Thüringen: Vom Tabubruch zum Ramelow-Comeback und darüber hinaus - SPW
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spw 1 | 2020 Schwerpunkt 49 Thüringen: Vom Tabubruch zum Ramelow-Comeback und darüber hinaus von Klaus Dörre Zwischen Dänemark und Prag Thüringer Ereignissen zu lernen ist und wie es Liegt ein Land das ich sehr mag politisch weitergeht – nicht nur im Freistaat, son- Zwischen Belgien und Budapest dern in der gesamten Republik. Liegt Thüringen Ein stabiler antifaschistischer Grundkonsens Das Land ohne Prominente […] Rainald Grebe, Thüringen Was öffentlich bevorzugt als Chaos oder Wahl- debakel dargestellt wird, ist, so meine These, nur Der Schauspieler Rainald Grebe hat ein Pro- das Symptom einer bonapartistischen Demokra- blem. Der Text seiner inoffiziellen Landeshymne tie, in der das politische System und seine Akteure passt nicht mehr. Dass man Thüringen nur in überfällige Richtungsentscheidungen verwei- Thüringen kennt, trifft nicht länger zu. Im Gegen- gern. Die erste dieser Richtungsentscheidungen teil, die Thüringer Verhältnisse mischen längst betrifft den Umgang mit der radikalen Rechten die Bundespolitik auf. Das ist schon so, seit mit und schließt das Verhältnis der Mitte-Rechts- Bodo Ramelow ein Mitglied der Linkspartei zum Parteien zur Linkspartei ein. Im Grunde geht es Ministerpräsidenten gewählt wurde. Nun gibt es um die Frage, wie ein zivilgesellschaftlicher Basis- einen neuen Grund – den Thüringer Tabubruch konsens beschaffen sein muss, der demokratische und seine Folgen. Thomas Kemmerich (FDP) Institutionen und Verfahren künftig zumindest hatte sich mit den Stimmen von AfD, CDU und einigermaßen bestandsfest macht. Hier lässt sich der eigenen Partei zum Ministerpräsidenten die erste Lehre aus den Thüringer Ereignissen zie- wählen lassen. Sein Entschluss, die Wahl anzu- hen. Sie lautet: In der Zivilgesellschaft gibt es, trotz nehmen, hielt nur 24 Stunden. Angesichts der spektakulärer Wahlerfolge der radikalen Rechten, empörten Reaktionen und unter dem Druck der einen mehrheitlich geteilten antifaschistischen Berliner Parteiführung musste er zurücktreten. Grundkonsens. Dieser Grundkonsens ist stabil, Vier Wochen später ist Bodo Ramelow zurück im belastbar und mobilisierungsfähig. Genau das Amt. Er führt ein rot-rot-grünes Minderheitska- haben die Reaktionen auf Kemmerichs Wahl ge- binett, das die Regierungsgeschäfte wahrnimmt zeigt. Kaum war der – formal verfassungsgemäße und Neuwahlen vorbereitet, die im April 2021 – Wahlakt vollzogen, brach ein wahrer Sturm der stattfinden sollen. Damit ist der „Handschlag der Entrüstung los. Es waren weder Medien noch Schande“ („Bild“-Schlagzeile zu einem Foto, das Berliner Parteizentralen, die den Orkan entfach- Kemmerich mit dem Gratulanten Höcke zeigt), ten. Ausgelöst wurde er von der großen Mehrheit erst einmal korrigiert. Möglich wurde dies, weil all jener, die seitens der radikalen Rechten gerne sich die CDU-Fraktion mit einer Ausnahme auch als „das Volk“ vereinnahmt werden. Wer öffent- im dritten Wahlgang der Stimme enthielt. Von lich gegen Kemmerichs Wahl protestierte und nun an gilt ein befristeter Stabilitätspakt, der ein- dessen sofortigen Rücktritt verlangte, bekam schließt, dass die Christdemokraten Gesetzesvor- Zuspruch von den vielbeschworenen „normalen haben von Rot-Rot-Grün (r2g) nicht mit Hilfe der Bürger*innen“ – am Bahnhof, in Zügen, beim AfD zu Fall bringen. Umgekehrt ist klar, dass die Einkaufen und im Büro. Die gesellschaftliche Minderheitsregierung auf eine projektbezogene Linke hat mit ihren Positionen erstmals wieder Kooperation mit der CDU angewiesen bleibt. Ob und wie lange dieser Pakt trägt, ist ungewiss. Un- geachtet dessen stellt sich die Frage, was aus den Siehe: Klaus Dörre (2019): Bonapartismus von links – die Bedeutung der Thüringenwahl für progressive Politik, in: spw 6/2019, S. 12-16. Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziolo- Die Putsch-Rhetorik, wie sie gelegentlich zu hören war, halte ich für Unfug. gie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber der spw. Der Wahlakt entsprach demokratischen Regeln.
