Triage: Wer soll zuerst behandelt werden? - Hans-Albert-Institut

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Triage: Wer soll zuerst behandelt werden? - Hans-Albert-Institut
KRITIK DER STELLUNGNAHME DES DEUTSCHEN ETHIKRATS

              Triage: Wer soll zuerst
              behandelt werden?
              Adriano Mannino, Marina Moreno, Florian Chefai, Dr. Nikil Mukerji, Prof. Dr. Thomas Metzinger,
              Prof. Dr. Franz Josef Wetz, Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher

3. Mai 2021
1

Vorbemerkungen                                                     Vergleichen heißt nicht Aufrechnen
Im Zuge der Corona-Pandemie kam es in verschiede-                  Der Ethikrat verweist in seiner Empfehlung auf den
nen Staaten zu dramatischen Situationen, weil nicht                verbindlichen Rahmen für die ärztliche Ethik, der
mehr genügend Beatmungsplätze für alle Patienten                   durch die Vorgaben der Verfassung gesetzt wird. Die
zur Verfügung standen. Die Intensivmediziner muss-                 darin garantierte Menschenwürde fordert eine egali-
ten daher triagieren – also darüber entscheiden, wer               täre Basisgleichheit aller Patienten, die auch dann gilt,
eine lebensrettende Behandlung erhält und wer nicht.               wenn nicht alle gerettet werden können. Daher sei
                                                                   „jede unmittelbare oder mittelbare staatliche Unter-
Nach den erschreckenden Berichten und Bildern aus                  scheidung nach Wert oder Dauer des Lebens und jede
italienischen Krankenhäusern im Frühjahr 2020 disku-               damit verbundene staatliche Vorgabe zur ungleichen
tierte der Deutsche Ethikrat über mögliche Kriterien,              Zuteilung von Überlebenschancen und Sterbensrisi-
nach denen eine Allokation intensivmedizinischer                   ken in akuten Krisensituationen [...] unzulässig“. Da je-
Ressourcen erfolgen soll. In seiner vielbeachteten Ad-             des menschliche Leben den gleichen Schutz genießt,
hoc-Empfehlung1 betonte er dabei insbesondere die                  müsse eine Klassifizierung u. a. aufgrund des Alters
Pflicht, auch im Ausnahmefall eines flächendeckenden               oder der prognostizierten Lebensdauer seitens des
katastrophalen Notstands die fundamentalen Prinzipi-               Staates unterbleiben.
en der geltenden Rechtsordnung zu garantieren. Der
Staat dürfe daher weder menschliches Leben bewer-                  In den Ausführungen der Empfehlung wird impliziert,
ten noch auf eine utilitaristisch begründete Maximie-              dass eine Berücksichtigung der verbleibenden Lebens-
rung von Menschenleben und Lebensjahren abzielen.                  jahre einer utilitaristischen Abwägung gleichkäme, die
Deshalb dürfe auch nicht vorgeschrieben werden,                    mit der im Grundgesetz verankerten Lebenswertindif-
welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu              ferenz unvereinbar sei. Dabei verkennt der Ethikrat al-
retten sei.                                                        lerdings eine gewichtige Unterscheidung: Die Berück-
                                                                   sichtigung der prognostizierten Lebensdauer setzt
Darüber hinaus warnte der Ethikrat vor der Durch-                  bloß eine paarweise interpersonelle Vergleichbarkeit,
führung der sogenannten Ex-post-Triage, bei der eine               keineswegs aber eine interpersonelle Aggregierbarkeit
bereits eingeleitete Behandlung abgebrochen wird,                  (d. h. Aufrechenbarkeit) voraus, wie der Utilitarismus
um den freiwerdenden Platz einem anderen intensiv-                 sie postuliert. Im Rahmen der ersteren wird lediglich
pflichtigen Patienten zur Verfügung zu stellen. Obwohl             vergleichend gefragt, ob für den einen Patienten in
Ärzte im Ernstfall mit einer „entschuldigenden Nach-               der konkreten Situation mehr auf dem Spiel steht als
sicht der Rechtsordnung“ rechnen könnten, müsse das                für den anderen. Die jeweils auf dem Spiel stehenden
Beenden einer laufenden, weiterhin indizierten Be-                 Schäden (individuelle Stakes) werden also weder ob-
handlung (straf-)rechtlich verurteilt werden.                      jektiviert noch über Personengrenzen hinweg aufge-
                                                                   rechnet. Im Rahmen einer utilitaristischen Position hin-
In der vorliegenden Stellungnahme soll die Position                gegen würde der Wert der verbleibenden Lebensjahre
des Deutschen Ethikrates kritisch beleuchtet werden.               tatsächlich aufgerechnet. Die ältere Person würde da-
Dabei wird eine andere Sichtweise auf das Problem                  mit direkt depriorisiert und erhielte keine Rettungs-
vorgestellt, die zu einer rechtskonformen, ethisch ver-            chance,3 weil durch sie weniger Wert (im Sinne einer
tretbaren und klinisch umsetzbaren Verfahrensweise                 gemäß dem Utilitarismus personenneutral bestimm-
beitragen soll.2                                                   baren Größe) realisiert werden kann. Die Berücksich-
                                                                   tigung der Lebensjahre im Sinne des interpersonellen
1
 Deutscher Ethikrat (2020): Solidarität und Verantwortung in der   Vergleichs setzt jedoch keine utilitaristische Abwä-
Corona-Krise, https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/
                                                                   gung voraus.
Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-kri-
se.pdf (Stand: 27.03.2020, letzter Zugriff: 01.05.2021).           3
                                                                     Es ist möglich, die individuell verbleibenden Lebensjahre – neben
2
  Teile der Stellungnahme entstammen: Mannino, Adriano (2021):     einer Vielzahl weiterer Kriterien – im Rahmen eines (gewichteten)
Wen rette ich – und wenn ja, wie viele? Über Triage und Vertei-    Zufallsverfahrens zu berücksichtigen, das keine Patienten direkt
lungsgerechtigkeit, Reclam, Stuttgart.                             depriorisiert (s. unten).
2

