Triage: Wer soll zuerst behandelt werden? - Hans-Albert-Institut
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KRITIK DER STELLUNGNAHME DES DEUTSCHEN ETHIKRATS Triage: Wer soll zuerst behandelt werden? Adriano Mannino, Marina Moreno, Florian Chefai, Dr. Nikil Mukerji, Prof. Dr. Thomas Metzinger, Prof. Dr. Franz Josef Wetz, Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Birnbacher 3. Mai 2021
1 Vorbemerkungen Vergleichen heißt nicht Aufrechnen Im Zuge der Corona-Pandemie kam es in verschiede- Der Ethikrat verweist in seiner Empfehlung auf den nen Staaten zu dramatischen Situationen, weil nicht verbindlichen Rahmen für die ärztliche Ethik, der mehr genügend Beatmungsplätze für alle Patienten durch die Vorgaben der Verfassung gesetzt wird. Die zur Verfügung standen. Die Intensivmediziner muss- darin garantierte Menschenwürde fordert eine egali- ten daher triagieren – also darüber entscheiden, wer täre Basisgleichheit aller Patienten, die auch dann gilt, eine lebensrettende Behandlung erhält und wer nicht. wenn nicht alle gerettet werden können. Daher sei „jede unmittelbare oder mittelbare staatliche Unter- Nach den erschreckenden Berichten und Bildern aus scheidung nach Wert oder Dauer des Lebens und jede italienischen Krankenhäusern im Frühjahr 2020 disku- damit verbundene staatliche Vorgabe zur ungleichen tierte der Deutsche Ethikrat über mögliche Kriterien, Zuteilung von Überlebenschancen und Sterbensrisi- nach denen eine Allokation intensivmedizinischer ken in akuten Krisensituationen [...] unzulässig“. Da je- Ressourcen erfolgen soll. In seiner vielbeachteten Ad- des menschliche Leben den gleichen Schutz genießt, hoc-Empfehlung1 betonte er dabei insbesondere die müsse eine Klassifizierung u. a. aufgrund des Alters Pflicht, auch im Ausnahmefall eines flächendeckenden oder der prognostizierten Lebensdauer seitens des katastrophalen Notstands die fundamentalen Prinzipi- Staates unterbleiben. en der geltenden Rechtsordnung zu garantieren. Der Staat dürfe daher weder menschliches Leben bewer- In den Ausführungen der Empfehlung wird impliziert, ten noch auf eine utilitaristisch begründete Maximie- dass eine Berücksichtigung der verbleibenden Lebens- rung von Menschenleben und Lebensjahren abzielen. jahre einer utilitaristischen Abwägung gleichkäme, die Deshalb dürfe auch nicht vorgeschrieben werden, mit der im Grundgesetz verankerten Lebenswertindif- welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu ferenz unvereinbar sei. Dabei verkennt der Ethikrat al- retten sei. lerdings eine gewichtige Unterscheidung: Die Berück- sichtigung der prognostizierten Lebensdauer setzt Darüber hinaus warnte der Ethikrat vor der Durch- bloß eine paarweise interpersonelle Vergleichbarkeit, führung der sogenannten Ex-post-Triage, bei der eine keineswegs aber eine interpersonelle Aggregierbarkeit bereits eingeleitete Behandlung abgebrochen wird, (d. h. Aufrechenbarkeit) voraus, wie der Utilitarismus um den freiwerdenden Platz einem anderen intensiv- sie postuliert. Im Rahmen der ersteren wird lediglich pflichtigen Patienten zur Verfügung zu stellen. Obwohl vergleichend gefragt, ob für den einen Patienten in Ärzte im Ernstfall mit einer „entschuldigenden Nach- der konkreten Situation mehr auf dem Spiel steht als sicht der Rechtsordnung“ rechnen könnten, müsse das für den anderen. Die jeweils auf dem Spiel stehenden Beenden einer laufenden, weiterhin indizierten Be- Schäden (individuelle Stakes) werden also weder ob- handlung (straf-)rechtlich verurteilt werden. jektiviert noch über Personengrenzen hinweg aufge- rechnet. Im Rahmen einer utilitaristischen Position hin- In der vorliegenden Stellungnahme soll die Position gegen würde der Wert der verbleibenden Lebensjahre des Deutschen Ethikrates kritisch beleuchtet werden. tatsächlich aufgerechnet. Die ältere Person würde da- Dabei wird eine andere Sichtweise auf das Problem mit direkt depriorisiert und erhielte keine Rettungs- vorgestellt, die zu einer rechtskonformen, ethisch ver- chance,3 weil durch sie weniger Wert (im Sinne einer tretbaren und klinisch umsetzbaren Verfahrensweise gemäß dem Utilitarismus personenneutral bestimm- beitragen soll.2 baren Größe) realisiert werden kann. Die Berücksich- tigung der Lebensjahre im Sinne des interpersonellen 1 Deutscher Ethikrat (2020): Solidarität und Verantwortung in der Vergleichs setzt jedoch keine utilitaristische Abwä- Corona-Krise, https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/ gung voraus. Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-kri- se.pdf (Stand: 27.03.2020, letzter Zugriff: 01.05.2021). 3 Es ist möglich, die individuell verbleibenden Lebensjahre – neben 2 Teile der Stellungnahme entstammen: Mannino, Adriano (2021): einer Vielzahl weiterer Kriterien – im Rahmen eines (gewichteten) Wen rette ich – und wenn ja, wie viele? Über Triage und Vertei- Zufallsverfahrens zu berücksichtigen, das keine Patienten direkt lungsgerechtigkeit, Reclam, Stuttgart. depriorisiert (s. unten).
