Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Institutionen Eine Übersicht über den ...
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132 Natalie Zambrino, Eva Büschi & Stefania Calabrese Empirische Sonderpädagogik, 2020, Nr. 2, S. 132-148 ISSN 1869-4845 (Print) · ISSN 1869-4934 (Internet) Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Institutionen Eine Übersicht über den englischsprachigen Forschungsstand Natalie Zambrino1, Eva Büschi2 & Stefania Calabrese1 1 Hochschule Luzern, 2Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwest- schweiz Zusammenfassung Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen zeigen oft herausfordernde Verhaltensweisen wie Selbst- und Fremdverletzungen oder generieren Sachbeschädigungen. Der Umgang damit wurde im englischsprachigen Forschungsraum breit untersucht. Dieser Übersichtsartikel soll, ausgehend von bestehenden Literaturübersichten, einem deutschsprachigen Publikum den ak- tuellen englischsprachigen Forschungsstand aufzeigen. Die Literatursuche ergab 86 Artikel zum Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen, welche auf der Ebene des Individuums ago- gisch-therapeutische, freiheitsbeschränkende und medizinische Maßnahmen umfassen. Zudem wurden auch Artikel mit Maßnahmen, die auf die Begleitpersonen sowie die Umgebung ab- zielen, gefunden. Die darin erwähnten Maßnahmen sind vielfältig. Im Umgang mit herausfor- dernden Verhaltensweisen werden individuumspezifische, nicht-aversive und aufeinander ab- gestimmte Maßnahmen empfohlen, die in einem Prozess des Fallverstehens erarbeitet werden. Schlüsselwörter: Kognitive Beeinträchtigung, Behinderung, herausfordernde Verhaltensweise, Umgang, Aggression Management of Challenging Behaviours shown by Adults with Intellectual Disabilities living in Residential Institutions. An Overview of Anglophone Research. Abstract Persons with intellectual disabilities often show challenging behaviour such as physical aggres- sion, self-injury or destructive behaviour. Within anglophone research areas, prevention and intervention set up to decrease these behaviours have frequently been the subject of studies. This review aims to present those current research findings to a German-speaking audience. The literature search resulted in 86 articles, including agogic-therapeutic, restraint, and medical in- terventions on the individual level as well as interventions on staff and environmental level. To ensure an ideal management of challenging behaviour, individualised, non-aversive as well as
Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen 133 coordinated measures based on an accurate observation and analysis are recommended (e.g. functional analysis). Keywords: Intellectual disability, challenging behavior, intervention, prevention, aggression Einführung tus und der Miteinbezug des Kontextes und der Funktionalität wird in der Verwendung Der vorliegende Übersichtsartikel berück- des Begriffs «Verhaltensweise» widerspie- sichtigt ausschließlich Studien zu erwachse- gelt (Feuser, 2008). Beispiele von herausfor- nen Menschen mit kognitiven Beeinträchti- dernden Verhaltensweisen sind verbale gungen. Kognitive Beeinträchtigungen um- oder physische Verletzungen gegen Dritte, fassen Einschränkungen der mentalen Funk- Selbstverletzungen, Sachbeschädigungen, tionen und beeinflussen somit unter ande- repetitive Verhaltensweisen sowie extremer rem Verarbeitungsprozesse, die für Bewälti- Rückzug (Heijkoop, 2014). gungs- und Problemlösungsstrategien rele- Zur Prävalenz von herausfordernden vant sind (Sarimski, 2013). Verhaltensweisen zeigt sich, dass Menschen Folgende Definition von Emerson zu he- mit einer kognitiven Beeinträchtigung im rausfordernden Verhaltensweisen ist in der Vergleich zur Normalbevölkerung weit Forschungsliteratur weit verbreitet: «Hoch- häufiger betroffen sind (u.a. Luiselli, 2012). gradig herausforderndes Verhalten ist Ver- Die Prävalenz umfasst eine große Spann- halten von solcher Intensität, Häufigkeit weite. Matson und Kozlowski (2012) stellen und Dauer, dass die körperliche Sicherheit in ihrer Review beispielsweise eine Präva- der Person selbst und von anderen schwer- lenz von 10-52% fest. Emerson und Hatton wiegend gefährdet ist; oder das Verhalten (2014) verweisen auf mehrere aktuelle Stu- begrenzt oder verzögert erheblich den Zu- dien und nennen eine Prävalenz von 10- gang zu oder die Nutzung von üblichen 15%, wobei das Vorkommen von herausfor- ambulanten Einrichtungen» (Emerson et al., dernden Verhaltensweisen einen Höhe- 1987, zitiert nach Hennicke, 2003). In aktu- punkt im Alter zwischen 20 bis 49 Jahren elleren Definitionen wird dem die negativ erreicht. In einem ähnlichen Rahmen bewe- wertende Komponente hinzugefügt, wo- gen sich die Resultate von Koritsas und Ia- nach herausfordernde Verhaltensweisen im cono (2012) mit 15-17.5%, wobei unter jeweils spezifischen Kontext, in dem sie ge- herausfordernden Verhaltensweisen Selbst- zeigt werden, als sozial oder kulturell un- und Fremdverletzungen sowie Sachbeschä- erwünscht empfunden werden (Wolkorte, digungen verstanden wurden. Houwelingen & Kroezen, 2018). Beim Be- Herausfordernde Verhaltensweisen kön- griff der herausfordernden Verhaltenswei- nen für Betroffene und deren Umwelt viel- sen ist ‚Herausforderung‘ im doppelten Sinn fältige Konsequenzen haben. Verschiedene zu verstehen, einerseits als Herausforde- Studien ergaben, dass gesundheitliche Risi- rung für die Person selber und andererseits ken, Ausschluss aus Institutionen oder dem für die soziale Umwelt (Calabrese, 2017). gesellschaftlichen Leben allgemein sowie Herausfordernde Verhaltensweisen werden Stigmatisierung Folgen von herausfordern- somit nicht als personeninhärente Eigen- den Verhaltensweisen sind (Emerson et al., schaften, sondern unter einer systemökolo- 2000; Bamidele, 2013; Carter, 2006; Mat- gischen Perspektive als Produkte der dyna- son & Boisjoli, 2009; Cooper et al., 2009; mischen Wechselwirkung zwischen Indivi- The Royal College of Psychiatrists, 2007). duum und Umwelt verstanden. Diese aus- Büschi, Calabrese, Kasper, Antener und von geweitete Perspektive vom bloßen Verhal- Fellenberg (2015) zeigten zudem, dass all- ten eines Individuums im Sinne eines Habi- gemein erhebliche Einbußen der Lebens-
