BAUAUSSTELLUNG ODER KOOPERATIVE RAUMPRODUKTION? 2 / 2021

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STANDPUNKTE 2 / 2021

                          K ATALIN GENNBURG UND ISABELLE VANDRE

                          BAUAUSSTELLUNG ODER
                          ­KOOPERATIVE RAUMPRODUKTION?
                          LINKE STADTENT WICKLUNGSPOLITIK IN BERLIN UND BRANDENBURG 2021

                          Die Architektenkammern Berlin und Brandenburg wollen im Rahmen einer Internationalen Bauausstellung (IBA) 2020–
                          2030 die Hauptstadtregion in den Blick nehmen. Doch in der stadt- und raumplanerischen Praxis ist es Zeit für einen Para-
                          digmenwechsel. Kooperative Raumproduktion und selbstbestimmte Aneignungsprozesse von unten werden längst vie-
                          lerorts praktiziert. Sie müssen gestärkt und über die Landesgrenzen zwischen Berlin und Brandenburg hinweg entwickelt
                          werden, anstatt sie im Rahmen einer gemeinsamen IBA durch alte Denkmuster zurückzudrängen.

                          1 BAUAUSSTELLUNGEN UND                                         te der vermeintlichen Gewinner*innen in den Mittelpunkt
                          IHR ­H ISTORISCHES ERBE                                        gestellt und die die ausgestellten Bauten nicht im Stile von
                          Die erste Internationale Bauausstellung fand 1901 auf der      Werbeartikeln präsentiert hat, nämlich die IBA Emscher Park
                          Mathildenhöhe in Darmstadt statt. Damals war es der Groß-      1989–1999. Sie sah ihre Aufgabe darin, den Strukturwan-
                          herzog, der durch die Bereitstellung von Land den Bau ei-      del im Ruhrgebiet zu begleiten, und war insofern vom Un-
                          ner Künstlerkolonie ermöglichte. Hier sollten neue Lebens-,    tergang der Kohleindustrie und ihrem zerstörerischen Erbe
                          Arbeits- und Wohnformen präsentiert werden. Seit dieser        geprägt: jahrzehntealte Schlote, Umweltkatastrophen durch
                          ersten IBA blicken wir auf ein Jahrhundert solcher Ausstel-    die Kohlegewinnung, unterirdische Fragmentierung und
                          lungen zurück. Dabei ist das Erbe dieser Bauausstel-                Erdrutschgefahren sowie die enorme wirtschaftliche
                          lungen, insbesondere für Linke, also auch linke                           und gesellschaftliche Krise durch den Wegfall des
                          Städtebauer*innen und Stadtforscher*innen,                                  dominierenden Arbeitssektors im größten Bun-
                          Anlass zu kritischer Auseinandersetzung.                                    desland der Bundesrepublik. Die IBA Emscher
                             Bauausstellungen stehen in der Tradition                                 Park entwarf eine städtebauliche Perspektive
                          der großen Weltausstellungen, wie wir sie seit                              für die schrumpfende Region Ruhr nach dem
ROSA LUXEMBURG STIFTUNG

                          dem 19. Jahrhundert kennen. So wurden et-                                   Ende des Bergbauzeitalters und für eine neue
                          wa 1851 in London während der ersten Welt-                                  Ära nach der Industrialisierung. Damit stellte
                          ausstellung der Crystal Palace im Hyde Park                                 diese IBA auch die Systemfrage und verband
                          gebaut und 1889 der Eiffelturm in Paris. In Berlin                       Fragen der Postwachstumsgesellschaft mit denen
                          erinnern uns das Gartendenkmal Treptower Park, die et-            des Städtebaus und der Raumordnung.