2 Aus dem interpersonellen Vergleich der Stakes folgt nicht identisch mit ihrem letzten Lebensjahr – es ist ein außerdem keine ungleiche Wertschätzung bzw. Ach- höchst wichtiger, aber kleiner Teil ihrer ganzen Lebens- tung der Personen. Die Unterscheidung zwischen den zeit, zu der die Vergangenheit der Person genauso ge- konkreten Stakes einer Person und der Person selbst hört wie ihre Zukunft. Auch wenn für eine Person noch ist von größter Bedeutung: Wenn eine Ärztin eine Jahrzehnte an verbleibender Lebenszeit auf dem Spiel Person priorisiert, weil ihr ein vergleichsweise schlim- stehen, steht damit nicht „das ganze Leben“ auf dem merer Schaden droht als einer anderen Person, dann Spiel, sondern – im Vergleich mit der gleichwertigen drückt dies nicht das Urteil aus, dass die erstere mehr Person, der ein Jahr verbleibt – ein viel größerer Le- wert sei. Vielmehr ist diese Entscheidung Ausdruck des bensabschnitt. Vergleichs dessen, was für die beiden Personen in der konkreten Entscheidungssituation auf dem Spiel steht Der interpersonelle Stakes-Vergleich kann auch zur bzw. welcher der gleichwertigen Personen der größere Begründung des Kriteriums der kurzfristigen Erfolgs- Schaden droht. Das Prinzip der Personen- bzw. Lebens- prognose (d. h. des Zuwachses an Überlebenswahr- wertindifferenz wird dadurch nicht in Frage gestellt. scheinlichkeit) herangezogen werden.5 Denn auch diese Größe hat einen Einfluss darauf, wie viel für eine Muss die Ärztin beispielsweise entscheiden, entweder Person bei einer Entscheidung auf dem Spiel steht. An- eine Person mit unerträglicher Migräne oder eine mit genommen, Patientin A und Patientin B beanspruchen leichten Kopfschmerzen zu behandeln, ist die Priori- eine knappe medizinische Ressource, ohne die beide sierung der ersteren nicht Ausdruck eines Personen- eine Überlebenschance von nur 10 % haben. Mit der bzw. Lebenswertvergleichs, sondern eines Stakes-Ver- Behandlung erhöht sich die Überlebenschance für gleichs in der konkreten Situation. Analog verhält es Patientin A auf 100 %, während Patientin B lediglich sich, wenn ein Patient ohne sofortigen Eingriff einen mit 20 % rechnen kann. Für A steht hier entsprechend Arm zu verlieren droht, während beim anderen Patien- mehr auf dem Spiel, nämlich ein Zuwachs von +90 % ten beide Arme auf dem Spiel stehen: Die Priorisierung im Vergleich zu +10 % für B. des letzteren Patienten ergibt sich gerade aus der glei- chen Achtung der beiden Personen und ihrer Interessen. Diese Erwägung kann auf die Entscheidung übertra- gen werden, eine vom Tod bedrohte 40-jährige Per- 4 Es sei hier noch einmal betont, dass der Vergleich dessen, was für verschiedene Personen auf dem Spiel steht, keine utilitaristischen son gegenüber einer vom Tod bedrohten 85-jährigen Prämissen erfordert. Der interpersonelle Stakes-Vergleich kann so- Person (mit gleicher Dringlichkeit und kurzfristiger Er- gar bemüht werden, um der utilitaristischen Aufrechnung einen normativen Riegel vorzuschieben: Angenommen etwa, wir können folgsprognose) zu priorisieren. Das Leben der 40-Jäh- entweder eine Million Menschen vor Kopfschmerzen bewahren rigen wird mit dieser Entscheidung keineswegs als oder eine Person vor dem Tod retten, nicht aber beides zugleich tun. (Bei der Priorisierung im Public-Health-Bereich treten solche „wertvoller“ eingestuft. Beide Personen zählen gleich bzw. analoge Entscheidungssituationen tatsächlich auf.) Utilitaris- bzw. sind gleich zu berücksichtigen. Gerade deshalb tische Positionen rechnen auf und gebieten uns, die Kopfschmer- zen der Million – oder der Milliarde, sollte die Million in der Sum- ist anzuerkennen, dass für die 40-Jährige mehr auf me nicht ausreichen – zu verhindern. Nicht-utilitaristische Ethiken dem Spiel steht, da der Tod ihr höchstwahrscheinlich können dagegen auf den paarweisen Vergleich setzen: Vergleicht viel mehr verbleibende Lebensjahre rauben würde. man das, was für die vom Tod bedrohte Person auf dem Spiel steht, mit dem, was für eine jede von Kopfschmerzen bedrohte Person Nähme man eine Gleichpriorisierung vor, obwohl für auf dem Spiel steht, dann gewinnt die erstere jeden einzelnen die- die eine Person viel mehr auf dem Spiel steht als für ser paarweisen Vergleiche mit großem Abstand. Der Abstand ist so groß, dass jede von Kopfschmerzen bedrohte Person einer Solida- die andere, müsste man der letzteren Person einen ge- ritätspflicht untersteht, weshalb die vom Tod bedrohte Person zu ringeren Wert beimessen bzw. sie geringer achten, was priorisieren ist. unzulässig wäre.4 5 Anerkennt man das Kriterium der kurzfristigen Prognose bereits, lässt sich – in umgekehrter Richtung – fragen, weshalb die lang- fristige Prognose (insbesondere: die verbleibenden Lebensjahre) Es trifft auch nicht zu, dass es bei der Lebensquanti- nicht ebenso berücksichtigt werden sollten. Vgl. dazu Dietrich, Frank (2021). Medizin am Limit: Wie umgehen mit Versorgungs- tät immer um das „Ganze“ geht, ebenso wenig wie engpässen in der Pandemie?, in: Jaster, Romy & Keil, Geert (Hrsg.): bei qualitativen Gütern. Eine Person ist beispielsweise Nachdenken über Corona – Philosophische Essays über die Pande- mie und ihre Folgen, Reclam, Stuttgart, S. 84–97.