50 Schwerpunkt spw 1 | 2020 Oberwasser in den Alltagsdiskussionen, das war Regierungsbildungen zu beeinflussen. Auf natio- lange Zeit nicht mehr der Fall. naler Ebene blieb ihnen – gleich ob NPD, DVU oder Republikaner – der Einzug ins Parlament Dass der zivilgesellschaftliche Antifaschismus verwehrt. Das hat sich mit der AfD geändert. sich als derart stabil erwiesen hat, ist bemer- Im Zuge der Kemmerich-Wahl sollte nun, so je- kenswert. De jure ist eine solche Grundhaltung denfalls das Kalkül auch in Teilen von FDP und in der Verfassung festgeschrieben. Laut Artikel CDU, der nächste Akt vollzogen werden. Wäre es 139 GG gelten im Bundesgebiet noch immer die bei einem Ministerpräsidenten von Höckes Gna- zwecks Entnazifizierung seitens der Alliierten den geblieben, hätte sich die AfD fortan als Partei erlassenen Rechtsvorschriften zur „Befreiung der bürgerlichen Mitte präsentieren dürfen. FDP des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und CDU waren offenbar zur Wahlallianz mit ei- und Militarismus“. Das heißt NS-Ideologie, Fa- ner politischen Kraft bereit, deren Spitzenmann schismus und Militarismus stehen außerhalb gerichtsfest als Faschist bezeichnet werden darf. des Verfassungsbogens. Was die radikale Rechte Weder die Dresdener Rede Höckes zum Holo- gern als Ausdruck von Fremdbestimmung wer- caust-Mahnmal als angeblichem „Denkmal der tet, war zunächst ein Geschenk der Alliierten an Schande“, noch der Geschichtsrelativismus eines die (west)deutsche Demokratie. Anfangs primär Alexander Gauland, der den NS als „Vogelschiss“ eine Rechtsnorm, hat dieser Grundkonsens die der deutschen Geschichte bezeichnet hatte, wä- demokratische Zivilgesellschaft der alten Bundes- ren fortan ein Hinderungsgrund für eine Mitte- republik stark geprägt. Das ist nicht im Selbstlauf Platzierung. De facto liefe das darauf hinaus, die geschehen, denn vor allem im Westen konnten antifaschistische Essenz des Artikels 139 GG, zu Ex-Nazis bis in hohe Staatsämter gelangen. Der eliminieren. Regierungsbildungen unter Ein- Adenauer-Vertraute Hans Josef Maria Globke, schluss der AfD wären die logische Folge. Das Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Interregnum im politischen System würde auf- Rassengesetze, ist nur ein prominentes Beispiel. gelöst, indem man die radikale Rechte hoffähig Daran, dass aus der Rechtsnorm eine mehr- macht und ihr indirekt Definitionsmacht für heitsfähige zivilgesellschaftliche Grundhaltung den neuen Grundkonsens einer „Erfurter Repu- geworden ist, hatten die 1968er-Bewegungen blik“ überantwortet. Beruhigend ist, dass so viele einen maßgeblichen Anteil. In der ehemaligen dieses Manöver sofort durchschaut haben. Ein DDR war der Antifaschismus ebenfalls kein aus- Aufstand der demokratischen Zivilgesellschaft schließlich verordneter. Deshalb begegnen große war die Folge. Bevölkerungsteile der radikalen Rechten im Os- ten weiterhin mit klarer Ablehnung. Ein kalkulierter Tabubruch Rechtsverschiebung misslungen Der Versuch, die Kooperation mit der radi- kalen Rechten salonfähig zu machen, kam keines- Nur weil das so ist, folgte dem Dammbruch wegs überraschend und man fragt sich, weshalb von Erfurt keine Überflutung des demokra- die r2g-Parteien auf diese Möglichkeit strategisch tischen Hinterlandes. Der radikalen Rechten, das so wenig