                          lichen Baudenkmale in seiner nahen Umgebung sowie die
                          Archenholdsternwarte an die bekannteste und größte Ge-         2 BERLIN, BRANDENBURG UND DIE IBA –
                          werbeausstellung 1896 in Treptow. Erst 2018 widmete sich       ­ RÜHER UND HEUTE
                                                                                         F
                          eine Ausstellung im Bezirksmuseum der kaum bekannten           Berlin schaut auf zwei große Bauausstellungen in der Nach-
                          Geschichte der «1. Deutschen Colonial-Ausstellung», die in     kriegszeit zurück: die Interbau 1957 und die IBA 1987. Seit
                          diesem Rahmen stattfand und bei der das Deutsche Reich         bald zwei Jahrzehnten gibt es immer wieder Anläufe, eine
                          mehr als 100 Menschen als lebende Objekte zur Schau            neue IBA in Berlin zu veranstalten. Hierin findet sich aller-
                          stellte.                                                       dings schon der eigentliche Skandal: Während es nicht ein-
                             Die Bauausstellungen sind ebenso wie der Städtebau          mal gelingt, das Erbe der vergangenen nachhaltig zu sichern
                          und die Stadtentwicklungspolitik immer Zeugnis der Gesell-     und die Bauten der IBA 1987 für Spekulationspreise die
                          schaftsgeschichte. Es stellt sich deshalb die Frage: Wessen    Besitzer*innen wechseln, wird zwar über eine neue Bauaus-
                          Geschichte wird erzählt und auf welche Weise? Es gibt aus      stellung diskutiert, nicht aber über das Erbe der vergangenen
                          linker Perspektive eine einzige IBA, die nicht die Geschich-   und was sich daraus lernen ließe.
In Brandenburg fand zwischen 2000 und 2010 die IBA            Stadtplanung, doch unterbesetzte Stadtplanungsämter ge-
Fürst-Pückler-Land statt, die ein Instrument zur Begleitung      raten – nach Jahren der kommunalen Austeritätspolitik und
des Strukturwandels in der Lausitz war. Zwar konnte für die      des Sparzwangs – immer öfter in Konflikt mit Investorenpla-
30 Einzelprojekte, wie die Gartenstadt Marga oder die Sla-       nungen und Großprojekten in sogenannten Boomregionen.
wenburg Raddusch, eine individuelle Perspektive geschaf-         Das ist seit Jahren Standard in Berlin und Brandenburg und
fen werden, doch der Gesamtblick auf die Lausitz und die Be-     geht zulasten der Sicherung des öffentlichen Interesses. Da-
darfe der in der Region lebenden Menschen, die fortgesetzt       mit muss Schluss sein!
und insbesondere im nächsten Jahrzehnt mit fundamenta-              Mit der Ära des Betongoldes, die mit der europäischen Fi-
len Veränderungen konfrontiert sind, fehlte. Hier helfen keine   nanzkrise vor mehr als zehn Jahren begann, haben sich die
Beispielprojekte – auf den Tisch muss eine zivilgesellschaft-    Eigentumsverhältnisse unserer Wohnhäuser ebenso verän-
lich entwickelte Gesamtperspektive.                              dert wie die Bereitschaft der Berliner Mieter*innen, sich etwa
   Wenn die Architektenkammern Berlin und Brandenburg            mithilfe eines Volksentscheids über die Vergesellschaftung
jetzt eine neue IBA auf die Agenda setzen, müssen wir fra-       großer Immobilienkonzerne zur Wehr zu setzen. Die For-
gen: Wie soll sie aussehen und für wen wird sie veranstaltet?    derung einer Rückaneignung der Stadt wird nicht nur von
   «Wir geben euch die Stadt zurück!» ist das Versprechen,       stadtpolitischen Initiativen erhoben, sondern kommt auch
das die Berliner LINKE inhaltlich über die Stadtgrenzen hi-      in Bodenankäufen und einer deutlich entschlosseneren Vor-
nausträgt und das ihren politischen Entscheidungen die           kaufsrechtsausübung durch den Berliner Senat zum Aus-
Richtung weist. Mit drei großen stadtentwicklungspoliti-         druck. Diese neue Idee von Rückaneignung von städtischen
schen Volksentscheiden und einem laufenden Volksent-             Gemeingütern hat sich auf Bundesebene leider noch nicht
scheid zur Vergesellschaftung von (spekulativ bewirtschaf-       so stark durchgesetzt, und immer wieder konterkarieren
tetem) Wohnraum, der ehemals in öffentlichem Eigentum            Bundesbehörden neue Wege der Gemeinwohlorientierung
war, ist die Bewegung, die für eine gerechtere Stadt kämpft,     in der Stadtpolitik – etwa die Bundesanstalt für Immobilien-
in Berlin sehr stark. Auch wenn sich die Strukturen in Bran-     aufgaben (BImA) –, wenn es um Grundstücke oder Sozial-
denburg auf den ersten Blick fundamental von jenen in Ber-       wohnungskontingente in der Bundeshauptstadt geht.
