oder erschlossenen Um die Bedeutung der Intermediäre zu Informationen grundsätzlich neutral gegen- begreifen, lohnt sich ein Blick auf ihre kom- überträten. Dieses Insistieren auf die Vermitt- munikative Architektur. Jenseits aller Unter- ler-Rolle diente vor allem dazu, die Verant- schiede in technischen Details und Funk- wortung für die Abläufe und Inhalte auf der tionsweise lassen sich drei grundlegende eigenen Plattform möglichst umfassend ab- Organisationsprinzipien identifizieren. zuwehren und der Politik keinen Anlass zu Erstens betreiben Intermediäre eine bieten, sie in das Regime der Medienregulie- Ent- und Neubündelung von Informatio- lockerte diese Konstellation bereits Ende rung einzugliedern. Diese Strategie war einige nen: Sie erschließen Informationen, die von der 1990er-Jahre auf, und das »Web 2.0« hat Jahre sehr erfolgreich, doch nach und nach unterschiedlichen Akteuren und aus unter- nach der Jahrtausendwende den Struktur- wurde deutlich, dass die sogenannten »sozi- schiedlichen Quellen stammen und zunächst wandel der Medienöffentlichkeit beschleu- alen Medien« zwar anders als publizistische als »Microcontent« – etwa als Tweet, als Face nigt. Zunächst senkten Blogs und Wikipe- Medien funktionieren, aber deshalb nicht we- book-Eintrag oder als YouTube-Video – vor- dia die Hürden für das Erstellen, Verbreiten niger prägend für Meinungsbildung und Me- liegen. Diese Inhalte erreichen die Nutzerin- und Bearbeiten von Informationen aller Art. dienöffentlichkeit sind. Denn sie setzen durch nen und Nutzer nicht mehr in etablierten Sie erweiterten das Spektrum verfügbarer ihre technische Gestaltung und die zugrun- publizistischen Formaten mit eigenen zeit- Informationen und forderten zugleich das deliegenden Geschäftsmodelle wesentliche lichen Rhythmen (wie der »Sendung« oder Gatekeeper-Prinzip heraus, nach dem nur Rahmenbedingungen für Kommunikation der »Ausgabe«), sondern in Gestalt der au- einige wenige professionelle Expertinnen und Informationsaustausch. Dies macht sie genblicklich erstellten, oft auch ständig aktua- und Experten in Redaktionen über die Aus- zu Intermediären, also zu eigenständigen und lisierten »Streams« oder »Timelines«. Welche wahl und Prüfung von Informationen ent- machtvollen Eckpfeilern der gegenwärtigen Inhalte diese Ströme speisen und wie sie scheiden. Ab Mitte der 2000er-Jahre ka- men innovative soziale Online-Netz- Monatlich aktive Nutzer nach Kanälen werke wie YouTube, Facebook und Twitter hinzu, die sich in Verbin- In Millionen, Januar 2020 Quelle: We are social, Unternehmensangaben dung mit dem Siegeszug der Smart- phones und anderer mobiler Kom- munikationsgeräte rasch etablierten. Sie versetzten Menschen in die Lage, ihre eigene persönliche Öffentlich- keit zu schaffen und anderen jeder- zeit, an jedem Ort mitzuteilen, was sie denken und erleben. Damit stan- den neue digitale Plattformen für ein Partizipationsversprechen, das sich in den Formulierungen ihrer Ziele Facebook YouTube WhatsApp Facebook Messenger Instagram Douyin / TikTok QQ Qzone Reddit Twitter Pinterest Snapchat I N F O G R A F I K : rose pistola exemplarisch artikuliert: »Unsere Mission ist es, allen eine Stimme zu geben und ihnen die Welt zu zeigen« (YouTube) oder »Facebook gives people the power to share and make 1. 20 TENDENZ | 9
THEMA: M E I NUNGSBILDUNG IM WAN DEL verbreiten. Zugleich erleich- tern Intermediäre die An- schlusskommunikation zu Wichtigstes Informationsmedium (subjektiv) nach Marktanteilen veröffentlichten Inhalten, indem sie Kommentare und Angaben in Prozent explizite Bewertungen (etwa in Form von »Likes« oder Fernsehen »Thumbs up«) für das Pub- likum sichtbar machen. Weil Radio es technisch sehr leicht mög- lich ist, einzelne Beiträge an Internet das eigene Kontaktnetzwerk weiterzuleiten und zu emp- Tageszeitung fehlen, fördern Intermediäre zudem die unter Umständen Das Internet liegt klar auf Platz 1 Zeitschriften* als subjektiv wichtigstes rasante schneeballartige Ver- Informationsmedium, Fernsehen breitung von Informationen. Keines davon belegt den zweiten Platz. Mit Intermediäre verdrän- Abstand folgt die Tageszeitung. gen somit publizistische Me- dien nicht, verändern aber Zeitschriften*: Zeitschriften, Nachrichtenmagazine, Wochenzeitungen | Basis: 70,598 Mio. Personen ab 14 Jahre in Deutschland, n = 4.396 aufgrund ihrer erkennbar Quelle: Die Medienanstalten, Kantar – MedienGewichtungsStudie 2019–II anderen Medienlogik das Umfeld, in dem diese ope- rieren. Medienöffentlichkeit angeordnet sind, unterliegt nicht mehr der sich dann nicht nur personalisierte Inhalte, wandelt sich zu einer »integrierten Netzwerk redaktionellen Entscheidung, sondern im sondern lässt sich insbesondere auch mög- öffentlichkeit« (Christoph Neuberger), in der Wesentlichen der algorithmischen Selektion. lichst zielgruppengenaue Werbung anzeigen, verschiedene kommunikative Räume mit Damit ist das zweite Organisations- mithin ökonomischer Profit generieren. unterschiedlichen Reichweiten und Medien- prinzip der Intermediäre angesprochen. Al- logiken existieren, die wechselseitig mitein- NEUE FORMEN DER gorithmische Selektion kann in verschiedene ander verflochten sind. Dies hat Konsequen- K O M M U N I K AT I O N Richtungen mit Parametern versehen und zen für die oben skizzierten Mechanismen optimiert werden, doch derzeit dominiert Das dritte Organisationsprinzip, das Inter- der Meinungsbildung