Aus dem interpersonellen Vergleich der Stakes folgt        nicht identisch mit ihrem letzten Lebensjahr – es ist ein
außerdem keine ungleiche Wertschätzung bzw. Ach-           höchst wichtiger, aber kleiner Teil ihrer ganzen Lebens-
tung der Personen. Die Unterscheidung zwischen den         zeit, zu der die Vergangenheit der Person genauso ge-
konkreten Stakes einer Person und der Person selbst        hört wie ihre Zukunft. Auch wenn für eine Person noch
ist von größter Bedeutung: Wenn eine Ärztin eine           Jahrzehnte an verbleibender Lebenszeit auf dem Spiel
Person priorisiert, weil ihr ein vergleichsweise schlim-   stehen, steht damit nicht „das ganze Leben“ auf dem
merer Schaden droht als einer anderen Person, dann         Spiel, sondern – im Vergleich mit der gleichwertigen
drückt dies nicht das Urteil aus, dass die erstere mehr    Person, der ein Jahr verbleibt – ein viel größerer Le-
wert sei. Vielmehr ist diese Entscheidung Ausdruck des     bensabschnitt.
Vergleichs dessen, was für die beiden Personen in der
konkreten Entscheidungssituation auf dem Spiel steht       Der interpersonelle Stakes-Vergleich kann auch zur
bzw. welcher der gleichwertigen Personen der größere       Begründung des Kriteriums der kurzfristigen Erfolgs-
Schaden droht. Das Prinzip der Personen- bzw. Lebens-      prognose (d. h. des Zuwachses an Überlebenswahr-
wertindifferenz wird dadurch nicht in Frage gestellt.      scheinlichkeit) herangezogen werden.5 Denn auch
                                                           diese Größe hat einen Einfluss darauf, wie viel für eine
Muss die Ärztin beispielsweise entscheiden, entweder       Person bei einer Entscheidung auf dem Spiel steht. An-
eine Person mit unerträglicher Migräne oder eine mit       genommen, Patientin A und Patientin B beanspruchen
leichten Kopfschmerzen zu behandeln, ist die Priori-       eine knappe medizinische Ressource, ohne die beide
sierung der ersteren nicht Ausdruck eines Personen-        eine Überlebenschance von nur 10 % haben. Mit der
bzw. Lebenswertvergleichs, sondern eines Stakes-Ver-       Behandlung erhöht sich die Überlebenschance für
gleichs in der konkreten Situation. Analog verhält es      Patientin A auf 100 %, während Patientin B lediglich
sich, wenn ein Patient ohne sofortigen Eingriff einen      mit 20 % rechnen kann. Für A steht hier entsprechend
Arm zu verlieren droht, während beim anderen Patien-       mehr auf dem Spiel, nämlich ein Zuwachs von +90 %
ten beide Arme auf dem Spiel stehen: Die Priorisierung     im Vergleich zu +10 % für B.
des letzteren Patienten ergibt sich gerade aus der glei-
chen Achtung der beiden Personen und ihrer Interessen.

Diese Erwägung kann auf die Entscheidung übertra-
gen werden, eine vom Tod bedrohte 40-jährige Per-
                                                           4
                                                             Es sei hier noch einmal betont, dass der Vergleich dessen, was für
                                                           verschiedene Personen auf dem Spiel steht, keine utilitaristischen
son gegenüber einer vom Tod bedrohten 85-jährigen          Prämissen erfordert. Der interpersonelle Stakes-Vergleich kann so-
Person (mit gleicher Dringlichkeit und kurzfristiger Er-   gar bemüht werden, um der utilitaristischen Aufrechnung einen
                                                           normativen Riegel vorzuschieben: Angenommen etwa, wir können
folgsprognose) zu priorisieren. Das Leben der 40-Jäh-      entweder eine Million Menschen vor Kopfschmerzen bewahren
rigen wird mit dieser Entscheidung keineswegs als          oder eine Person vor dem Tod retten, nicht aber beides zugleich
                                                           tun. (Bei der Priorisierung im Public-Health-Bereich treten solche
„wertvoller“ eingestuft. Beide Personen zählen gleich      bzw. analoge Entscheidungssituationen tatsächlich auf.) Utilitaris-
bzw. sind gleich zu berücksichtigen. Gerade deshalb        tische Positionen rechnen auf und gebieten uns, die Kopfschmer-
                                                           zen der Million – oder der Milliarde, sollte die Million in der Sum-
ist anzuerkennen, dass für die 40-Jährige mehr auf
                                                           me nicht ausreichen – zu verhindern. Nicht-utilitaristische Ethiken
dem Spiel steht, da der Tod ihr höchstwahrscheinlich       können dagegen auf den paarweisen Vergleich setzen: Vergleicht
viel mehr verbleibende Lebensjahre rauben würde.           man das, was für die vom Tod bedrohte Person auf dem Spiel steht,
                                                           mit dem, was für eine jede von Kopfschmerzen bedrohte Person
Nähme man eine Gleichpriorisierung vor, obwohl für         auf dem Spiel steht, dann gewinnt die erstere jeden einzelnen die-
die eine Person viel mehr auf dem Spiel steht als für      ser paarweisen Vergleiche mit großem Abstand. Der Abstand ist so
                                                           groß, dass jede von Kopfschmerzen bedrohte Person einer Solida-
die andere, müsste man der letzteren Person einen ge-      ritätspflicht untersteht, weshalb die vom Tod bedrohte Person zu
ringeren Wert beimessen bzw. sie geringer achten, was      priorisieren ist.