3 Anhand eines weiteren Fallbeispiels lässt sich veran- Egalitaristischer Vorrang der schaulichen, dass das Kriterium der Erfolgsprognose auch keineswegs gleichzusetzen ist mit einer Aufrech- Schlechtergestellten nung und Maximierung der geretteten Menschenle- Gerechtigkeit bedeutet auch, dass den vergleichswei- ben:6 Patient A benötige zum Beispiel drei Wochen lang se Schlechtergestellten im Konfliktfall ein gewisser ein Beatmungsgerät, das seine Überlebenschance um Vorrang eingeräumt wird. Andernfalls erhöhen oder +70 % erhöht. Patienten B, C und D benötigen das Ge- verstetigen unsere Entscheidungen die Ungleichheit rät dagegen nur je eine Woche, erhalten dadurch aber zwischen den betroffenen Personen in problemati- einen geringeren Zuwachs an Überlebenswahrschein- scher Weise. Warum von diesem weithin akzeptierten lichkeit von je +50 %. Aus utilitaristischer Perspektive Prinzip ausgerechnet bei der Lebenszeit – dem viel- wären die Patienten B, C und D direkt zu priorisieren, leicht wichtigsten Gut – Abstand genommen werden da mit ihrer Behandlung (im statistischen Erwartungs- sollte, erschließt sich nicht. Alte Menschen sind privi- wert) mehr Menschenleben gerettet werden könnten. legiert bzw. besser gestellt, insoweit ihr Leben reich Das Kriterium der individuellen Erfolgsprognose legt an Jahren ist. Junge Menschen sind in dieser Hinsicht jedoch eine andere Entscheidung nahe: Patient A ist deutlich unterprivilegiert, sollten sie sterben. Lässt ein zu priorisieren, da bei ihm im paarweisen Stakes-Ver- Triage-Verfahren die bereits verstrichene Lebenszeit gleich mit jeder anderen Person jeweils mehr auf dem unberücksichtigt und rettet einen hochbetagten Men- Spiel steht. schen anstelle eines jungen, verteilt es das vitalste aller Güter von den entsprechend Armen zu den Reichen Das Kriterium der Erfolgsprognose wird manchmal mit sozusagen um. Es macht den an Lebensjahren Reichen der Begründung abgelehnt, es wäge das eine (Über-) noch reicher, während der an Lebensjahren Arme arm Leben gegen das andere unzulässig ab oder lasse be- bleibt. Aus diesem Grund spricht einiges dafür, auch stimmte Gruppen bereits im Voraus wissen, dass sie die verstrichene Lebenszeit10 zu berücksichtigen und im Falle einer Triage benachteiligt werden.7 Dieselben jungen Menschen einen entsprechenden Gerechtig- Einwände würden jedoch gegen das Kriterium der keitsbonus zu gewähren. Dringlichkeit greifen, dessen Relevanz kaum bestritten wird.8 Die Dringlichkeit bezeichnet die Überlebens- Zu den Schlechtergestellten gehören ganz besonders wahrscheinlichkeit, die ein Patient ohne Behandlung auch die jüngeren Menschen mit Vorerkrankungen hat; die Erfolgsprognose bezieht sich auf den Zuwachs und Behinderungen, die oft eine geringere Lebens- an Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. auf die Über- erwartung aufweisen. Der Fall einer 75-Jährigen, der lebenswahrscheinlichkeit mit Behandlung. Es ist nicht noch zehn Jahre bleiben, unterscheidet sich ganz we- einzusehen, weshalb die eine Wahrscheinlichkeit zäh- sentlich von dem Fall einer 40-jährigen Vorerkrankten, len sollte, die andere aber nicht.9 der noch zehn Jahre bleiben. Die Kriterien der klini- 6 Vgl. Lübbe, Weyma (2021): Effizienter Ressourceneinsatz in einer schen Erfolgsprognose und der verbleibenden Lebens- Pandemie und das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht. Prä- jahre allein können diesem gewichtigen Unterschied missen und Fehlschlüsse, in: Hörnle, T., Huster, S. & Poscher, R. (Hrsg.): Triage in der Pandemie, Tübingen, S. 257-289. nicht Rechnung tragen. Insbesondere würde es die 7 Gutmann, Thomas; Fateh-Moghadam, Bijan (2021): Gleichheit vor 40-jährige vorerkrankte Person auch gegenüber einer der Triage. Rechtliche Rahmenbedingungen der Priorisierung von COVID-19-Patienten in der Intensivmedizin, in: Hörnle, T., Huster, S. & Poscher, R. (Hrsg.): Triage in der Pandemie, Tübingen, S. 291-334. 