134 Natalie Zambrino, Eva Büschi & Stefania Calabrese qualität, Einweisungen in psychiatrische Methoden Kliniken und die Abgabe von sedierenden Medikamenten Folgen für das Individuum, Als Grundlage des vorliegenden Über- welches sich herausfordernd zeigt, sein sichtsartikels diente eine thematisch breit können. Aufgrund dieser teilweise schwer- ausgelegte Literaturrecherche zum Thema wiegenden Folgen insbesondere für das In- «Challenging behaviour of people with in- dividuum selber, aber auch für die Begleit- tellectual disability». Dafür wurden die personen und die Institution als Gesamtor- Datenbanken Cinahl, Cochrane Library, ganisation ist es wesentlich, den Umgang PubMed, SocIndex, und Web of Science mit herausfordernden Verhaltensweisen zu Core Collection genutzt. Gesucht wurde thematisieren. Die Auseinandersetzung mit ausschließlich nach englischsprachigen Pu- und die Umsetzung von adäquaten Maß- blikationen anhand thematisch relevanter nahmen können die negativen Auswirkun- Suchbegriffe (siehe Abbildung 1). gen solcher Verhaltensweisen reduzieren. Diese Suchstrategie resultierte in 2075 Das Thema herausfordernde Verhaltens- Artikeln, wovon in einem ersten Schritt Du- weisen beschäftigt die englischsprachige plikate und Fachartikel mit einem Erschei- Forschungswelt bereits seit einiger Zeit, was nungsdatum vor 2000 ausgeschlossen wur- generell und speziell im Bereich des Um- den. Anschließend erfolgten ein erstes Titel- gangs damit zu einer hohen Anzahl an Pub- screening und ein darauffolgendes Abstract- likationen geführt hat. In der deutschspra- screening. Diese mit dem Ziel, ausschließ- chigen Forschung wurde das Thema bisher lich Publikationen, die sich dem Thema des in einem geringeren Umfang bearbeitet. Umgangs mit herausfordernden Verhaltens- Dieser Übersichtsartikel verfolgt deshalb weisen von Erwachsenen mit kognitiven Be- das Ziel, die Ergebnisse aus dem internatio- einträchtigungen in Institutionen widmen, nalen Diskurs und der englischsprachigen herauszufiltern. Ausgeschlossen wurden Forschung einem deutschsprachigen Publi- Publikationen, welche Kinder und Jugend- kum zugänglich zu machen. Die wichtigs- liche sowie Menschen mit ausschließlich ten aktuellen Forschungsergebnisse zum psychischen und/oder körperlichen Beein- Umgang mit herausfordernden Verhaltens- trächtigungen behandelten und die auf ein weisen von Menschen mit kognitiven Be- anderes Lebensumfeld als das in Institutio- einträchtigungen werden übersichtlich zu- nen fokussierten. Nach diesem Prozess sammengefasst. blieben 79 Veröffentlichungen übrig. Um (“challenging behavior*” OR “challenging behaviour*” OR “problem behavior*” OR “aggressive behaviour*” OR “aggressive behavior*” OR self-harm OR self-injury) AND (“mental disability” OR “mental disabilities” OR “mental retardation” OR “intellectual disability” OR “intellectual disabilities”) NOT child OR children Abbildung 1: Angewendete Suchstrategie
Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen 135 umfassende Resultate sicherzustellen, wur- Ergebnisse de in der Folge ein Referenzencheck in aus- gewählten, bereits recherchierten Artikeln Die Literatursuche ergab 86 Artikel zum durchgeführt. Inklusive der dadurch hinzu- Umgang mit herausfordernden Verhaltens- gefügten sieben Publikationen standen weisen bei Erwachsenen mit kognitiven Be- schließlich 86 Veröffentlichungen zur Ana- einträchtigungen, die in institutionellen lyse bereit (siehe Abbildung 2). Unter den Wohnformen leben. Die Erkenntnisse aus 86 Artikeln befinden sich 24 Literaturüber- den Artikeln wurden nach systemökologi- sichten und 62 Einzelstudien. Aufgrund der scher Perspektive (u.a. Calabrese 2017, hohen Anzahl gefundener Publikationen Theunissen 2011) in individuumsspezifi- dienen die 24 Literaturübersichten als sche Maßnahmen und umweltspezifische Grundlage für die Darstellung der Resultate Maßnahmen aufgeteilt. Die beiden überge- im vorliegenden Artikel. Die verwendeten ordneten Kategorien – individuums- und Artikel wurden ausschließlich aufgrund ih- umweltspezifische Maßnahmen – wurden rer inhaltlichen Ausrichtung ausgewählt. In somit deduktiv hergeleitet. Die Unterkate- diesem Sinne wird keine Ähnlichkeit in den gorien (im Artikel als Unterkapitel darge- angewendeten Methoden vorausgesetzt. stellt) wurden induktiv aus der Literaturver- Zudem ist diese Literaturübersicht bewusst arbeitung abgeleitet. Eine Übersicht über breit gehalten und auf eine Bewertung der die Verteilung der Publikationen bietet Ta- Qualität der eingeschlossenen Artikel wird belle 1. verzichtet. Initialsuche: 2075 Artikel Cinahl: 520 Entfernt: Cochrane Library: 94 429 Duplikate PubMed: 1060 590 älter als 2000 SocINDEX: 123 Web of Science: 278 Entfernt: 1056 Artikel 711 nach Titelscreening 266 nach Abstractscreening Hinzugefügt nach 79 Artikel Referenzenscreening: 7 86 Artikel (davon 24 Übersichtsartikel & 62 Einzelstudien) Abbildung 2. Vorgehen bei der Literatursuche