lin unterscheiden, so gilt auch für suburbane und ländliche         Wenn wir heute über eine IBA sprechen, dann dürfen wir
Regionen: DIE LINKE erhebt den Anspruch, den Menschen            über die Platzbesetzungen in etlichen Ländern Südeuropas
Entscheidungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten zurückzu-         im Zuge der Eurokrise und die damit eingeläutete Ära ei-
geben, um ein gutes Leben in allen Landesteilen führen zu        nes neuen Munizipalismus nicht schweigen. Seit Jahrzehn-
können.                                                          ten organisieren sich Menschen weltweit im Zeichen eines
     Zentrale Anliegen linker Stadt- und Regionalpolitik sind    Rechts auf Stadt und treten in Stadtteilinitiativen, Nachbar-
im Jahr 2021 in Berlin und Brandenburg, die Verfügbarkeit        schaftsprojekten und neuen Genossenschaftsbewegungen
von Grund und Boden für das Gemeinwohl zu steigern so-           für die Rückeroberung des Öffentlichen und eine neue Stadt-
wie Perspektiven dazu zu entwickeln, wie die finanzmarkt-        politik von unten ein.
getriebene Spekulation mit Boden und Wohnraum auf Lan-              Wenn wir heute über das Bauen sprechen, dann können
desebene wenigstens eingehegt bzw. wie der kapitalistische       wir über die Klimakrise nicht schweigen. Allein die Zement­
Verwertungskreislauf unterbrochen werden kann. In Berlin         industrie ist für acht Prozent der globalen CO2 -Emissionen
und im Speckgürtel geht es inzwischen um jedes einzelne          verantwortlich.2 Im weltweit boomenden Bausektor herr-
Haus und seine Mieter*innen. Kommunale Vorkaufsrechte            schen Arbeitsverhältnisse ohne Würde und sklavenähnliche
und eine soziale Bodenpolitik – mit öffentlichen Bodenfonds,     Arbeitsbedingungen. Auch in Berlin, wie das Beispiel der
Bodenbevorratung oder einem Agrarstrukturgesetz, wie es          Mall of Berlin («Mall of Shame») zeigt.
in Thüringen derzeit entwickelt wird – sind die Dreh- und An-       Wenn wir heute über Wohnen sprechen, dann müssen wir
gelpunkte der sozialen Stadt- und Regionalpolitik.               alle Bereiche des Lebens in den Blick nehmen. Hunderttau-
   Ist Verteilungsgerechtigkeit das Ziel, muss die Eigentums-    sende Menschen pendeln täglich zwecks Lohnarbeit zwi-
frage gestellt werden – für ein gutes Leben für alle, in Stadt   schen Berlin und Brandenburg. Was wir erleben ist, dass in
und Land! Wir brauchen keine neuen Werbebotschaften für          den neu entstehenden Quartieren ebenso wie in ländlich ge-
Anleger*innen und Investor*innen weltweit. Stattdessen           prägten Gegenden die kulturelle und soziale Infrastruktur auf
muss die kommunale Handlungsmacht gestärkt und der               der Strecke zu bleiben droht. Doch Leben bedeutet mehr, als
neoliberale Ausverkauf der Städte und Gemeinden gestoppt         zum Schlafen nach Hause zu kommen. Leben bedeutet, dass
werden!                                                          zahlreiche Möglichkeiten sozialer Interaktion zur Verfügung
                                                                 stehen. Es bedeutet, sich Raum selbst aneignen und gestal-
3 STÄDTEBAU UND STADTPOLITIK,                                    ten zu können – ob im Jugendclub, im Nachbarschaftsgar-
ZUKUNFT DORF UND KOMMUNALPOLITIK –                               ten, im Kulturzentrum oder in der Dorfkneipe.