und des gesellschaft das Paradigma der Personalisierung von In- mediäre kennzeichnet, ist die Konvergenz lichen Zusammenhalts. formationsangeboten. Nutzerinnen und Nut- von Konversation und Publikation. Lange » I N T E G R I E R T E N E T Z W E R K– zer tragen ihren Teil dazu bei, indem sie be- Zeit waren diese beiden Kommunikations- Ö F F E N T L I C H K E I T« stimmte Akteure, Profile oder Accounts als modi recht klar voneinander zu trennen: Kontakte hinzufügen, »subscriben« oder ih- Massenmedien operierten im Modus des In dieser Hinsicht ist zunächst festzustellen, nen »folgen«, mithin diese als Quellen dem »Publizierens«, das heißt, wenige Akteure dass sich die Menge und das Spektrum der eigenen personalisierten Informationsstrom wählten Informationen nach einem Set pro- verfügbaren Informationen deutlich vergrö- hinzufügen. Doch ein wesentlicher Teil der fessioneller Kriterien aus und verbreiteten ßert haben. Das lässt sich als wünschens- Personalisierung geschieht ohne unser direk- sie an ein breites, verstreutes Publikum, das werte Zunahme von Vielfalt deuten, weil tes Zutun: Die Intermediäre setzen Empfeh- nicht auf dem gleichen Kanal zurück kom- mehr und andere Stimmen und Weltsichten lungs- und Filtermechanismen ein, die unser munizieren konnte. Im Modus der »Kon- Eingang in den öffentlichen Diskurs finden vergangenes Verhalten mit Metadaten über versation« sind hingegen die Rollen von – man denke etwa an marginalisierte Grup- unsere Person und soziale Einbettung kom- »Sender« und »Empfänger« nicht klar ver- pen oder Informationen aus anderen Weltre- binieren, um jeweils spezifische Informatio- teilt, sondern wechseln häufiger, etwa im gionen. Zugleich wird es unwahrscheinlich, nen ein- bzw. auszublenden oder als Empfeh- Gespräch von Angesicht zu Angesicht oder dass sich in den sozialen Online-Netzwerken lungen hervorzuheben. am Telefon. ähnlich übergreifend gesamtgesellschaftliche Der Social Community gegenüber In den sozialen Online-Netzwerken Themen setzen und Debatten synchronisie- wird diese algorithmische Personalisierung findet sich auch publizistische Kommunika- ren lassen, wie wir es von den Massenme- mit dem – zweifelsfrei oft zutreffenden – Ar- tion, wenn etwa journalistische Redaktionen dien kennen. gument gerechtfertigt, relevantere und bes- Facebook-Seiten oder Twitter-Accounts be- Deutlich größer hingegen sind die sere Informationen präsentieren zu können. treiben, um ihre Nachrichten und Inhalte zu Chancen für themen- oder interessenspezi- Aus Betreibersicht ist das entscheidende Er- fische Subgruppen, sich dort zu finden und folgskriterium allerdings, dass beziehungs- auszutauschen. Solange sich solche Gemein- weise ob sich Reichweite und Verweildauer schaften die Offenheit für Informationen und I N F O G R A F I K : rose pistola im eigenen Angebot erhöhen, die sich wie- Ansichten jenseits des eigenen partikularen derum durch Werbung monetarisieren las- Interesses bewahren, und solange es daneben sen. Denn dies führt außerdem dazu, dass publizistische Medien gibt, die Informationen sich mehr Datenspuren der Nutzerinnen und nach breiter gesellschaftlicher Relevanz aus- Nutzer ergeben. Auf dieser Grundlage lassen wählen und möglichst objektiv aufbereiten, 10 | TENDENZ 1. 20
wäre der gesellschaftliche Zusammenhalt unkommentiert eine Bühne bieten. Vor al- gelten. Die mathematischen Prozeduren nicht bedroht, sondern wohl eher gestärkt. lem aber gärt es in den sozialen Online-Netz- wird man vermutlich (wie gefordert) allge- werken, wo populistische Rhetorik allzu oft meinverständlich erläutern können. Aber sie BEDROHUNG DES in Hassrede umschlägt, also in verunglimp- sind zum Verständnis des konkreten Outputs GESELLSCHAFTLICHEN fende, verhetzende, sexistische oder rassisti- nicht hinreichend. Denn zu welchem Er- Z U S A M M E N H A LT S ? sche Sprache, die nicht mehr vom Recht auf gebnis die algorithmischen Systeme führen, Allerdings liefern empirische Studien aus freie Meinungsäußerung gedeckt ist (siehe hängt maßgeblich davon ab, welche Daten- den vergangenen Jahren wie etwa der jähr- S. 16-17). bestände (über eine Person und deren Nut- lich durchgeführte »Digital News Report« zungssituation, aber auch über den Pool der MEDIENPOLITISCHE des Reuters Institute Indizien, dass sich ein möglichen Inhalte) als Input und Trainings- G E S TA LT U N G momentan noch kleiner Teil der Bevölke- daten für maschinelles Lernen zugrunde lie- rung vorrangig oder ausschließlich auf das NOTWENDIG gen. Hier wird es hoffentlich bald innovative personalisierte Informationsbouquet der Diese Diagnosen machen deutlich, dass Ansätze geben, den Nutzern nachvollziehbar sozialen Netzwerke verlässt. Dies kann Aus- die Regulierung sozialer Online-Netzwerke zu erläutern, warum ihnen welche Inhalte druck mangelnden Interesses an gesellschaft- wichtiger denn je ist, um demokratische angezeigt wurden. lich relevanten Themen sein oder auch des Grundlagen von Meinungsbildung und KEINE GEGENMACHT verfestigten Misstrauens gegenüber dem Zusammenhalt zu schützen. Deutschland F Ü R FA C E B O O K , G O O G L E »Mainstreamjournalismus«, sodass sich diese hat hier in letzter Zeit zwei Regelwerke ent- Menschen vorrangig aus »Alternativmedien« wickelt, die dezidiert (auch) Intermediäre in UND CO. unterschiedlicher Couleur informieren. Sol- den Blick nehmen. Sie signalisieren internati- Doch so lobenswert (und politisch müh- ches