Tennis mal anders: Erhalt, Bewahrung und Vermittlung - des vfm

 
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Tennis mal anders:
Erhalt, Bewahrung und Vermittlung
                    Oder: Was Schüler heute von Computerspielen
                    aus dem Jahr 1958 lernen können (Eine Fallstudie)

                    Von Canan Hastik

    KURZFASSUNG
                                                        Seit Ende der 90er gilt der Zuse Z3 (1941) mit 600
Noch vor der ersten kommerziellen Vermarktung gab       Relais im Rechenwerk und 2400 Relais im Speicher-
es Erfindungen mit Pioniercharakter, die den heuti-     werk [Rojas, 1998] als erster voll funktionsfähiger,
gen Computer- und Videospielen vorausgingen. Be-        frei programmierbarer und programmgesteuerter bi-
reits 1958 standen hunderte von Besuchern an, um        närer Rechenautomat und wird ferner als erster
das erste elektronische Tennisspiel, eine zweidimen-    Computer bezeichnet. In den darauf folgenden Jahren
sionale Tennis-Simulation, auf dem nur 12,7 cm klei-    kam eine technologische Neuerung nach der ande-
                                                                                                                Canan Hastik
nen Bildschirm eines Kathodenstrahlröhren-Oszil-        ren hinzu. Von der Verwendung der Lochkarte als er-     Hochschule Darmstadt
loskops zu spielen. Im Rahmen des Promotionspro-        sten Programm-Datenträger (EDVAC, 1944), der Grund-     IKuM - Institut für
jektes zum Erhalt und der Bewahrung komplexer           lage der ersten grafischen Schnittstelle zur Visuali-   Kommunikation und
                                                                                                                Medien
multimedialer interaktiver Medien am Beispiel von       sierung von Daten (Whirlwind, 1945-52) und einer        Mediencampus
elektronischen Spielen wurde in einer ersten Fallstu-   neuen Interaktion mit dem sog. Lichtgriffel (1949),     Max-Planck-Straße 2
                                                                                                                D-64807 Dieburg
die, auf Basis des verfügbaren Dokumentations-          dem ersten Festplattensystem RAMAC mit der Ka-          Fon +49.6151.16-9431
materials, dieses Werk wieder ins Leben gerufen.        pazität von fünf Megabyte (1955), der Erfindung der     Fax +49.6151.16-9281
                                                                                                                canan.hastik@h-da.de
Zusammen mit der Aufarbeitung der Dokumentation         Transistortechnologie für die J. Bardeen, W. H. Brat-
werden Kriterien, Probleme und Potentiale darge-        tain und W. B. Shockley 1956 mit dem Nobelpreis
stellt, die sich im Zusammenhang mit der Überlie-       ausgezeichnet wurden bis hin zur Entwicklung des
ferung von audiovisuellen Medienwerken ergeben.         integrierten Schaltkreises (1958), für die Jack Kilby
                                                        2000 ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnet
                                                        wurde.
    1. OBJEKTE DER
                                                        Elektronische Analogrechner wurden seit 1940 bis in
    TECHNOLOGIEGESCHICHTE
                                                        die 80er Jahre hinein in einer Vielzahl von Bereichen
Die Geschichtsschreibung rund um die Computer-          der Technik- und Ingenieurwissenschaften einge-
und Videospieltechnologie ist nicht nur lückenhaft,     setzt [Ulmann, 2010]. Man nutzte die Maschinen, um
sondern leider oft auch parteiisch gepflegt [Stöcker,   komplexe mathematische Verfahren zu berechnen
2011]. Informationen sind inkonsistent und zudem        und Steuerungs- und Regelungssysteme zu entwik-
häufig nur schwer zugänglich.                           keln, die vor allem in der Rüstungsindustrie und
                                                        Raumfahrt Verwendung fanden. In diesem Zusam-
    Am Anfang steht die Maschine                        menhang stellt der Computer ein Hilfsmittel und
Während sich Computer-Historiker erstmals 1998          Werkzeug dar, um Prozesse zu erleichtern und zu
auf einer internationalen Konferenz zur Geschichte      verbessern. Die schnellen Fortschritte auf dem
der Informatik in Paderborn (International Confe-       Gebiet der Digitalrechner jedoch sowie die zuneh-
rence on the History of Computing, ICHC) darüber        mende Miniaturisierung und der anhaltende Gigan-
verständigten, welche Merkmale eine Rechenma-           tismus heute führen nicht nur zu einer noch effizien-   *Vortragsmanus-
schine haben muss, um Computer genannt zu wer-          teren und leistungsfähigeren Nutzung, sondern auch      kript (gehalten auf
                                                                                                                der Frühjahrsta-
den, beschäftigen sich inzwischen immer mehr wis-       zu einem Vergessen der Analogtechnik und ihrer          gung des vfm am
senschaftliche Disziplinen damit, welchen Einfluss      Methoden, die prägend für die Technikentwicklung        17. April 2012)

Computersysteme auf die Kultur oder die Kreativität     waren.
haben [Montfort, 2009] und welche Rolle dabei die
Interaktivität spielt [Grodal, 2000; Krotz, 2008].