QUO VADIS?!                                                         Wenn wir heute über Berlin und Brandenburg sprechen,
Welche Themen müssen also auf den Tisch, damit eine zeit-        dann tun wir das vor dem Hintergrund des Jahrzehnte wäh-
gemäße IBA überhaupt möglich wird? Wie hat Stadtent-             renden Versuchs, das Verhältnis zwischen den beiden Bun-
wicklungspolitik sich verändert und wer betreibt heute über-     desländern zu definieren. Nach der gescheiterten Länderfu-
haupt noch Städtebau?                                            sion 1996 wurde die Zusammenarbeit zwischen Berlin und
  Wenn wir im Jahr 2021 über eine IBA in Berlin und Bran-        Brandenburg zu Recht an vielen Stellen intensiviert. Einen
denburg sprechen, dann kommen wir an 30 Jahren Ausver-           Großteil der Fragen, etwa der Verkehrsinfrastruktur, kön-
kauf des Öffentlichen und Finanzialisierung der Daseins-         nen wir nur gemeinsam angehen. An vielen Punkten, wie
vorsorge nicht vorbei. Heute stellt sich mehr denn je die        zum Beispiel beim Umgang mit der Wohnungsspekulation
Frage: Wer betreibt überhaupt Städtebau und «Wer plant die       à la «Deutsche Wohnen», die sich längst auch in Branden-
Planung»?1 Kommunale Handlungsmacht entfaltet sich über          burg breitgemacht hat, müssen Berlin und Brandenburg             2
voneinander lernen und gemeinsam für die Interessen der          5 WORÜBER SPRICHT BERLIN?
    Mieter*innen eintreten. Darüber hinaus ist Brandenburg           – D er stadtpolitische Neustart muss auch beim gemeinwohl-
    selbstredend mehr als der erweiterte Metropolenraum Ber-            orientierten Neubau gelingen. Für B­austoffproduktion und
    lins und besitzt eigene, über Berlin hinausreichende Ver-           Baukapazitäten im Sinne einer neuen Bauhütte 2.0 gilt es,
    flechtungsbeziehungen, etwa in Richtung Leipzig, Hamburg            regionale Wirtschaftskreisläufe zu mobilisieren: Ähnlich
    oder mit Polen, deren spezifische Dynamiken und eigenstän-          den kollektiv organisierten Material- und Wissensdepots,
    dige Gestaltungsspielräume Anerkennung finden sollten.              die es seit dem Mittelalter gab – vielerorts zur dauerhaften
                                                                        Sicherung von Sakralbauten –, könnten (Selbst-)Bauge-
    4 WORÜBER SPRICHT BRANDENBURG?                                      nossenschaften gestärkt und Baukapazitäten jenseits des
    –	Berliner Lifestyle versus Brandenburger Scholle? Bran-           kapitalistischen Wettbewerbs gefördert werden, um die
       denburg ist weder ein Naherholungsgebiet für generv-             solidarische Stadtproduktion zu unterstützen.
       te Städter*innen noch ein romantisch verklärter Kreativ-      	Moderne Baumethoden wie 3D-Bauteildruck könnten als
       raum. Auch in Brandenburg geht es um nicht weniger als           öffentliche Infrastruktur nicht nur den innovativen und
       die Verteilungsfrage: Wer kann sich welches Leben wie            gemeinwohlorientierten Neubau, sondern auch das kli-
       lange, wo und zu welchen Konditionen noch leisten? Wie           mafreundliche Baustoffrecycling fördern.