9 Vgl. Birnbacher, Dieter (2021): Triage-Entscheidungen im Kontext 8 Alte und jüngere vorerkrankte oder behinderte Menschen wer- der Corona-Pandemie – die Sicht eines Ethikers, in: Hörnle, T., Hus- den vom Dringlichkeitskriterium vorhersehbar bevorteilt, von je- ter, S. & Poscher, R. (Hrsg.): Triage in der Pandemie, S. 189-220. nem der Erfolgsprognose dagegen benachteiligt. Zur Illustration: Wenn Person A ohne Behandlung statistisch mit einer Wahrschein- 10 Die Lebensdauer ist – im Gegensatz zu Merkmalen wie dem Ge- lichkeit von 20 % überlebt, während Person B ohne Behandlung schlecht oder der ethnischen Zugehörigkeit, die typischen Diskri- zu lediglich 10 % überlebt, dann priorisiert das Dringlichkeitskri- minierungsformen zugrunde liegen – ein dynamischer Faktor im terium Person B. Alte und jüngere vorerkrankte oder behinderte Leben eines jeden Menschen, der keine gesellschaftliche Gruppe Menschen haben eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, sich im Katas- im Speziellen betrifft und im vorliegenden Kontext sachlich, d. h. trophenfall in der Situation von Person B wiederzufinden. Umge- gerechtigkeitstheoretisch relevant ist. Vgl. Hoven, Elisa (2020): Die kehrt werden junge gesunde Personen im Regelfall eine bessere “Triage”-Situation als Herausforderung für die Strafrechtswissen- Erfolgsprognose haben. schaft, JZ 2020, Heft 9, S. 449-454.
4 gesunden 40-jährigen Person ungerecht benachteili- Ärzte – im Gegensatz etwa zu Kampfpiloten, die von gen. Das lässt sich dadurch vermeiden, dass auch den Terroristen entführte Passagierflugzeuge in extremis vorerkrankten und behinderten Personen – als den be- attackieren – nicht darauf berufen, durch ihre Tat an sonders Schlechtergestellten – ein zusätzlicher, hinrei- der Zahl ungleich viel mehr Menschenleben gerettet chend starker Gerechtigkeitsvorrang eingeräumt wird. zu haben.) Die Ärzteschaft hat daher allen Grund, an- gesichts der Stellungnahme des Ethikrats beunruhigt zu sein. Würde die Ex-post-Triage als rechtswidrig ein- Zur Zulässigkeit der Ex-post-Triage gestuft, hätte dies nicht nur zur Folge, dass auch ge- In seiner Ad-hoc-Empfehlung stellte sich der Ethikrat mäß dem Ethikrat sehr nachvollziehbare ethische einer weiteren Frage in Bezug auf die Triage: Soll zwi- Gewissensentscheidungen kriminalisiert würden. Da- schen der Ex-ante- und der Ex-post-Triage (d. h. der Tria- rüber hinaus wären Ärzte der inakzeptablen Situation ge „im Nachhinein“) unterschieden werden, und wenn ausgesetzt, rechtmäßige Notwehrhandlungen gegen ja, wie? Eine Ex-ante-Situation liegt dann vor, wenn zu ihre eigene Person in Kauf nehmen zu müssen. Der viele Patienten gleichzeitig auf knappe Ressourcen – Ethikrat schlägt vor, der Rechtsstaat habe die Ex-post- etwa auf letzte Beatmungsgeräte – Anspruch erheben. Triage zu entschuldigen und damit auf jede Sanktions- In der Ex-post-Situation dagegen sind alle Beatmungs- androhung zu verzichten, obwohl die Tat rechtswidrig geräte bereits Patienten zugeteilt, während weitere Pa- sei. Damit nimmt er es hin, dass Ärzte von Dritten ge- tienten eintreffen, welche die Geräte auch benötigen. waltsam an der Durchführung einer Ex-post-Triage ge- Ex post triagiert würde demnach, wenn Patienten auch hindert werden dürfen. Eine solche Rechtspraxis wäre nachträglich depriorisiert und vom Beatmungsgerät strukturell höchst irrational und ethisch nicht vertret- getrennt werden können, damit höher priorisierte Pa- bar.11 tienten überleben. Wie für die Ex-ante-Situation gilt selbstredend auch Der Ethikrat betont, dass die Ex-post-Triage anders zu ex post, dass zwei Pflichten kollidieren, von denen nur beurteilen sei als die Ex-ante-Triage: „Solche Entschei- einer entsprochen werden kann. Die