Verhalten ist insofern beunruhigend, als onal eine Vorreiterrolle, werfen zugleich aber sam) diese Regelungsversuche auch sind, sie es von dort oft nur ein kleiner Schritt ist in Probleme auf. berücksichtigen das wesentliche Problem die Echokammern von extremen politischen Das »Netzwerkdurchsetzungsgesetz« der gegenwärtigen integrierten Netzwerköf- Ideologen, von Leugnern des Klimawandels, nimmt die Betreiber sozialer Online-Netz- fentlichkeit zu wenig: Einige wenige Anbie- von Anhängern obskurer Verschwörungsthe- werke stärker in die Pflicht, rasch auf Hass- ter monopolisieren eine historisch nicht orien und anderer wissenschaftsfeindlicher rede und andere grenzüberschreitende Äu- gekannte Fülle von Daten über nahezu alle Esoterik. Diese Ansichten und Argumente ßerungen zu reagieren. Eine umfassende und Aspekte unseres Alltags. Der Macht, diese haben aus guten Gründen keinen Platz in systematische Überprüfung der Folgen die- Datensammlung kontinuierlich auszuweiten den journalistischen Medien. In den sozia- ses Gesetzes steht noch aus, aber es zeigt sich und daraus ökonomischen Profit zu schöp- len Online-Netzwerken allerdings florieren bereits jetzt, wie schwer und delikat die Ein- fen, steht bislang keine adäquate gesellschaft- solche Nischen, wo sich Gleichgesinnte fort- stufung von Aussagen dies- und jenseits der liche Gegenmacht gegenüber. Mitsprache- während in ihrer eigenen Meinung bestärken Grenzen freier Meinungsäußerung ist. Zu- rechte haben die Nutzer nicht: Facebook, oder gar radikalisieren können. dem ist nach wie vor ungeklärt, inwieweit Google und Co. reduzieren sie auf die Kon- Soziale Online-Netzwerke können den solche sehr grundlegenden Entscheidun- sumenten-Rolle. Und selbst eines der weni- gesellschaftlichen Zusammenhalt aber nicht gen von den privatwirtschaftlich organisier- gen Druckmittel, das in dieser Rolle noch nur gefährden, insoweit sie die Chance er- ten Intermediären getroffen werden können bliebe, nämlich das Ausweichen auf alter- höhen, dass sich problematische Weltsichten und sollten. native Anbieter, ist für viele keine wirkliche festigen, sondern auch indem sie den gere- Der neue Medienstaatsvertrag hingegen Option – denn zu den meisten großen Platt- gelt ausgetragenen Disput zu unterminie- bezieht erstmals die Intermediäre systema- formen gibt es aufgrund der Netzwerk- und ren drohen (siehe S. 12–14). Ihre Medienlo- tisch in die Medienregulierung mit ein und Lock-in-Effekte schlicht keine halbwegs ver- gik belohnt das Kurze, das Zugespitzte und formuliert unter anderem Vorgaben, um die gleichbare Alternative. das Polarisierende mit Likes, Retweets und Medienvielfalt auch unter Bedingungen algo- Im Kern werfen die sozialen Online- algorithmisch generierten Empfehlungen, rithmischer Selektion zu gewährleisten. Die Netzwerke daher ein »Partizipationspara- kurz: mit erhöhter Aufmerksamkeit. Das Konkretisierung durch die Landesmedien- doxon« auf: Einerseits ermöglichen sie die muss nicht zwingend dazu führen, dass kein anstalten wird zeigen, inwieweit sich dieses Teilhabe vieler Menschen an öffentlicher verständigungsorientierter Austausch mehr Ziel erreichen lässt. Sie erarbeiten für diese Meinungsbildung und Debatte, auch in- stattfindet, denn gesellschaftliche Debatten Vorgabe gerade einen regulatorischen Rah- dem sie Themen und Argumente sichtbar benötigen pointierte Beiträge, die den eige- men, der auch auf ihren Forschungsergeb- machen, die möglicherweise in den journa- nen Standpunkt deutlich markieren. Aber nisse zum Thema Intermediäre basiert (siehe listischen Medien kein Gehör finden. An- zur Verständigung gehört auch das Nach- S. 28–30). Besonders interessant verspricht dererseits entziehen sie sich als (Medien-) fragen, das Abwägen, das Aufeinanderzu- die Umsetzung der Transparenzvorschrif- Konzerne selbst der gesellschaftlichen Ge- gehen. Diese kommunikativen Akte haben ten zu werden, die für algorithmische Filter- staltung und Kontrolle. Es ist eine der drän- es dann schwer, sich durchzusetzen. Hinzu und Empfehlungsmechanismen zukünftig gendsten (medien-)politischen Herausforde- kommt, dass mittlerweile klar erkennbar ist, rungen zu Beginn der 2020er-Jahre, dieses wie rechtspopulistische und rechtsextreme Paradoxon aufzulösen und Voraussetzun- Gruppen die Grenzen gesellschaftlich akzep- gen zu schaffen, dass sich Alternativen zu tabler Äußerungen kontinuierlich ausreizen den derzeit dominierenden Intermediären und durch Überschreitung zu verschieben etablieren können. versuchen. Dies schlägt sich punktuell auch in den journalistischen Medien nieder, wenn etwa Talkshows rhetorischen Brandstiftern 1. 20 TENDENZ | 11
POLITI SCHE KOM MUNI KATION C O L L A G E : rose pistola; Shutterstock.com: FotoHelin, andrey2017; Wikipedia/Public Domain Wenn Aluhüte vor »Chemtrails« schützen sollen und Partizipation in Desinformation mündet: Im Internet kursieren viele seltsame Verschwö- rungstheorien und belegen die Anfälligkeit von Teilen der Gesellschaft gegenüber Angst schürenden Online-Fantasien. 12 | TENDENZ 1. 20