Tennis mal anders: Erhalt, Bewahrung und Vermittlung - des vfm
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                              Der Computerbegriff in der deutschen                mit 50.001-100.000 Mal am häufigsten belegt.
                              Gegenwartssprache                                   Daraus wird eine allgemeine Tendenz deutlich, in
                                                                                  welchem Sinnzusammenhang heute in der deut-
                          In der Wortherkunft bedeutet das lateinische Wort       schen Gegenwartssprache der Begriff „Computer“
                          „computare“ so viel wie „rechnen“ und „berechnen“.      steht und in welchem Kontext die Oberbegriffe häu-
                          Noch heute ist der Begriff „Computer“ vor allem         fig Verwendung finden. So scheint der Computer ge-
                          durch die Interpretations- oder Bedeutungsvariante      genwärtig viel mehr als ein Medium und weniger als
                          „Rechner“ in seiner Leseart geprägt. Schon längst hat   eine Maschine, ein Werkzeug, ein Arbeitsmittel oder
                          der Begriff jedoch eine Bedeutungserweiterung er-       ein Arbeitsgerät wahrgenommen zu werden. Laut
                          fahren und repräsentiert nicht mehr nur eine reine      Duden Online repräsentiert der Begriff „Medium“
                          Rechenmaschine.                                         ein vermittelndes Element, einen Apparat zur Ver-
                                                                                  mittlung von Information und Kulturgütern und ein
                                                                                  Kommunikationsmittel. In diesem Zusammenhang
     Abb 1: Der                                                                   wird der Computer jedoch nicht als Massenmedium
     Computerbegriff in
     der deutschen                                                                definiert [Duden, 2012].
     Gegenwarts-                                                                       Dennoch hat die Computertechnik die breite
     sprache
                                                                                  Masse längst erreicht, ist ein massenhaft genutztes
                                                                                  und massenhaft nutzbares multimediales und inter-
                                                                                  aktives Medium, das alle schriftlichen, optischen
                                                                                  und elektrischen Medien zu einem Medium zum
                                                                                  Verschmelzen bringt [Coy, 1994].

                                                                                      Exkurs in die Computer- und
                                                                                      Videospielgeschichte
                                                                                  Zugang zur neuen Technik, die schon damals eine
                                                                                  unglaubliche Faszination besaß, hatten anfangs nur
                                                                                  hochspezialisierte Mathematiker und Wissenschaft-
                                                                                  ler, die im Auftrag des zahlungskräftigen amerikani-
                                                                                  schen Militärs Rechenprogramme entwarfen und
                                                                                  steckten, Daten vorbereiteten, den Rechenprozess über-
                                                                                  wachten und Ergebnisse auswerteten. Bereits in die-
                                                                                  ser Zeit entstanden die ersten elektronischen Spiele.
                          Im Online-Wortschatzinformationssystem (OWID), ei-           Als das erste funktionierende Spiel überhaupt
                          nem stets aktuell gehaltenen Portal des Instituts für   gilt OXO, ein Tic-Tac-Toe-Spiel aus dem Jahre 1952,
                          Deutsche Sprache in Mannheim für wissenschaftli-        welches im Rahmen der Doktorarbeit zum Thema
                          che, korpusbasierte Lexikografie der deutschen Ge-      Mensch-Maschine-Interaktion von A.S. Douglas an
                          genwartssprache mit über 300.000 Einträgen, wird        der Cambridge University in England entstand. Der
                          von dem sprachlichen Ausdruck „Rechner“ auf Be-         Vollständigkeit halber wird an dieser Stelle auf die
                          ziehungen der Überordnung verwiesen. Im Vergleich,      erste patentrechtliche Sicherung einer technischen
                          der Wortschatz der deutschen Standardsprache um-        Spielidee eingegangen, die wohl nie umgesetzt
                          fasst ca. 75.000 Wörter, die Gesamtgröße des deut-      wurde: 1948 wurde von Thomas Goldsmith, Cedar
                          schen Wortschatzes wird je nach Quelle und Zähl-        Grove und Estle Ray Mann das erste US Patent
                          weise auf 300.000 bis 500.000 Wörter bzw. Lexeme        „Cathode-Ray Tube Amusement Device“ beantragt.
