Und schon bist du eine Feindin - GEW Hamburg

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Und schon bist du eine Feindin - GEW Hamburg
Grafik: Jamil Jalla
IDENTITÄTSPOLITIK

…und schon bist du
eine Feindin
Über Auseinandersetzungen in einer Partei, die ungewöhnliche Züge trägt
und damit stellvertretend für die Diskussion andernorts steht

   Das Thema Identitätspolitik           Jugendkulturen darum, die Zen-      waren schon Gläubige erwähnt,
wurde in den letzten Wochen in           surversuche religiöser oder pa-     aber weder Nicht-Gläubige noch
den deutschsprachigen Feuille-           triarchaler Tyrannen lächerlich     Religionsfreie.
tons rauf und runter diskutiert          zu machen. Heute halten junge          Dazu haben wir vier Ände-
(s. hierzu auch hlz 3-4/2021, S.         Linke antireligiöse Zeichnungen     rungsanträge gestellt. Die muss-
47ff). Aber warum geht sie uns           für respektlos. Die Bigotten ha-    ten wir in einer Rede verteidi-
spezifisch als Säkulare Grüne et-        ben die Herzen und Hirne junger     gen. Das habe ich übernommen
was an?                                  Antirassisten erobert.“             und erklärt, warum der Begriff
• Weil ihre Vertreter_innen ein            Der Berliner Landesarbeits-      Nicht-Gläubige diskriminierend
 universales Weltbild in Frage           gemeinschaft „Säkulare Grüne“       ist, insbesondere für Ex-Mus-
 stellen.                                und mir persönlich widerfuhr        lim_innen, warum die Kategorie
• Weil sie die Einhaltung von           auf unserer letzten Landesdele-     an sich falsch ist und inwiefern
 Glaubenssätzen einfordern, statt        giertenkonferenz etwas, was wir     Religionsfreie diskriminiert wer-
 zu diskutieren.                         in dieser Form nicht wirklich für   den.
• Weil sie einen Schutzschild           möglich gehalten hatten.               Darauf erwiderte die ehemali-
 über Religionen aufziehen, der             Wir wollten, dass im Wahl-       ge religionspolitische Sprecherin
 Kritik schwer macht.                    programm der Begriff „Nicht-        der Grünen im Berliner Abge-
•Weil sie uns direkt angreifen.         Religiöse“ durch Religionsfreie     ordnetenhaus Susanna Kahlefeld
   Die feministische Philosophin         ersetzt wird. Außerdem wollten      unter anderem folgendes:
Caroline Fourest, Autorin von            wir, dass Religionsfreie in der         „Religion und Glauben (oder
„Generation Beleidigt“, sagte            Präambel erwähnt werden: Ne-        Nicht-Glauben) gehören zum
kürzlich in einem Interview in           ben Migrant_innen, Alleinerzie-     unverfügbaren Kern unserer
der taz: „Früher ging es in linken       henden, LGBTQI usw. – darin         Identität wie Haar- und Hautfar-

hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 7-8/2021                                                                  63
Und schon bist du eine Feindin - GEW Hamburg
be, wie Geschlecht und sexuelle      Linke“. Davon war viel in den        Sie schrieb: Was ihr mit Hannah
Identität, wie die Sprache, die      vergangenen Wochen in den            macht, ist Stalinismus. Ihr habt
Sprachen, mit denen wir auf-         Medien zu lesen. Die Begriffe        sie nicht einmal informiert, ge-
gewachsen sind. Wenn wir die-        werden in den Medien mehr oder       schweige denn angehört zu den
sen Begriff aufnehmen in unser       weniger synonym verwendet.           Vorwürfen. Deshalb leite ich das
Wahlprogramm, schließen wir          Das sind sie zwar nicht, aber        jetzt an sie weiter.
an einen Diskurs der Verächt-        auch ich werde das erst einmal          Ich las eine ellenlange hitzige
lichmachung an, der unserem ge-      tun und später differenzieren.       Diskussion der letzten Tage. Da-
samten Programm zuwiderläuft.           Als Grüne sind wir schon et-      raus erfuhr ich, dass ich auf der
Wir würden zudem die These           was früher mit dem Phänomen          Website in einem großen Artikel
von der Diskriminierung bestä-       konfrontiert worden, zumindest       angeprangert wurde. Ich sollte
tigen, der angeblich Menschen        in einigen Landesverbänden. In       mich öffentlich entschuldigen
ohne Religion ausgesetzt sind.“      Berlin stellten etwa ältere Se-      und meine weiße Position reflek-
   Religion soll also unverfüg-      mester bei der letzten Frauen-       tieren. Mein Haupt-Vergehen:
barer Kern unserer Identität wie     vollversammlung erstaunt fest,       Ich hatte als weiß Positionierte
Hautfarbe sein. Religion ist also    dass sie sich dem intersektio-       über People of Color gespro-
so etwas wie das, was man frü-       nalen Feminismus verschreiben        chen. Sprich: ich hatte genau das
her Rasse genannt hat. Susanna       sollten und fragten, was das denn    getan, was ich angekündigt hatte
Kahlefeld essentialisiert Identi-    überhaupt sei.                       und was sie begrüßt hatten: über
täten. Sie stellt Religion in eine      Dass eine neue Ideologie so       Frauen in der ägyptischen Revo-
Reihe von Zuschreibungen, die        wirkmächtig auftritt und unbe-       lution berichtet.
als naturgegeben gelten, die un-     dingtes Mitmachen einfordert,           Außerdem wurden mir noch
veränderlich sind. Das ist die-      während die Masse der Bevölke-       ein paar andere Kleinigkeiten
selbe Logik, die Deutschsein als     rung und sogar ein Großteil der      vorgeworfen, die auf Hören-
Kern unserer Identität behauptet     politisch Tätigen noch gar nichts    Sagen beruhten – wie gesagt:
– wie es die Identitären tun, eine   davon gehört hat, gehört zu den      Keine war bei dem Workshop
rechte, völkische Bewegung,          Besonderheiten dieser Strö-          gewesen. Meine Verteidigung,
die in Deutschland, Österreich,      mung. Das führt zu den meist         die Diskussion im Workshop sei
Frankreich und Italien aktiv ist.    diskutierten Problemen dieser        ganz anders verlaufen, als sie es
Diese Überhöhung der Religion        Entwicklung: Immer wieder            behaupteten, wurde beantwortet
als unangreifbare Identität ist      werden Menschen aufs Schärfste       mit: „Du willst Dich also nicht
nicht Bestandteil der verschie-      attackiert für etwas, das sie ge-    kritisch mit Deinem Verhalten
denen Theorien, auf denen die        sagt haben, haben aber nicht den     auseinandersetzen.“
Identitätspolitik fußt. Aber diese   blassesten Schimmer, was daran          In der Folge verließ die Hälfte
Theorien sind dafür offen. Und       eigentlich schlimm war.              der Bloggerinnen das Kollektiv,
Muslim_innen,        insbesondere       Ich war damit zum ersten Mal      weil sie den Umgang mit mir ein-
Islamist_innen wie auch Chris_       vor neun Jahren konfrontiert.        fach nur verrückt fanden. Die taz
tinnen nutzen das, um Kritik ab-     Damals schrieb ich für den femi-     und die Jungle World berichteten
zuwehren.                            nistischen Blog Mädchenmann-         darüber. Sie interpretierten das
   Es gab nach Susannas Rede         schaft. Zur Feier des fünfjährigen   Ganze als Richtungsstreit. Ich
keinen Aufschrei wie beim In-        Jubiläums waren alle Berliner        hatte aber etwas anderes erlebt.
dianerhäuptling, der Bettina Ja-     Mitstreiterinnen aufgefordert,       Es ging nicht um unterschiedli-
rasch als Kind gern geworden         Workshops anzubieten. Ich bot        che politische Positionen. Wir
wäre. Im Gegenteil: Über 80          an, etwas über Frauen in der         hatten gar keine politische De-
Prozent der Delegierten stimm-       ägyptischen Revolution zu ma-        batte geführt. Das Ganze war ein
ten entsprechend ihrer Emp-          chen. Das wurde begrüßt. Als ich     kafkaesker Prozess. Es ging um
fehlung. Denn Susanna traf die       aber zu der Veranstaltung kam,       Macht, nicht um Inhalte.
Sprache des identitätspolitischen    spürte ich Abweisung: Andere            Dazu dienten neue Sprach-
Diskurses.                           Bloggerinnen schnitten mich.         und Verhaltensregeln des po-
                                     Ich habe mir nichts weiter dabei     litisch Korrekten. Da wurden
Aber was genau ist dieser            gedacht und meinen Workshop          Wörter gebraucht, die ich über-
Diskurs, diese Politik oder          durchgeführt. Keine der anderen      haupt nicht kannte. Und das,
Ideologie?                           Bloggerinnen nahm daran teil.        obwohl ich immer politisch ak-
   Es gibt viele Namen: „Iden-       Vier bis fünf Tage später nahm       tiv war und das genau in diesen
titätspolitik“, „intersektionaler    mich eine Bloggerin, die nicht in    Subkulturen. Immerhin war ich
Feminismus“, „Critical White-        Berlin wohnte, also nicht auf der    Teil dieses feministischen Kol-
ness“, „Woke“ – und abwertend        Veranstaltung gewesen war, in        lektivs gewesen, hatte mich aber
„Cancel Culture“ oder „Islam-        Kopie auf den internen Verteiler.    in den Monaten zuvor nicht an