POLITI SCHE KOM MUNI KATION Zwischen Emotion und Desinformation Politische Kommunikation im Wandel Aussagen in der Berichterstattung, über die journalistische Neigung, Das Internet und soziale Online-Netzwerke haben die politische den Wahlkampf als Wettkampf zu Kommunikation grundlegend verändert. Einerseits bieten inszenieren (Horserace Journalism), Konflikte zu dramatisieren (Nega- Social-Media-Instrumente und digitale Kampagnen tivismus und Emotionalisierung) neue Partizipationspotenziale. Andererseits können sie auch und sich auf Spitzenkandidaten und desinformieren und die Demokratie destabilisieren. deren persönliche Eigenschaften zu T E X T Wolfgang Schweiger konzentrieren (Personalisierung). Im Internet können politische Akteure am Journalismus vorbei (Journalism Bypassing) ihre eigene und vollstän- dige Sicht der Dinge verbreiten. Doch damit sind allerdings Nachteile für die Gesellschaft ver- bunden: Auch politische Kommu- B nikatoren unterliegen den gängigen Aufmerksamkeitsregeln im Internet, Beginnen wir mit einem Rückblick: Noch weshalb ihre Angebote oft noch weniger Sachthemen und Argumente vor fünfzehn Jahren unterlag die öffent- enthalten und noch emotionaler gehalten sind als die klassische Medi- liche Kommunikation aller politischen enberichterstattung. Das gilt besonders für populistische Kräfte wie und sonstigen gesellschaftlichen Akteure die AfD, die hauptsächlich negative Emotionen wie Frust, Neid und weitgehend der Kontrolle journalistischer Hass ansprechen. Emotionalisierungsstrategien sind aber durchaus Medien. Wollten Parteien, Politiker und auch in der Netzkommunikation anderer Parteien zu beobachten. Interessensvertreter mit ihren Botschaf- ten viele Menschen in kurzer Zeit errei- G E FÄ H R L I C H E R chen, waren sie auf den Journalismus PSEUDO-JOURNALISMUS angewiesen. Journalisten und Redakteure fungierten als Schiedsrich- ter und entschieden darüber, welche Themen, Stimmen, Argumente Gerade auf Social-Media-Plattformen werden solche Inhalte beson- gesellschaftliche Relevanz hatten und im öffentlichen Diskurs Gehör ders häufig geklickt, kommentiert, gelikt und weitergeleitet. Emo- fanden (Gatekeeper-Funktion). Sie überprüften politische Botschaf- tionalisierende Themen und Botschaften verbreiten sich erwiese- ten auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre argumentative Stichhaltigkeit, nermaßen öfter viral und erreichen in kurzer Zeit viele Menschen. fassten sie in vereinfachter und verständlicher Form zusammen und Zudem schaffen die Plattformen mit ihrer algorithmischen Persona- kommentierten die Aussagen und Handlungen politischer Akteure. lisierung Anreize, dass politische Kommunikatoren Inhalte posten, Die große Mehrheit der Bürger vertraute der Auswahl, Kontrolle, auf die möglichst viele Fans aktiv reagieren. Nur dann werden sie Qualitätssicherung und Vermittlungsleistung des Journalismus. später auch noch in den Newsfeeds der Fans kostenlos angezeigt. Gelingt das nicht, lassen sich Facebook & Co. die Verbreitung von POPULISMUS UND Posts bezahlen (Sponsored Posts). INSZENIERUNG Die etablierten Parteien haben in den vergangenen Wahlkämp- fen teils erhebliche Beträge in Social-Media-Kampagnen investiert, Mit dem Internet, Intermediären und sozialen Online-Netzwerken um die Bürger zielgerichtet mit ihren Werbebotschaften zu erreichen hat sich das verändert: Jeder Akteur mit politischen Interessen kann (Microtargeting, siehe S. 28–30). Die AfD hatte bezahlte Werbung, wie ungefiltert seine Botschaften verbreiten – über Websites, YouTube, die Microtargeting-Studie im Auftrag mehrerer Medienanstalten Twitter, Facebook, Instagram und andere Kanäle. Und alle können diese Botschaft mit Suchmaschinen oder Social Media suchen, fin- den und an Dritte weiterleiten. Das hat Vorteile für politische Kom- munikatoren, klagten sie doch schon lange über Verkürzung, Ver- einfachung, oft auch einseitige Verzerrung von Sachverhalten und 1. 20 TENDENZ | 13
POLITI SCHE KOM MUNI KATION HÄUFIG WERDEN HALBWAHRE ODER GAR als ein Machwerk eines EIKE-Aktivisten in einem Predatory Journal heraus. Wer soll da noch durchblicken? ERFUNDENE Gerade in den sozialen Online-Netzwerken verbreiten sich INHALTE Halbwahrheiten, Lügen und Verschwörungstheorien erwiesenerma- ßen besonders stark – schlicht deshalb, weil sie oft mehr Aufreger- und VERBREITET Hasspotenzial als wahrheitsgemäße Aussagen haben. Damit stehen politische Kommunikatoren nicht nur vor der Herausforderung, die Bürger von den eigenen Problemlösungskompetenzen zu überzeugen. Es geht auch darum, die politische Relevanz bestimmter Themen – zeigt, kaum nötig: Ihre populistisch-emotionalisierende Kommuni- Immigration, Klimakrise, Mobilitätswandel, soziale Ungleichheit usw. kation wurde von Tausenden treuen Anhängern weiterverbreitet. Das – über das eigene politische Lager hinaus zu bewerben und damit kostet nichts und schafft im eigenen Meinungslager erhebliche Reich- verbundene Desinformationen online zu bekämpfen. weiten. Zusätzlich tragen virtuelle Nutzerprofile, sogenannte Social Bots, zur Verbreitung von Posts bei. In welchem Umfang das geschieht, G E FA H R D E R ist schwer zu sagen. Man geht derzeit davon aus, dass die Social-Media- MEINUNGSPOLARISIERUNG Reichweiten politischer Botschaften im deutschen Sprachraum deut- lich mehr von aktiven, teilweise auch organisierten Anhängern als von Gleichzeitig gibt es derzeit nur wenige Instanzen, die den Wahrheits- Social Bots geprägt werden. gehalt politischer Botschaften im Internet kontrollieren und die Ver- Unterstützung erhalten populistische Parteien von (rechts-) breitung von Falschaussagen verhindern. Zwar gehen Gesetzgeber, alternativen Medien. Das sind vermeintlich journalistische Online- Gerichte, Medienaufsichten und