Tiergifte als Quelle neuartiger Bioressourcen - Venomics
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
724 W I S S ENS C H AFT Venomics Tiergifte als Quelle neuartiger Bioressourcen dieser kleineren Organismen. Die Grundlage TIM LÜDDECKE, BJÖRN M. VON REUMONT solcher Studien bildet das Feld der Proteo- LOEWE ZENTRUM FÜR TRANSLATIONALE BIODIVERSITÄTSGENOMIK, FRAUNHOFER mics, ergänzt durch Transkriptom- und INSTITUT FÜR MOLEKULARBIOLOGIE UND ANGEWANDTE ÖKOLOGIE UND INSTITUT Genomanalysen. Die integrative Anwendung FÜR INSEKTENBIOTECHNOLOGIE, UNIVERSITÄT GIESSEN solcher Omics-Technologien zur Unter- suchung von Giftsystemen wird – in Anleh- Toxins evolved convergently in all major animal groups for predation, nung an das englische Wort für Tiergift defense or competition. They are either actively employed with a de- (venom) – als Venomics bezeichnet. Sie stellt livery apparatus as venoms, or passively secreted as poisons. The evo- in dieser synthetischen, in Abbildung 2 zusammengefassten, Form ein sehr junges lutionary arms race between toxicity and resistance in predators and Forschungsfeld dar, auf dem unsere Gruppe their prey optimised effective toxin cocktails, which thus represent aktiv ist [5, 6] . powerful candidates for translational research. Den Giften vernachlässigter Arten auf DOI: 10.1007/s12268-020-1482-3 © Die Autoren 2020 der Spur Mittels moderner Venomics entschlüsselten ó Die Verwendung von Giften zum Beute- lente Modellsysteme, um die Evolution von wir jüngst erfolgreich die Giftkomposition fang, der Verteidigung oder der Konkurrenz- Genen und Proteinfunktionen im Tierreich einiger kleinen Arten erfolgreich und erlang- vermeidung ist im Tierreich weit verbreitet. besser zu verstehen. ten verblüffende Einsichten bezüglich ihrer Durch konvergente Evolution haben alle Zusammensetzung und Bioaktivität. bekannten Phyla giftige Vertreter hervorge- Das junge Forschungsfeld der Die Giftkomponenten der parasitoiden bracht [1]. Diese haben zwei verschiedene Venomics Wespe Pimpla turionellae beispielsweise Formen der Giftigkeit entwickelt [2]: Aktiv Traditionellerweise erfolgte die Studie von waren bislang weitgehend unbekannt [7]. giftige Tiere, wie Spinnen oder Schlangen, Tiergiften mittels dekomplexierender Tech- Wir konnten zeigen, dass das Gift von P. injizieren ihr aus Polypeptiden zusammen- nologien, wie Flüssigchromatographie. Die turionellae eine Reihe von vermutlich neuro- gesetztes Gift über einen Stich oder Biss in Rohgifte der zu untersuchenden Arten wur- toxischen Peptiden mit Disulfidbrücken in ihr Gegenüber (Abb.1). Im Gegensatz dazu den über verschiedenste Chromatographie- Knotenstruktur beinhaltet. Analoga dieser gelangen die überwiegend aus niedermole- systeme in ihre Komponenten fraktioniert. Klasse wurden bis jetzt hauptsächlich in kularen Stoffen, z. B. Alkaloiden, bestehen- Die Struktur der gewonnenen Komponenten Vogelspinnen und Kegelschnecken identifi- den Gifte von passiv giftigen Tieren wie wurde dann mittels Edman-Abbau, NMR- ziert und sind interessante Wirkstoffkandi- Amphibien oder Schmetterlingen durch oder Massenspektrometrie untersucht und daten [3]. P. turionellae nutzt Insekten als Resorption an ihren Wirkungsort (Abb. 1). ihre Biochemie in verschiedenen Assays auf- Wirte und als Nahrung für ihre Jungtiere. Im Tiergifte beinhalten viele unterschiedliche geklärt [4]. Diese Strategien halfen, die Gifte Wachsmotten-(Galleria mellonella)-Modell Biomolekülklassen und gehören zu den kom- zu entschlüsseln – insbesondere von Schlan- konnte nachgewiesen werden, dass das Gift plexesten biochemischen Systemen