       schaffen wir es, dass nicht der Wohnort darüber entschei-     –	Neubaupolitik ist Klimapolitik und deshalb fordern immer
       det, welchen Zugang Menschen zu demokratischer Teil-             mehr Akteure – von den Architektenkammern bis hin zu
       habe, Kulturräumen oder der Dorfkneipe haben? Die Ant-           Stadtteilinitiativen – Abrissverbote und integrierte Stadt-
       wort kann nur eine am Gemeinwohl orientierte sein. Egal          entwicklung, Vorkaufsrechte und Innenentwicklung statt
       ob Hauptstadt, suburbane Umlandgemeinde, Mittelzen­              immer neuer Stadtquartiere auf der grünen Wiese mit im-
       trum oder Dorf: Überall ist eine gute öffentliche Infra-         menser Neuversiegelung. Es braucht viel mehr Stadtpla-
       struktur die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Le-          nung als bislang, und mit dem Planungsrecht gilt es, den
       ben.                                                             Stadtraum für öffentliche Aufgaben zurückzugewinnen,
    –	Spekulation mit und Ausverkauf von Grund und Boden               statt wie bislang fast ausschließlich auf verbliebenen lan-
       greifen auch in Brandenburg um sich. Immer mehr Flä-             deseigenen Grundstücken Stadterweiterungen in Insella-
       chen fallen so der kapitalistischen Verwertungslogik zum         gen zu betreiben.
       Opfer und stehen nicht für regionale Landwirtschaft, öf-      –	Eine neue Stadtpolitik lebt heute von neuen Bündnissen
       fentliche Nutzungen oder eben für bezahlbaren Wohn-              mit kommunalen Trägern und gemeinwohlorientierten
       raum zur Verfügung. Hier gilt es, entschlossen gegenzu-          Akteuren. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Ini­
       steuern – mit einem Verkaufsstopp für öffentliche Flächen,       tiativen, Genossenschaften und Stiftungen gegründet
       einem Landesbodenfonds, kommunalen Vorkaufsrechten               worden, um die Gemeinwohlorientierung der Stadtpolitik
       und einer Regulierung von «Share Deals».                         wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Daran knüpft die
    –	Seit Jahren ist die Sozialbindung für Wohnraum in                linke Forderung nach der Einführung einer neuen Wohn-
       Deutschland rückläufig. Auch in Brandenburg konnte das           gemeinnützigkeit unmittelbar an.
       Wohnraumförderprogramm den steigenden Bedarf nur              –	DIE LINKE Berlin setzt den Sachzwängen der Investoren-
       teilweise kompensieren. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.      politik Bürgerbeteiligung und Partizipation entgegen. Um
       Denn während die Anzahl derjenigen, die einen Wohnbe-            eine Stadt mit allen und für alle zu planen, ist es notwen-
       rechtigungsschein erhalten können, steigt, schwindet die         dig, die NIMBY-Logik3 zu beenden und Anwohnerproteste
       Anzahl der mietpreisgebundenen Wohnungen. Was wir                sowie Nachbarschaftsinitiativen nicht als Störenfriede zu
       brauchen, ist eine neue Sozialwohnraumoffensive, die un-         verunglimpfen, sondern zu Stadtproduzenten zu machen
       befristet wirksam ist.                                           und produktiv einzubeziehen in eine kooperativ entwickel-
    –	Mietsteigerungen von über 30 Prozent in den letzten Jah-         te Stadtpolitik. Die Stadt mit den Menschen und nicht ge-
       ren, Leerstand unter einem Prozent – das sind nicht mehr         gen sie weiterzuentwickeln ist das Credo der LINKEN in
       allein Phänomene des sogenannten Berliner Speckgür-              Berlin. Dafür hat sie Leitlinien formuliert, die bundesweit
       tels. Sie treffen Brandenburger Kleinstädte inzwischen ge-       Vorbildcharakter genießen.