vorbereitet waren. Wer es genau wissen ist die zweite Erkenntnis, misslingt der Versuch, wollte, hätte nur Politiker*innen aus der zwei- sich als „normale“ politische Kraft zu etablieren. ten Reihe von FDP und CDU zuhören müssen. Führen wir uns noch einmal vor Augen, was den „Was können wir dafür, wenn die AfD unseren Tabubruch von Erfurt eigentlich ausmacht. Lange Kandidaten wählt“, lautet der Standardsatz, mit Zeit beinhaltete der antifaschistische Grundkon- der Liberale und Konservative die M-Frage zu sens in der Bundesrepublik, dass Parteien, die sich beantworten pflegten. Weil derartige Haltungen nicht glaubwürdig vom NS distanzierten, keine unkommentiert blieben, mögen die Parteispitzen Chance hatten, politische Mehrheits- oder gar Die intellektuellen Stichwortgeber der radikalen Rechten setzen indes alles Siehe: Wolfgang Abendroth (1966): Das Grundgesetz. Eine Einführung in daran, eben diese politische Mitte als „Verschiebemasse ohne eigene Stand- seine politischen Probleme. Pfullingen: Verlag Günther Neske. Siehe auch: festigkeit“ zu desavouieren. Siehe Benedikt Kaiser (2020): Notizen zur Wahl Dian Schefold: Das Grundgesetz – von links gesehen, in: Die Zeit vom in Thüringen (2). In: https://sezession.de//62128/notizen-zur-wahl-in-thü- 28.10.1966. ringen-2.
spw 1 | 2020 Schwerpunkt 51 von FDP und CDU in Thüringen wie in Berlin Opposition zu übernehmen und Bodo Ramelow zu der Annahme verleitet haben, man werde die Rückkehr ins Amt zu ermöglichen. mit Wahl eines bürgerlichen Kandidaten im Meinungs- und Medienspektrum der Republik Der neue CDU-Fraktionsvorsitzende Voigt durchkommen. verkauft diese Entscheidung als einen Akt wie- dergewonnener staatspolitischer Vernunft. Blickt Dass Kemmerich mit Hilfe der AfD Minister- man auf die Wochen, die zwischen der Wahl präsident werden könnte, war allen handelnden Kemmerichs und dem Comeback Ramelows la- Akteuren klar. Höcke hatte Liberalen und Kon- gen, bleiben Zweifel. Thüringens CDU irrlichterte servativen bereits im November 2019 angeboten, zeitweilig durch den politischen Raum, als sei ihr eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung zu tole- jegliche Orientierung abhandengekommen. In rieren. Umgekehrt hat die FDP auf kommunaler den Abgrenzungsbeschlüssen der Bundespartei Ebene schon häufig AfD-Anträge aus „sachlichen gefangen und von der Furcht vor einem Zwölf- Gründen“ unterstützt. Ähnliches gilt für jenen Teil Prozent-Ergebnis bei Neuwahlen getrieben, der CDU, der Allianzen lieber mit der AfD als mit konnte sie sich nicht einmal dazu durchringen, der Linkspartei eingehen würde. Auch inhaltlich die Ex-Ministerpräsidentin und CDU-Politikerin hatten sich im Wahlkampf manche Schnittmen- Christine Lieberknecht zur Chefin einer Über- gen zwischen AfD, FDP und CDU abgezeichnet. gangsregierung zu machen. Ein Angebot, das die Polemik gegen angebliche Klimahysterie, die CDU nach Ansicht des FAZ-Herausgebers Jasper Rettung des Thüringer Waldes vor Windrädern, von Altenbockum „nicht ausschlagen“ konnte, Vorbehalte gegen Energie- und Verkehrswende, „es sei denn, sie will den Rest an Glaubwürdig- Migrationskritik und Steuerbefreiung für Unter- keit, der ihr geblieben ist, auch noch verlieren“, nehmen statt Industriepolitik lauteten einige der wurde mit einem unseriösen Gegenvorschlag Stichworte, in