30 Ed - Berliner Festspiele

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Ed.

      30

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Die Editionsreihe der Berliner Festspiele erscheint bis zu sechsmal jährlich und
präsentiert Originaltexte und Kunstpositionen. Bislang erschienen:

Edition 1
Hanns Zischler, Großer Bahnhof (2012)
Christiane Baumgartner, Nachtfahrt (2009)

Edition 2
Mark Z. Danielewski, Only Revolutions Journals (2002 – 2004)
Jorinde Voigt, Symphonic Area (2009)

Edition 3
Marcel van Eeden, The Photographer (1945 – 1947), (2011 – 2012)

Edition 4
Mark Greif, Thoreau Trailer Park (2012)
Christian Riis Ruggaber, Contemplatio I–VII: The Act of Noting and Recording (2009 – 2010)

Edition 5
David Foster Wallace, Kirche, nicht von Menschenhand erbaut (1999)
Brigitte Waldach, Flashfiction (2012)

Edition 6
Peter Kurzeck, Angehalten die Zeit (2013)
Hans Könings, Spaziergang im Wald (2012)

Edition 7
Botho Strauß, Kleists Traum vom Prinzen Homburg (1972)
Yehudit Sasportas, SHICHECHA (2012)

Edition 8
Phil Collins, my heart’s in my hand, and my hand is pierced, and my hand’s in the bag,
and the bag is shut, and my heart is caught (2013)

Edition 9
Strawalde, Nebengekritzle (2013)

Edition 10
David Lynch, The Factory Photographs (1986–2000)
Georg Klein, Der Wanderer (2014)

Edition 11
Mark Lammert, Dimiter Gotscheff – Fünf Sitzungen / Five Sessions (2013)

Edition 12
Tobias Rüther, Bowierise (2014)
Esther Friedman, No Idiot (1976–1979)

Edition 13
Michelangelo Antonioni, Zwei Telegramme (1983)
Vuk D. Karadžić, Persona (2013)

Edition 14
Patrick Ness, Every Age I Ever Was (2014)
Clemens Krauss, Metabolizing History (2011 – 2014)

Edition 15
Herta Müller, Pepita (2015)

Edition 16
Tacita Dean, Event for a Stage (2015)

Edition 17
Angélica Liddell, Via Lucis (2015)

Edition 18
Karl Ove Knausgård, Die Rückseite des Gesichts (2014)
Thomas Wågström, Nackar / Necks (2014)
Edition 30
Berliner Festspiele
2021

Robert Crumb
Die religiöse Erleuchtung des Philip K. Dick

Mit einem Nachwort von Thomas Oberender

Die Edition ist eine Publikation der Berliner Festspiele.
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Biografien

ROBERT CRUMB

 Robert Dennis Crumb, geboren 1943 in Philadelphia, ist Künstler, Musiker und herausragender
 Comic-Zeichner. Er erfand seit seiner Kindheit Bildergeschichten, hielt sich aber finanziell
 zunächst mit dem Zeichnen von Grußkarten über Wasser. In den 1960er Jahren begann er seine
 Arbeiten in verschiedenen Counterculture-Zeitschriften zu publizieren. Er war Mitbegründer
 von „Zap-Comix“, des ersten erfolgreichen Underground-Comic-Magazins. 1965 begann
 Crumb mit LSD zu experimentieren. Er schuf in dieser Phase einige seiner bekanntesten Comic-
 Charaktere wie Angelfood MacSpade, Mr. Natural und Snoid.
 Von 1980 bis 1993 gab er neben anderen Comic-Büchern und Zeitschriften das alternative
 Comic-Magazin „Weirdo“ heraus, in dem seine Comic-Story von Philip K. Dicks Erweckungs­
 erlebnis erschien.
 Crumbs vielfältige Arbeiten und Kollaborationen erschienen sowohl in Serien wie „Excerpts
 from R. Crumb‘s Dream Diary“, als Plattencover für verschiedene Bands sowie als satirische
 Zeichnungen für den New Yorker und im Mineshaft Magazine. 1993 entstand „Robert
 Crumb’s Kafka“, eine Einleitung in das Werk Kafkas als Comic. 2009 veröffentlichte Crumb
„The Book of Genesis“ als graphic novel.
 Crumbs Arbeiten für das Britische Magazin „Nasty Tales“ wurden 1972 auch im Gerichtssaal
 verhandelt. Seine oft explizit pornographischen Werke und seine rassistische und frauen­
 feindliche Stereotypen haben zu einer kontroversen Rezeption seiner Arbeiten geführt. Crumb
 selbst sieht sich als jemand, der die in der American Culture existierende Misogynie und den
 ameri­kanischen Rassismus nur verdichtet in seinen Comics nachzeichnet.