unzulässig wäre.4                                          5
                                                             Anerkennt man das Kriterium der kurzfristigen Prognose bereits,
                                                           lässt sich – in umgekehrter Richtung – fragen, weshalb die lang-
                                                           fristige Prognose (insbesondere: die verbleibenden Lebensjahre)
Es trifft auch nicht zu, dass es bei der Lebensquanti-     nicht ebenso berücksichtigt werden sollten. Vgl. dazu Dietrich,
                                                           Frank (2021). Medizin am Limit: Wie umgehen mit Versorgungs-
tät immer um das „Ganze“ geht, ebenso wenig wie
                                                           engpässen in der Pandemie?, in: Jaster, Romy & Keil, Geert (Hrsg.):
bei qualitativen Gütern. Eine Person ist beispielsweise    Nachdenken über Corona – Philosophische Essays über die Pande-
                                                           mie und ihre Folgen, Reclam, Stuttgart, S. 84–97.
3

Anhand eines weiteren Fallbeispiels lässt sich veran-                   Egalitaristischer Vorrang der
schaulichen, dass das Kriterium der Erfolgsprognose
auch keineswegs gleichzusetzen ist mit einer Aufrech-
                                                                        Schlechtergestellten
nung und Maximierung der geretteten Menschenle-
                                                                        Gerechtigkeit bedeutet auch, dass den vergleichswei-
ben:6 Patient A benötige zum Beispiel drei Wochen lang
                                                                        se Schlechtergestellten im Konfliktfall ein gewisser
ein Beatmungsgerät, das seine Überlebenschance um
                                                                        Vorrang eingeräumt wird. Andernfalls erhöhen oder
+70 % erhöht. Patienten B, C und D benötigen das Ge-
                                                                        verstetigen unsere Entscheidungen die Ungleichheit
rät dagegen nur je eine Woche, erhalten dadurch aber
                                                                        zwischen den betroffenen Personen in problemati-
einen geringeren Zuwachs an Überlebenswahrschein-
                                                                        scher Weise. Warum von diesem weithin akzeptierten
lichkeit von je +50 %. Aus utilitaristischer Perspektive
                                                                        Prinzip ausgerechnet bei der Lebenszeit – dem viel-
wären die Patienten B, C und D direkt zu priorisieren,
                                                                        leicht wichtigsten Gut – Abstand genommen werden
da mit ihrer Behandlung (im statistischen Erwartungs-
                                                                        sollte, erschließt sich nicht. Alte Menschen sind privi-
wert) mehr Menschenleben gerettet werden könnten.
                                                                        legiert bzw. besser gestellt, insoweit ihr Leben reich
Das Kriterium der individuellen Erfolgsprognose legt
                                                                        an Jahren ist. Junge Menschen sind in dieser Hinsicht
jedoch eine andere Entscheidung nahe: Patient A ist
                                                                        deutlich unterprivilegiert, sollten sie sterben. Lässt ein
zu priorisieren, da bei ihm im paarweisen Stakes-Ver-
                                                                        Triage-Verfahren die bereits verstrichene Lebenszeit
gleich mit jeder anderen Person jeweils mehr auf dem
                                                                        unberücksichtigt und rettet einen hochbetagten Men-
Spiel steht.
                                                                        schen anstelle eines jungen, verteilt es das vitalste aller
                                                                        Güter von den entsprechend Armen zu den Reichen
Das Kriterium der Erfolgsprognose wird manchmal mit
                                                                        sozusagen um. Es macht den an Lebensjahren Reichen
der Begründung abgelehnt, es wäge das eine (Über-)
                                                                        noch reicher, während der an Lebensjahren Arme arm
Leben gegen das andere unzulässig ab oder lasse be-