136 Natalie Zambrino, Eva Büschi & Stefania Calabrese Tabelle 1: Übersicht Maßnahmen im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen in der gefunde- nen Literatur Oberkategorie Maßnahmen Anzahl Erwähnun- Beispiele gen in Publikationen Genereller Umgang Umgang generell 20 - Individuumsspezifi- Agogisch-therapeuti- 22 Verschiedene Verstär- sche Maßnahmen sche Maßnahmen kungsmodelle Freiheitsbeschränken- 11 Festhalten, Festgurten de Maßnahmen Medizinische Maß- 17 Psychopharmaka, nahmen Neuroleptika Körperliche Betätigung 1 Bewegung Umweltspezifische In Bezug auf Begleit- 19 Kommunikationstrai- Maßnahmen personen ning, Training in Positiver Verhaltens- unterstützung In Bezug auf Umge- 3 Aufwertung der Umge- bung bung, bessere Aufklä- rung der Umwelt Anmerkungen. Mehrfachzählung aufgrund der Nennung mehrerer Maßnahmen in einzelnen Artikeln mög- lich. Wie in Tabelle 1 ersichtlich, ergab die Genereller Umgang Literatursuche neben Artikeln, die den ge- nerellen Umgang mit herausfordernden Verschiedene Übersichtsartikel, die den Verhaltensweisen in Institutionen zusam- Umgang mit vielfältigen herausfordernden menfassten, auch Publikationen, die auf Verhaltensweisen von Erwachsenen mit ko- agogisch-therapeutische, freiheitsbeschrän- gnitiven Beeinträchtigungen generell fokus- kende und medizinische (pharmakologi- sieren, zeigen eine hohe Wirksamkeit von sche und psychotherapeutische) Maßnah- Maßnahmen zur Reduktion von herausfor- men auf der Ebene des Individuums fokus- dernden Verhaltensweisen (Denis, Van den sieren. Zudem wurden umweltspezifische Noortgate & Maes, 2011 mit dem alleinigen Maßnahmen (in Bezug auf Begleitpersonen Fokus auf selbstverletzende Verhaltenswei- sowie auf die Umgebung) gefunden. sen; Heyvaert, Maes & Onghena, 2010; Im Folgenden wird anhand der in den Heyvaert, Maes, Van den Noortgate, Kup- 24 Literaturübersichten gefundenen Ergeb- pens & Onghena, 2012). Von einer Reduk- nisse der englischsprachige Forschungs- tion von herausfordernden Verhaltenswei- stand zum Umgang mit herausfordernden sen wird in vorliegendem Artikel gespro- Verhaltensweisen von Erwachsenen mit ko- chen, sobald die verwendete Quelle dies gnitiven Beeinträchtigungen in Institutionen ebenso bezeichnet. Dies ist somit unabhän- umrissen. Diese Übersichtsartikel repräsen- gig davon, ob eine Reduktion in der Häufig- tieren die Ergebnisbreite am treffendsten, keit, Intensität oder einem anderen Merk- werden jedoch mit Einzelstudien aus der mal der Verhaltensweisen gezeigt werden Literatursuche ergänzt, wann immer sie konnte. Untersucht wurden vielfältige Maß- stark allgemein gehalten sind und die Hin- nahmen auf kontextueller, behavioraler und zunahme von Einzelstudien für das Ver- pharmakologischer Ebene. Heyvaert et al. ständnis förderlich ist. (2012) zeigen auf dem dritten Level ihrer Meta-Analyse, dass Maßnahmen gegen
Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen 137 fremdgerichtete Aggressionen weniger ef- sen dar (Allen, 2000). Entsprechend ma- fektiv sind als Maßnahmen gegen andere chen behavioristische Maßnahmen den Formen von herausfordernden Verhaltens- Großteil der im Bereich der agogisch-thera- weisen. Gleichzeitig fanden sie heraus, dass peutischen Maßnahmen gefundenen Publi- die Kombination von Maßnahmen im Eska- kationen aus. In zahlreichen Studien wer- lationsfall mit vorausgehenden, präventiven den vielfältige Methoden der differentiellen Maßnahmen signifikant wirksamer war als Verstärkung und deren Wirksamkeit bei der alleinige Maßnahmen im Eskalationsfall. Reduktion von herausfordernden Verhal- Gleiches gilt, wenn die untersuchte Person tensweisen (Chowdhury & Benson, 2011) die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung beschrieben. Es herrscht Uneinigkeit über und höheres Alter hatte. Der Umgang mit die wirksamste Verstärkungsmethode, doch herausfordernden Verhaltensweisen ist sehr zeigt sich das Verstärken von alternativen vielfältig und hängt zudem auch von der und von inkompatiblen Verhaltensweisen Wohnform ab (McKenzie, 2011). Die große (Chowdhury & Benson, 2011; Davis et al., Vielfalt an gefundenen Maßnahmen ließ es 2016; Didden, Korzilius, Van Oorsouw & jedoch nicht zu, in vorliegender Literatur- Sturmey, 2006; Tarnai, 2006) genauso wie übersicht die Wohnform als zusätzliches die unabhängige Verstärkung (Lloyd & Ken- Kriterium zu berücksichtigen. nedy, 2014 am Beispiel von sexualisierten Verhaltensweisen) als effektiv. Rapp und Individuumsspezifische Maßnahmen Vollmer (2005) zeigen zudem auf, dass Ver- haltensweisen oft durch automatische posi- Im Folgenden werden Maßnahmen zusam- tive Verstärkung aufrechterhalten werden, mengefasst, die auf das Individuum, das he- indem beispielweise stereotypes Verhalten rausfordernde Verhaltensweisen zeigt, ab- für das Individuum Stimulation mit sich zielen. bringt. Empfohlen wird bei sämtlichen behavi- Agogisch-therapeutische Maßnahmen oristischen Maßnahmen die vorhergehen- Aversive Methoden im Umgang mit heraus- de, genaue Erfassung der Situation, deren fordernden Verhaltensweisen, also Metho- Analyse und die darauf basierende Erarbei- den, die bei einem Individuum physische tung eines Handlungskonzeptes (Allen, Schmerzen und potentielle oder reale phy- 2000; Davis et al., 2016; Grey & Hastings, sische beziehungsweise psychische Neben- 2005). Dieser Prozess entspricht auch der wirkungen auslösen können oder es ent- Vorgehensweise des Fallverstehens. Dieses menschlichen (American Association of In- ist ein Prozess, in dem nach der Erfassung tellectual and Developmental Disabilities und Analyse einer Situation differenzierte [AAIDD], 2012), stehen zu Recht unter Erklärungen zu einem Fall bzw. einer Fall- Kritik. Entsprechend werden vorwiegend thematik entwickelt werden, die Hinweise nicht-aversive Methoden genutzt. In diesem für das weitere Vorgehen geben. Das Fall- Zusammenhang kommt der Least-Restricti- verstehen ist sozialökologisch ausgerichtet, ve-Alternative Guideline of Providing Treat- enthält die Perspektive der Klientinnen und ment wachsende Bedeutung zu. Diese Klienten und bietet «Erklärungen für das, Richtlinie fordert, dass im Umgang mit her- was problematisch ist in einem Fall» (Hoch- ausfordernden Verhaltensweisen jeweils die uli Freund & Stotz, 2015). Die Autoren be- am wenigsten aversive, aber trotzdem effek- schreiben das Fallverstehen als in jedem tive Methode als erstes genutzt werden soll Fall vorläufig und weisen darauf hin, es lau- (Chowdhury & Benson, 2011). Behavioristi- fend zu überprüfen und weiterzuentwi- sche (Verstärkungs-)Methoden stellen dabei ckeln. Ziel ist es, auf der Basis des Fallver- die meistgenutzten Maßnahmen im Um- stehens hilfreiche Maßnahmen zu entwi- gang mit herausfordernden Verhaltenswei- ckeln.