PHILIP K. DICK

Philip K. Dick ist bis heute einer der wichtigsten Schriftsteller des Science Fiction Genres
und der amerikanischen Counterculture. Er wurde 1928 in Chicago gemeinsam mit einer
Zwillings­s chwester geboren. Seine Schwester starb wenige Wochen später, geistert aber als
Motiv des „phantom twin“ oder Doppelgängermotivs durch seine Romane. Aufgewachsen
in Kalifornien und Washington veröffentlichte Dick seine ersten Kurzgeschichten in den
1950er Jahren, die meisten seiner bis heute nachwirkenden Texte sind ab Ende der 1960er Jahre
entstanden. Er hatte bei der Kritik durchaus Erfolg, die von ihm entworfenen Mainstream-
Romane jedoch, von denen er sich ein Ende seiner finanziellen Not erhoffte, wurden von
seinem Verleger abgelehnt, so dass Dick lange Zeit bei kleineren, schlecht zahlenden Verlagen
publizierte. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens trotz ungeheurer Produktivität kaum
kommerziellen Erfolg. Erst nach seinem frühen Tod 1982 wurden mehrere seiner Texte zu
Filmen adaptiert, von denen einige Meilensteine der Filmgeschichte bilden, so etwa „Blade
Runner“, der nur vier Monate nach Dicks Ableben im Kino zu sehen war.
Philip K. Dick war abwechselnd manischen Schreibperioden und Schreib­b lockaden unterworfen.
Er konsumierte legale wie illegale Rausch­m ittel und litt zuweilen an Wahnvorstellungen,
unternahm Flucht- und Suizidversuche sowie Entziehungskuren. Außerdem hatte er visionäre
spirituelle Erlebnisse. Die Charaktere seiner über 40 veröffentlichten Romane und an die
120 Kurzgeschichten sind oft ebenso fragil. Die in seinen Texten vorkommenden Schizophrenen,
Drogenabhängigen, alternierenden Realitäten, Maschinen-Menschen und bedrohten Welten,
kontrolliert von technisch hochge­r üsteten Regimen, artikulieren nicht nur Ängste vor der
Zukunft, sondern auch Zweifel an einer von Dick als brüchig und irreal emp­f undenen Gegenwart,
deren wachsende Technisierung sich in seinen Texten spiegelt.

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DREISSIG SEKUNDEN WIRKLICHKEIT

      Zu Philip K. Dicks Epiphanie in Robert Crumbs Comic
          „Die religiöse Erleuchtung des Philip K. Dick“

Wenige Monate vor seinem Tod erzählte Philip Kindred Dick einer
Freundin, der Journalistin Gwen Lee, in einem ihrer mittels Ton-
bandaufzeichnungen festgehaltenen Gespräche, dass er seit über
acht Jahren in Kontakt stehe mit einer Art von Intelligenz, die,
wie der Schriftsteller sich ausdrückte, „mir jeden erdenklichen
Beweis geliefert hat, dass sie Gott ist.“ Die initialen Begegnungen
fanden im Februar und März des Jahres 1974 statt, und er sprach
fortan von ihnen als den 2-3-74 Ereignissen. Die letzten Lebens­
jahre des Schriftstellers waren von seinem Versuch geprägt, diese
Begegnung mit Gott, oder dem, was er dafür hielt, zu verstehen.
Seine damit ver­bundenen Studien der Religions- und Philosophie­
geschichte, der Mathematik und der alten Sprachen fanden ihren
Niederschlag in zahlreichen Interviews, Reden, in seiner letzten
Romantrilogie „Valis“ und einem Konvolut essayistischer Texte
und Fragmente unter dem Titel „Exegesis“, die zunächst als
gesprächsweise Ausdeutung seines Gotteserlebnis mit seinem
Freund, dem Science-Fiction-Autor Kevin W. Jeter, entstanden und
posthum veröffentlicht wurden.