                                                                        bleibt. Aus diesem Grund spricht einiges dafür, auch
stimmte Gruppen bereits im Voraus wissen, dass sie
                                                                        die verstrichene Lebenszeit10 zu berücksichtigen und
im Falle einer Triage benachteiligt werden.7 Dieselben
                                                                        jungen Menschen einen entsprechenden Gerechtig-
Einwände würden jedoch gegen das Kriterium der
                                                                        keitsbonus zu gewähren.
Dringlichkeit greifen, dessen Relevanz kaum bestritten
wird.8 Die Dringlichkeit bezeichnet die Überlebens-
                                                                        Zu den Schlechtergestellten gehören ganz besonders
wahrscheinlichkeit, die ein Patient ohne Behandlung
                                                                        auch die jüngeren Menschen mit Vorerkrankungen
hat; die Erfolgsprognose bezieht sich auf den Zuwachs
                                                                        und Behinderungen, die oft eine geringere Lebens-
an Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. auf die Über-
                                                                        erwartung aufweisen. Der Fall einer 75-Jährigen, der
lebenswahrscheinlichkeit mit Behandlung. Es ist nicht
                                                                        noch zehn Jahre bleiben, unterscheidet sich ganz we-
einzusehen, weshalb die eine Wahrscheinlichkeit zäh-
                                                                        sentlich von dem Fall einer 40-jährigen Vorerkrankten,
len sollte, die andere aber nicht.9
                                                                        der noch zehn Jahre bleiben. Die Kriterien der klini-
6
 Vgl. Lübbe, Weyma (2021): Effizienter Ressourceneinsatz in einer       schen Erfolgsprognose und der verbleibenden Lebens-
Pandemie und das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht. Prä-
                                                                        jahre allein können diesem gewichtigen Unterschied
missen und Fehl­schlüs­se, in: Hörnle, T., Huster, S. & Poscher, R.
(Hrsg.): Triage in der Pandemie, Tübingen, S. 257-289.                  nicht Rechnung tragen. Insbesondere würde es die
7
  Gutmann, Thomas; Fateh-Moghadam, Bijan (2021): Gleichheit vor         40-jährige vorerkrankte Person auch gegenüber einer
der Triage. Rechtliche Rahmenbedingungen der Priorisierung von
COVID-19-Patienten in der Intensivmedizin, in: Hörnle, T., Huster, S.
& Poscher, R. (Hrsg.): Triage in der Pandemie, Tübingen, S. 291-334.
                                                                        9
                                                                         Vgl. Birnbacher, Dieter (2021): Triage-Entscheidungen im Kontext
8
  Alte und jüngere vorerkrankte oder behinderte Menschen wer-           der Corona-Pandemie – die Sicht eines Ethikers, in: Hörnle, T., Hus-
den vom Dringlichkeitskriterium vorhersehbar bevorteilt, von je-        ter, S. & Poscher, R. (Hrsg.): Triage in der Pandemie, S. 189-220.
nem der Erfolgsprognose dagegen benachteiligt. Zur Illustration:
Wenn Person A ohne Behandlung statistisch mit einer Wahrschein-         10
                                                                          Die Lebensdauer ist – im Gegensatz zu Merkmalen wie dem Ge-
lichkeit von 20 % überlebt, während Person B ohne Behandlung            schlecht oder der ethnischen Zugehörigkeit, die typischen Diskri-
zu lediglich 10 % überlebt, dann priorisiert das Dringlichkeitskri-     minierungsformen zugrunde liegen – ein dynamischer Faktor im
terium Person B. Alte und jüngere vorerkrankte oder behinderte          Leben eines jeden Menschen, der keine gesellschaftliche Gruppe
Menschen haben eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, sich im Katas-          im Speziellen betrifft und im vorliegenden Kontext sachlich, d. h.
trophenfall in der Situation von Person B wiederzufinden. Umge-         gerechtigkeitstheoretisch relevant ist. Vgl. Hoven, Elisa (2020): Die
kehrt werden junge gesunde Personen im Regelfall eine bessere           “Triage”-Situation als Herausforderung für die Strafrechtswissen-
Erfolgsprognose haben.                                                  schaft, JZ 2020, Heft 9, S. 449-454.
4