                          geschätzt [Wikipedia, 2012]. Die Oberbegriffe lassen    Inspiriert von Radarbildschirmen aus dem zweiten
                          sich basierend auf die Verteilung und Belegung im       Weltkrieg wurde ein Raketen-Spiel mit Bildschirm-
                          elexiko-Korpus [elexio, 2012] nach ihrer Häufigkeit     folien konzipiert. Das Konzept der Folien wurde Ende
                          sortieren. Die entsprechenden Wortbildungsprodukte,     der 60er von Ralph Baer erneut aufgegriffen und mit
                          also Komposita und Derivate, die zur Wortschatzer-      der ersten Videospielkonsole kommerziell vermark-
                          weiterung durch Bedeutungs- und Bezeichnungswan-        tet. Der Deutschamerikaner gilt bis heute als Vater
                          del dienen, werden dann für jeden Oberbegriff auto-     der Videospiele.
                          matisch ermittelt und ebenfalls nach Häufigkeit sor-         1958 wurde für einen Tag der offenen Tür am
                          tiert gelistet.                                         Brookhaven National Laboratory in New York, eine
                               Die Grafik veranschaulicht die Häufigkeitsver-     gemeinnützige Bildungseinrichtung der Atomener-
                          teilung der Oberbegriffe in Relation zu dem Begriff     giebehörde in den USA, das erste Computerspiel ge-
                          „Computer“. Während der Oberbegriff „Arbeitsmittel“     zielt zur Unterhaltung der Öffentlichkeit entwickelt.
                          101-500 mal belegt ist, ist der Oberbegriff „Medium“    Es war das erste Spiel, bei dem die Spielgrafik voll-
                                                                                  ständig in Echtzeit auf einem Bildschirm veran-
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schaulicht wurde. Zudem war es das erste Sportspiel      zu unterhalten und zu begeistern. Heute sind
und das erste Spiel, das zwei Steuereinheiten für        Computer- und Videospiele ein wichtiger Bestandteil
zwei Spieler besaß. Die Rede ist von „Tennis for Two“,   der gegenwärtigen Unterhaltungselektronik und
einer zweidimensionalen Tennis-Simulation (Vgl.          Technikkultur.
Abb.2). Bei der Umsetzung verwendete man An-
wendungs- und Programmierbeispiele des vorhande-
nen „portablen“ analogen Tischcomputers (Systron
Donner), wie das Springen eines Balls oder die
Flugbahn von ballistischen Raketen und simulierte
so die Tennisregeln, Netzball, Rückschlag, Schmet-
terball und Gewinnerschlag. Die Simulationser-
gebnisse und somit auch die Spielgrafik wurden an
einem Oszilloskop dargestellt. Das Spiel war ein Hit.
Am Tag der offenen Tür, dem 18. Oktober 1958, stan-
den erstmals hunderte von Besuchern stundenlang
an, um dieses interaktive elektronische Tennisspiel
zu spielen. Simuliert wurde die seitliche Ansicht ei-
nes Tennisplatzes mit einer horizontalen Bodenlinie
und einer senkrechten Linie, die das Netz repräsen-
tierte. Mit zwei Steuerboxen konnte der Ball abge-
schlagen und seine Flugkurve variiert werden. Die
Elektronik bestand aus Widerständen, Kondensatoren
und Relais. Für schnelle Schaltvorgänge wurden
Transistorschaltungen verwendet.
     W. Higinbotham verbesserte im darauf folgen-
den Jahr seine Simulation und bot den Besuchern
weitere Spielvarianten an, in denen die Gravitati-
onskräfte von Mond oder Jupiter simuliert wurden,
und ließ sie an einem Oszilloskop mit einer größeren
Bildschirmdiagonale von fast 40 cm spielen. Als der
Analogcomputer schließlich für neue Anwendungen
eingesetzt werden sollte, wurde die Installation de-
montiert und die entstandene Dokumentation im
Archiv untergebracht.                                                                                            Abb 2: Tennis for Two
                                                             2. FORSCHUNGSFOKUS                                  Aufbau, 1958 [BNL,
     1960 entstand am Massachusetts Institute of
                                                                                                                 2012]
Technology (MIT) das bekannteste Freizeit-Compu-         Die wachsende Popularität und Bedeutung der Tech-
terspiel aus der Pionierzeit: „Spacewar!“. Aus Forsch-   nikkultur und die damit verbundene Flüchtigkeit un-
ergeist und Begeisterung am kreativen Umgang mit         serer Technikgeschichte lässt innovative und zu-
der neuen Technologie schlossen sich diverse Com-        kunftsweisende Forschungsprojekte und Partner-
puterenthusiasten unter den Studenten zusammen.          schaften auf dem Gebiet der archäologischen
Die „Hacker“ programmierten und arbeiteten ge-           Medienforschung entstehen.