Strafverfolgungsbehörden in vie- Angebote mit häufig unklarer Finanzierung, die politisch einseitige, len Ländern zunehmend gegen Äußerungsdelikte wie Verleumdung, emotionalisierende, oft auch halbwahre oder gar erfundene Inhalte Beleidigung und Volksverhetzung vor. Alle Social-Media-Plattfor- verbreiten. Ihr erklärtes Ziel besteht meist men experimentieren mit Fact- darin, ein Gegengewicht zum vermeint Checking-Lösungen. Manche lichen Meinungs-Mainstream in Medien, markieren fragwürdige Inhalte Politik und Gesellschaft herzustellen. und Quellen als solche und Alternative Medien wie Epoch Times beschränken deren Verbreitung oder RT Deutsch erreichen mittlerweile durch veränderte Algorithmen. im deutschsprachigen Raum Millionen von Twitter und andere Plattformen Menschen – von der medialen Öffentlich- haben angekündigt, politische keit weitgehend unbemerkt. Wahlwerbung einem Fact-Che- Neben solchem Pseudo-Journalis- cking zu unterziehen oder ganz mus mehren sich pseudo-wissenschaftliche zu verbieten. Facebook hin Akteure im Internet. Kostenlos zugängli- gegen lehnt jegliche Beschrän- che »Predatory Journals« (Raubtier-Fach- kung politischer Wahlwerbung zeitschriften) kommen wie ›echte‹ Online- ab. Gleichwohl fordert sein Fachzeitschriften mit wissenschaftlicher Gründer Marc Zuckerberg mitt- Qualitätssicherung daher, publizieren l er weile öffentlich eine ver- jedoch gegen Bezahlung jeden halbwegs schärfte staatliche Regulierung wissenschaftlich wirkenden Schrott. seiner Plattformen. Durch ver- änderte Algorithmen ließen sich H A L B WA H R H E I T E N beispielsweise Filterblasen und Echokammern in den sozialen UND VERSCHWÖRUNGS- Online-Netzwerken abschwächen, so dass Mitglieder bestimmter Mei- THEORIEN nungslager stärker mit Themen und Meinungen anderer Weltbild- Milieus in Berührung kämen. Andere Akteure beteiligen sich am politischen Meinungskampf durch Dessen ungeachtet sind fragwürdige Tatsachenbehauptungen die Verbreitung von fragwürdigen Studien, verschwörungstheore- und Verdrehungen, wie sie im politischen Diskurs seit jeher vorkom- tischen Büchern und Pseudo-Aufklärungsvideos auf YouTube. Im men, auch online vom Recht auf freie Meinungsäußerung und Presse- deutschsprachigen Raum bringt etwa das »Europäische Institut für freiheit gedeckt (Artikel 5 Grundgesetz). Insofern müssen politische Klima & Energie« (EIKE) Klimaleugner zusammen, die ihre Studien Akteure und Zivilgesellschaft auch zukünftig damit zurechtkommen, auf Tagungen vortragen und in Predatory Journals veröffentlichen. So dass online eine unüberschaubare Vielzahl und Vielfalt inhaltlich findet man beispielsweise auf Facebook zu Medienberichten über die fragwürdiger, populistischer, emotionalisierender Inhalte existiert Klimakrise Nutzerkommentare, die die menschengemachte Klima – in der politischen Kommunikation und weit darüber hinaus. Die erwärmung leugnen und als Nachweis auf eine glaubwürdig wir- Gefahr der Verstärkung politischer Einstellungen in einigen poli kende, vermeintlich wissenschaftliche Studie in einer Fachzeitschrift tischen Lagern und einer Meinungspolarisierung unserer Gesellschaft verlinken. Erst nach genauerer Nachforschung stellt sich das Ganze besteht also weiter. 14 | TENDENZ 1. 20
S E RVICE L I T E R AT U RT I P P S Bücher Charakter von Öffentlichkeit Sarah Spiekermann Der emeritierte Journalistik- verändern und zu einer Digitale Ethik Professor plädiert für weniger »Empörungsdemokratie« führen ökonomische Zwänge und Ein Wertesystem für das können. Dagegen setzt der fordert im Zeitalter »toxischer 21. Jahrhundert Tübinger Medienwissenschaftler Rhetorik« mehr Medienethik Droemer Verlag, München 2019 Pörksen seine »konkrete Utopie und publizistische Qualität. der redaktionellen Gesellschaft« »Fortschritt braucht Weisheit und fordert einen »dialogischen und Mut – Maschinen fehlt Journalismus«. beides«, sagt Sarah Spieker- mann. Die Professorin für Wirt- schaftsinformatik und Gesell- Vincent F. Hendricks, schaft der Wirtschaftsuniversität Mads Vestergaard Wien ruft dazu auf, die Digita lisierung so einzusetzen, dass Postfaktisch der Begriff Wertschöpfung nicht Die neue Wirklichkeit in Zeiten ökonomisch, sondern normativ von Bullshit, Fake News zugunsten von Werten wie und Verschwörungstheorien Zufriedenheit, Gemeinschaft Kai Blessing Verlag, und Wissen gedeutet wird. Landesanstalt für Medien München 2018 NRW (Hrsg.) Adrian Lobe Die beiden dänischen Philo- Was ist Desinformation? Speichern und Strafen sophen Hendricks und Vester Betrachtungen aus Die Gesellschaft im gaard analysieren das Zeitalter Datengefängnis sechs wissenschaftlichen der Aufmerksamkeitsökonomie, Perspektiven in dem Demokratien durch Fake Verlag C.H.Beck, München 2019 Düsseldorf 2020 News, Lügen, Propaganda und Adrian Lobe warnt vor unseren In dem knapp sechzig Seiten Verschwörungstheorien bedroht Datenspuren der Digitaltech- umfassenden Sammelband sind. Sie beleuchten postfak- nik, die Nutzerinnen und Nutzer finden sich sechs Aufsätze über tische Zustände, in denen po schließlich in ein »Datenge- Definitionen und Folgen von litisch opportune, aber faktisch fängnis« führen könnten, in dem Desinformation, über Optionen irreführende Narrative statt Algorithmen unsere Freiheit Siegfried Weischenberg für Medienpolitik und -aufsicht. Fakten als Grundlage für die begrenzen. Die gefährlichen Kon- Medienkrise und Dazu äußern sich Wissenschaft- politische