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Einerseits weckt Philip K. Dicks Epiphanie-Erlebnis Erinnerungen
an die Visionen von Paulus, Buddha, Hildegard von Bingen, Luther,
Blaise Pascal oder Beckett, doch der Schriftsteller fürchtete auch,
einen paranoiden oder schizophrenen Schub erlebt zu haben.
Der öffentliche Umgang mit Dicks Erlebnis bleibt bis heute mit
Zweifeln und Fragen verbunden – waren sie vielleicht drogen­
induziert oder schlicht Wahnvorstellungen? Er finanzierte seinen
Lebensunterhalt und den seiner Familie mit zumeist miserabel
bezahlten literarischen Texten und war jahrelang gezwungen, seine
Werke in kürzester Zeit „am Stück“ zu schreiben. Viele von Dicks
später weltberühmten Büchern entstanden in hyperintensiven
Arbeitsphasen von fünf bis zehn Tagen, innerhalb derer er kaum
aß und schlief und sich mit Amphetaminen aufputschte, um bis
zu achtundsechzig Seiten am Tag zu schreiben.

 Als Philip K. Dick 1982 starb, hinterließ er um die hundertzwanzig
 Kurzgeschichten und mehr als vierzig Romane. Viele von ihnen
 sind heute durch ihre Verfilmung zu Klassikern des Sci-Fi-Genres
 geworden und inspirieren noch immer ganze Industrien, allen
 voran Werke wie „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?”
(„Blade Runner”), „The Man in the High Castle”, „Total Recall”,
„Paycheck”, „Minority Report” oder „A Scanner Darkly”, ebenso
 wirken auch Ideen des Schriftstellers nach, wie z.B. die Vorstellung
 von Tachyons genannten Partikeln, die sich in der Zeit rückwärts
 bewegen könnten und, so eine der Phantasien von Dick, von der
 Sowjetunion einst benützt würden, um auf die Vergangenheit mit
 wissenschaftlichen Informa­tionen aus der Zukunft einzuwirken –
 eine Idee, die vielleicht auch Christopher Nolans Film „Tenet”
(2020) beflügelt hat.

Trotz seiner sich in den letzten acht Lebensjahren immer wieder
ereignenden Visionen wurde Philip K. Dick nicht zum Kirchgänger,
sondern integrierte die von ihm „geschauten“ Informationen in
literarische Texte und mehr als zehntausend Seiten Notizen. In
ihrem Zentrum steht gegen Dicks Lebensende die Überzeugung,
dass eine extraterrestrische Lebensform auf der Erde existiert,
die keinerlei Ähnlichkeit mit Menschen, sondern Insekten hat, mit
Käfern oder einer Gottes­anbeterin. Sie hätten keine Sprache
und dächten in Farben und Mathematik. Seit dreitausend Jahren
würden sie uns durch religiöse Praktiken auf die Begegnung mit
ihnen vorbereiten, da sie davon ausgingen, dass ihr Aussehen

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für uns befremdlich wirken müsse. Sie hielten die Menschen, so
Philip K. Dick, aufgrund ihrer Fähigkeit zu musizieren genau wie
sich selbst für spirituelle Wesen, gleichwohl sie sich auf einer
höheren Entwicklungsstufe befänden.

 Die von Dick beschriebenen Begegnungen mit einer anderen
 Lebensform klingen verstörend oder wie eine große Erzählung, die
 er sich zu schreiben anschickt. Zugleich besaß Philip K. Dick die
 kreativen und abstrakt-logischen Fähigkeiten hochbegabter
 Denker wie Ada Lovelace oder Alain Turing und schaute durch
 einen Vorhang, den die meisten Menschen nicht öffnen können.
„Was“, so der Titel der Sammlung seiner letzten Interviews, „wenn
 unsere Welt ihr Himmel ist?“ Wenn man Dicks letzte Gespräche
 liest, zeigen sie ihn als einen Menschen, der im Hinblick auf die
 eigene Person mit Distanz und Humor spricht. Er vergleicht Drogen
 mit dem Knusperhäuschen aus Hänsel und Gretel. Sie schmeckten,
 sagt er, köstlich und wenn man sie entdeckt hat, möchte man
 kräftig zulangen, aber im Handumdrehen sei man drin in diesem
 Häuschen und werde in den Ofen geschoben. Philip K. Dick
 kannte dieses Häuschen von innen und außen und so ist nicht
 anzunehmen, dass seine über Jahre anhaltenden Visionen, die
 auch ein anderes Zeitkonzept und die Verbindung zu anderen
 Sprach- und Wissensformen umfassen, unmittelbar auf Drogen-
 konsum oder Psychosen zurückzuführen sind.