Handlungspflicht dungen sind erheblich problematischer. Hier können gegenüber dem neu eingetroffenen Patienten und Grenzsituationen entstehen, die für das behandeln- die Unterlassungspflicht, die laufende Behandlung de Personal seelisch kaum zu bewältigen sind. Wer in des ersten Patienten nicht abzubrechen, können nicht einer solchen Lage eine Gewissensentscheidung trifft, gleichzeitig erfüllt werden. Werden diese Pflichten als die ethisch begründbar ist und transparenten – etwa gleichrangig betrachtet, liegt auch beim Behandlungs- von medizinischen Fachgesellschaften aufgestellten abbruch eine rechtfertigende Pflichtenkollision vor.12 – Kriterien folgt, kann im Fall einer möglichen (straf-) Nun könnte die Andersartigkeit der ex post kollidie- rechtlichen Aufarbeitung des Geschehens mit einer renden Pflichten normativ jedoch hochrelevant sein. entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung rech- Wird ein Patient von einem Beatmungsgerät getrennt, nen. Objektiv rechtens ist das aktive Beenden einer führt ein Tun zu seinem Tod, während im Rahmen der laufenden, weiterhin indizierten Behandlung zum Ex-ante-Triage eine tödliche Unterlassungshandlung Zweck der Rettung eines Dritten jedoch nicht.“ vorliegt. Intuitiv hat die entsprechende Unterschei- dung eine gewisse normative Kraft. Es stellt sich daher Eine Antwort auf die naheliegende Frage, welche Ge- die Frage: Wiegen Pflichten, durch ein Tun keine Scha- wissensentscheidungen ethisch begründbar sein densfolgen zu verursachen, zwingend (viel) schwerer könnten, bleibt der Ethikrat mit seiner Formulierung als Pflichten, durch Unterlassen keine Schadensfolgen schuldig. Ebenso bleibt unklar, warum und mit wel- zu erzeugen? cher „entschuldigenden Nachsicht“ betroffene Ärzte 11 Vgl. Nida-Rümelin, Julian (2001): Strukturelle Rationalität. Ein phi- im Zweifelsfall rechnen dürfen. Weder gesetzlich noch losophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart. übergesetzlich ist ersichtlich, warum die Ex-post-Triage 12 Hörnle, Tatjana (2020): Dilemmata bei der Zuteilung von Be- entschuldigt werden sollte, wenn man sie für rechts- atmungsgeräten, Verfassungsblog, https://verfassungsblog.de/ widrig hält. (Unter anderem können sich triagierende dilemmata-bei-der-zuteilung-von-beatmungsgeraeten/, (Stand: 04.04.2020, letzter Zugriff: 01.05.2021).
5 Gerade im medizinischen Kontext ist eine Vielzahl Überwiegt ein geschütztes Interesse ein widerstreiten- möglicher Situationen denkbar, die an dieser Hypo- des Interesse wesentlich, ist die aktive Tat zum Schutz these zweifeln lassen: Angenommen etwa, ein Patient des höheren Interesses nicht zwingend rechtswidrig. komme nach einem Unfall in ein Krankenhaus. Wird er nicht zeitnah behandelt, droht ihm der Verlust einer Ein analoges Argument lässt sich nun für den Fall we- Hand. Es ist eine Ärztin verfügbar, die unverzüglich sentlich unterschiedlicher verbleibender und verstri- eine Behandlung einleitet. Während der Behandlung chener Lebensjahre oder Erfolgsprognosen formulie- jedoch trifft ein weiterer Patient im Krankenhaus ein: Er ren. Man stelle sich etwa eine 85-jährige Patientin vor, ist schwer verletzt und droht beide Arme ganz zu ver- der nach der Behandlung wahrscheinlich noch zehn lieren. Die Ärztin wird in den Operationssaal gerufen Monate bleiben würden. Wenn sie vom Beatmungsge- und bricht die Behandlung des ersten Patienten ab. rät getrennt wird, kann an ihrer Stelle eine 40-jährige Man kann sich vorstellen, dass die Ärztin dem ersten Patientin mit erheblich besserer kurzfristiger Erfolgs- Patienten die geleistete Hilfe hier durch ein Tun ent- prognose und Jahrzehnten an verbleibender Lebens- zieht. Vielleicht verwendet sie ein medizinisches Gerät, erwartung angeschlossen werden. Wir haben oben das sie per Knopfdruck abstellt, um es dem