138 Natalie Zambrino, Eva Büschi & Stefania Calabrese Übersichtsartikel aus dem nicht behavi- im Vergleich zur Normalbevölkerung er- oristischen Bereich agogischer Maßnahmen höht (Cooper et al., 2015; Emerson & Hat- wurden anhand der Suchstrategie keine ge- ton, 2014). Oft bestehen auch Multimor- funden. Die Literatursuche ergab jedoch biditäten (Cooper et al., 2015), welche eine einige Einzelstudien, die verschiedene ago- adäquate medikamentöse Behandlung na- gische Maßnahmen beschrieben. In zwei helegen. Es besteht jedoch Evidenz, wo- Studien wurden positive Effekte des Per- nach psychotrope Medikamente, insbeson- son-Centered Support festgestellt (Bead- dere Antipsychotika, auch eingesetzt wer- le-Brown, Hutchinson & Whelton, 2012; den bei Menschen mit kognitiven Beein- McClean et al., 2005). Dies meint ein auf trächtigungen, die sich herausfordernd zei- Basis einer vorhergehenden tiefgreifenden gen, ohne dass eine psychische Krankheit Analyse erarbeiteter, individuumsspezifi- diagnostiziert ist (Deb, Unwin & Deb, 2015; scher und umfassender Unterstützungsplan Sheehan et al., 2015). Dies ist problema- und dessen anschließende Umsetzung in- tisch, denn die Abgabe von psychotropen klusive Evaluation (McClean et al. 2005, Medikamenten kann Abhängigkeiten verur- Pörtner, 2018). Weitere Maßnahmen, die sachen und deren genaue Wirkung auf her- herausfordernde Verhaltensweisen reduzie- ausfordernde Verhaltensweisen ist nicht ge- ren, waren das Snoezelen (Singh et al., klärt, weshalb die Medikamentenabgabe 2004 am Beispiel von Menschen mit schwe- als alleinige ‘Behandlung’ von herausfor- ren kognitiven und zusätzlichen psychi- dernden Verhaltensweisen stark umstritten schen Beeinträchtigungen, die fremdaggres- ist (Sheehan & Hassiotis, 2017; Cox & sives und selbst verletzende Verhaltenswei- Virues-Ortega, 2016). Hinzu kommt, dass sen zeigten), Vocational Skills Training Menschen mit einer kognitiven Beeinträch- (Singh et al., 2004), Activities of Daily Li- tigung eher an unerwünschten Nebenwir- ving Skills Training (Singh et al., 2004) und kungen leiden (Sheehan et al., 2017), nicht die Progressive Muscle Relaxation (Fung To immer ihre Einwilligung zur Einnahme der & Chan, 2000 am Beispiel von Menschen Medikamente geben können und sich die mit schweren kognitiven Beeinträchtigun- Diagnose einer psychischen Beeinträchti- gen und aggressiven Verhaltensweisen). gung oft schwierig gestaltet, da sich Symp- Auch mit der Nidotherapy konnte eine Re- tome in anderen Zusammenhängen zeigen duktion von herausfordernden Verhaltens- können (Leyfer et al., 2006 am Beispiel von weisen festgestellt werden, diese war je- Kindern im Autismus-Spektrum). doch nicht signifikant (Tyrer et al., 2017 am Zusätzlich ist nicht geklärt, ob und in Beispiel von Menschen mit milden, mode- welchem Maß Medikamente bestehende raten oder schweren kognitiven Beeinträch- herausfordernde Verhaltensweisen beein- tigungen und aggressiven Verhaltenswei- flussen (Cox & Virues-Ortega, 2016; Cros- sen). land et al., 2003). Cox und Virues-Ortega (2016) berichten in ihrem Übersichtsartikel, Medizinische Maßnahmen dass psychotrope Medikamente eine Ver- In folgendem Abschnitt werden die gefun- haltensweise hinzufügen (3% der unter- denen medizinischen Maßnahmen be- suchten Fälle), verringern (22%) oder verän- schrieben, welche pharmakologische und dern (3%) können. In 73% der Fälle wurde psychotherapeutische Maßnahmen umfas- jedoch keine Änderung der Verhaltensweise sen. nach Abgabe psychotroper Medikamente festgestellt. Zudem können neurobiologi- Pharmakologische Maßnahmen sche Prozesse ausgelöst werden, welche Die Wahrscheinlichkeit, an einer psychi- andere als die zu verändernde Verhaltens- schen Krankheit zu erkranken, ist für Men- weise beeinflussen und so beispielsweise schen mit kognitiven Beeinträchtigungen die Kommunikation generell reduzieren
Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen 139 oder Reaktionen auf bestimmte Stimuli ab- haltensweisen zeigen. Dies gilt sowohl schwächen können. Cox und Virues-Ortega wenn Psychotherapie als einzelne Maßnah- (2016) erachten die in den letzten 20 Jahren me erfolgt als auch wenn sie mit weiteren erarbeitete Evidenz noch immer als zu limi- Maßnahmen kombiniert wird. Es lässt sich tiert, um voraussehbare Verhaltensänderun- jedoch im Vergleich zu pharmakologischen gen aufgrund von Medikation zu bestim- und kontextuellen Maßnahmen keine er- men. Sie folgern deshalb, dass Verhaltens- höhte Wirksamkeit feststellen (Heyvaert et änderungsprozesse von spezifischen Ver- al., 2010). Thom, Grudzinskas und Saleh haltensweisen aufgrund von Medikamenten (2017) vermerken einen tiefen Forschungs- unklar, jedoch möglich sind und dass zur stand im Bereich der Effekte von Psychothe- genaueren Evaluation derselben mehr em- rapie auf herausfordernde Verhaltenswei- pirische und vor allem experimentbasierte sen, wobei die wenigen gefundenen Stu- Forschung vonnöten ist. dien vielversprechend erscheinen. Auch Studien zur Reduktion oder zum Abset- McKenzie (2011) empfiehlt psychothera- zen von Antipsychotika bei Erwachsenen peutische Ansätze als flankierende Maß- mit kognitiven Beeinträchtigungen konsta- nahme im Umgang mit herausfordernden tieren ebenfalls zu wenig empirische Evi- Verhaltensweisen. denz für klare Aussagen (Sheehan & Hassio- tis, 2017; Allen, Lowe, Brophy & Moore, Freiheitsbeschränkende Maßnahmen 2009). Auch