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Diskussionen beteiligt, weil ich         von exotischen Speisen durch          viele jungen Feministinnen vor
in den arabischen Revolutionen           Weiße.                                allem Modemagazine lesen und
unterwegs gewesen war. In nur               Ich habe große Sympathien für      politische Diskussionen lang-
wenigen Monaten hatte eine Cli-          rebellierende junge Menschen.         weilig finden. Darüber musste
que das Kollektiv übernommen,            Darum habe ich in den vergan-         ich lange nachdenken: Diesel-
die nun einforderte, dass wir uns        genen Jahren, wenn mich solche        ben Frauen, die Professor_innen
an neue Regeln hielten und die           jungen Menschen bei Vorträgen         wütend wegen angeblich rassis-
bestimmten, wie Feminismus zu            angriffen, immer das Gespräch         tischer Äußerungen niederbrül-
sein habe.                               mit ihnen gesucht – und sie ge-       len, interessieren sich gar nicht
   Ich begann mich im Freun-             beten, mir zu erklären, warum         für Politik in ihrer Freizeit? Wie
deskreis umzuhören, ob jemand            das Wort, was ich verwendet           kann das sein?
schon mal etwas von dieser               hatte oder meine Position prob-          Dazu müssen wir uns die Her-
neuen Strömung gehört hatte.             lematisch beziehungsweise ras-        kunft dieser Ideologie anschau-
Und hörte viele dramatische Ge-          sistisch seien. Es kamen Phrasen      en; nicht die originäre Herkunft,
schichten. Damals handelte es            und Glaubenssätze, viele Gefüh-       sondern den Weg, wie sie in un-
sich aber eindeutig noch um              le oder behauptete Gefühle von        sere Gesellschaft gekommen ist.
eine Strömung in kleinen linken          irgendjemand anderem, aber            Es sind Theorien, die in der Uni-
Subkulturen. Linke Subkulturen           keine Argumente, jedenfalls           versität gelehrt werden, insbe-
hatten in ihrer Geschichte häu-          keine, die der logischen Struk-       sondere in den Gender Studies.
fig Sprachregeln, die man nicht          tur meiner Argumente ähnelten.        Dort werden sie zuweilen als
unbedingt von außen nachvoll-            Ich finde das sehr anstrengend.       rigide Glaubenssätze gelehrt. So
ziehen konnte. Sie hatten auch           Ich muss sagen, ich diskutiere        erzählte mir etwa eine junge Fe-
häufig einen rigiden Umgang              lieber mit Betonkopf-Marxisten-       ministin, die an der Humboldt-
mit Abweichlern. Trotzdem fiel           Leninisten, obwohl ich deren Po-      Universität in Berlin studiert hat,
mir schon damals auf, dass es

                                                                                                                     Foto: Wolfgang Svensson
ein paar bemerkenswerte Un-
terschiede zu vorherigen Praxen
gab.