meinsam und erfanden mit Begeisterung Spiele, die
man auf den damaligen Maschinen spielen konnte.              Museen und Sammlungen als Laboratorien
Bei „Spacewar!“ ging es in seiner Grundform darum,           der interdisziplinären Zusammenarbeit
feindliche Raumschiffe mit Raketen zu vernichten,        Eines der größten Computerspiele-Archive betreibt
während die Schiffe mit realistischen Ausweich-,         die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK).
Schub-, und Kippbewegungen gesteuert werden              Seit 1994 beherbergt sie mehr als 17.000 Titel [USK,
konnten und von dem Schwerkraftsog eines nahen           2012]. In Kooperation mit dem Computerspiele Mu-
Planeten beeinflusst wurden [Hanson, 1982].              seum in Berlin setzen sie sich für den Erhalt und die
     Die Institutionen versuchten anfangs das hobby-     Bewahrung von Computer- und Videospielen ein. Um
und spaßorientierte Treiben zu unterbinden, doch         den Forschungsfokus auch auf ältere Spiele der
die Hacker suchten nach immer einfallsreicheren          1980er Jahre auszuweiten, kooperiert das Com-
Wegen, um Spiele zu entwickeln und zu spielen. Die       puterspiele Museum mit der Gamer-Community und
Variabilität der Transistortechnologie und die Tat-      Underground-Emulatoren-Szene [Janssen, 2012].
sache, dass ihre Komponenten zunehmend im freien              Trotz rechtlicher Grauzone widmet sich die
Handel verfügbar waren, hat in den 70ern schließ-        „Gamer-Community“ schon seit Ende der 80er Jahre
lich eine Revolution angestoßen, die darauf gründete,    dem Erhalt und der Bewahrung von Computer- und
42   FACHBEITRÄGE                                                                                         info 7 2|2012

     Videospielen und erstellt digitale Archive, die über         Fokus des Promotionsprojektes ist zunächst die
     das Internet verfügbar sind. Dabei liegt der Fokus       wissenschaftliche Erschließung, Bewahrung und
     vorrangig auf „Abandonware“, also Spielen, die kom-      Zugänglichkeit eines umfassenden Sammlungsbe-
     merziell nicht mehr erhältlich sind oder als verschol-   standes von Spiele-Hardware und entsprechender
     len gelten. Allein für den Commodore C64 wird in         Peripherie. Dabei werden diese Apparaturen auf ihre
     speziellen Netzwerken ein Archiv mit weit über           Spezifikationen hin untersucht und der Einfluss der
     10.000 Titeln zum Download bereitgestellt. Parallel      Technik auf die Nutzung einer informations- und kul-
     hierzu bietet die Emulatoren-Szene seit Mitte der        turwissenschaftlichen Analyse unterzogen. Im
     90er Jahre verschiedene Hardware-Emulatoren an           Zentrum der Betrachtung stehen die Interdisziplinäre
     und ermöglicht somit die Spielbarkeit der in virtuel-    Verwendung der Technik und der experimentelle
     len Archiven gesammelten Artefakte. Ein erwähnens-       Umgang zur Entwicklung ästhetischer Ausdrucks-
     wertes Projekt ist MAME, Multiple Arcade Machine         formen, wie Computer- und Videospielen.
     Emulator [MAME, 2012]. Zusammen mit einem um-                Die gewonnenen Erkenntnisse über einen wis-
     fangreichen Spiel-ROM-Archiv von mehreren tau-           senschaftlich erfassten und analysierten Fundus an
     send klassischen Arcade-Spielen wird eine Windows-       Apparaturen unterschiedlicher Technikären liefert
     basierte Emulationsumgebung angeboten, die Spiele        die Basis für einen Transfer von Technologie- und
     so originalgetreu wie möglich wiedergibt. Eingebaut      Methodenwissen. Insbesondere sollen Erkenntnisse
     in ein Originalgehäuse eines Arcade-Automaten er-        darüber gewonnen werden, was und in welcher Form
     reicht man so ein Box-System, das mit einer entspre-     Kulturgüter der Technikgeschichte bewahrt, tradiert
     chenden Peripherie, wie einem Joystick, Trackball        und erinnert werden sollten.
     oder einer Lichtpistole, die Spiele mit spieltypischen
     Interaktionsmöglichkeiten spielbar macht und somit
                                                                  3. ERHALT UND BEWAHRUNG IM
     auch einen Ansatz der Erhaltung des sonst zu oft ver-
                                                                  KONTEXT DER FORSCHUNG
     nachlässigten sogenannten „Look & Feel“ ermöglicht.