im Fall einer sinnhaften Medi- Nachfolgend wird nicht auf gesetzliche Vor- kamentenabgabe wird empfohlen, vorher gaben zu freiheitsbeschränkenden Maßnah- andere Maßnahmen zu berücksichtigen men eingegangen. Der Umfang vorliegen- und grundsätzlich eine holistische, indivi- der Übersicht lässt eine Darstellung der in- duumsspezifische und regelmäßig über- ternational divergierenden rechtlichen prüfte Analyse sowie das dazugehörige Mo- Grundlagen nicht zu. Unter freiheitsbe- nitoring durchzuführen (Deb et al., 2009; schränkenden Maßnahmen werden physi- Trollor, Salomon & Franklin, 2016). sche Einschränkungen wie das Festhalten, mechanische Einschränkungen wie das Fi- Psychotherapeutische Maßnahmen xieren von Körperteilen und auf die Umwelt Aufgrund der erhöhten Prävalenz von psy- bezogene Einschränkungen wie das Ein- chischen Krankheiten bei Menschen mit ko- schließen in Räumen verstanden (Heyvaert, gnitiven Beeinträchtigungen (Emerson, Saenen, Maes & Onghena, 2014; Luiselli, 2001; Emerson & Hatton, 2014) kommt 2009). Diese finden in der Praxis weit ver- psychotherapeutischen Maßnahmen eine breitet Anwendung (Heyvaert et al., 2014; zentrale Rolle zu. Dies gilt besonders unter Matson & Boisjoli, 2009). Es besteht Einig- Anerkennung des Art. 25 der UN-Behinder- keit darüber, dass freiheitsbeschränkende tenrechtskonvention, welcher die Vertrags- Maßnahmen nur in Eskalationssituationen staaten dazu verpflichtet, allen Menschen angewendet werden sollen, um die Sicher- eine gleichwertige Gesundheitsversorgung heit aller Involvierten wiederherzustellen. zur Verfügung zu stellen. Dabei gilt es der sachgemäßen Anwendung Heyvaert et al. (2010) konnten eine po- höchste Aufmerksamkeit zu schenken (Al- sitive Wirkung von psychotherapeutischen len et al., 2009; Luiselli, 2009). Maßnahmen (dies waren: behavioral-psy- Trotzdem stehen freiheitsbeschränkende chotherapeutische, systemisch-psychothe- Maßnahmen aus ethischen und rechtlichen rapeutische, kognitiv-behaviorale und an- Gründen sowie wegen Zweifeln an ihrer Ef- dere psychotherapeutische Maßnahmen fektivität in der Kritik (Griffith, Hutchinson ohne Angabe, ob und auf welche Weise & Hastings, 2013; Jones, Allen, Moore, diese an die Klientel angepasst wurden) auf Phillips & Lowe, 2007; Luiselli, 2009). Ent- die Reduktion von herausfordernden Ver- sprechend finden sich Publikationen, in
140 Natalie Zambrino, Eva Büschi & Stefania Calabrese denen zu einer Reduktion von freiheitsbe- schränkenden Maßnahmen verwies (Wil- schränkenden Maßnahmen in einem siche- liams, 2010). ren Rahmen aufgerufen wird (Luiselli, 2009; Sheehan & Hassiotis, 2017; Williams, Körperliche Betätigung 2010). Weiter wird auch hier empfohlen, Die Recherche ergab eine weitere Maßnah- bei der Anwendung von entsprechenden me, welche sich keiner der obigen Katego- Maßnahmen nach einem zuvor festgelegten rien zuordnen ließ: Die körperliche Betäti- Plan vorzugehen und jedes Handeln zu do- gung. Ogg-Groenendaal, Hermans und kumentieren (Luiselli, 2009). Effektiv kann Claessens (2014) stellten in ihrer zwanzig dieser beispielsweise mithilfe des Fallverste- Studien umfassenden Literaturübersicht hens erarbeitet werden (Hochuli Freund & eine Abnahme von herausfordernden Ver- Stotz, 2015). Von hoher Bedeutung ist in haltensweisen bei Menschen mit einer kog- diesem Zusammenhang eine entsprechen- nitiven Beeinträchtigung fest, die sich kör- de Schulung der Begleitpersonen, wie Wil- perlich betätigen. Die zusammengefassten liams (2010) in seiner Literaturübersicht zei- Studien beinhalten vielfältige Arten der kör- gen kann. Er präsentiert beeindruckende perlichen Betätigung von individuellem Resultate zur Reduktion von freiheitsbe- Training wie schnellem Gehen, Joggen oder schränkenden Maßnahmen und Verletzun- der Verwendung von Fitnessgeräten bis zu gen von Mitbewohnenden und Begleitper- Gruppensport wie Ballspielen oder Aero- sonen. So beinhaltet seine Übersicht eine bic. Die einfaktorielle Varianzanalyse zeigte Studie, die zeigt, dass im Fall von aggressi- eine signifikante durchschnittliche Abnah- ven Verhaltensweisen unter anderem über me von 30.9% der herausfordernden Ver- längere Zeit andauernde Personaltrainings haltensweisen (95% CI: 25.0, 36.8). Gleich- zu einer Reduktion von 99.4% der physisch zeitig stellt eine Einzelstudie von Emerson einschränkenden Maßnahmen führten (Wil- (2005) fest, dass sich in Nordengland bloß liams, 2010). Untersucht wurde eine Viel- vier bis acht Prozent der Menschen mit ei- zahl an Maßnahmen, die über vier Jahre ner kognitiven Beeinträchtigung regelmäßig sowohl an einer Tagesschule (75 Kinder) als physisch betätigen. auch in einem institutionellen Wohnange- bot (43 Erwachsene) angewendet wurden Umweltspezifische Maßnahmen und neben einem Verhaltensplan für den Umgang mit herausfordernden Verhaltens- Nachfolgend werden Maßnahmen, die auf weisen, das Training der Begleitpersonen in die Umwelt des Individuums mit herausfor- „extraordinary blocking“ (Verwendung von dernden Verhaltensweisen und kognitiven gepolsterten Objekten, um Klientel zu un- Beeinträchtigungen abzielen, zusammen- terstützen und Begleitpersonen zu schüt- gefasst. Sie werden unterteilt in Maßnah- zen), die Unterstützung von Personen in men in Bezug auf Begleitpersonen und in Leitungsfunktionen sowie eine regelmäßige Bezug auf die Umgebung. Evaluation enthielten. Eine weitere Studie hielt eine Reduktion von über 70% der Ver- Maßnahmen in Bezug auf Begleitpersonen letzungen von Begleitpersonen und Mitbe- Den Begleitpersonen kommt in institutio- wohnenden in Folge eines Trainings fest, nellen Wohnformen im Umgang mit her- welches darauf abzielte, Präventionsmaß- ausfordernden Verhaltensweisen eine große nahmen und Maßnahmen in Eskalationssi- Rolle zu. Sie tragen die hohe Verantwor- tuationen zu verbessern, indem es grund- tung, für die Ausgestaltung des alltäglichen sätzlich auf das Verstehen von Aggressionen Lebens eine Umgebung zu schaffen, wel- setzte, daneben die Wichtigkeit von Präven- che den Menschen mit kognitiven Beein- tion und Nachsorge betonte und auf den trächtigungen die höchstmögliche Lebens- Einsatz der minimalsten nötigen freiheitsbe- qualität bietet (Campbell & Hogg, 2008;
Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen 141 McClean et al., 2005). Sie beeinflussen her- Schließlich zeigt die beschriebene Studie, ausfordernde Verhaltensweisen nicht nur dass die gelebte Institutionskultur unter Be- durch eine direkte Reaktion in Eskalations- gleitpersonen, wie beispielsweise die ge- situationen, sondern verfügen mit Präventi- genseitige Unterstützung im Team, den Um- onsarbeit über ein großes Potential, der Ent- gang ebenfalls beeinflussen (Klaver et al., stehung von herausfordernden Situationen 2016). Heaton und Whitaker (2012) legen vorzubeugen. Cox, Dube und Temple zudem einerseits dar, dass professionell (2015) untersuchen verschiedene Trainings ausgebildete Begleitpersonen den heraus- für Begleitpersonen im Hinblick auf eine fordernden Verhaltensweisen gegenüber positive Wirkung bei der Reduktion von he- positiver eingestellt sind. Andererseits erör- rausfordernden Verhaltensweisen. Sie diffe- tern sie, dass der Umgang damit für nicht renzieren in ihrer Literaturübersicht zwi- professionell ausgebildete Begleitpersonen schen vier Kategorien von Trainings: (a) Po- mit mehr Stress verbunden ist. sitive Behaviour Support (entspricht dem Weitere Einzelstudien aus der Literatur- deutschen Pendant der ‚Positiven Verhal- suche zeigen, dass bei Begleitpersonen ein tensunterstützung, vgl. dazu Theunissen, Gefühl der Verantwortlichkeit und Sympa- 2009), (b) Active Support (Interaktionen thie für die begleiteten Personen mit dem zwischen Begleitpersonen und Klientel er- Level an gebotener Unterstützung positiv höhen durch gezielte und strukturierte ge- korreliert (Dagnan & Cairns, 2005). Lamb- meinsame Aktivitäten) , (c) Crisis Prevention rechts, Van Den Noortgate, Eeman und and Response Training (Formen der direkten Maes (2010) erläutern, dass die häufigsten Wissensvermittlung an Begleitpersonen, um Reaktionen, um herausfordernde Verhal- das Verständnis für Behinderungsformen tensweisen zu beenden, physische Hand- und herausfordernde Verhaltensweisen zu lungen sind (z.B. Festhalten). Verbale Reak- fördern), (d) Communication Program Trai- tionen werden demgegenüber weit seltener ning (Weiterbildung in verschiedenen Me- gezeigt. Die Resultate von Saloviita (2002) thoden der unterstützten Kommunikation, zeigen, dass Begleitpersonen als Reaktion damit Begleitpersonen die Klientel effektiv auf herausfordernde Verhaltensweisen am in ihren Kommunikationsmöglichkeiten un- häufigsten positive oder neutrale Maßnah- terstützen können). Mithilfe von Trainings men anwenden. Dazu zählen beispielswei- der Kategorie Positive Behaviour Support se die Aufwertung des Tagesprogramms, die gelang es, die größte Reduktion von heraus- Aufwertung der Umgebung oder die Ver- fordernden Verhaltensweisen zu erreichen. stärkung von positiven Verhaltensweisen Zusätzlich zu diesen Trainings zeigt die (wurden in 70 der 241 erfassten Fälle ge- Literaturübersicht von Klaver et al. (2016), zeigt). Sogenannte negative Maßnahmen dass auch Einstellungen und Emotionen von wie freiheitsbeschränkende Maßnahmen Begleitpersonen Einfluss auf herausfordern- oder räumliche Einschränkungen wurden in de Verhaltensweisen von begleiteten Perso- 56 der 241 gezeigten Reaktionen erfasst. nen haben. So können negative Einstellun- gen der Begleitpersonen gegenüber einem Maßnahmen in Bezug auf die Umgebung Individuum, wie beispielsweise die Annah- Die Literaturrecherche ergab keine Studien, me, dass das Verhalten rein personeninhä- welche allein auf Maßnahmen in Bezug auf rent ist und deshalb nicht beeinflusst wer- die Umgebung bzw. den Kontext fokussie- den kann, gerade zum Zeigen von uner- ren. In einigen wenigen Literaturübersich- wünschten Verhaltensweisen führen. Ähn- ten wurden kontextuelle Maßnahmen je- lich verhält es sich mit Emotionen wie doch am Rande angesprochen. So zeigen Angst, Wut und Trauer oder einer emotiona- Heyvaert et al. (2010), dass nur sehr kleine len Gleichgültigkeit gegenüber den gezeig- Unterschiede in der Effektivität von kontex- ten Verhaltensweisen (Klaver et al., 2016). tuellen, biologischen (damit ist im Wesent-