Philip K. Dicks ontologischer Zweifel und Erkenntnisdrang waren
die zentralen Motive seines Schreibens – die Suche nach der
wirklichen Natur der Realität trieb ihn über vierzig Arbeitsjahre um.
Viele seiner Helden sind Personen mit falschen Erinnerungen, sind
nicht, was sie von sich selbst glauben zu sein, ebensowenig wie
die Welt, die sie umgibt. Die Grundlage seiner Romane, sagte Dick
in einem Gespräch mit seinem Übersetzer Uwe Anton und dem
Sci-Fi-Experten Werner Fuchs 1977, bestünde „aus einer in sozialer
Realität verkörperten Idee, in der manche Charaktere Opfer und
manche die Machthaber des Systems darstellen, und immer
sind die Herren manipuliert. Sie glauben an das System, weil es
ihnen Privilegien einräumt. Daher haben sie auch keine Wahrheit
verdient.“

Der amerikanische Comic-Künstler und Musiker Robert Crumb hat
Dicks Begegnung mit Gott, oder dem, was er dafür hielt, 1986 in

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einer Bildgeschichte umgesetzt, die veröffentlicht wurde, als
„Blade Runner“ nach anfänglichem Misserfolg an der Kinokasse
 langsam zum Kult wurde. Für den Cartoonisten, der mit seiner
 Zeitschriften­serie „Weirdo“ eine Ikone der Gegenkultur der 1960er
 und 1970er Jahre war, muss Philip K. Dicks detailliert beschriebene
 Erleuchtung weitaus phantastischer gewirkt haben als dessen
 phantastische Literatur selbst.

Über seine 2-3-74 Visionen berichtete Philip K. Dick 1977: „In den
letzten dreieinhalb Jahren bin ich aus Gründen, die ich nicht kenne,
zu einem Wahrnehmungsdurchbruch gelangt, der – wie ich
meine – mir die wirkliche Welt zeigt, in einem Sinne, wie Platon die
wirk­liche von der nur augenscheinlichen Welt unterschieden hat.
Ich weiß nicht, wie mir dieser phantastische Durchbruch gelungen
ist, was ihn ver­ursacht hat, doch seither habe ich nichts anderes
getan als zu versuchen, eine kohärente Erklärung für das, was
ich gesehen habe, zu entwickeln. Man kann es am besten mit
einem Modell erklären: Wir sitzen im Theater bei einer Premiere.
Aus irgendeinem Grund – aus welchem, spielt keine Rolle – sind
wir alle so naiv zu glauben, die Aufführung sei kein Spiel, sondern
Wirklichkeit. Zwei Akte lang sitzen wir da und glauben, die
Schauspieler seien die Charaktere, die sie darstellen. Sagen wir,
wir wohnen einem Stück über die Ermordung Abraham Lincolns
bei, und glauben, ein Schauspieler mit Bart sei Lincoln, und ein
anderer John Booth. Wir sitzen da und schauen zu und glauben,
alles ist wahr.

Und plötzlich fällt die ganze Kulisse um; wir sehen die Leute hinter
der Bühne, den Regisseur, den Requisiteur, Schauspieler, die
sich ihre Kostüme erst halbwegs angelegt haben und noch ihren
Text lernen. Die Scheinwerfer und die Haltevorrichtung des
Vorhangs. Für dreißig Sekunden sehen wir es, und sechzehnhundert
Leute springen von den Sitzen hoch. Die Bühnenleute hoffen, dass
alle Zuschauer geschlafen haben, doch diese dreißig Sekunden
haben die Wirklichkeit enthüllt.

So etwas ist mir in Bezug auf die wahre Welt zugestoßen. Drei­
einhalb Tage lang wurde die Szenerie durchschaubar und enthüllte
mir die dahinterliegende Wirklichkeit. Doch sie unterschied sich
von der augenscheinlichen so sehr, dass die Sprache nicht aus­
reicht, sie zu beschreiben. Ich kann nicht einfach sagen: »X, Y, Z«

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und ein paar semantische Assoziationen hinzufügen. Ich habe
300 000 Worte an Notizen verfasst und umfangreiche Nach­
forschungen betrieben, denn das muss wohl noch jemandem
passiert sein. Ich kann nicht der einzige in der gesamten
Geschichte der Menschheit sein (lacht), der die Welt so gesehen
hat, wie sie wirklich ist.