anderen, dafür argumentiert, dass bei der jüngeren Person ein höher priorisierten Patienten zur Verfügung stellen zu bedeutend höheres Schadensausmaß auf dem Spiel können. Würde sie dies nicht tun, hätte sie den Verlust steht (und dass sie, sollte sie sterben, im Gegensatz zur der Arme des schwerverletzten Patienten als Folge der 85-Jährigen auch zu den an Lebensjahren Armen bzw. Nichtbehandlung lediglich durch Unterlassen zu ver- Schlechtergestellten gehört).15 Wie das Beispiel des antworten. Trotzdem scheint sie verpflichtet zu sein, Hand- und des Arm-Patienten zeigt, können Unter- den Schwerverletzten höher zu priorisieren und die schiede im individuellen Schadensausmaß auch dann Behandlung des ersten Patienten abzubrechen. ausschlaggebend sein, wenn der eine Patient von ei- nem Unterlassen, der andere aber von einem Tun be- Offenbar wiegt die Pflicht, durch Unterlassen kei- troffen wäre. Das legt nahe, dass sich die Triage-Praxis ne Schadensfolgen zu erzeugen, in diesem Fall viel entsprechend auch in der Ex-post-Situation rechtferti- schwerer als die Pflicht, durch Tun keine Schäden zu gen lässt.16 verursachen.13 Ausschlaggebend dafür ist die Tatsa- che, dass für den schwerverletzten Patienten hier in- dividuell viel mehr auf dem Spiel steht. (Dieses Urteil erfordert – wie ausgeführt – weder eine utilitaristische Abwägung noch eine Aufweichung der Lebens- bzw. Personenwertindifferenz.) Der Stakes-Vergleich schafft es in entsprechenden Fällen also, die Unterscheidung 15 Dies gilt auch für den Fall, dass die 40-jährige Patientin einer viel jüngeren Patientin gegenübersteht. zwischen Tun und Unterlassen normativ zu überbie- 16 Wer, wie etwa Fateh-Moghadam & Gutmann, als Triage-Krite- ten.14 Das spiegelt sich durchaus auch im Recht: Falls in rium nur die Dringlichkeit gelten lässt, müsste die Ex-post-Triage der Ex-post-Situation keine rechtfertigende Pflichten- als rechtmäßig anerkennen, wenn sie aufgrund der Dringlichkeit erfolgt. Grundsätzliche Argumente gegen die Zulässigkeit der Ex- kollision vorliegt, kann nämlich ein rechtfertigender post-Triage formulieren dagegen Merkel & Augsberg (Vgl. Merkel, Notstand nach § 34 StGB geltend gemacht werden. Reinhard; Augsberg, Steffen (2020): Die Tragik der Triage – straf- und verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen, JZ 2020, Heft 14, S. 704-714), die insbesondere auf Fälle hinweisen, in denen eine 13 Wir verwenden hier zur adäquaten Situationsbeschreibung ei- Ex-post-Triage unzulässig wäre, obwohl eine Analogie zur Alloka- nen handlungstheoretischen, nicht den aktuellen juristischen Be- tion knapper Beatmungsgeräte zu bestehen scheint (etwa: Allo- griff des Tuns bzw. Unterlassens. kation knapper Kunstherzen). Hier gilt es zu bedenken, dass die 14 Auch begrifflich ist die Unterscheidung zwischen „Tun“ und Ex-post-Triage selbstredend nur dann zur Anwendung gelangen „Unterlassen“ in der Handlungstheorie, der Ethik und der Rechts- darf, wenn in extremis keine anderen Verfahren der gerechten Al- philosophie umstritten. Ohnedies ist im vorliegenden Fall aber die lokation stattfinden können. Wer auf eine Organwarteliste gesetzt ärztliche Garantenstellung gegenüber beiden Patienten normativ wird und eine ethisch angemessene Prioritätspunktzahl erhält, hochrelevant. Die berufliche Beistandspflicht gilt unabhängig von dem wird eine gerechte Chance zuteil. Ganz anders verhält es sich, umstrittenen Zuschreibungen (z. B. im Hinblick auf „Verursachung“ wenn während einer Pandemie alle Beatmungsplätze besetzt sind oder „Absichtlichkeit“), die nur auf das „Tun“ Anwendung finden und eine Ex-post-Triage kategorisch ausgeschlossen bleibt. In die- mögen, genauso für Entscheidungen über das „Unterlassen“ mit sem Fall resultiert gegenüber den ex post eintreffenden Patienten Schadensfolge. eine massive Ungerechtigkeit.