gesunden 40-jährigen Person ungerecht benachteili-           Ärzte – im Gegensatz etwa zu Kampfpiloten, die von
gen. Das lässt sich dadurch vermeiden, dass auch den         Terroristen entführte Passagierflugzeuge in extremis
vorerkrankten und behinderten Personen – als den be-         attackieren – nicht darauf berufen, durch ihre Tat an
sonders Schlechtergestellten – ein zusätzlicher, hinrei-     der Zahl ungleich viel mehr Menschenleben gerettet
chend starker Gerechtigkeitsvorrang eingeräumt wird.         zu haben.) Die Ärzteschaft hat daher allen Grund, an-
                                                             gesichts der Stellungnahme des Ethikrats beunruhigt
                                                             zu sein. Würde die Ex-post-Triage als rechtswidrig ein-
Zur Zulässigkeit der Ex-post-Triage                          gestuft, hätte dies nicht nur zur Folge, dass auch ge-
In seiner Ad-hoc-Empfehlung stellte sich der Ethikrat        mäß dem Ethikrat sehr nachvollziehbare ethische
einer weiteren Frage in Bezug auf die Triage: Soll zwi-      Gewissensentscheidungen kriminalisiert würden. Da-
schen der Ex-ante- und der Ex-post-Triage (d. h. der Tria-   rüber hinaus wären Ärzte der inakzeptablen Situation
ge „im Nachhinein“) unterschieden werden, und wenn           ausgesetzt, rechtmäßige Notwehrhandlungen gegen
ja, wie? Eine Ex-ante-Situation liegt dann vor, wenn zu      ihre eigene Person in Kauf nehmen zu müssen. Der
viele Patienten gleichzeitig auf knappe Ressourcen –         Ethikrat schlägt vor, der Rechtsstaat habe die Ex-post-
etwa auf letzte Beatmungsgeräte – Anspruch erheben.          Triage zu entschuldigen und damit auf jede Sanktions-
In der Ex-post-Situation dagegen sind alle Beatmungs-        androhung zu verzichten, obwohl die Tat rechtswidrig
geräte bereits Patienten zugeteilt, während weitere Pa-      sei. Damit nimmt er es hin, dass Ärzte von Dritten ge-
tienten eintreffen, welche die Geräte auch benötigen.        waltsam an der Durchführung einer Ex-post-Triage ge-
Ex post triagiert würde demnach, wenn Patienten auch         hindert werden dürfen. Eine solche Rechtspraxis wäre
nachträglich depriorisiert und vom Beatmungsgerät            strukturell höchst irrational und ethisch nicht vertret-
getrennt werden können, damit höher priorisierte Pa-         bar.11
tienten überleben.
                                                             Wie für die Ex-ante-Situation gilt selbstredend auch
Der Ethikrat betont, dass die Ex-post-Triage anders zu       ex post, dass zwei Pflichten kollidieren, von denen nur
beurteilen sei als die Ex-ante-Triage: „Solche Entschei-     einer entsprochen werden kann. Die Handlungspflicht
dungen sind erheblich problematischer. Hier können           gegenüber dem neu eingetroffenen Patienten und
Grenzsituationen entstehen, die für das behandeln-           die Unterlassungspflicht, die laufende Behandlung
de Personal seelisch kaum zu bewältigen sind. Wer in         des ersten Patienten nicht abzubrechen, können nicht
einer solchen Lage eine Gewissensentscheidung trifft,        gleichzeitig erfüllt werden. Werden diese Pflichten als
die ethisch begründbar ist und transparenten – etwa          gleichrangig betrachtet, liegt auch beim Behandlungs-
von medizinischen Fachgesellschaften aufgestellten           abbruch eine rechtfertigende Pflichtenkollision vor.12
– Kriterien folgt, kann im Fall einer möglichen (straf-)     Nun könnte die Andersartigkeit der ex post kollidie-
rechtlichen Aufarbeitung des Geschehens mit einer            renden Pflichten normativ jedoch hochrelevant sein.
entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung rech-           Wird ein Patient von einem Beatmungsgerät getrennt,
nen. Objektiv rechtens ist das aktive Beenden einer          führt ein Tun zu seinem Tod, während im Rahmen der
laufenden, weiterhin indizierten Behandlung zum              Ex-ante-Triage eine tödliche Unterlassungshandlung
Zweck der Rettung eines Dritten jedoch nicht.“               vorliegt. Intuitiv hat die entsprechende Unterschei-
                                                             dung eine gewisse normative Kraft. Es stellt sich daher
Eine Antwort auf die naheliegende Frage, welche Ge-          die Frage: Wiegen Pflichten, durch ein Tun keine Scha-
wissensentscheidungen ethisch begründbar sein                densfolgen zu verursachen, zwingend (viel) schwerer
könnten, bleibt der Ethikrat mit seiner Formulierung         als Pflichten, durch Unterlassen keine Schadensfolgen
schuldig. Ebenso bleibt unklar, warum und mit wel-           zu erzeugen?
cher „entschuldigenden Nachsicht“ betroffene Ärzte
                                                             11
                                                               Vgl. Nida-Rümelin, Julian (2001): Strukturelle Rationalität. Ein phi-
im Zweifelsfall rechnen dürfen. Weder gesetzlich noch
                                                             losophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart.
übergesetzlich ist ersichtlich, warum die Ex-post-Triage     12
                                                               Hörnle, Tatjana (2020): Dilemmata bei der Zuteilung von Be-
entschuldigt werden sollte, wenn man sie für rechts-         atmungsgeräten, Verfassungsblog, https://verfassungsblog.de/
widrig hält. (Unter anderem können sich triagierende         dilemmata-bei-der-zuteilung-von-beatmungsgeraeten/, (Stand:
                                                             04.04.2020, letzter Zugriff: 01.05.2021).
5