         Physisch vorhandene und bedeutende Schätze           Die UNESCO definiert allgemein das digitale techno-
     schlummern jedoch meist in privaten und gemein-          logische Erbe als bedeutende Ressource der mensch-
     nützigen Sammlungen. Der Retrogames e.V. in Karls-       lichen Erkenntnis und des Ausdrucks mit einem blei-
     ruhe beispielsweise beherbergt einer der größten         benden Wert, den es zu erhalten und zu bewahren
     Sammlung an originalen Arcade-Spielautomaten             gilt [UNESCO, 2003]. Im Brockhaus wird das Kultur-
     [RetroGames, 2012]. Die meisten sind bespielbar und      erbe als überlieferte kulturelle Werte der geistigen
     ein Teil dient als Ersatzteillager. Eine große Auswahl   und materiellen Art bezeichnet und das Kulturgut
     an Spiele-Hardware und Peripherie wird unter ande-       als ein Gegenstand von kulturellem Wert, der Be-
     rem jährlich auf dem Retrostand der Messe „Games-        stand hat und bewahrt wird [Bambach-Horst, 2005].
     com“ in Köln einer breiten Öffentlichkeit zugänglich     Dieser Auftrag richtet sich gezielt an Bibliotheken,
     gemacht. Hier stellen verschiedene Sammler und           Archive und Museen. Sie bewahren das wissen-
     Vereine mit unterschiedlichen Schwerpunkten auf          schaftliche, administrative und kulturelle Gedächtnis
     einer Ausstellungsfläche von bis zu 600 m² mehrere       einer Gesellschaft.
     hundert Exponate aus vierzig Jahren Computer- und
     Videospielgeschichte aus [RetroGaming, 2012].                Von der Daten- zur Medienarchäologie
                                                              Bibliotheken sind traditionell die tragenden Säulen
         Wissenschaftliche Erschließung,                      der konventionellen Informationsvermittlung und
         Bewahrung und Zugänglichkeit                         nehmen auch in diesem Kontext eine Führungsrolle
     Auf diesem zunehmend wachsenden Interesse am             ein. Als spezialisierte Institutionen im Bereich der „Da-
     Kulturgut Computer- und Videospiele ist am Medien-       tenarchäologie“ prägen sie die Bildung von Experten,
     campus der Hochschule Darmstadt das Promotions-          wie den „Digital Curator“ oder den „Digital Preser va-
     projekt gegründet, in dessen Rahmen mittels Fall-        tion Specialist“, der dafür sorgt, dass nicht mehr les-
     studien gezielt Objekte medienarchäologisch gebor-       bare Daten wieder hergestellt und nutzbar gemacht
     gen und erforscht werden. In Kooperation mit dem         werden oder bereits bei der Entstehung von Digita-
     Museum of Electronic Games & Art e.V. besteht im         lisaten ihre langfristige Erhaltung berücksichtigt wird
     Rahmen dieser Forschungsaktivität uneingeschränk-        [Neuroth, 2009]. Archive und Museen hingegen hü-
     ter Zugang zu einem umfassenden Sammlungsbestand         ten vor allem Kulturgüter, welchen ein bleibender ge-
     portabler und stationärer Spielkonsolen sowie Heim-      sellschaftlicher Wert zukommt. Deshalb müssen ne-
     computern von den 70er Jahren bis heute, einem Ar-       ben der dauerhaften Aufbewahrung und Bestands-
     chiv an Spielen und computergenerierten Kunstwer-        erhaltung nicht selten spezifische restauratorische
     ken sowie Fachzeitschriften und Magazinen. Auch          und konservatorische Maßnahmen durchgeführt wer-
     kann hier auf das Wissen und die Kompetenz einzel-       den, um eine Vermittlung, Präsentation und Zu-
     ner Experten zurück gegriffen werden.                    gänglichkeit des kulturellen Erbes zu gewährleisten.