Es findet gar keine
Debatte mehr statt
   Auch wir Grünen kennen aus
unserer Geschichte denunziato-
rische Attacken auf politische
Gegner_innen und auch auf
die eigenen Mitstreiter_innen.
Die erste Bundestagsfraktion
der Grünen soll sich geradezu
zerfleischt haben in Richtungs-
kämpfen. Junge Menschen, die
die Welt verändern wollen, ge-
hen zuweilen gnadenlos gegen
die Altvorderen vor, die das nicht
wollen. Wir können das falsch
finden. Aber es ist nun mal so           „Religion soll also unverfügbarer Kern unserer Identität wie Hautfarbe
und es war schon immer so. Aber          sein.“ Stimmt das?
hier ist etwas anders. Darum will
ich zunächst auf die Praxis ein-         sitionen furchtbar finde, aber sie    dass sie in ihrem ersten Semester
gehen – und dann erst auf die            bringen wenigstens Argumente,         scharf von der Dozentin zurecht-
Probleme mit der Theorie.                die man kontern kann.                 gewiesen wurde, als sie auf die
   Es findet gar keine Debatte              Vor ein paar Jahren habe ich       Frage, ob man einen Text von
mehr statt. Es wird mit größter          für die Emma junge Feministin-        Roland Barth lesen dürfe, in dem
Vehemenz angegriffen: Die Atta-          nen interviewt, die sich gegen        das Wort „Neger“ vorkam, mit
cke wird oft gegen etwas Sym-            diese Art der Identitätspolitik       „ja“ geantwortet und das auch
bolisches geführt. Es geht um            wenden. Sie erzählten mir von         begründet hatte. Die Art, wie
Wörter, aber auch um Kleidung,           ihren Erfahrungen in der Szene.       sie heruntergeputzt wurde, hat
Haarstil, Essen, Karnevalskostü-         Was ich besonders bemerkens-          auch den anderen im Seminar
me, Dreadlocks, das Zubereiten           wert fand: Sie erzählten, dass        Eindruck gemacht. Sie erzählte

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mir: „Du musst dir vorstellen,      Feuilleton behauptet. Sondern es

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da kommen einige aus der deut-      liegt mitunter daran, dass eifrige
schen Provinz. Die wissen gar       Schüler_innen eine 1 bekommen
nicht, wie ihnen geschieht. Die     wollen.
kuschen oder gehen in die innere
Emigration.“ Es wird also ein-      Hintergründe der
gebimst und auswendig gelernt,      Identitätspolitik:
nicht diskutiert. Keineswegs        Zugrundeliegende Theorien
sind die Glaubenssätze, die hier       Aber es gibt auch die, die dar-
in Deutschland von Vertreterin-     über Macht ausüben. Dafür sind
nen dieser Theorien vorgebracht     solche Glaubenssätze, vor allem
werden, Ergebnis eines zivilge-     wenn ihre Auslegung willkürlich
sellschaftlichen Prozesses, wie     ist, besonders gut geeignet. Pro-
behauptet wird. Sondern sie sind    fessor_innen können so andere
oktroyiert. Darum vermisst man      Professor_innen       wegbeißen,
auch zuweilen einen Bezug zur       Politiker_innen andere Politi-
Realität.                           ker_innen usw.                        Hannah Wettig
   Das spielt auch eine Rolle für      Die Theorien, auf denen das
unsere Arbeit als Grüne. Ein Bei-   ganze fußt, sind hingegen teil-       halten wird. Als ich das als Stu-
spiel aus einem Kreisverband:       weise gar nicht so dumm. Und es       dentin gelesen habe, habe ich
Einige junge Mitglieder hatten      gibt auch viele junge Menschen,       das nicht so verstanden, dass es
für das Wahlprogramm ein gan-       die sich ernsthaft damit ausein-      keine Geschlechtsunterschiede
zes Kapitel zu Postkolonialismus    andersetzen, Bücher lesen und         gibt, sondern dass die Bedeu-