Ich entdeckte, dass Alotinus, der Neoplatoniker, dieses Erlebnis
auch hatte, wie auch einige Sufi und einige der christlichen
Mystiker, wie Origenes. Und Hans Driesch, der deutsche Philosoph,
und Bergson. Ich fand Andeutungen davon in Indien, in der Hindu-­
Religion, im Brahmaismus. Emerson und Wordsworth scheinen
diese Erfahrungen gemacht zu haben. Es ist ein wenig so wie bei
Platon. Deshalb habe ich das Ereignis auch wie eine Theater­
aufführung beschrieben. Man kann es mit Platons Beschreibung
von den Bildern auf der Höhlenwand vergleichen. Das Erlebnis
ähnelt wirklich eher einer kleinen Aufführung als einem Film.

In den dreieinhalb Jahren, in denen ich darüber Nachforschungen
angestellt und nachgedacht habe, wurde mir nur klar, dass es
etwas mit der Zeit zu tun hat. Wie ich es verstehe – niemand wird
es je völlig verstehen –, ist die Zeit eine Illusion. Unsere Wahr­
nehmung von ihr ist unangemessen. Es gibt andere Möglichkeiten
sie wahrzunehmen, als nur jene, mit der wir das gewöhnlich tun,
genauso wie es andere Arten der Zeit geben mag.

Die Rede, die ich morgen halten werde, beschäftigt sich mit einer
speziellen Form der Zeit. Was nicht meine Erfindung ist; es geht
darum, dass wir uns im rechten Winkel durch die lineare Zeit
bewegen. Doch meine Erfahrungen bestätigen, dass es einen Zeit-
fluss gibt – innerhalb der linearen Zeit –, der sich entgegengesetzt
oder in einem Winkel zum normalen Zeitstrom bewegt. Dieser
Strom erzeugt um uns herum Umwandlungen. Doch das im meta-
physischen Sinne Interessante daran ist, dass diese Umwandlungen
für uns nicht wahrnehmbar sind, denn sobald sie auftreten,
glauben wir, es hätte sich schon immer gegeben. Nehmen wir z. B.
diesen Fernseher dort: Im linearen Zeitstrom wissen wir, dass der
irgendwann einmal dorthin gebracht worden ist, doch in dem
anderen Zeitfluss glauben wir, er sei schon immer dort gewesen,
weil er nun hier steht. Wir erinnern uns nicht mehr daran, wie er
entstanden ist, denn das Existentwerden ist in der linearen Zeit der

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Fluss von der Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft. In
         jenem anderen Zeitstrom findet jedoch die gesamte lineare Zeit
         gleichzeitig statt, haben also Vergangenheit, Gegenwart und
         Zukunft keine Beziehung, keine Auswirkungen aufeinander. In
         diesem Falle sind wir zu dieser Dreiteilung nicht mehr fähig. Von der
         Vergangenheit besitzen wir nur innere Hinweise wie Erinnerungen
         und äußere Hinweise wie geologische Formationen. Doch das sind
         nur sekundäre Hinweise, und sie beweisen nichts.“

         Philip K. Dick fühlte sich von der Polizei verfolgt, weil er langes
         Haar trug, Dope rauchte, Rockmusik hörte und mit jungen Leuten
         in einem Haus wohnte, die das Gleiche machten. Vielleicht ist
         die 2-3-74 Episode – und alles, was ihr an Eingebungen folgte –
         nicht das, wofür es Philip K. Dick selbst sie hielt, aber diese
         Epiphanien zählen zu den am besten dokumentierten und
         öffentlich reflektierten Revelations-Erfahrungen des Abendlandes
         und sind Teil der Arbeitsgeschichte eines der bedeutendsten
         Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Robert Crumb hat interes­
         santerweise keinen literarischen Text von Dick illustriert, sondern
         diese Epiphanie-Episode aus dessen Leben. Crumbs stilistisch
         zwischen Doku und Halluzination changierendes Comic erzählt
         Dicks Erlebnis mit der Präzision eines Detektivs, der die Details
         in stringente Zusammenhänge bringt und die Wucht der Visionen
         in leuchtende Zeichnungen übersetzt, in Bilder des Staunens
         und dramatischer Kontraste. Es ist, als sei auch für den Zeichner
         eine Welt nicht genug. Für alle, die mit Philip K. Dicks Texten
         etwas vertraut sind, vermittelt Crumbs Comic eine sehr persön­liche
         Seite im Schaffen dieses Autors, die es nahelegt, die in sozialer
         Realität inkorporierte Idee seiner Werke von jenem Punkt aus zu
         betrachten.