6 Konsequenzen für die ärztliche zu belasten oder sie gar mit Strafe zu bedrohen, ob- Praxis wohl sie nach bestem Wissen und Gewissen handeln.19 Ein wichtiger Punkt darf bei alldem nicht aus dem Unter der Voraussetzung, dass die obigen Argumen- Blickfeld geraten: Auch unter hohem Zeitdruck sind te stichhaltig sind, könnte sich für die ärztliche Praxis Ärzte selbstredend dazu angehalten, die Autonomie die folgende Implikation ergeben: Ist eine wichtige der Patienten möglichst umfassend zu wahren. In der medizinische Ressource knapp und unteilbar, sollten gegenwärtigen Pandemie bedarf es dazu nicht nur (wie bei der Allokation knapper Spenderorgane) ent- einer ethisch und rechtlich vertretbaren Handlungs- sprechend den genannten Kriterien Priorisierungs- leitlinie für Triage-Situationen, damit knappe Ressour- punkte verteilt werden. Kombiniert mit der Wartezeit cen möglichst gerecht verteilt werden. Ebenso bedarf bzw. dem Prinzip First Come, First Served ergäbe sich es einer Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine insgesamt ein gewichtetes Losverfahren: Das Prinzip Übertherapie am Lebensende verhindert werden entspricht aufgrund der Zufälligkeit der Reihenfolge kann, falls intensivmedizinische Maßnahmen dem einem natürlichen Los. Eine höhere Anzahl Priorisie- aufgeklärten Patienteninteresse entgegenstehen. Das rungspunkte bewirkt, dass der entsprechende Patient vorrangige Ziel des ärztlichen Handelns darf nicht die auf der Warteliste Plätze gut macht, und führt damit zu bedingungslose Rettung oder Verlängerung von Le- einer höheren Chance auf Behandlung (eine Garantie ben sein. Vielmehr gilt es, eine medizinische Versor- lässt die Knappheitslage nicht zu). Dieses Prozedere gung zu gewährleisten, die dem Willen der Patienten würde ethische Gerechtigkeitskriterien berücksichti- entspricht, zu ihrem Wohl beiträgt und ihre Würde am gen und steht im Einklang mit dem normativen Indivi- Lebensende bestmöglich wahrt.20 Falls keine realisti- dualismus des Grundgesetzes, der eine utilitaristische sche Aussicht auf ein Leben außerhalb der Intensivsta- Abwägung von Menschenleben untersagt. Dem Teil- tion besteht oder der Sterbeprozess bereits begonnen habeanspruch eines jeden Patienten auf eine gerechte hat, ist von strapaziösen Behandlungen abzusehen, Behandlungschance würde damit Rechnung getragen.17 die für die Betroffenen nur zusätzliches Leiden bedeu- ten und ein Sterben in Würde verhindern.21 Die Frage, wie stark die Kriterien der Dringlichkeit, der Erfolgsprognose, der verbleibenden und der verstri- chenen Lebensjahre (Vorrang der Schlechtergestell- Kritisch-rationales Recht ten) relativ zueinander gewichtet werden sollten, ist nicht ohne Weiteres zu beantworten. Weder liegt dies- Der Deutsche Ethikrat befürchtet in seiner Ad-hoc- bezüglich ein klarer Maßstab vor noch existiert dazu in Empfehlung, dass die Fundamente der Rechtsordnung der Gesellschaft ein anerkannter ethischer Konsens.18 erodieren könnten, sollte es Ärzten erlaubt sein, eine Das Recht ist daher aufgerufen, ärztlichen Gewissens- Ex-post-Triage durchzuführen, selbst wenn die Hand- entscheidungen, die im Katastrophenfall unter Um- lung ethisch wohlbegründet wäre. Tatsächlich spre- ständen gefällt werden müssen, bis auf Weiteres Raum chen in manchen Fällen triftige Argumente dafür, Ethik zu lassen. Es wäre auch eine massive Ungerechtigkeit, Notärzte während einer Katastrophe zusätzlich mit un- 19 Vgl. Hilgendorf, Eric (2020): Mit Rechtsfragen nicht die Ärzte be- lasten: Triage-Empfehlungen in der Coronakrise, LTO, https://www. geklärten Fragen der Ethik und der Rechtswissenschaft lto.de/recht/hintergruende/h/corona-triage-klinisch-ethische- empfehlungen-aerzte-pflichtenkollision-moeglichst-viele-nutz- bringend-retten/ (Stand: 27.03.2020, letzter Zugriff: 01.05.2021). 20 Vgl. Chefai, Florian et al. (2020): Patientenautonomie in der Kri- 17 Die Logik des (gewichteten) Losverfahrens bestünde also weder se: Plädoyer für eine kritisch-rationale Medizin. Stellungnahme des darin, den Zufall oder das Schicksal entscheiden zu lassen, noch Hans-Albert-Instituts, https://hans-albert-institut.de/wp-content/ in der Zurückweisung unserer Entscheidungsverantwortung, son- uploads/2020/05/Patientenautonomie-in-der-Krise.pdf (Stand: dern darin, Verantwortung wahrzunehmen und Chancenvertei- 07.05.2020, letzter Zugriff: 01.05.2021). lungsgerechtigkeit walten zu lassen. 21 Michalsen, Andrej et al. (2021): Überversorgung in der Intensiv- 18 Vgl. Marckmann, Georg (2016): Grundlagen ethischer Entschei- medizin: erkennen, benennen, vermeiden. Positionspapier der dungsfindung in der Medizin, in: Marckmann, Georg (Hrsg.): Praxis- Sektion Ethik der DIVI und der Sektion Ethik der DGIIN, https:// buch Ethik in der Medizin, Medizinisch Wissenschaftliche Verlags- link.springer.com/article/10.1007%2Fs00063-021-00794-4 (Stand: gesellschaft, Berlin, S. 9 ff. 01.03.2021, letzter Zugriff: 01.05.2021).