Tennis mal anders                                                                          FACHBEITRÄGE                            43

                                                                                                                   Abb 3: Daten- und
                                                                                                                   medienarchäologische
                                                                                                                   Erhaltungsstrategien

     Allerdings haben sich nur wenige Forschungs-         geht zudem mit Verlusten bei der Interaktion und
aktivitäten zum Ziel gesetzt, die Funktionalität          Rezeption einher. Bereits Walter Benjamin hat in sei-
von Apparaturen in den Fokus der Betrachtung zu           nem berühmten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter
rücken und konservatorische Methoden und Tech-            seiner technischen Reproduzierbarkeit“ konstatiert,
niken zu untersuchen, um Sammlungen für die               dass sich der Gegenstand aus seiner Hülle schält,
Zukunft nahezu in ihrer Originalität zu erhalten.         seine Aura und Einmaligkeit verliert [Benjamin,
Beispielhaft genannt sei an dieser Stelle der original-   1979]. Charakteristisch für alle dynamischen Me-
getreue und funktionsfähige Nachbau des Zuse Z3,          dienwerke ist, dass diese außerhalb ihres festgeleg-
der gezielt zu Ausstellungszwecken vom Sohn des           ten Kontextes heraus nicht mehr sinnvoll interpre-
Pioniers rekonstruiert wurde, oder das „PDP-1 Res-        tiert und genutzt werden können [Suchodoletz,
taurationsprojekt“ des Computer History Museums           2009]. Das gilt auch für Computer- und Videospiele.
in den USA [CHM, 2012]. Auf dem PDP-1, einem              Zudem gestalten sich die Emulation beispielsweise
Transistoren-Computer von 1962, wurde einst am            von analogen Schaltkreisen oder nicht dokumentier-
MIT das berühmte Spiel „Spacewar!“ entwickelt.            ten integrierten Schaltungen sowie die exakte
Nach einer intensiven sieben-monatigen Restaura-          Synchronisation von mehreren Prozessoren für Bild-
tionsphase gelang es den Mitarbeitern des Museums,        und Tonausgabe als schwierig.
die 45 Jahre alte Maschine wieder zum Leben zu er-             Die zunehmende Verbreitung von interaktiven
wecken. Seit 2005 steht das Exponat bespielbar mit        audiovisuellen Medien stellt somit besondere An-
dem Spiel „Spacewar!“ in der Dauerausstellung des         forderungen an die langfristige Bewahrung und
Museums.                                                  Benutzbarkeit. Die Vielfalt dieser Werke macht die
     Wesentlich häufiger beschäftigen sich zahlrei-       Entwicklung einer allgemeingültigen Erhaltungs-
che Forschungsprojekte im Rahmen der digitalen            und Konservierungsstrategie kaum möglich. In
Langzeitarchivierung damit, standardisierte Metho-        Anbetracht der Erkenntnis, dass computerbasierte
den und Strategien zu entwickeln (Vgl. Abb.3), um         Werke fragiler sind als analoge, erleben wir heute zu-
homogene Speichersysteme aufzubauen und digitale          dem einen Beginn der Archäologie der Medien und
Archivalien und Digitalisate dauerhaft plattform-         eine „Kultur des Reparierens“ [Laforet, 2011].
übergreifend zugänglich zu machen [Keep, 2012].           Zusammen mit der Dokumentation des Entstehungs-
Dabei wurde deutlich, dass sich komplexe interak-         und Verwendungskontextes kann darüber hinaus
tive audiovisuelle Medienwerke, wie Computer- und         die kulturhistorische und wissenschaftliche Bedeu-
Videospiele, schlecht mit traditionellen Archivie-        tung gesichert und ein Wissenstransfer ermöglicht
rungstrategien bewahren lassen [Suchodoletz, 2009]        werden.
und die Konservierungspraxis dabei weit hinter den             Zielsetzung dabei ist es ein Verständnis für die
traditionell geschulten Erwartungen zurück bleibt         Technik als kulturelle Wirkungsmacht auf den
[Serexhe, 2011].                                          Rezipienten zu etablieren und keine Beschnei
     Die Rekonstruktion der Nutzungsumgebung              dung durch die reine Beschäftigung mit den Inhal-
durch Emulation beispielsweise gewährleistet nur          ten getrennt von dem jeweiligen Darstellungskon-
für einen bestimmten Zeitraum die Verfügbarkeit           text und technologischen Voraussetzung vorzuneh-
und Benutzbarkeit von digitalen Ressourcen und            men.
44                     FACHBEITRÄGE                                                                                      info 7 2|2012

 Abb 4:
 T42 („Tea for Two“)

                           4. FALLBEISPIEL T42 („TEA FOR TWO“)                  Nun ging es darum, die vorhandenen Artefakte zu-
                                                                                sammenzuführen und das Spiel mittels einer Re-
                       Dies stellt die Ausgangssituation der im Folgenden       konstruktion, die dem Original so nah wie möglich
                       dargestellte Fallstudie dar, womit sich Kriterien,       sein sollte, wieder sinnlich erfahrbar zu machen.