         Thomas Oberender

Der Autor ist seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele.

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Das Zitat von Philip K. Dick stammt aus einem Interview, das Uwe Anton und
Werner Fuchs mit ihm geführt und in dem Buch „Kosmische Puppen und
andere Lebensformen“ (1986, Heyne Verlag) veröffentlicht haben. Die erwähnten
„Letzte Gespräche“ wurden von Gwen Lee und Doris Elaine Sauter herausgegeben
und erschienen 2006 in der Edition Phantasia. Die deutsche Erstausgabe der
„Valis Trilogie“ erschien 1992 im Pabel-Moewig Verlag. Auszüge aus Philip K. Dicks
„Exegesis“ erschienen erstmals 1995 in dem von Lawrence Sutin herausgegebenen
Sammelband „The shifting realities of Philip K. Dick. Selected Literary and
philosophical writings“ ( Vintage Book / Random House). Der Comic „Die Erleuch-
tung des Philip K. Dick“ erschien 1986 in dem von Robert Crumb gegründeten
Magazin „Weirdo“ in der Ausgabe Nr. 17.

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Impressum

     	Herausgeber: Berliner Festspiele, ein Geschäftsbereich der KBB
       Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH
       Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien

       Intendant: Dr. Thomas Oberender
       Kaufmännische Geschäftsführung: Charlotte Sieben

   Kontakt:
		 Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, 10719 Berlin, T +49 30 25489-0
		berlinerfestspiele.de, info@berlinerfestspiele.de

     	Redaktion: Tania Hron, Jeroen Versteele
     	Grafik: Christine Berkenhoff, Berliner Festspiele,
       nach einem Entwurf von Studio CRR, Christian Riis Ruggaber, Zürich
       Druck: Elbe Druckerei Wittenberg GmbH
       Papier: Focus Art Natural naturweiß 135 g/m² / Graukarton 300 g/m²
       Schrift: LL Brown Regular
       1. Auflage: 2500, Februar 2021

       © 2021. Berliner Festspiele, die Künstler*innen und Autor*innen. Alle Rechte vorbehalten.
		     Abdruck (auch auszugsweise) nur mit Genehmigung der Herausgeber*innen, Künstler*innen und Autor*innen.

Bildnachweis:

"The Religious Experience of Philip K. Dick"
 Copyright © Robert Crumb, 1986
 Reprinted by permission of the author.
 Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt | Handlettering von Michael Hau

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Edition 19
Jens Ullrich, Refugees In A State Apartment (2015)

Edition 20
Tankred Dorst, Die Bilder an meiner Wand (2015)

Edition 21
John Berger, Ein Selbstportrait (2016)

Edition 22
Isa Genzken, Skizzen für einen Spielfilm ( 1993 )

Edition 23
Will Alexander, CAConrad, Monika Rinck, Lisa Robertson, HERE! HERE! THERE! (2016)

Edition 24
Arnon Grünberg, Zerlegt! (2016)
Anton Henning, Some Day My Prince Will Come (1997)

Edition 25
Taiye Selasi, Afrikanische Literatur gibt es nicht (2013)
Matana Roberts, Coin Coin (2011–15)

Edition 26
Rebecca Saunders & Ed Atkins, Opening a Possible Wound (2017)
Ed Atkins, Stills from “Old Food” (2017)

Edition 27
Milo Rau & Fabian Hinrichs & Benny Claessens, Drei Reden (2018)
Andro Wekua, Works (2006–2014)

Edition 28
Naika Foroutan & Thomas Krüger & Thomas Oberender
HEIMAT ist nicht immer die Antwort.
Was haben Migrant*innen und Ostdeutsche gemeinsam? (2019)
Mit Photographien des verschwundenen Palasts der Republik (1976–1990) und
seines Remakes als Kunstaktion im Haus der Berliner Festspiele 2019.

Edition 29
Das Gewicht der Stimmen: Wie die Bürgerbewegungen 1990
einen Verfassungsentwurf und neue Öffentlichkeiten schufen
Ein Gespräch zwischen Klaus Wolfram, Elske Rosenfeld und Jan Wenzel (2020)
Hg.

                      30

Berliner Festspiele
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