geschrieben, unter anderem for-     darüber nachdenken. Die sollten       tung, die wir ihnen zumessen,
derten sie, dass umgehend alle      wir nicht in einen Topf schmei-       in Frage steht. Inzwischen muss
Straßennamen mit kolonialem         ßen. Solche kenne ich auch. Die       man allerdings sagen, dass Ju-
Bezug umbenannt werden müss-        sind allerdings in der Lage zu        dith Butler ihre eigene Theorie
ten. An sich ist das ein absolut    argumentieren und meist finden        ad absurdum führt, wenn sie die
unterstützenswertes Anliegen,       wir, dass wir gar nicht so weit       Burka verteidigt.
was wohl jede grüne Fraktion        auseinander liegen wie bei ande-         Zum gleichen Zeitpunkt, aber
gern umsetzen würde. Die Frak-      ren Begrifflichkeiten.                in Deutschland damals rela-
tion ist also sämtliche Straßen-       Die Identitätspolitik geht zu-     tiv unbeachtet, entwickelte die
namen des Ortes durchgegan-         rück auf Theoretiker_innen der        Juraprofessorin Kimberly Crens-
gen. Sie hat keinen einzigen mit    1980er und 90er Jahre. Dem            haw den Ansatz der „Critical
kolonialem Bezug gefunden. Die      Philosophen Michel Foucault           Race Theory“ und des Intersek-
Autor_innen des Kapitels kann-      ging es um die Anerkennung            tionalismus. Die Idee dafür be-
ten auch keinen.                    sexueller Identitäten. Er selbst      ruht auf einem realen Fall: Bei
   Aus solchen Erfahrungen lässt    war schwul. Viele postkoloniale       General Motors klagten schwar-
sich der böse Schluss ziehen: Die   Autor_innen zeigten sehr rich-        ze Frauen dagegen, dass sie bei
jungen Leute, die hier so scharfe   tig die Marginalisierung anderer      Einstellungen diskriminiert wür-
Attacken führen, sind überhaupt     Kulturen und Wissensprodukti-         den. Das Gericht wies die Klage
keine rebellierende Jugend, die     on auf. Dabei gingen sie davon        ab. Es argumentierte, dass bei
wütend darüber ist, dass ech-       aus, dass Identitäten konstruiert     General Motors viele Frauen ar-
te Probleme immer noch nicht        sind – durch Fremd- und Eigen-        beiten und daher offensichtlich
behoben sind. Es sind vielmehr      zuschreibungen. Einiges davon         Frauen nicht diskriminiert wür-
Streber, die die Lehrsätze ihrer    kann essentialistisch interpretiert   den. Auch arbeiteten dort viele
Professor_innen nachplappern.       werden, als sei Identität statisch,   Schwarze, also würden auch
Deshalb wohl kommt es zu            wie es heute geschieht. Aber nur,     Schwarze nicht diskriminiert.
teilweise völlig absurd anmu-       wenn man Sätze aus dem Kon-           Tatsächlich waren aber alle Frau-
tenden Angriffen. Wenn etwa         text greift, also das Buch nicht      en, die dort arbeiteten, weiße,
Menschen mit Dreadlocks atta-       gelesen hat.                          zum Beispiel Sekretärinnen. Die
ckiert werden oder eine grüne          Die Philosophin Judith Butler      Schwarzen waren alle Männer,
Spitzenkandidatin dafür, dass sie   wiederum behauptete, dass die         die in der Fabrik arbeiteten.
als Kind Indianerhäuptling wer-     Binarität der Geschlechter kon-          Kimberly Crenshaw befand,
den wollte, dann liegt das nicht    struiert sei, die Unterscheidung      dass sich Diskriminierungen also
daran, dass die politische Linke    von Männern und Frauen durch          nicht einfach addierten. Von der
in Deutschland keine Themen         ständige Performance, also das        einfachen Addition von Diskri-
mehr hat, wie das konservative      erlernte Verhalten, aufrechter-       minierungen geht etwa der Trip-