142 Natalie Zambrino, Eva Büschi & Stefania Calabrese lichen die Behandlung mit Antipsychotika Diskussion gemeint) und psychotherapeutischen Maß- nahmen bestehen, wobei die untersuchten Diese Übersicht über den englischsprachi- kontextuellen Maßnahmen mehrheitlich gen Forschungsstand zum Thema Umgang eine Teilkomponente eines multidisziplinä- mit herausfordernden Verhaltensweisen von ren Vorgehens waren und nicht spezifisch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigun- beschrieben wurden. Ein ähnlich kleiner gen, welche in Institutionen leben, zeigt Unterschied gilt für den alleinigen Einsatz eine Vielfalt an Forschungsergebnissen auf. von kontextuellen Maßnahmen im Ver- Gefunden wurden Maßnahmen, die auf das gleich zum kombinierten Einsatz mit einer Individuum fokussieren und solche, die die Maßnahme einer anderen Kategorie (Hey- Umwelt in den Blick nehmen (Begleitperso- vaert et al., 2010). nen und Umgebung). Die untersuchten 86 Rapp und Vollmer (2005) zeigen am Artikel zeigen zwar eine weite Streuung der Beispiel von stereotypem Verhalten, dass Resultate, die Verteilung innerhalb der the- durch die Aufwertung der Umgebung resp. matischen Blöcke ist jedoch eng gefasst. So situative Veränderung des Angebots (bspw. zielt beispielsweise eine Großzahl der ge- die Abgabe eines interessanten Gegenstan- fundenen Studien zum Thema Maßnahmen des zur Ablenkung) genauso wie durch den auf der Ebene der sozialen Umwelt auf ver- Unterbruch der automatischen Stimulation, schiedene Trainingsmethoden im Umgang die sich aus stereotypem Verhalten ergibt mit herausfordernden Verhaltensweisen ab. (bspw. das Anziehen eines Handschuhs) Weitere präventive Maßnahmen wie eine eine Reduktion der Stereotypie erfolgt. Sie funktionierende, interdisziplinäre Zusam- vermerken zudem, dass die Kombination menarbeit im Team oder Supervision, Coa- von präventivem Vorgehen mit Maßnahmen ching durch die Leitung oder Kooperation in einer Eskalationssituation erfolgsverspre- mit externen Fachpersonen werden kaum chend sein kann (Rapp & Vollmer, 2005). erwähnt. Genauso sind die dem agogischen Thom et al. (2017) schließlich weisen in Bereich zugeordneten Resultate stark auf ihrer Literaturübersicht zu sexualisierten behavioristische Verhaltensänderungen Verhaltensweisen von Menschen mit kogni- konzentriert, somit individuumszentriert, tiven Beeinträchtigungen auf eine sexuell und fokussieren auf eine Veränderung der oftmals repressive Umwelt innerhalb der Person. Nur wenige Studien erwähnen wei- von Alltagsstrukturen geprägten Institutio- tere agogische Methoden in Eskalationssitu- nen hin. Zudem monieren sie, dass damit ationen wie das Ablenken, verbales und fehlendes Wissen der Begleitpersonen zu nonverbales Beruhigen, paradoxe Interven- den Ursachen sexualisierter Verhaltenswei- tionen, das Anbieten von Rückzugsmög- sen einhergeht, und fordern eine Umwelt, lichkeiten oder die spontane Veränderung die einen würdigen und selbstbestimmten von umweltspezifischen Faktoren. Im medi- sexuellen Wissenserwerb ermöglicht. Ge- zinischen Bereich finden sich ausschließ- nerell wird sowohl der Umwelt in Kombi- lich Studien zum pharmakologischen und nation mit weiteren Maßnahmen zur Re- psychotherapeutischen Umgang mit her- duktion von unerwünschten sexualisierten ausfordernden Verhaltensweisen. Maßnah- Verhaltensweisen wie auch einer vorausge- men wie somatische Abklärungen bleiben henden genauen Analyse der Verhaltens- unerwähnt. Auch die Resultate zu freiheits- weisen eine erhöhte Bedeutung zugespro- beschränkenden Maßnahmen beinhalten chen. ausschließlich Methoden zur physischen Fixierung. Maßnahmen der räumlichen Trennung oder der Einsatz von elektroni- schen Methoden der Restriktion, wie bei- spielsweise der Einsatz von Bewegungsmel-
Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen 143 dern oder Alarmsystemen werden nicht er- Eine parallele psychotherapeutische Beglei- wähnt. tung von Menschen mit kognitiven Beein- Allgemein zeigt sich ein Fokus auf Maß- trächtigungen und regelmäßige themabezo- nahmen, welche auf das Individuum abzie- gene Weiterbildungen der Begleitpersonen len. Eine Begründung dafür könnte sein, können diesen Prozess zusätzlich positiv dass diese für Begleitpersonen oft nahelie- beeinflussen. Die Begleitpersonen bilden gend wirken und als einfacher und schnel- die soziale Umwelt der Individuen und tra- ler umsetzbar eingestuft werden als Verän- gen damit die Verantwortung, diese so zu derungen an der Umwelt. Zudem könnte gestalten, dass Individuen sich ihren Vor- dies auch auf eine Einstellung von Begleit- aussetzungen entsprechend entwickeln personen von Menschen mit kognitiven Be- können (Shogren, Luckasson & Schalock, einträchtigungen hindeuten, wonach diese 2018). Diese Verantwortung gilt es wahrzu- glauben, dass herausfordernde Verhaltens- nehmen. Ein fundiertes Fallverstehen, das weisen personeninhärent und somit außer- die Umwelt als relevanten Faktor berück- halb der Kontrolle anderer sind. Diese Ein- sichtigt, bildet die Basis, um Handlungsop- stellung wurde so auch in der Literaturüber- tionen zu entwickeln, die herausfordernde sicht von Klaver et al. (2016) festgestellt. Verhaltensweisen von Menschen mit kogni- Das Verändern dieser Einstellung hin zu ei- tiven Beeinträchtigungen erfolgreich redu- ner systemökologischen Perspektive, wo- zieren. nach herausfordernde Verhaltensweisen durch viele komplex verbundene Faktoren Limitationen bedingt sind und als Produkte von Wechsel- wirkungen zwischen dem Individuum und Bei der Interpretation der vorliegenden Lite- seiner Umwelt entstehen, könnte sich als raturübersicht sind einige Limitationen zu hilfreich herausstellen. beachten. Einerseits sind sowohl die hier Im Spezifischen zeigt vorliegende Über- beschriebene Personengruppe als auch die sicht, dass Medikamenten im Umgang mit beschriebenen Verhaltensweisen äußerst herausfordernden Verhaltensweisen