7 und Recht voneinander abweichen zu lassen – etwa ge sie sich im Rahmen der Vorgaben des Grundgeset- wenn eine ethische Forderung vergleichsweise un- zes bewegen. Doch wo genau verlaufen die Grenzen bedeutend ist, die Akteure über Gebühr in die Pflicht dessen, was staatlicherseits als zulässig betrachtet nimmt oder zu einem gefährlichen rechtlichen Damm- werden muss? bruch führen könnte. Dies ist im fraglichen Fall jedoch nicht gegeben, denn die oben genannten ethischen Weder in der Ethik noch in der Rechtswissenschaft, Gründe sind von großem Gewicht, die Ärzte werden der Gesundheitsökonomie oder der Medizin selbst (indem das Recht ihren Gewissensentscheidungen besteht bisher Einigkeit in der Frage, ob und wie eine Raum lässt) nicht über Gebühr in die Pflicht genom- Verteilung von Überlebenschancen bei Ressourcen- men und ein Dammbruch ist nicht zu erwarten. knappheit geregelt werden sollte. Nicht selten werden unterschiedliche Standpunkte vertreten, die in fun- In verschiedenen westlichen Rechtsstaaten ist die Ex- damentalen Annahmen voneinander abweichen und post-Triage (sehr wahrscheinlich) zulässig bzw. stößt in sich mitunter deutlich widersprechen.23 Es liegt leider der Rechtswissenschaft auf keinen großen Widerstand, in der Natur der Sache, dass es in existenziellen Kon- ohne dass Anzeichen bestehen, dass ein Dammbruch fliktfällen keine Lösungen gibt, die unproblematisch stattgefunden hätte.22 Sollte sich entgegen der bishe- wären. Die resultierende ethische und rechtliche Unsi- rigen Erfahrung ein Dammbruch abzeichnen, müsste cherheit ist anzuerkennen und transparent zu kommu- selbstverständlich eine Korrektur vorgenommen wer- nizieren. Sie gebietet – im liberalen Rechtsstaat – nicht den. In jedem Fall aber wären Dammbruch-Thesen zuletzt auch eine Zurückhaltung bezüglich strafrecht- empirisch-rechtssoziologisch fundiert zu belegen, was licher Verfolgung, die als schärfstes Schwert des Staa- bisher nicht erfolgt ist. Außerdem gilt es zu bedenken, tes nur unter restriktiven normativen Voraussetzungen dass eine allzu große Kluft zwischen Ethik und Recht gewählt werden darf. nicht weniger zu einer Erosion der Rechtsordnung füh- ren könnte. Ohne hinreichende ethische Legitimation Ein Rekurs auf vermeintliche Letztbegründungen des steht das Recht nämlich in Gefahr, an der sozialen Rea- Rechts ist jedenfalls keine adäquate Antwort auf das lität zu scheitern und einen Vertrauensverlust zu er- komplexe Problem der Triage. Das Recht ist – wie jede leiden – auch in dieser Richtung müsste nach Belegen menschliche Kulturleistung – fehleranfällig und da- gesucht werden. mit stets kritikwürdig.24 Auch sicher geglaubte Urteile müssen sich daher einer kritischen Prüfung unterzie- In seiner Empfehlung gibt der Ethikrat zu bedenken, hen, wenn sie sich bewähren wollen.25 Eine offene De- dass die „Möglichkeiten des Staates, abstrakt binden- batte, in der unterschiedliche Standpunkte Gehör fin- de Vorgaben für die Allokation knapper Ressourcen den, kann in diesem Sinne auch zur Vertrauensbildung zu machen“, begrenzt sind. Das Grundgesetz definiere und zur Stärkung des liberalen Rechtsstaats beitragen. zwar negativ den Bereich des nicht mehr Zulässigen, biete jedoch keine positive Orientierung für die kon- krete Auswahlentscheidung in der klinischen Praxis. Zu Recht betont der Ethikrat daher die Funktion der medizinischen Fachgesellschaften, deren Leitlinien sehr wohl positive Kriterien formulieren dürfen, solan- 23 Auch innerhalb des Hans-Albert-Instituts werden unterschiedli- che Positionen vertreten und diskutiert. 24 Vgl. Hilgendorf, Eric (2017): Konstruktion und Kritik im Recht, in: 22 Ähnliches gilt für weitere Bereiche, in denen nolens volens über Hilgendorf, Eric; Joerden, Jan (Hrsg.): Handbuch Rechtsphiloso- Leben und Tod entschieden wird. Der Abschuss terroristisch ent- phie. J.B. Metzler, Stuttgart. führter Flugzeuge etwa ist in Deutschland strikte untersagt, wäh- rend ihn viele andere Rechtsstaaten erlauben oder als ultima ratio 25 Vgl. Albert, Hans (1991): Traktat über kritische Vernunft, 5. verb. u. sogar gebieten. Die entsprechenden rechtlichen Festlegungen ha- erw. Aufl., Mohr Siebek, Tübingen. ben keine Dammbrüche bewirkt. * Foto auf dem Deckblatt: eldarnurkovic — stock.adobe.com
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