denen sich eine mögliche schwarz- abgelehnt. Statt die Gleichsetzung von AfD und gelb-blaubraune Allianz bereits andeutete. Dazu Linkspartei aufzugeben, setzten CDU und FDP passt, dass FDP-Chef Kemmerich seinen Bundes- alles daran, die Wirklichkeit ihrer realitätsfernen vorsitzenden Lindner noch vor der Wahl öffent- Hufeisentheorie anpassen zu wollen. lich vor einem „Rückfall“ in den Sozialliberalis- mus vergangener Zeiten warnte. Vor dem Ende der Hufeisentheorie Aus all diesen Gründen hätte man nicht über- Glaubwürdigkeit, das ist die vierte Erkennt- rascht sein müssen, als Kemmerich seiner Wahl nis aus den Thüringer Ereignissen, verlangt den ohne eine Sekunde des Zögerns zustimmte. Der Abschied von eben dieser Hufeisentheorie, die Tabubruch ist – vorerst – rückgängig gemacht. den Demokraten Ramelow und den völkischen Doch er kann, das ist die dritte Lehre aus den Rechten Höcke auf eine Stufe stellt. Solche Thüringer Ereignissen, wiedergeschehen. Die Gleichsetzungen werden in weiten Teilen der Kräfte, die ihn begangen haben, sind weiter aktiv. demokratischen Zivilgesellschaft abgelehnt. Deshalb benötigt nicht nur Thüringen eine klare Nur deshalb konnte ein Orkan losbrechen, der Richtungsentscheidung. Kemmerich zum Rücktritt zwang, anschlie- ßend auch die CDU-Parteivorsitzende Anne- Laut aktueller Wahlumfragen könnten r2g gret Kramp-Karrenbauer, den Ostbeauftragten derzeit mit einer satten Mehrheit rechnen. der Bundesregierung Hirte und schließlich den Landes-CDU und Landes-FDP hätten rasche CDU-Landeschef und Fraktionsvorsitzenden Neuwahlen hingegen fürchten müssen wie der Mike Mohring aus ihren Ämtern fegte. Die Er- Teufel das Weihwasser. Die Christdemokraten furter Demonstration der 18.000, die zehn Tage würden im zweistelligen Bereich Stimmen verlie- nach der Kemmerich Wahl stattfand, vermittelte ren, die Liberalen fänden sich in der außerparla- einen Eindruck von der Breite und Vielfalt des mentarischen Opposition wieder. Die Angst vor Protests. Von kirchlichen Würdenträgern bis zu einem Wahldesaster dürfte letztendlich bei der CDU den Ausschlag gegeben haben, für einen Jasper von Altenbockum: Ramelows unwiderstehliches Angebot, in: Frank- befristeten Zeitraum die Rolle der konstruktiven furter Allgemeine vom 18.02.2020.
52 Schwerpunkt spw 1 | 2020 einem starken Gewerkschaftsblock, von NGOs PapyRossa Verlag und Campact bis zu den Omas gegen rechts, von Antifa-Initiativen bis zu den Mitte-Linkspar- teien war ein Spektrum vertreten, das sich nicht alle Tage zu gemeinsamen Aktionen zusammen- findet. Schon unmittelbar nach dem Wahleklat Georg Auernheimer war es in zahlreichen Städten – darunter Jena, Identität und Erfurt, Berlin und Frankfurt – zu Demonstrati- onen gekommen. Selbst im fernen Saarland gab Identitätspolitik es Protest auf der Straße. In Jenas Universität Basiswissen Politik hatten hunderte Teilnehmer*innen einer Voll- Geschichte/Ökonomie versammlung den Rücktritt Kemmerichs und sofortige Neuwahlen verlangt und einen ent- Pocketformat sprechenden Aufruf unterstützt. An einer spon- 978-3-89438-730-3 tanen Protestdemonstration beteiligte sich auch 126 Seiten | € 9,90 der Präsident der FSU Walter Rosenthal. Werden heute Identitätsentwürfe verlangt, so fol- Stärker noch als diese Demonstrationen gen unter neoliberalen Verhältnissen oft