                       Probleme und Potentiale ermitteln ließen, die sich im         Spiele funktionieren nach einer definierten
                       Zusammenhang mit dem Erhalt von interaktiven au-         Anzahl von Spielregeln, die Nutzer befolgen müssen,
                       diovisuellen Medienwerken, am Beispiel von Tennis        wenn sie erfolgreich spielen wollen. Für Tennis for
                       for Two, einem der ersten historischen Meilensteine      Two galt es, die Tennisregeln Aufschlag, Schmetter-
                       der Computer- und Videospielentwicklung, in mög-         ball, Netzball, Aus und Spielerwechsel zu erhalten.
                       lichst funktionsfähigem Zustand ergeben.                 Im Prinzip können diese Ereignisse relativ simpel
                            Bereits 1997 wurde Tennis for Two das erste Mal     physikalisch beschrieben werden und sollten sich in
                       nachgebaut. Diese Nachbildung basierte auf den über-     der Spiellogik, das heißt im Schaltplan wiederfinden.
                       lieferten Schaltplänen, einem Konzeptpapier und ei-      Leider war dieser teilweise fehler- und lückenhaft
                       ner Fotografie der Installation von damals. Zwar war     und eine akribische Fehlersuche und Logikanalyse
                       man bemüht, epochen-typische Bauteile zu verwen-         begann. Nur die Videoplatine, die zuständig für die
                       den, konnte jedoch nicht auf den ursprünglich ver-       Bildausgabe ist, konnte nahezu unverändert über-
                       wendeten Analogcomputer zurückgreifen. Leider            nommen werden, lediglich eine Reihe Transistoren
                       existiert dieses Replikat heute nicht mehr und man       war verkehrt herum eingezeichnet. Dies lässt sich
                       versäumte es bis auf einen Film, der den Spielablauf     darin begründen, dass hierfür ein Patent angemel-
                       zeigt, die Dokumentation zu aktualisieren.               det wurde, was eine valide Dokumentation voraus-
                                                                                setzt.
                           Konservatorische Praxis                                   Die Rekonstruktion erforderte eine systemati-
                       Bei der Bestandsermittlung fanden sich Fotographien      sche Durchdringung der Technik und setzte Wissen
                       der Installation von 1958, die beiden Schaltpläne, ein   im Bereich der Elektrotechnik und Physik voraus.
                       Konzeptpapier und eine Patentanmeldung sowie             Die elektronische Schaltung besteht aus vielen ein-
                       Bilder und Videoaufnahmen von 1997 [BNL, 2012].          zelnen Bauelementen, deren Eigenschaften und das
                       Darüber hinaus ist Tennis ein bekanntes Spiel mit ei-    Zusammenspiel untereinander sehr komplex sind.
                       nem definierten Regelwerk aus der realen Welt. Zwar      Das Wissen um Bauelemente wie Transistor, Wider-
                       konnte auch dieses Mal kein Modell des damals ver-       stand und Kondensator ist dabei elementar.
                       wendeten Analogcomputers aufgetrieben werden,                 Es dauerte etwa vier Monate bis das Team die
                       aber eines umfassenden Handbuches mit Beispielen         originalgetreue Rekonstruktion „T42“ fertigstellen
                       und Funktionsbeschreibungen wurde man fündig.            konnte (Vgl. Abb.4).
Tennis mal anders                                                                        FACHBEITRÄGE                              45

    Präsentation und Vermittlung                        gen Zeitpunkt einzige Möglichkeit gewesen, diesen
                                                        Meilenstein wieder zum Leben zu erwecken. Dabei
Das Ergebnis dieser ersten Fallstudie hat von Natur     musste festgestellt werden, dass Dokumentationen
aus einen starken Öffentlichkeitsbezug und eignet       immer fehlerbehaftet sein können und nicht nur
sich bestens zur kontextualisierten Vermittlung des     enormes Knowhow, sondern an vielen Stellen auch
Gegenstands. Auf zahlreichen öffentlichen Veranstal-    Reverse Engineering notwendig und unumgänglich
tungen wurde T42 schon von über 2000 Menschen           ist. Nicht selten kommt es dabei zu Überschneidungen
bespielt. Das Spiel ist schnell intuitiv zu verstehen   unterschiedlicher Erhaltungsstrategien.                  1 Johannes Maibaum,
und fesselt die Spieler nach nur wenigen Ballwech-            Das Fallbeispiel macht auch deutlich, dass ge-     Matthias Rech & Dr.