       nauso wie unmittelbar an Berlin angrenzende Kommunen.         –	Seit dem erfolgreichen Volksentscheid in Berlin für die
       Deshalb müssen auch hier das Recht auf Wohnen, eine              Freihaltung des Tempelhofer Flugfelds 2014 wird der öf-
       neue Wohngemeinnützigkeit sowie die Nutzung und Er-              fentliche Raum der Stadt neu verhandelt. Mit der Pande-
       weiterung des ordnungspolitischen Werkzeugkastens der            mie erfährt er als sozialer Raum, der allen gehört, neue
       Städte und Gemeinden in den politischen Fokus gerückt            Aufmerksamkeit. Während die Regierungsparteien um
       werden.                                                          ein Kleingartenflächensicherungsgesetz ringen, wird auch
    –	Ob ökologische Bauweise, bezahlbare Mieten oder Bar-             ein neuer Pakt für die Grünflächen der Hauptstadt gefor-
       rierefreiheit – die Anforderungen an modernes Wohnen             dert. Ähnlich dem Dauerwaldvertrag, der im Zuge der Ent-
       sind hoch. Viele Kommunen tun sich schwer damit, den             stehung von Groß-Berlin 1915 zur Sicherung der Berliner
       wohnungspolitischen Herausforderungen gerecht zu wer-            Waldflächen geschlossen wurde, fordern Umweltaktive
       den. In zu vielen Kommunen existieren keine Wohnungs-            die gesetzliche Sicherung aller Grünflächen.
       unternehmen in kommunaler Hand und wenn doch, neh-            –	Stadtpolitik ist Bodenpolitik. Deshalb müssen über Erb-
       men ihnen – insbesondere den kleinen unter ihnen in der          baurechte und Bodenrechte neue Trägermodelle und
       Fläche des Landes – horrende Altschulden selbst 30 Jah-          Stadtpartnerschaften vorangetrieben werden. Der Run-
       re nach der Wiedervereinigung oft sämtliche Spielräu-            de Tisch Liegenschaftspolitik wurde in Berlin mit der For-
       me. Mit einem Altschuldenschnitt und einer Landeswoh-            derung nach dem Ende der Grundstücksprivatisierungen
       nungsbaugesellschaft müssen Städte und Gemeinden                 im Zuge der haushaltspolitischen Sanierungspolitik nach
3      daher wieder handlungsfähig gemacht werden.                      dem Berliner Bankenskandal gegründet. Grundstücksbe-
wertungen und Bodenpreisregime gehören für eine neue          rarindustrie- und Energiegewinnungsregionen missverstan-
   Stadtpartnerschaft ebenso zur Diskussion gestellt wie ei-     den wurden, neue Aktualität.
   ne neue Bodenbevorratungspolitik und Vergaben an ge-             (3) Wie meistern wir die Herausforderung, ländliche Räu-
   meinwohlorientierte Dritte zu vergünstigten Konditionen.      me in einem positiven Sinne zu repolitisieren? Jenseits von
–	Stadtpolitik beginnt beim Boden und seiner Verteilung für     Pauschalurteilen und Ressentiments über die Anfälligkeit
   die Nutzungs- und Zweckbestimmungen einer Stadt. Ber-         der ländlichen Bevölkerung gegenüber extrem rechten Par-
   lins Flächennutzungsplan von 1994 ist vollkommen über-        teien, jenseits eines von oben aufgedrängten landesplaneri-
   holt. Planungstheoretisch und -praktisch ist Berlin noch      schen Rezepts gegen die Zersiedelung könnten Reallabore
   immer zweigeteilt: In Westberlin gilt nach wie vor der Bau-   für die Zukunft des Zusammenlebens geschaffen werden.