Debatte, Meinungsbil- sequenzen seien ein »Techno-Au- Medienkrieg ler und Experten von Hoch dung und Gesetzgebung dienen. toritarismus« und digitaler Über- Brauchen wir überhaupt schulen in Amsterdam, wachungskapitalismus, fürchtet noch Journalismus? Mannheim, Konstanz, Budapest Bernhard Pörksen der Journalist und Buchautor. Springer Fachmedien, und Köln sowie der Stiftung Die große Gereiztheit Wiesbaden 2018 Neue Verantwortung. Wege aus der kollektiven Angesichts der wachsenden Be- Download unter: Erregung https://t1p.de/5bn8 deutung von Social Media und Carl Hanser Verlag einer Krise des Journalismus 3. Auflage, München 2019 beschreibt Siegfried Weischen- Im Mittelpunkt des Buches berg, warum eine demokratische stehen Effekte der digitalen Netz- Gesellschaft weiterhin auf werkgesellschaft, welche den Journalismus angewiesen ist. Empfehlung der Tendenz-Redaktion Am Scheideweg Die Digitalisierung verursacht gesellschaftliche gehe es nun darum, »das Netz zurückzuerobern«, da- Nebeneffekte wie Online-Monopole, Datenschutz- mit von der Digitalisierung möglichst viele profitieren. risiken oder Autonomieverlust. Das hat Auswir- »Wir stehen derzeit am Scheideweg«, warnt die Auto- kungen auf Arbeitswelt, Privatsphäre, Verbrau- rin. Deshalb setzt sie sich für Transparenz und Da- cherschutz und politische Entscheidungsprozesse. tenschutz ein, fordert mehr Wettbewerb und Markt- Ingrid Brodnig entwickelt deshalb Vorschläge für aufsicht, mehr Vielfalt statt der Online-Oligopole mehr Fairness und Chancengleichheit. und plädiert für »öffentlich-rechtliche Diskussions Wir müssten uns die Frage stellen, »ob das Internet räume«. Ingrid Brodnig macht konkrete Vorschläge in seiner jetzigen Form und mit den aktuell vorherr- für ein »gerechtes Internet«, das »nach demokrati- schenden Geschäftsmodellen genügend für uns alle schen Werten« weitergeformt werden müsse. abwirft«, formuliert die österreichische Journali- Ingrid Brodnig: Übermacht im Netz. stin den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. An- Warum wir für ein gerechtes Internet kämpfen müssen. gesichts der Übermacht ökonomischer Interessen Christian Brandstätter Verlag. Wien 2019. 1. 20 TENDENZ | 15
HASS & HETZE Online-Hass gegen Bun- deskanzlerin Angela Mer- kel: Zwei Facebook-Nutzer hatten diese Kommen- tare im Facebook-Auftritt der Märkischen Allge- meinen Zeitung gepo- stet. Der Verlag reagierte mit einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Wie Hass und Hetze den öffentlichen Diskurs bedrohen Gefährliches Gift aus der Grauzone Es ist nur ein verhältnismäßig Hate Speech ist in Deutsch- licher Aufforderung zu Straftaten, Beleidi- kleiner Teil der Online- land kein eigenständiger gung, Verleumdung, Nötigung oder Bedro- Straftatbestand. Menschen- hung. Jenseits davon existiert eine gefährliche Nutzerinnen und Nutzer, der verachtende Äußerungen Grauzone für vieles, das öffentliche Mei- aber ist sehr laut: Pöbler und gegen Einzelne oder Grup- nungsbildung vergiften kann. Hassprediger machen im pen, die im Internet wegen FRAGILE BALANCE Internet eine kleine, aber oft Eigenschaften wie ihrer Herkunft, Hautfarbe, gut organisierte Minderheit oder Sexualität, ihres Geschlechts oder Alters, In vielen Fällen führen Äußerungen im Inter- ihrer Behinderung, Religion oder politischen net zu einem schwierigen Spagat, einer Abwä- aus, die es immer wieder Haltung verbal angegriffen werden, sind nicht gung zwischen Persönlichkeitsrechtsverlet- schafft, öffentliche Debatten immer justiziabel. Für Strafanzeigen müssen zungen und Straftaten auf der einen und zu prägen. T E X T Nora Frerichmann die Postings straf- oder zivilrechtlich relevant Meinungsfreiheit auf der anderen Seite. Die sein, etwa wegen Volksverhetzung, öffent Balance ist wichtig, kann wegen der durch die 16 | TENDENZ 1. 20
HASS & HETZE digitale Kommunikation sichtbaren Masse line-Kommunikationsräume stärker zu tren- eingeleitet werden. Eine erste Evaluation des an Hass und Hetze aber auch dazu führen, nen. Der Eindruck einer allgegenwärtigen Projekts ist für Sommer 2020 geplant. dass Menschen sich eingeschüchtert fühlen Hassrede entstehe auch durch eine unüber- Neben juristischer Verfolgung spielen und aus dem Diskurs zurückziehen. Laut sichtliche digitale Öffentlichkeit. aber auch Medienkompetenz und Engage- einer Studie des Instituts für Demokratie Einen Ansatzpunkt sieht er darin, ment der digitalen Gesellschaft eine Rolle. und Zivilgesellschaft in Jena (IDZ) bringen unterschiedliche Standards für einzelne di- Laut einer Umfrage der Landesanstalt für Me- mehr als die Hälfte der Befragten (54 Pro- gitale Öffentlichkeitsräume und deren Kom- dien-Nordrhein-Westfalen von 2019 positi- zent) wegen Hate Speech oder aus Angst munikationsarten einzuführen. »Je nachdem, oniert sich lediglich ein Viertel (24 Prozent) davor seltener ihre politische Meinung in ob es sich zum Beispiel um journalistische, der Befragten kritisch gegen Hate Speech und Online-Diskussionen ein. Die Meinungs- wissenschaftliche oder private Kommunika- antwortet auch darauf. »Viele sagen noch freiheit der einen schränkt damit gewisser- tion oder einen Rotlichtbezirk handelt, sind nichts, weil sie sich nicht trauen, weil sie maßen die Freiheit anderer ein. abgestufte Regeln sinnvoll«, erklärt Gos- Angst haben oder weil sie nicht wissen wie«, Betroffene kritisieren, dass juristische tomzyk. So könne, wie im analogen Leben, sagt Hasnain Kazim, der sich seit Jahren öf- Verfahren noch zu oft ohne Konsequenzen auch online wieder stärker zwischen privater fentlich gegen Angriffe wehrt (siehe Interview für die Täter bleiben. Diese Erfahrung hat und Massenkommunikation getrennt wer- auf S. 18/19): »Denen möchte ich einen Im- auch der Journalist und Autor Hasnain Ka- den, statt das ganze Internet strenger zu puls geben, den Mund aufzumachen.