befristete dürfte FDP und CDU beeindruckt haben, was Inszenierungen. Für andere wird Identitätsarbeit ihnen aus der Wirtschaft entgegenschallte. Ein zum Kampf um Anerkennung, zu Identitätspolitik. Beispiel: „Während wir für unsere Thüringer Dem stehen entgegen: nationalistische und Unternehmen und Institutionen auf der Op- tikmesse Photonics West in San Francisco tätig rechtsextreme Identitätsangebote, so die der sind, haben wir von der Wahl Thomas Kem- »Identitären«. merichs zum Thüringer Ministerpräsidenten erfahren. Diese Wahl war offenkundig nur mit Unterstützung einer rechtsextremen Partei möglich, deren Positionen von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit geprägt sind. Wir akzeptieren nicht, dass diese Positionen einen Klaus Müller entscheidenden Einfluss auf die Thüringer Lan- Monopole despolitik nehmen. Um weiteren Schaden von unserem Bundesland und der Thüringer Wirt- Basiswissen Politik Geschichte/Ökonomie schaft abzuwenden, fordern wir Thomas Kem- merich zum Rücktritt vom Amt des Thüringer Ministerpräsidenten auf. Wir bitten die Thü- Pocketformat 978-3-89438-731-0 ringer Landesverbände von Die Linke, CDU, 124 Seiten | € 9,90 SPD, B90/Grüne und FDP zu einem Konsens zu finden, der auf demokratischen Werten, An der Schwelle zum 20. Jahrhundert entstand ein wirtschaftlicher und sozialer Verantwortung neues Produktions- und Herrschaftsverhältnis: das und ökologischer Vernunft beruht.“ Den noch Monopol. Seine marktbeherrschende Stellung und am 5. Februar verfassten Text unterzeichneten führende Thüringer Industrievertreter. Ihnen KRKH3UR¿WHZHUGHQLP.DPSIXPGHQ6WDDWXQG folgten ähnliche Statements von Spitzenmana- mit ihm abgesichert. Dass Monopole eine Aus- gern und Verbandsvertretern aus der gesamten nahme seien oder Verbraucherwünsche bestens Republik. erfüllten, gehört ins Reich neoliberaler Legenden. Besonders auffällig waren die Fahnen vieler Mitglieder der IG BCE! Tel.: (02 21) 44 85 45 | mail@papyrossa.de Als Erstunterzeichner werden namentlich genannt: Stefan Jakobs, Torsten www.papyrossa.de Poßner, Thomas Bauer. Den Hinweis verdanke ich meinem Kollegen, dem Physik-Professor Gerhard-Paulus.
spw 1 | 2020 Schwerpunkt 53 Die Proteste aus der Wirtschaft dürften die andere als unwichtig, dass die AfD von der po- CDU-Spitze ins Mark getroffen haben. Im Land litischen Polarisierung im Land nicht profitieren des Exportweltmeisters ist es schlicht geschäfts- kann. Deshalb mögen die Vordenker der radi- schädigend, wenn die radikale Rechte Minis- kalen Rechten Höcke für sein taktisches Geschick terpräsidenten mitwählt. Dies vor Augen, wird loben,10 insgeheim wird ihnen die Tatsache, dass der Abschied von der Hufeisentheorie für die die Thüringer AfD in Umfragen bei etwa 25 Pro- CDU/CSU zu einer Grundsatzfrage, die ihren zent verharrt, durchaus Kopfschmerzen bereiten. Volkspartei-Charakter berührt. Dabei geht es Es scheint als habe die Partei ihr Potential ausge- allerdings nicht allein um die Berücksichtigung schöpft. In bundesweiten Umfragen verliert sie von Wirtschaftsinteressen. Von italienischen an Zustimmung; in Hamburg hat sie den Einzug Marxist*innen hätte man in früheren Zeiten ins Parlament nur äußerst knapp geschafft. Blei- lernen können, beim Kampf um Hegemonie ben spektakuläre Wahlerfolge aus, wird das die Entwicklungen in den