   nutzungsplan von 1958 und in Ostberlin wird weitgehend        Hier träfen Alteingesessene und Zugezogene in einem Gras-
   nach Paragraf 34 Baugesetzbuch im «unbeplanten Innen-         wurzelprozess aufeinander, in dem sie als Expert*innen ihres
   bereich» geplant. Darüber liegen hier und da Masterpläne      Raums diesen selbstbestimmt gestalten – ohne auf die Funk-
   aus den 1990er Jahren und zahlreiche uralte Bebauungs-        tion als Ventil für die überlastete Metropole Berlin reduziert zu
   pläne für Grundstücke, die etliche Male die Besitzer*innen    werden. Nicht Tabula rasa, sondern behutsame Erneuerung
   gewechselt haben. Hier muss ordentlich ausgemistet            überkommener und Bewahrung bewährter Strukturen stün-
   werden.                                                       den dabei im Mittelpunkt. Aufgabe der «Nicht-Bau-IBA» in
–	Seit vier Jahren erlebt Berlin immer wieder neue Haus-        diesem Prozess müsste es sein, dem im ganzheitlichen Sinne
   besetzungen. Die drei Regierungsparteien verabredeten         Raum zu geben und auf diese Weise einen Entwicklungsan-
   sich, perspektivisch eine neue Berliner Linie der Vernunft    satz jenseits vermeintlicher Sachzwänge einer durchkomodi-
   gegen die Räumung von Besetzungen von spekulations-           fizierten Stadt- und Raumplanung zu ermöglichen.
   bedingten Leerständen zu etablieren. Ähnlich wie in an-          (4) Wie schaffen wir es, direkte Partizipation und Aneig-
   deren europäischen Metropolen gilt es, im Zeitalter der Fi-   nung in Raumstruktur- und Raumordnungsprozessen der
   nanzmarkt- und Immobilienspekulation auch in Berlin die       beiden Länder gemeinsam zu ermöglichen sowie kleinteilige
   soziale Nutzung gegen den Leerstand zu stellen.               Veränderungen zu einem Mosaik der Metropolregion Bran-
–	Wie etliche andere Großstädte weltweit ringt die Berli-       denburg-Berlin zusammenzusetzen, damit diese – ohne gro-
   ner Landesregierung seit Jahren um eine stadtpolitische       ße Bauexponate und Ikonen von Stararchitekten – Schwarm­
   Ausrichtung als «Smart City». Da sich hiermit enorme pri-     orte des ländlichen und kleinstädtischen Lebens in einem
   vatwirtschaftliche Investitionen in Stadtentwicklungspro-     größeren Metropolenkontext initiieren?
   jekte verbinden und die Stadt somit gleichsam datenpo-           (5) Wie gelingt es, die zunehmend durch Privateigen-
   litisch, aber auch stadtentwicklungspolitisch vor völlig      tumsverhältnisse begrenzten Entwicklungs- und Aneig-
   neue Herausforderungen stellen, ist dies eines der großen     nungsmöglichkeiten der Städte und Kommunen zu entfal-
   Themen unserer Zeit, das auch Fragen nach Mietenpolitik       ten? Das Problem ist nicht der fehlende Ideenreichtum der
   und stadträumlicher Verdrängung auf die Tagesordnung          Berliner*innen und Brandenburger*innen für solidarische
   bringt.                                                       Wohn- und Lebensformen, es ist das Privat- und Unter-
                                                                 nehmenseigentum an Wohnungen und Boden, das diesen
6 FAZIT: IBA WAR GESTERN –                                       Entwicklungen entgegensteht. Diese Fragen können zwar
KOOPERATIVE RAUMPRODUKTION IST HEUTE                             durch unterschiedliche Akteure diskutiert und Modelle ent-
Bevor eine IBA-Debatte überhaupt geführt werden kann,            wickelt werden, entschieden werden kann die grundlegende
müssen aus unserer Sicht folgende Fragen geklärt werden:         Frage der Eigentumsverhältnisse jedoch nur politisch.