seln. Von besonderem Interesse dabei ist laut Um-       rade Computer- und Videospiele nur als Gesamtsys-        Stefan Höltgen von
                                                                                                                 der Humboldt Uni-
fragen, die Verschaltung sehen und den Sound der        tem funktionieren und dieser Medientypus eine            versität zu Berlin
Relais hören zu können. Das große Interesse an tech-    Emergenz aus Interaktion, Grafik und Sound entste-       haben 2012 einen
                                                                                                                 Versuch unternom-
nischen Details und umfassender Erklärung lies die      hen lässt, welche in Präsentationen und Ausstellungen    men, Tennis for Two
Idee entstehen, ein Konstruktionsbaukastensystem        deutlich wird. Die Portierung des Spielkonzeptes auf     auf dem Telefunken
                                                                                                                 RA 742 Analogcom-
zu entwickeln, das vertiefend auf kontextspezifische    andere Medientechnik, wie iPad oder Kinect, lässt        puter zu verwirkli-
Fragestellungen zum Thema Elektro- und Analog-          jeweils ein neues Werk entstehen und kann höch-          chen. Leider reichten
                                                                                                                 die Kapazitäten der
technik sowie Ballistik eingeht. Auf diese Weise ist    stens als Zitat gelten, nicht aber als archivierungs-    RA 742 nicht aus, um
es möglich physikalische Ereignisse, wie die Berech-    strategische Maßnahme im Rahmen zuverlässiger            die für das Spiel rele-
                                                                                                                 vanten Bestandteile
nung von ballistischen Flugkurven, durch Modellbil-     konservatorischer Praxis.                                wie Bodenlinie und
dung unter Beeinflussung von Koeffizienten in                 In Ausstellungen konnte zudem festgestellt wer-    Netz darzustellen.
Echtzeit nachzuvollziehen. Der erste Prototyp befin-    den, dass vergessene Technik keinesfalls auf Ableh-
det sich gerade in der Fertigstellung. Parallel dazu    nung und Desinteresse stößt, sondern ganz im Ge-
entsteht eine Anleitung basierend auf spezifischen      genteil große Neugier weckt. Aus diesem Grund wird
Fragen wie „Was ist ein Transistor?“, „Was ist ein      an der Idee, einen Konstruktionsbaukasten zu ent-
Kondensator?“, „Was ist ein Operationsverstärker und    wickeln, weiter gearbeitet, wenngleich dies ein hoch
wo wird dieser heute noch eingesetzt?“ und „Warum       aufwendiges Unterfangen ist.
springt der Ball?“.                                           Inhaltlich liefert die archäologische Medienfor-
    Darüber hinaus ist das „T42“-Spielkonzept auch      schung Erkenntnisse und eröffnet neue interdis-
als Applikation auf dem iPhone und iPad spielbar.       ziplinäre Forschungsfelder auf dem Gebiet der
Auch für die Xbox wurde eine T42kinect-Version ent-     Technikgeschichte und der Medientheorieforschung,
wickelt.                                                sowie dem kreativen Einsatz von Technologie, aber
                                                        auch der Bewahrung und Zugänglichmachung. Eine
                                                        umfassende medienarchäologische Restauration von
    5. ZUSAMMENFASSUNG
                                                        interaktiven Medienobjekten und der langfristige
Der Erhalt, die Bewahrung und die Zugänglichma-         Erhalt ermöglichen nicht nur die Entwicklung von
chung von interaktiven audiovisuellen Werken set-       Maßnahmen, Methoden und Techniken der Wieder-
zen eine gründliche Analyse der verwendeten             instandsetzung, sondern machen die Geschichte
Materialen sowie eine umfassende Dokumentation          auch für spätere Generationen greifbar und liefern
voraus. Zudem erfordern Wiederinstandsetzung, Re-       ein Verständnis darüber, wie Medienaparaturen ar-
konstruktion und Re-Interpretation spezifisches         beiteten, wie die Entwickler diese Medien entworfen
Fachwissen und interdisziplinäre Zusammenarbeit.        und entwickelt haben.
Daraus ergeben sich Potentiale für einen nachhalti-
gen Wissenstransfer, bezogen auf die Bewahrung,
Erhaltung und Zugänglichkeit sowie die Technikge-
schichtsforschung und Medientheorieforschung im
Zusammenhang mit der Nutzung und Wahrnehmung
medialer Welten.
     Das geschilderte Fallbeispiel zeigt, dass Appa-
raturen verloren gehen und nicht wieder beschafft
oder rekonstruiert werden können. Es ist dem Team
bis heute nicht gelungen, einen damals für das Ten-
nis for Two verwendeten Röhren-Analogcomputer zu
beschaffen. Ansätze, das Spielkonzept mit anderen
Analogcomputern nachzubilden, sind kläglich ge-
scheitert1. Die Entscheidung eine originalgetreue
Rekonstruktion nach dem Vorbild des Brookhaven
National Labratories umzusetzen, ist die zum jetzti-
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