des Tier- gen, großen Spinnen und Kegelschnecken. von P. turionellae in der Lage ist, mittels epi- reichs. Im Laufe der Evolution unterliegen sie Leider sind solche Ansätze ausgesprochen genetischer Reprogrammierung die Immu- einem evolutionären Wettrüsten und werden probenintensiv, weshalb bisher große Gift- nantwort ihres Wirts zu unterdrücken und somit stetig hinsichtlich ihrer Funktion opti- mengen als Ausgangsmaterial notwendig somit die Überlebenschancen ihrer abgeleg- miert. Als Resultat beinhalten sie hochpoten- waren. Als Konsequenz war es durch stark ten Larven zu erhöhen [8]. Die Toxine in die- te Toxine mit erstaunlicher Selektivität und limitierte Giftmengen bislang nahezu unmög- ser Gruppe sind daher einerseits extrem großer Wirksamkeit, was sie zu exzellenten lich, die Gifte der abertausenden, sehr klei- interessant für pharmakologische oder land- Ausgangsstoffen für die Entwicklung neu- nen wirbellosen Tierarten, wie z. B. einhei- wirtschaftliche Anwendungen, andererseits artiger Therapeutika, industriell nutzbarer mischen Spinnen oder Insekten, detailliert erlaubt eine detailliertere Kenntnis dieser Enzyme oder Bioinsektizide macht. Diese zu untersuchen. Seit kurzem erlauben die Pharmakodynamik im Insekt ein besseres biochemische „Schatztruhe“ ist daher zuneh- rasant voranschreitenden Entwicklungen im Verständnis der Evolution von Parasit-Wirt- mend im Fokus der Forschergemeinschaft Bereich der Sequenziertechnologien, Bio- Beziehungen. und einige Wirkstoffe wurden ausgehend technologie und vor allem der Massenspek- Eine rezente Analyse des Gifts der Wespen- von Tiergiften bereits entwickelt [3]. Über- trometrie durch ihre gesteigerte Sensitivität spinne Argiope bruennichi zeigt, dass auch in dies sind Gifte und ihre Bestandteile exzel- und Präzision auch die Analyse von Giften Spinnengiften viel Neues zu entdecken ist [9]. BIOspektrum | 07.20 | 26. Jahrgang
725 ó ó ˚ Abb. 1: Auswahl aktiv giftiger Tierarten und einige ihrer komplexen Giftapparate im Vergleich zu passiv giftigen Arten. BIOspektrum | 07.20 | 26. Jahrgang
726 W I S S ENS C H AFT ¯ Abb. 2: Das For- schungsfeld der modernen Venomik und den ineinander übergreifenden Teil- disziplinen, insbeson- dere beruhend auf den vier zentralen Säulen Transkripto- mik (Genexpression), Proteomik (Protein- sekretion), Genomik (Erbgutanlage) und Morphologie (Giftap- parate). Im Gegensatz zu den chemisch hochkom- Jüngst untersuchten wir in Kooperation mit Neben diesen Beispielen arbeiten Mitglie- plexen Giften der bisher untersuchten Arten dem Senckenberg Museum in Frankfurt a. M. der unserer Gruppe an der Evolution von ist das Gift der Wespenspinne recht einfach und der Universität Bonn im Rahmen des hes- Giftsystemen einer Vielzahl von vernachläs- aufgebaut. Während Spinnengifte oft bis zu sischen LOEWE Forschungprojekts Transla- sigten Gifttieren und dem möglichen Anwen- 1.000 Komponenten besitzen, zeigt das der tionale Biodiversitätsgeomik (LOEWE TBG) dungspotenzial ihrer Giftkomponenten. So Wespenspinne nur etwa 50 Bestandteile. die Gifte von marinen Schnurwürmern oder werden derzeit Fische, weitere Spinnen Klassischerweise wird davon ausgegangen, Nemertea [10]. Die Art Amphiporus lactiflo- sowie Raubwanzen, Raubfliegen, Taubwara- dass in Spinnengiften kleine neurotoxische reus und ihre engere Verwandtschaft ent- ne und der Feuersalamander bearbeitet. Peptide die Hauptkomponenten sind. Im Gift wickelten während ihrer Evolution einen der Wespenspinne spielen diese jedoch eine ausstülpbaren Rüssel, der Toxine absondert Zugriff auf neue Bioressourcen durch eher untergeordnete