eine heterogen. Dies führt zu einer stark einge- zentrale Rolle zukommt und diese häufig schränkten Generalisierbarkeit, was bei der eingesetzt werden. Irritierend ist, dass dies, Interpretation der Ergebnisse bedacht wer- wie weiter oben aufgezeigt, in vielen Fällen den muss. Andererseits wurde die gesamte ohne eine entsprechende Diagnose ge- Literatursuche, Datenextraktion sowie -syn- schieht. Auch fehlt bis heute Evidenz, wo- thesis von einer einzelnen Person durchge- nach Psychopharmaka die unterschiedli- führt. Trotz angewandter Sorgfalt und Über- chen herausfordernden Verhaltensweisen prüfung der Daten zu mehreren Zeitpunk- überhaupt effektiv zu reduzieren vermag ten, kann Subjektivität die Auswahl und (Cox & Virues-Ortega, 2016; Crosland et Gewichtung der Daten verzerrt haben. Es al., 2003). Zudem gilt es, die bei Menschen kann zudem auch eine Verzerrung aufgrund mit einer kognitiven Beeinträchtigung oft der gewählten Suchbegriffe aufgetreten verstärkten negativen Nebenwirkungen sein, obwohl dabei auf Schlüsselbegriffe (Sheehan et al., 2017) beim Einsatz von Me- des Feldes zurückgegriffen und eine mög- dikamenten kritisch zu betrachten. lichst breite Suchstrategie angewandt wur- Nicht-aversive Maßnahmen der Präven- de. Genauso kann die Fokussierung auf be- tion und in Eskalationssituationen zeigen reits bestehende Literaturübersichten zur sich einzeln und in Kombination miteinan- Übernahme von Verzerrungen führen. der als erfolgsversprechend. Beispiele dafür Schließlich kann anhand der dargestellten sind behavioristische Verstärkungsmetho- Resultate auf keine Kausalitätszusammen- den oder die Schaffung von regelmäßigen hänge geschlossen werden. Möglichkeiten der körperlichen Betätigung.
144 Natalie Zambrino, Eva Büschi & Stefania Calabrese Fazit American Association of Intellectual and De- velopmental Disabilities (2012). Aversive Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass procedures. Position statement of AAIDD. zur Reduktion von herausfordernden Ver- Retrieved June 11, 2018 from https://aa- haltensweisen von Menschen mit kogniti- idd.org/news-policy/policy/position-state- ven Beeinträchtigungen vielfältige Maßnah- ments/aversive-procedures men bestehen. Besonders die auf der Basis *Bamidele, K. & Hall, I. (2013). The place of eines fundierten Fallverstehens entwickel- medication for challenging behaviour: a ten nicht-aversiven, präventiven Maßnah- whole system perspective. Advances in men in Kombination mit Maßnahmen in Mental Health & Intellectual Disabilities, 7 Eskalationssituationen zeigen Wirkung. (6), 325-332. Eine flankierende Aus- und Weiterbildung *Beadle-Brown, J., Hutchinson, A. & Whelton, der Begleitpersonen kann dabei unterstüt- B. (2012). Person-centred active support - zend wirken und ist deshalb zu empfehlen. increasing choice, promoting indepen- Im Gegensatz dazu ist von einer vorschnel- dence and reducing challenging be- len und unreflektierten Abgabe von Medi- haviour. Journal of Applied Research in kamenten, deren langfristige Effektivität bis Intellectual Disability, 25 (4), 291-307. heute nicht erwiesen ist, abzusehen. Auf- Bueschi, E., Calabrese, S., Kasper, D., Antener, grund der oft hohen Persistenz von heraus- G. & von Fellenberg, M. (2015). Schluss- fordernden Verhaltensweisen scheint die bericht zum Projekt HEVE Forschungspro- Einnahme einer systemökologischen Pers- jekt zu Erwachsenen mit schweren und/ pektive für eine fundierte Auseinanderset- oder mehrfachen Beeinträchtigungen und zung in der Praxis unerlässlich. Diese Pers- herausfordernden Verhaltensweisen pektive wäre auch in künftigen Forschungs- (HEVE) im Bereich Wohnen. Unveröffent- studien erstrebenswert, um Maßnahmen lichter Bericht, Fachhochschule Nordwest- und ihre Wirkungen umfassend und kritisch schweiz. zu analysieren. Calabrese, S. (2017). Herausfordernde Verhal- tensweisen − Herausfordernde Situatio- nen: Ein Perspektivenwechsel. Eine quali- tativ-videoanalytische Studie über die Ge- Literatur staltung von Arbeitssituationen von Men- schen mit schweren Beeinträchtigungen Mit einem Asterisken versehene Referenzen und herausfordernden Verhaltensweisen. waren Resultate der Literatursuche. Eine Bad Heilbrunn: Klinkhardt. vollständige Liste mit sämtlichen aus der Li- Campbell, A. K. & Hogg, J. (2008). Impact of teratursuche resultierenden Referenzen training on cognitive representation of kann bei der Autorenschaft angefragt wer- challenging behaviour in staff working den. with adults with intellectual disabilities. Journal of Applied Research in Intellectual *Allen, D. (2000). Recent research on physical Disabilities, 21, 561-574. aggression in persons with intellectual dis- Carter, W. J. (2006). Challenging Behaviour ability: an overview. Journal of Intellectual and Disability. A targeted response. Re- & Developmental Disability, 25 (1), 41-57. trieved June 11, 2018 from https://www. *Allen, D., Lowe, K., Brophy, S. & Moore, K. communities.qld.gov.au/resources/dcdss/ (2009). Predictors of restrictive reactive disability/service-providers/centre-excel- strategy use in people with challenging be- lence/carter-report-full.pdf haviour. Journal of Applied Research in *Chowdhury, M. & Benson, B. A. (2011). Use Intellectual Disabilities, 22, 150-168. of differential reinforcement to reduce be- havior problems in adults with intellectual
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