Gerade im medizinischen Kontext ist eine Vielzahl                    Überwiegt ein geschütztes Interesse ein widerstreiten-
möglicher Situationen denkbar, die an dieser Hypo-                   des Interesse wesentlich, ist die aktive Tat zum Schutz
these zweifeln lassen: Angenommen etwa, ein Patient                  des höheren Interesses nicht zwingend rechtswidrig.
komme nach einem Unfall in ein Krankenhaus. Wird er
nicht zeitnah behandelt, droht ihm der Verlust einer                 Ein analoges Argument lässt sich nun für den Fall we-
Hand. Es ist eine Ärztin verfügbar, die unverzüglich                 sentlich unterschiedlicher verbleibender und verstri-
eine Behandlung einleitet. Während der Behandlung                    chener Lebensjahre oder Erfolgsprognosen formulie-
jedoch trifft ein weiterer Patient im Krankenhaus ein: Er            ren. Man stelle sich etwa eine 85-jährige Patientin vor,
ist schwer verletzt und droht beide Arme ganz zu ver-                der nach der Behandlung wahrscheinlich noch zehn
lieren. Die Ärztin wird in den Operationssaal gerufen                Monate bleiben würden. Wenn sie vom Beatmungsge-
und bricht die Behandlung des ersten Patienten ab.                   rät getrennt wird, kann an ihrer Stelle eine 40-jährige
Man kann sich vorstellen, dass die Ärztin dem ersten                 Patientin mit erheblich besserer kurzfristiger Erfolgs-
Patienten die geleistete Hilfe hier durch ein Tun ent-               prognose und Jahrzehnten an verbleibender Lebens-
zieht. Vielleicht verwendet sie ein medizinisches Gerät,             erwartung angeschlossen werden. Wir haben oben
das sie per Knopfdruck abstellt, um es dem anderen,                  dafür argumentiert, dass bei der jüngeren Person ein
höher priorisierten Patienten zur Verfügung stellen zu               bedeutend höheres Schadensausmaß auf dem Spiel
können. Würde sie dies nicht tun, hätte sie den Verlust              steht (und dass sie, sollte sie sterben, im Gegensatz zur
der Arme des schwerverletzten Patienten als Folge der                85-Jährigen auch zu den an Lebensjahren Armen bzw.
Nichtbehandlung lediglich durch Unterlassen zu ver-                  Schlechtergestellten gehört).15 Wie das Beispiel des
antworten. Trotzdem scheint sie verpflichtet zu sein,                Hand- und des Arm-Patienten zeigt, können Unter-
den Schwerverletzten höher zu priorisieren und die                   schiede im individuellen Schadensausmaß auch dann
Behandlung des ersten Patienten abzubrechen.                         ausschlaggebend sein, wenn der eine Patient von ei-
                                                                     nem Unterlassen, der andere aber von einem Tun be-
Offenbar wiegt die Pflicht, durch Unterlassen kei-                   troffen wäre. Das legt nahe, dass sich die Triage-Praxis
ne Schadensfolgen zu erzeugen, in diesem Fall viel                   entsprechend auch in der Ex-post-Situation rechtferti-
schwerer als die Pflicht, durch Tun keine Schäden zu                 gen lässt.16
verursachen.13 Ausschlaggebend dafür ist die Tatsa-
che, dass für den schwerverletzten Patienten hier in-
dividuell viel mehr auf dem Spiel steht. (Dieses Urteil
erfordert – wie ausgeführt – weder eine utilitaristische
Abwägung noch eine Aufweichung der Lebens- bzw.
Personenwertindifferenz.) Der Stakes-Vergleich schafft
es in entsprechenden Fällen also, die Unterscheidung
                                                                     15
                                                                       Dies gilt auch für den Fall, dass die 40-jährige Patientin einer viel
                                                                     jüngeren Patientin gegenübersteht.
zwischen Tun und Unterlassen normativ zu überbie-                    16
                                                                        Wer, wie etwa Fateh-Moghadam & Gutmann, als Triage-Krite-
ten.14 Das spiegelt sich durchaus auch im Recht: Falls in            rium nur die Dringlichkeit gelten lässt, müsste die Ex-post-Triage
der Ex-post-Situation keine rechtfertigende Pflichten-               als rechtmäßig anerkennen, wenn sie aufgrund der Dringlichkeit
                                                                     erfolgt. Grundsätzliche Argumente gegen die Zulässigkeit der Ex-
kollision vorliegt, kann nämlich ein rechtfertigender                post-Triage formulieren dagegen Merkel & Augsberg (Vgl. Merkel,
Notstand nach § 34 StGB geltend gemacht werden.                      Reinhard; Augsberg, Steffen (2020): Die Tragik der Triage – straf-
                                                                     und verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen, JZ 2020, Heft
                                                                     14, S. 704-714), die insbesondere auf Fälle hinweisen, in denen eine
13
  Wir verwenden hier zur adäquaten Situationsbeschreibung ei-        Ex-post-Triage unzulässig wäre, obwohl eine Analogie zur Alloka-
nen handlungstheoretischen, nicht den aktuellen juristischen Be-     tion knapper Beatmungsgeräte zu bestehen scheint (etwa: Allo-
griff des Tuns bzw. Unterlassens.                                    kation knapper Kunstherzen). Hier gilt es zu bedenken, dass die
14
  Auch begrifflich ist die Unterscheidung zwischen „Tun“ und         Ex-post-Triage selbstredend nur dann zur Anwendung gelangen
„Unterlassen“ in der Handlungstheorie, der Ethik und der Rechts-     darf, wenn in extremis keine anderen Verfahren der gerechten Al-
philosophie umstritten. Ohnedies ist im vorliegenden Fall aber die   lokation stattfinden können. Wer auf eine Organwarteliste gesetzt
ärztliche Garantenstellung gegenüber beiden Patienten normativ       wird und eine ethisch angemessene Prioritätspunktzahl erhält,
hochrelevant. Die berufliche Beistandspflicht gilt unabhängig von    dem wird eine gerechte Chance zuteil. Ganz anders verhält es sich,
umstrittenen Zuschreibungen (z. B. im Hinblick auf „Verursachung“    wenn während einer Pandemie alle Beatmungsplätze besetzt sind
oder „Absichtlichkeit“), die nur auf das „Tun“ Anwendung finden      und eine Ex-post-Triage kategorisch ausgeschlossen bleibt. In die-
mögen, genauso für Entscheidungen über das „Unterlassen“ mit         sem Fall resultiert gegenüber den ex post eintreffenden Patienten
Schadensfolge.                                                       eine massive Ungerechtigkeit.
6