« zim gemacht. Die Verfahren aufgrund seiner regulieren. bisher gestellten Strafanzeigen wurden alle M E D I E N A N S TA LT E N eingestellt, weil entweder der Verfasser nicht M I T I N I T I AT I V E N ermittelt werden konnte oder weil die Ver- Haben Sie persönlich dächtigen ihre Schuld mit Verweis auf eine G E G E N H AT E S P E E C H schon Hate Speech Mehrfachnutzung des Computers zurück- Um das World Wide Web mit seinen aktu- wiesen. Wenn Betroffene gegen Hass vor- ellen Regeln nicht den Hetzern zu überlas- im Internet gesehen? gehen, müssen sie oft Gerichtskosten vor- sen, haben sich verschiedene Initiativen strecken und Anwaltskosten zahlen. Dieses gebildet. So unterstützt HateAid Opfer von Keine Angabe 4% Risiko können und wollen viele nicht ein- Hate Speech seit Sommer 2019 rechtlich und 40% gehen. »Im November und Dezember habe psychologisch. Die Organisation klagt Scha- ich etwa 15 Morddrohungen am Tag bekom- denersatz und Schmerzensgeld ein, trägt die men«, sagt Hasnain Kazim und rechnet vor: Kosten für Anwälte und das Prozessrisiko, Ja Nein »Das wären ja an die 60.000 Euro pro Tag, etwa im vielbeachteten Fall von Renate Kün- 56% die ich vorstrecken müsste für zivilrechtliche ast. Die Politikerin von Bündnis 90/Die Grü- Prozesskosten. Woher soll ich das nehmen?« nen war mit ihren Klagen gegen Beschimp- fungen wie »perverse Drecksau« oder »Stück GESETZ GEGEN Scheiße« zunächst juristisch gescheitert. Gesamt H A S S K R I M I N A L I TÄT Mittlerweile haben Land- und Kammerge- Das Bundeskabinett reagierte Ende 2019 richt Berlin die Entscheidung in zwölf Fällen 3% mit dem Entwurf eines Gesetzespaketes geändert und sie als Beleidigung eingestuft. 48% zur Ahndung von Hasskriminalität. Wäh- Initiativen gegen Hassrede verfolgen rend das 2017 verabschiedete Netzwerk- auch verschiedene Medienanstalten, zum durchsetzungsgesetz dafür sorgen soll, dass Beispiel mit Projekten wie: rechtswidrige Inhalte gelöscht werden, sieht Nein Ja I L L U S T R A T I O N : rose pistola; Natata /Shutterstock.com; Quelle Facebook-Zitat: Märkische Allgemeine Zeitung der Entwurf für die neuen Regelungen bei- • »Verfolgen statt nur löschen«, 49% spielsweise vor, Beleidigungen im Internet als Landesanstalt für Medien NRW öffentlich anzusehen, Strafen etwas zu ver- und mabb schärfen und die Verfolgung Verdächtiger zu • »Verfolgen und Löschen«, vereinfachen. Facebook & Co. sollen straf- Medienanstalt Rheinland-Pfalz Menschen mit bare Postings künftig nicht mehr nur löschen, • »Resignation ist keine Option«, Brema Migrationshintergrund sondern in schweren Fällen auch dem Bun- • »Doppeleinhorn«, LMS deskriminalamt (BKA) melden. Der Bun- • »Justiz und Medien – konsequent 4% desrat setzt sich zudem dafür ein, Anbieter gegen Hass«, BLM und Bayerisches 73% sozialer Online-Netzwerke zu verpflichten, Justizministerium Strafverfolgungsbehörden Auskünfte über > www.konsequent-gegen-hass.de Nein Urheber von Hass-Postings zu geben. 23% Ja Gesetzesverschärfungen allein bieten Die BLM-Initiative richtet sich bewusst an nach Ansicht von Tobias Gostomzyk aller Medienhäuser. Sie soll Redaktionen helfen, dings keine Lösung. Er warnt vor Über- Hassrede unkompliziert an Staatsanwalt- regulierung: »Das Recht ist letztlich kein schaften zu melden. In Bayern beteiligen sich Allheilmittel gegen Hassrede«, sagt der Me- laut Justizministerium etwa 65 Unternehmen dienrechtsprofessor von der TU Dortmund. aktiv daran. Bislang konnten bereits mehr 18 bis 24 Jahre Stattdessen schlägt er vor, verschiedene On- als hundert Prüf- und Ermittlungsverfahren Quelle: YouGov/IDZ 2019 | Angaben in Prozent, n = 7.337 1. 20 TENDENZ | 17
I NTERVIEW Hasnain Kazim kämpft trotz Morddrohungen weiter gegen Hate Speech »Ein hoher Preis, den man zahlt« Der Buchautor Hasnain Kazim will sich mit Hass-Botschaften im Internet nicht abfinden. Obwohl er massiv beschimpft und bedroht wird, sucht er die Auseinanderset- zung mit allen, die Meinungsfreiheit online mit Pöbelei oder Hetze verwechseln. INTERVIEW Nora Frerichmann 18 | TENDENZ 1. 20
I NTERVIEW Tendenz: Sie haben mal gesagt, Sie einen wirklich sachlichen Dialog zu führen. Gesetze, denn Beleidigungen, Verleumdun- würden sich eigentlich nicht gern Was macht dieser kontinuierliche gen und Gewaltandrohungen sind längst streiten. Wie sind ausgerechnet Sie Hass mit Ihnen? strafbar. Man müsste ganz klar sagen: Wer zu einem der präsentesten deut- Man wird grundsätzlich misstrauischer. das im Netz macht, ist halt auch dran. Und schen Streitenden in sozialen On- Und vor allem ist die Enttäuschung da, dass dann kostet das eben 5.000 oder 10.000 Euro, line-Netzwerken geworden? manchmal Leute, die man eigentlich für und wenn man es beim dritten Mal immer Hasnain Kazim: Ich habe schon in den sehr klug und liberal und weltoffen gehalten noch nicht gelernt hat, gibt’s vielleicht ein 1990er-Jahren als Teenager angefangen, mich hat, plötzlich Verständnis zeigen für rechts- Jahr Gefängnis. Es muss klar werden: Wer zu wehren. Für einen Artikel, den