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le-Oppression-Ansatz aus, der            weiteres Problem, das ich kurz       und auch gar nicht analysiert.
damals in der Linken en vogue            ansprechen möchte: Viele der            Identitätspolitik und Intersek-
war. Crenshaw zeigte, dass               Glaubenssätze, die nun kursie-       tionalismus können Diskrimi-
schwarze Frauen nicht einerseits         ren, kommen aus den USA und          nierungen nur beschreiben. Da-
als Schwarze und andererseits            sind, da es eben keine Debatten      mit können sie zu ihrem Abbau
als Frauen diskriminiert würden,         gibt, eins zu eins übernommen        beitragen. Aber gesellschaftliche
sondern dass sie spezifisch als          worden. Sie passen aber gar          Strukturen, dahinterliegende ma-
schwarze Frauen diskriminiert            nicht für unsere Gesellschaft.       terielle Verhältnisse fassen sie
wurden.                                  Ein Beispiel ist etwa der India-     nicht an. Darum sind sie poli-
   Das ist zweifellos eine wich-         nerhäuptling. Es gibt wohl kaum      tisch nur bedingt brauchbar.
tige Erkenntnis. Und auch die            eine Kultur, die natürlich wie die      Brauchbar ist die Methode zur
Methode, die daraus hervorging,          meisten Kulturen absolut kon-        Überprüfung der eigenen Positi-
nämlich in jeder Situation zu            struiert ist, die in Deutschland     on. Wir sollten uns als politische
schauen, wie sich Mehrfach-Dis-          so positiv gesehen wird wie die      Menschen immer fragen, ob wir
kriminierungen auswirken, ist in         Indianer-Kultur. Ob daher die        etwas überhaupt beurteilen kön-
den Sozialwissenschaften abso-           Verwendung des Wortes in glei-       nen und was die Basis unserer
lut sinnvoll. Aber es ist eben nur       cher Weise zu verurteilen ist wie    Erkenntnis ist. Ich weiß nicht,
eine Methode für die Sozialwis-          in den USA, darüber müsste erst      wie Eltern ohne Hochschulab-
senschaften, die Sozialpädago-           einmal diskutiert werden.            schluss jetzt mit dem Digitalun-
gik oder was auch immer. Es ist             Manches macht Sinn vor dem        terricht klarkommen. Ich kann es
keine politische Theorie, keine          Hintergrund der amerikanischen       mir vorstellen, kann Studien da-
Gesellschaftsanalyse. Es eignet          Geschichte, wie der Begriff der      rüber lesen, aber es bleibt immer
sich – anders als beispielsweise         Cultural Appropriation, der kul-     ein Rest, die Ängste, die Ohn-
der Marxismus – nicht, um dar-           turellen Aneignung, wenn man         macht, die damit einhergehen,
aus politische Gesamtkonzepte            sich etwa die Geschichte des         den ich nicht erfassen kann.
abzuleiten. Es wird aber heute           amerikanischen Blues anschaut.          Dass der/die Diskriminierte
so eingesetzt, und das führt zu          In Deutschland aber hat nie-         die eigene Situation besser erfas-
den vielen Absurditäten, die wir         mand den Schwarzen den Blues         sen kann, beschreibt schon He-
erleben.                                 geklaut und damit viel Geld ge-      gel in seiner Dialektik von Herr
                                         macht. Im Gegenteil. Das Spie-       und Knecht. Es ist daher richtig,
Die soziale Frage spielt eine            len von sogenannter „Negermu-        dass die Änderung der Verhält-
untergeordnete Rolle                     sik“ war Widerstand gegen die        nisse damit beginnen muss, die
   Warum es keine Gesellschafts-         Nazis und später auch in der         Betroffenen zu hören und ernst
analyse ist und wenn es als sol-         DDR subversiv. Das sollte wohl       zu nehmen. Es ist aber eine Ver-
che eingesetzt wird, in keinster         anders bewertet werden.              ballhornung dieser Erkenntnis,
Weise progressiv ist, lässt sich            Da nun aber diese Theorien        wenn man nun meint, Weiße
am Beispiel der sozialen Frage           wie Gesellschaftsanalysen ge-        dürften gar nichts mehr dazu sa-
am deutlichsten zeigen. Es gilt          handelt werden, gab es immer         gen. In der Konsequenz würde
aber für andere Bereiche ge-             wieder Kritik daran, dass die so-    es übrigens dazu führen, dass die
nauso. Die soziale Frage spielt          ziale Frage nicht auftaucht. Die     Chancen, Rassismus und Unge-
in der Identitätspolitik und im          Vertreterinnen dieser Theorien       rechtigkeiten abzubauen, deut-
Intersektionalismus eine unter-          führen nun die Kategorie des         lich sinken dürften.
geordnete Rolle. Das ist auch            Klassismus ein. Also: es gibt Se-       Ich glaube übrigens, dass es
nicht verwunderlich, denn dafür          xismus, Rassismus, Klassismus,       einigen Protagonistinnen genau
sind sie nicht entwickelt wor-           Ableismus und viele andere Dis-      darum geht: Sie wollen Rassis-
den. Viele Poststrukturalisten,          kriminierungen.                      mus nicht bekämpfen, sondern
zu denen etwa auch Foucault ge-             Klassismus beschreibt die         präservieren. Wozu sollten sie
hörte, sahen sich als Marxisten          Diskriminierung von Menschen         denn sonst forschen? Aber das
oder Post-Marxisten. Aber po-            unterer Schichten. Diese Dis-        ist ein anderes Thema.
litische Ökonomie war nicht ihr          kriminierung soll aufgehoben                             HANNAH WETTIG
Untersuchungsgegenstand. Für             werden wie die anderen Diskri-             Stellvertretende Sprecherin der
den Intersektionalismus und die          minierungen auch. In der Konse-                  Berliner Säkularen Grünen
Critical-Whiteness-Theorie gilt,         quenz heißt das, dass das Arbei-
dass sie in den USA entwickelt           terkind dieselben Chancen haben        Der Artikel beruht auf einem
wurden. Und in den USA tut man           soll, Millionär zu werden wie das    Vortrag, den die Autorin auf der
sich generell schwer mit der so-         Millionärskind. Aber dass es Ar-     Klausur der Bundesarbeitsge-
zialen Frage.                            beiter gibt und Millionäre, wird     meinschaft Säkulare Grüne am
   Das verweist übrigens auf ein         in diesem Ansatz nicht kritisiert    17. April 2021 hielt.

hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 7-8/2021                                                                       67
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