Kirchen größte Aufmerk- Fraktionskämpfe im rechtsradikalen sozialen samkeit zu widmen. Hier sei nur angedeutet, was Block anheizen. Schon zeichnen sich erste Kon- einer genaueren Analyse wert wäre. Papst Franzis- fliktlinien ab. Die Werteunion, Sympathisanten- kus hat sich in der sozialen und der ökologischen verein der AfD in der CDU, macht Höcke für Frage inhaltlich sehr klar und geradezu radikal das Scheitern einer rechtsnationalen Koalition positioniert. In der evangelischen Kirche spielen in Thüringen verantwortlich. Umgekehrt giftet soziale Gerechtigkeit und ökologisch inspirierte das Höcke-Lager gegen die ehemaligen Merkel- Wachstumskritik ebenfalls eine gewichtige Rolle. anhänger*innen in der Werteunion. Das taktische Wenn etwa der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa Hin und Her zwischen Sozialpopulismus und ra- auf Kirchentagen als Superstar gefeiert wird, ist dikalem Wirtschaftsliberalismus wird ebenfalls das ein Zeichen für tiefgreifende Veränderungen nicht zur inneren Stabilisierung des Rechtsau- in einem Spektrum, das einst das natürliche Re- ßen-Lagers beitragen. Protestwähler*innen wer- krutierungsfeld für Christ- und teilweise auch den registrieren, dass ihre Wut auf die Etablierten für Sozialdemokraten war. Angela Merkel hat verpufft, weil die AfD politisch nichts erreicht. dies mit ihrem pragmatischen Machtkalkül und In den Auseinandersetzungen, die auf den Tabu- ihrem Instinkt für Verschiebungen in der poli- bruch folgten, hat die AfD mit ihren taktischen tischen Mitte klar erkannt. Sie hat die CDU an- Manövern keine Rolle gespielt. Stattdessen hat ein satzweise für diese Veränderungen geöffnet. Hin- gesellschaftlicher Klärungsprozess über das We- ter diese Öffnung für zivilgesellschaftliche Vielfalt sen und den Gehalt von Demokratie eingesetzt. kann auch ein Friedrich Merz nur zurück, wenn Kurzum: Die AfD ist politisch aus dem Spiel. er den Volkspartei-Charakter der CDU aufs Spiel setzt. Die Christdemokratie wird Zeit benötigen, Von Thüringen zu neuen Mehrheiten im um diese Grundsatzfrage zu klären. Das kann sie Bund? am besten in der Opposition – in Thüringen ge- nauso wie im Bund. Der Abschied vom Hufeisen Damit das so bleibt, benötigen wir im Osten wird erfolgen – fragt sich nur, ob nach links oder wie im Westen eine Auseinandersetzung über nach rechts. die großen Zukunftsfragen der Gesellschaft, die unter und zwischen Demokraten ausgetragen Die AfD – aus dem Spiel wird. In Thüringen sollte r2g aus der Minder- heitsregierung daher nicht mehr machen als sie Damit sind wir bei einer weiteren Erkenntnis. ist. Diese Regierung hat dringende Regierungs- In Thüringen hat sich wie unter einem Brennglas geschäfte wahrzunehmen und Neuwahlen vor- gezeigt, was auch auf nationaler Ebene notwendig zubereiten. Da von der CDU abhängig, sind ist. Das politische Interregnum im Land muss be- ihrem Entscheidungsspielraum enge Grenzen endet werden. Wir benötigen klare Richtungsent- gesetzt. Einen Linksruck wird man von einer scheidungen. In diesem Zusammenhang ist alles solche Regierung wahrlich nicht erwarten kön- Dazu lesenswert: Lucio Magri (2014): Der Schneider von Ulm. Berlin: Argu- 10 Götz Kubitschek (2020): Höckes Schachzug – drei Anmerkungen, in: https:// ment-Verlag. sezession.de62123/hoeckes-schachzug-drei-Anmerkungen.