Rolle, während hoch- und mit einer mineralischen Spitze versehen Biotechnologie molekulare Proteinbestandteile dominieren. ist, die wie ein Projektil die Körperwand der Ein Hindernis in der Erforschung von Gift- Ein Grund könnte sein, dass Wespenspinnen Beute durchschlägt. Unsere Untersuchungen tieren mit geringer Körpergröße ist der sehr sich an eine netzbasierte Jagdstrategie zur Giftzusammensetzung in A. lactifloreus limitierte Giftvorrat. Dies macht es schwer anpassten und dem Giftapparat nur eine zeigen, dass proteolytische Enzyme eingebet- oder oft unmöglich, genügend Material zu Nebenfunktion zukommt. Da sowohl Spinn- tet in Mucin-Proteine die Grundlage dieses gewinnen, um die Bioaktivität der Giftbe- seide als auch Gifte energetisch kostspielig Giftsystems bilden (Abb. 3). Dazu kommen standteile nach einer Fraktionierung zu sind, fiel eine Vielzahl der nun überflüssigen einige vermutlich neurotoxische Komponen- bestimmen [11]. Das große Potenzial dieser Giftkomponenten vermutlich negativer ten, die Ähnlichkeit mit bekannten Toxinen vernachlässigten Giftsysteme für die Wirk- Se lektion zum Opfer und ging verloren. aus Seesternen (Nemertotoxin-1) und Anemo- stoffforschung ist daher bislang nicht ausge- Abschließend deckten wir auch auf, dass nen (Nemertotoxin-2) haben. Interessanter- schöpft. Wespenspinnengift dennoch einige neuar- weise kommen die meisten dieser Substan- Die moderne Venomics ändert dies nun, tige Toxine enthält, die strukturelle Ähnlich- zen nicht nur im A. lactifloreus-Gift vor, son- denn zusammen mit der Aufklärung der Gift- keit mit Neuropeptiden aus Insekten auf- dern sind auch in der körperbedeckenden zusammensetzung wird durch die gekoppel- weisen. Schleimschicht der Tiere vorhanden. ten Transkriptom- und Genomanalysen auch BIOspektrum | 07.20 | 26. Jahrgang
727 die Erbinformation der Toxine entschlüsselt. Die Anwendung biotechnologischer Verfah- ren der Proteinherstellung ermöglicht ausge- hend von dieser Information die Produktion der identifizierten Moleküle ohne größere Mengen Rohgift. Je nach Komplexität und Struktur der Toxine kommen hierfür ver- schiedenste Herstellungsansätze zum Ein- satz. Während für linear gebaute und sehr kurze Peptide meist Synthesechemie einge- setzt wird, werden größere und komplex auf- gebaute Komponenten rekombinant in Esche- richia coli produziert. In diesen Systemen konnten wir bereits einige Toxine aus Krebs- tieren, Skorpionen und Raubfliegen herstel- len. Die Untersuchung der Bioaktivitäten dieser Substanzen ist derzeit im Gange. Ein Nachteil dieser Ansätze ist, dass zumindest für die Strategien über E. coli immer genetisch modifizierte Organismen erzeugt werden müssen. Eine vielverspre- chende Alternative dazu sind zellfreie Prote- insynthese-Technologien. Ein Ziel unserer Gruppe ist es, diese Technologien für die Herstellung von Tiergiften zu implementie- ˚ Abb. 3: Funktionale Übersicht des ersten beschriebenen Giftcocktails von Schnurwürmern für ren. Für Neurotoxine aus Sandkrabbenspin- die Nemertinenart A. lactifloreus. Die in Rot gehaltenen Giftkomponenten (Toxine) weisen Cys- nen, Ficoline aus Wassertrugnattern und teineabfolgen auf, die für die Klasse der Knottine typisch sind. Diese Peptide bilden robuste Fal- tungen aus und interagieren mit Ionenkanälen, wodurch sie oft neurotoxische Wirkung zeigen. Xibalbinen von Remipeden liegen bereits erste, vielversprechende Ergebnisse vor. ó Funding note: Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL. Korrespondenzadresse: Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenzveröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Dr. rer. nat. habil. Björn