Konsequenzen für die ärztliche                                       zu belasten oder sie gar mit Strafe zu bedrohen, ob-

Praxis                                                               wohl sie nach bestem Wissen und Gewissen handeln.19

                                                                     Ein wichtiger Punkt darf bei alldem nicht aus dem
Unter der Voraussetzung, dass die obigen Argumen-
                                                                     Blickfeld geraten: Auch unter hohem Zeitdruck sind
te stichhaltig sind, könnte sich für die ärztliche Praxis
                                                                     Ärzte selbstredend dazu angehalten, die Autonomie
die folgende Implikation ergeben: Ist eine wichtige
                                                                     der Patienten möglichst umfassend zu wahren. In der
medizinische Ressource knapp und unteilbar, sollten
                                                                     gegenwärtigen Pandemie bedarf es dazu nicht nur
(wie bei der Allokation knapper Spenderorgane) ent-
                                                                     einer ethisch und rechtlich vertretbaren Handlungs-
sprechend den genannten Kriterien Priorisierungs-
                                                                     leitlinie für Triage-Situationen, damit knappe Ressour-
punkte verteilt werden. Kombiniert mit der Wartezeit
                                                                     cen möglichst gerecht verteilt werden. Ebenso bedarf
bzw. dem Prinzip First Come, First Served ergäbe sich
                                                                     es einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine
insgesamt ein gewichtetes Losverfahren: Das Prinzip
                                                                     Übertherapie am Lebensende verhindert werden
entspricht aufgrund der Zufälligkeit der Reihenfolge
                                                                     kann, falls intensivmedizinische Maßnahmen dem
einem natürlichen Los. Eine höhere Anzahl Priorisie-
                                                                     aufgeklärten Patienteninteresse entgegenstehen. Das
rungspunkte bewirkt, dass der entsprechende Patient
                                                                     vorrangige Ziel des ärztlichen Handelns darf nicht die
auf der Warteliste Plätze gut macht, und führt damit zu
                                                                     bedingungslose Rettung oder Verlängerung von Le-
einer höheren Chance auf Behandlung (eine Garantie
                                                                     ben sein. Vielmehr gilt es, eine medizinische Versor-
lässt die Knappheitslage nicht zu). Dieses Prozedere
                                                                     gung zu gewährleisten, die dem Willen der Patienten
würde ethische Gerechtigkeitskriterien berücksichti-
                                                                     entspricht, zu ihrem Wohl beiträgt und ihre Würde am
gen und steht im Einklang mit dem normativen Indivi-
                                                                     Lebensende bestmöglich wahrt.20 Falls keine realisti-
dualismus des Grundgesetzes, der eine utilitaristische
                                                                     sche Aussicht auf ein Leben außerhalb der Intensivsta-
Abwägung von Menschenleben untersagt. Dem Teil-
                                                                     tion besteht oder der Sterbeprozess bereits begonnen
habeanspruch eines jeden Patienten auf eine gerechte
                                                                     hat, ist von strapaziösen Behandlungen abzusehen,
Behandlungschance würde damit Rechnung getragen.17
                                                                     die für die Betroffenen nur zusätzliches Leiden bedeu-
                                                                     ten und ein Sterben in Würde verhindern.21
Die Frage, wie stark die Kriterien der Dringlichkeit, der
Erfolgsprognose, der verbleibenden und der verstri-
chenen Lebensjahre (Vorrang der Schlechtergestell-
                                                                     Kritisch-rationales Recht
ten) relativ zueinander gewichtet werden sollten, ist
nicht ohne Weiteres zu beantworten. Weder liegt dies-                Der Deutsche Ethikrat befürchtet in seiner Ad-hoc-
bezüglich ein klarer Maßstab vor noch existiert dazu in              Empfehlung, dass die Fundamente der Rechtsordnung
der Gesellschaft ein anerkannter ethischer Konsens.18                erodieren könnten, sollte es Ärzten erlaubt sein, eine
Das Recht ist daher aufgerufen, ärztlichen Gewissens-                Ex-post-Triage durchzuführen, selbst wenn die Hand-
entscheidungen, die im Katastrophenfall unter Um-                    lung ethisch wohlbegründet wäre. Tatsächlich spre-
ständen gefällt werden müssen, bis auf Weiteres Raum                 chen in manchen Fällen triftige Argumente dafür, Ethik
zu lassen. Es wäre auch eine massive Ungerechtigkeit,
Notärzte während einer Katastrophe zusätzlich mit un-                19
                                                                        Vgl. Hilgendorf, Eric (2020): Mit Rechtsfragen nicht die Ärzte be-
                                                                     lasten: Triage-Empfehlungen in der Coronakrise, LTO, https://www.
geklärten Fragen der Ethik und der Rechtswissenschaft
                                                                     lto.de/recht/hintergruende/h/corona-triage-klinisch-ethische-
                                                                     empfehlungen-aerzte-pflichtenkollision-moeglichst-viele-nutz-
                                                                     bringend-retten/ (Stand: 27.03.2020, letzter Zugriff: 01.05.2021).
                                                                     20
                                                                       Vgl. Chefai, Florian et al. (2020): Patientenautonomie in der Kri-
17
  Die Logik des (gewichteten) Losverfahrens bestünde also weder      se: Plädoyer für eine kritisch-rationale Medizin. Stellungnahme des
darin, den Zufall oder das Schicksal entscheiden zu lassen, noch     Hans-Albert-Instituts, https://hans-albert-institut.de/wp-content/
in der Zurückweisung unserer Entscheidungsverantwortung, son-        uploads/2020/05/Patientenautonomie-in-der-Krise.pdf          (Stand:
dern darin, Verantwortung wahrzunehmen und Chancenvertei-            07.05.2020, letzter Zugriff: 01.05.2021).
lungsgerechtigkeit walten zu lassen.                                 21
                                                                        Michalsen, Andrej et al. (2021): Überversorgung in der Intensiv-
18
  Vgl. Marckmann, Georg (2016): Grundlagen ethischer Entschei-       medizin: erkennen, benennen, vermeiden. Positionspapier der
dungsfindung in der Medizin, in: Marckmann, Georg (Hrsg.): Praxis-   Sektion Ethik der DIVI und der Sektion Ethik der DGIIN, https://
buch Ethik in der Medizin, Medizinisch Wissenschaftliche Verlags-    link.springer.com/article/10.1007%2Fs00063-021-00794-4 (Stand:
gesellschaft, Berlin, S. 9 ff.                                       01.03.2021, letzter Zugriff: 01.05.2021).
7