54 Schwerpunkt spw 1 | 2020 nen. Immerhin ist ein Jahr Zeit gewonnen, das entscheiden darüber, ob es einem emanzipa- es ermöglicht, mit attraktiven Zukunftspro- torisch-linken Mosaik gelingt, diese Chance zu jekten und klarem Profil in die nächste Wahl zu nutzen. Käme es dazu, wäre Thüringen fortan gehen. Wo die politischen Konfliktlinien ver- ein Land, das alle kennen – nicht nur aufgrund laufen, habe ich in einem früheren Artikel an- seiner Prominenten, sondern wegen der vielen, gedeutet.11 Thüringen braucht, was die gesamte die sich am 5. Februar 2020 auf den Weg ge- Republik benötigt – einen sozial ausgewogenen macht haben, um der Demokratie eine Zukunft Green New Deal, der sich an Nachhaltigkeits- zu sichern. zielen orientiert. Auf der Grundlage eines ent- sprechenden Programms hätten die r2g-Par- PS: Ach ja, da wäre noch die FDP. Einen teien große Chancen, als Sieger aus Neuwahlen klugen politischen Liberalismus könnte die Re- hervorzugehen. Gelänge dies, könnte der Tür- publik gut gebrauchen. Intellektuelle wie Lisa öffner für einen Weg gefunden sein, der schließ- Herzog12 haben bereits vorgedacht, was dar- lich auch zum Ende der Berliner GroKo führen unter zu verstehen ist. Von einer solchen poli- wird. Das Interregnum, das Bonapartistische tischen Philosophie sind die real existierenden Demokratien auszeichnet, lässt sich überwin- Liberalen indes meilenweit entfernt. Kaum zu den, sobald klare politische Alternativen zur glauben, dass die FDP einmal die Partei des Abstimmung stehen. Deshalb geht es in Thü- großen liberalen Soziologen Ralf Dahrendorf ringen um sehr viel mehr als „nur“ um einen war. Die heutige FDP benötigt kein Rezo-Vi- klugen und beliebten Ministerpräsidenten Ra- deo, um sich selbst zu zerstören. Das besorgt melow. Es geht um neue Mehrheiten und um sie schon aus eigener Kraft. An der neuerlichen eine Richtungsentscheidungen auch im Bund. Wahl eines Ministerpräsidenten haben die Thüringer FDP-Abgeordneten erst gar nicht In der Emilia Romagna hat die Sardinen-Be- teilgenommen. Damit haben sie unfreiwillig si- wegung vorgemacht, wie ein sicher geglaubter gnalisiert, welche Bedeutung ihre Partei künftig Wahlsieg der äußersten Rechten zu stoppen ist. haben wird. Sie ist – überflüssig! Wird der Schwung, der vom Aufstand der de- mokratischen Zivilgesellschaft ausgeht, genutzt, Pps: Kaum war der neue Damm gegen die muss es in der Bundesrepublik erst gar nicht so radikale Rechte errichtet, verkündete Bodo Ra- weit kommen. Je erfolgreicher es gelingt, die blo- melow, er habe einen AfD-Abgeordneten in das ße Ablehnung eines „Pakts mit Faschist*innen“ Präsidium des Landtags gewählt. Das geschah in einen positiven Konsens zugunsten dringend ohne Not und wird von vielen, die sich engagiert notwendiger sozialökologischer Transformati- haben als Schlag ins Gesicht empfunden. Viele onsprojekte zu übersetzen, desto besser ist das derartige Fehler darf sich ein linker Minister- für die Zukunft der Gesellschaft und der De- präsident nicht erlauben, sonst könnte seinem mokratie. Die Gelegenheit, Kräfteverhältnisse Aufstieg alsbald ein tiefer Fall folgen. ó grundlegend zu verändern, ist da. Viele, die ge- gen den „Handschlag der Schande“ opponiert haben, wollen nicht zurück zum alten Status quo. Sie wollen, dass sich im Verhältnis von Bürger*innen und Politik etwas ändert. Und zwar etwas Grundlegendes. Sie wollen teilha- ben an wichtigen Zukunftsentscheidungen. Sie wollen ernst genommen werden, sichtbar sein, Gehör finden. Das kann der Ausgangspunkt sein, um die gesamte Republik zu verändern. Strategische Klugheit und politisches Wollen 11 Siehe Fußnote eins sowie: Antje Blöcker/Klaus Dörre/Madeleine Holzschuh 12 Lisa Herzog (2019): Konkrete Demokratie wagen, in: Was stimmt nicht (Hrsg.) (2020): Auto- und Zulieferindustrie in der Transformation. Berlin: mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Stiftung Neue Länder. https://www.otto-brenner-stiftung.de/stiftung-neue- Lessenich und Hartmut Rosa, hrsg. Von Hanna Ketterer und Karina Becker, laender-snl/ Berlin: Suhrkamp, S. 196-202.
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