M. von Reumont Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format Institut für Insektenbiotechnologie und Literatur erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und LOEWE Zentrum für Translationale Biodiversitäts- [1] Fry BG, Roelants K, Champagne DE et al. (2009) The angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genomik toxicogenomic multiverse: convergent recruitment of proteins genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende Justus-Liebig-Universität Gießen into animal venoms. Annu Rev Genom Hum Gen 10:483–511 nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der [2] Casewell NR, Wüster W, Vonk F J et al. (2013) Complex genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht Heinrich-Buff-Ring 58 cocktails: the evolutionary novelty of venoms. Trends Ecol nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen D-35392 Gießen Evol 28:219–229 Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Bjoern.Von-Reumont@agrar.uni-giessen.de [3] Holford M, Daly M, King GF et al. (2018) Venoms to the Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de. rescue. Science 361:842–844 [4] Herzig V, King GF, Undheim EAB (2019) Can we resolve the taxonomic bias in spider venom research? Toxicon: X 1:100005 [5] von Reumont BM, Campbell LI, Jenner RA (2014) Quo vadis venomics? A roadmap to neglected venomous inverte- brates. Toxins 6:3488–3551 [6] Drukewitz SH, von Reumont BM (2019) The significance AUTOREN of comparative genomics in modern evolutionary venomics. Tim Lüddecke Front Ecol Evol doi: 10.3389/fevo.2019.00163 2008–2012 Chemielaborant in der Heubach GmbH. 2012–2018 Biologiestudium an [7] Özbek R, Wielsch N, Vogel H et al. (2019) Proteo- transcriptomic characterization of the venom from the endo- der TU Braunschweig. Seit 2018 Doktorand am Fraunhofer Institut für Molekularbiolo- parasitoid wasp Pimpla turionellae with aspects on its biology gie und Angewandte Ökologie in Gießen im Bereich Bioprospektion von Spinnengiften. and evolution. Toxins 11:721 Seit 2018 assoziierter Wissenschaftler am LOEWE-Zentrum für Translationale Bio- [8] Özbek R, Mukherjee K, Uçkan F et al. (2020) diversitätsgenomik (LOEWE-TBG), Frankfurt a. M. Seit 2019 Vizepräsident der Deut- Reprograming of epigenetic mechanisms controlling host schen Arachnologischen Gesellschaft. insect immunity and development in response to egg-laying by a parasitoid wasp. Proc Biol 287:20200704 [9] Lüddecke T, von Reumont BM, Förster F et al. (2020) An economic dilemma between molecular weapon systems may explain an arachnological-atypical venom in wasp spiders Björn M. von Reumont (Argiope bruennichi). Biomolecules 10:978 1999–2005 Studium der Biologie und 2005–2010 Promotion an der Universität [10] von Reumont BM, Lüddecke T, Timm T et al. (2020) Bonn. Danach Postdoktorand am Zoologischen Forschungsmuseum König, Bonn, Proteo-transcriptomic analysis identifies novel toxins secret- Natural History Museum, London, UK und Assistent an der Universität Leipzig mit Ha- ed by the predatory, prey piercing ribbon worm Amphiporus bilitation 2020. Seit 2018 Koordinator der Gruppe Tiergifte am Institut für Insekten- lactifloreus. Marine Drugs 18:407 biotechnologie an der Universität Gießen und dem LOEWE-Zentrum für Translationale [11] von Reumont BM (2018) Studying smaller and neglect- Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG) in Frankfurt a. M. ed organisms in modern evolutionary venomics implement- ing RNAseq (transcriptomics) – A Critical Guide. Toxins 10:292 BIOspektrum | 07.20 | 26. Jahrgang
Sie können auch lesen