und Recht voneinander abweichen zu lassen – etwa                     ge sie sich im Rahmen der Vorgaben des Grundgeset-
wenn eine ethische Forderung vergleichsweise un-                     zes bewegen. Doch wo genau verlaufen die Grenzen
bedeutend ist, die Akteure über Gebühr in die Pflicht                dessen, was staatlicherseits als zulässig betrachtet
nimmt oder zu einem gefährlichen rechtlichen Damm-                   werden muss?
bruch führen könnte. Dies ist im fraglichen Fall jedoch
nicht gegeben, denn die oben genannten ethischen                     Weder in der Ethik noch in der Rechtswissenschaft,
Gründe sind von großem Gewicht, die Ärzte werden                     der Gesundheitsökonomie oder der Medizin selbst
(indem das Recht ihren Gewissensentscheidungen                       besteht bisher Einigkeit in der Frage, ob und wie eine
Raum lässt) nicht über Gebühr in die Pflicht genom-                  Verteilung von Überlebenschancen bei Ressourcen-
men und ein Dammbruch ist nicht zu erwarten.                         knappheit geregelt werden sollte. Nicht selten werden
                                                                     unterschiedliche Standpunkte vertreten, die in fun-
In verschiedenen westlichen Rechtsstaaten ist die Ex-                damentalen Annahmen voneinander abweichen und
post-Triage (sehr wahrscheinlich) zulässig bzw. stößt in             sich mitunter deutlich widersprechen.23 Es liegt leider
der Rechtswissenschaft auf keinen großen Widerstand,                 in der Natur der Sache, dass es in existenziellen Kon-
ohne dass Anzeichen bestehen, dass ein Dammbruch                     fliktfällen keine Lösungen gibt, die unproblematisch
stattgefunden hätte.22 Sollte sich entgegen der bishe-               wären. Die resultierende ethische und rechtliche Unsi-
rigen Erfahrung ein Dammbruch abzeichnen, müsste                     cherheit ist anzuerkennen und transparent zu kommu-
selbstverständlich eine Korrektur vorgenommen wer-                   nizieren. Sie gebietet – im liberalen Rechtsstaat – nicht
den. In jedem Fall aber wären Dammbruch-Thesen                       zuletzt auch eine Zurückhaltung bezüglich strafrecht-
empirisch-rechtssoziologisch fundiert zu belegen, was                licher Verfolgung, die als schärfstes Schwert des Staa-
bisher nicht erfolgt ist. Außerdem gilt es zu bedenken,              tes nur unter restriktiven normativen Voraussetzungen
dass eine allzu große Kluft zwischen Ethik und Recht                 gewählt werden darf.
nicht weniger zu einer Erosion der Rechtsordnung füh-
ren könnte. Ohne hinreichende ethische Legitimation                  Ein Rekurs auf vermeintliche Letztbegründungen des
steht das Recht nämlich in Gefahr, an der sozialen Rea-              Rechts ist jedenfalls keine adäquate Antwort auf das
lität zu scheitern und einen Vertrauensverlust zu er-                komplexe Problem der Triage. Das Recht ist – wie jede
leiden – auch in dieser Richtung müsste nach Belegen                 menschliche Kulturleistung – fehleranfällig und da-
gesucht werden.                                                      mit stets kritikwürdig.24 Auch sicher geglaubte Urteile
                                                                     müssen sich daher einer kritischen Prüfung unterzie-
In seiner Empfehlung gibt der Ethikrat zu bedenken,                  hen, wenn sie sich bewähren wollen.25 Eine offene De-
dass die „Möglichkeiten des Staates, abstrakt binden-                batte, in der unterschiedliche Standpunkte Gehör fin-
de Vorgaben für die Allokation knapper Ressourcen                    den, kann in diesem Sinne auch zur Vertrauensbildung
zu machen“, begrenzt sind. Das Grundgesetz definiere                 und zur Stärkung des liberalen Rechtsstaats beitragen.
zwar negativ den Bereich des nicht mehr Zulässigen,
biete jedoch keine positive Orientierung für die kon-
krete Auswahlentscheidung in der klinischen Praxis.
Zu Recht betont der Ethikrat daher die Funktion der
medizinischen Fachgesellschaften, deren Leitlinien
sehr wohl positive Kriterien formulieren dürfen, solan-

                                                                     23
                                                                       Auch innerhalb des Hans-Albert-Instituts werden unterschiedli-
                                                                     che Positionen vertreten und diskutiert.
                                                                     24
                                                                       Vgl. Hilgendorf, Eric (2017): Konstruktion und Kritik im Recht, in:
22
  Ähnliches gilt für weitere Bereiche, in denen nolens volens über   Hilgendorf, Eric; Joerden, Jan (Hrsg.): Handbuch Rechtsphiloso-
Leben und Tod entschieden wird. Der Abschuss terroristisch ent-      phie. J.B. Metzler, Stuttgart.
führter Flugzeuge etwa ist in Deutschland strikte untersagt, wäh-
rend ihn viele andere Rechtsstaaten erlauben oder als ultima ratio
                                                                     25
                                                                       Vgl. Albert, Hans (1991): Traktat über kritische Vernunft, 5. verb. u.
sogar gebieten. Die entsprechenden rechtlichen Festlegungen ha-      erw. Aufl., Mohr Siebek, Tübingen.
ben keine Dammbrüche bewirkt.                                        * Foto auf dem Deckblatt: eldarnurkovic ­— stock.adobe.com
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