ich für extreme Äußerungen. Hinzu kommt: Ich Hass im Internet verbreitet, hat die Konse- eine überregionale Zeitung schrieb, habe ich erhalte ja nicht nur Beleidigungen, sondern quenzen zu tragen. meine ersten sieben Hassbriefe bekommen. auch Morddrohungen, und da fange ich an zu Sie fordern auch dazu auf, Leute Mit dem Internet ist das immer mehr gewor- überlegen, wie ich mich und mein Umfeld am auszugrenzen, die sich undemokra- den. Ich hatte dann 2015 einen Streit mit besten schütze. Es ist wirklich ein hoher Preis, tisch und menschenverachtend äu- einem Kollegen, der sagte: »Ja, aber man darf den man zahlt. Ein enormer Druck, dem man ßern. Aber das würde doch wiederum nicht böse sein auf diese Leute, man muss ihre sich aussetzt. Eine Angst, die man um sich Parallelgesellschaften schaffen, in Sorgen ernst nehmen und auch mit Rechten und seine Familie hat. Aber auf der ande- denen diese Leute einfach in eigenen reden, auf Augenhöhe.« Das hat mich wirk- ren Seite habe ich das Gefühl, wenn ich jetzt Foren weiter hetzen und dadurch lich geärgert, weil mich die Leute beschimp- aufgeben würde, dann würden diese Leute wohl nicht ungefährlicher werden. fen und bedrohen. Was um Himmels wil- gewinnen. Und da will ich keinen Millimeter Das tun sie so oder so. Sie richten sich ja ihre len soll ich denn mit denen auf Augenhöhe zurückweichen. Ich mache aber nieman- Welt mit Fantasienachrichten und Verschwö- reden? Um einen Weg für mich zu finden, dem einen Vorwurf, der sich zurückzieht aus rungstheorien so ein, wie es zu ihrer Einstel- damit umzugehen, habe ich mir vorgenom- Angst. Ich kann das verstehen. lung passt. Aber die Alternative kann ja nicht men: Ab 2016 antworte ich allen, ich suche War dieser Druck auch ein Grund, sein, sie einzuladen und ihre Ansichten zu den Streit! Daraus entstand dann das Buch nicht mehr als Spiegel-Korrespon- normalisieren. Im Internet heißt das für mich, »Post von Karlheinz«. Im Grunde genommen dent zu arbeiten? sie zu blocken und zu sperren. Wenn jemand bin ich in die Rolle des Streiters hineingera- Überhaupt nicht. Ich möchte einfach mehr sich auf meiner Party schlecht benimmt, mich ten. Ich hab mir das nicht ausgesucht. Bücher schreiben und Lesereisen machen. Ich beschimpft oder pöbelt, den lade ich ja auch Wie schaffen Sie es, diese Sisyphus- möchte mich im Gegenteil viel stärker die- nicht wieder ein. Und wenn der Opa davon arbeit immer wieder von vorne zu sem rechtsextremen Schrott widmen, weil ich redet, dass Adolf ja gar nicht so schlimm war beginnen? glaube, dass man dagegen mit ganzer Energie und er doch auch tolle Autobahnen gebaut Das ist nicht immer leicht, und es gibt auch vorgehen muss. hat, dürfen wir das auch nicht um des lieben Momente, wo ich mir denke: Ich müsste Sie provozieren Hetzer ja gerne mit Friedens willen so stehen lassen. Wir müssen eigentlich aufhören, ich habe keine Lust, mir dem ironischen Szenario, in Deutsch- den Mund aufmachen, widersprechen – im den ganzen Schrott anzuhören. Ich finde es land ein Kalifat zu errichten. Was Privatleben und auch online. gut, kritisiert zu werden. Streit ist eine Vor- würden Sie denn als Alleinherrscher aussetzung für Demokratie. Aber Bedro- gegen Hassrede tun? hungen und Beschimpfungen, das geht Ich würde jeden Hassredner sofort für zehn eben nicht. Dann stelle ich mir aber diese Jahre in den Kerker werfen und ihn nur her- Hater vor wie Kinder, bei denen man immer auslassen, wenn er um Gnade winselt. Nein, wieder von vorne anfangen muss, etwas zu im Ernst: Wenn ich etwas zu sagen hätte, erklären. Auch Demokratie, Pressefreiheit, würde ich fordern, dass man viel rigoroser Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit muss gegen Hass im Netz vorgeht. Im Grunde man den Leuten immer wieder neu beibrin- genommen bräuchte man nicht viele neue gen. Das ist ein niemals aufhörender Prozess, weil immer neue Generationen nachwach- sen und es offensichtlich auch alte Leute gibt, die plötzlich wieder vergessen, was noch in Ordnung ist und was sich nicht gehört. Dann Zur Person G R A F I K : Maksym Drozd/Shutterstock.com | F O T O : Peter Rigaud muss man da halt auftreten wie ein Lehrer. Hasnain Kazim arbeitet als Journalist für verschiedene Medien. Seitdem Es gibt auch immer wieder Menschen, die er öffentlich publiziert, erhält er Hassnachrichten und Morddrohungen, mir vorwerfen, ich sei belehrend. Aber offen- unter anderem wegen seines fremd klingenden Namens. Von 2004 bis 2019 sichtlich ist das ziemlich nötig. berichtete er für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, vor allem als Aus- landskorrespondent in Islamabad, Istanbul und Wien. Der Sohn pakista- Haben Sie den Eindruck, dass Sie da- nisch-indischer Eltern wurde 1974 in Oldenburg geboren und lebt aktuell mit zu den Menschen durchdringen? als freier Autor in Wien. Im Februar hat er sein neues Buch mit dem Titel In dem Moment, in dem man mit den Leuten »Auf sie mit Gebrüll! … und mit guten Argumenten. Wie man Pöblern und in den Dialog tritt, gibt es viele, die sagen: »Ja, Populisten Paroli bietet« veröffentlicht, ein Plädoyer für eine harte, konse- stimmt, Sie haben recht. So sollte man sich quente aber sachliche Diskussionskultur. eigentlich nicht äußern.« Online ist es etwa ein Viertel, an guten Tagen vielleicht ein Drit- tel der Leute, die ich davon überzeugen kann, 1. 20 TENDENZ | 19
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