   (1) Wie werden die vorhandenen, ungenutzten Bauwerke               Die stadt- und raumpolitischen Themen und Diskus­
reaktiviert? Wie kann die vorhandene Siedlungsstruktur in        sionen liegen auf dem Tisch und längst arbeiten etliche Ini­
Berlin und Brandenburg intensiver genutzt werden, sodass         tiativen an einem Paradigmenwechsel in Stadtplanung
die immer noch wachsende Flächennachfrage innerhalb der          und Stadtpraxis. Deshalb sagen wir: Berlin und Branden-
teils jahrhundertealten Siedlungstypologie gestillt wird? Es     burg brauchen keine x-te IBA, die sich mit bauwilligen
geht um eine Reduzierung leer stehender, teils stark sanie-      Lobbyist*innen vermählt. Die Städtebaudebatte muss weg
rungsbedürftiger Bauwerke, darunter Gehöfte und verlasse-        vom leiernd vorgetragenen «alternativlosen» Konzept, man
ne Plattenbauten in Kleinstädten, an einigen Stellen auch um     müsse nur ausreichend neu «bauen, bauen, bauen». Die
einen Ersatzneubau innerhalb des vorhandenen Siedlungs-          gemeinsame Diskussion um Stadtproduktion in Stadt und
bilds. Insofern könnte eine IBA, die sich nicht auf das Bau-     Land muss zwischen Berlin und Brandenburg weiter ausge-
en konzentriert, sondern auf den Umgang mit dem IBA- und         baut und alternative Raumproduzent*innen müssen für eine
Bauerbe, das Renovieren, Sanieren und Bauen im Bestand           gemeinwohlorientierte Allianz gewonnen werden.
zum Hauptthema machen und die Potenziale teils leer ge-             Die vorliegende Initiative der Architektenkammern für eine
fallener Orte und Regionen in Brandenburg, aber auch Leer-       IBA Berlin-Brandenburg 2020–2030 lehnen wir deshalb ab.
stand und Brachen im Berliner Siedlungsgebiet aufzeigen.         Berlin und Brandenburg leiden nicht unter Ideenmangel. Es
   (2) Wie gehen wir mit der Rückkehr ins Ländliche und in die   gibt genug zu diskutieren – gemeinsam mit Stadtinitiativen
Kleinstädte, mit dem Hinausziehen aus der dichten, in den        in einer kooperativ verstandenen Entwicklung von Stadt und
letzten Jahren hyperverdichteten Stadt ins Grüne um, ohne        Region. Es geht darum, die Ansätze des neuen Munizipalis-
die Fehler der Suburbanisierung der 1970er bis 1990er Jahre      mus international zu vergleichen und regional zu evaluieren.
zu reproduzieren? Angesichts der Hitze- und Dürresommer          Unsere Aufgabe wird es sein, nach der Forderung und dem
sowie aktuellen und zukünftigen Pandemien gewinnt das            Versprechen «Wir geben euch die Stadt zurück!» zu evalu-
Thema der gleichmäßigeren raumordnenden Verteilung der           ieren, wie weit wir in den letzten Jahren gekommen sind.
Bevölkerung durch eine Rückgewinnung verlassener ländli-         Vollzugsdefizite sind anzunehmen, aber es gibt auch schon
cher Räume, die einseitig durch Marktkapitalisierung als Ag-     Erreichtes. Darauf sollte eine Debatte um Sinn oder Unsinn          4
einer IBA aufbauen und darüber bleiben wir selbstverständ-         1 Vgl. Burckhardt, Lucius: Wer plant die Planung?, Berlin 2004. 2 WWF – World Wide Fund
                                                                   For Nature: Klimaschutz in der Beton- und Zementindustrie. Hintergrund und Handlungsop-
lich im Gespräch und bringen uns weiterhin konstruktiv in          tionen, Berlin 2019, S. 5. 3 Das Akronym NIMBY steht für Not In My Backyard und damit
Debatten um zeitgenössische Fragen des Städtebaus und              sinnbildlich für diejenigen, die ihren eigenen Hinterhof oder Garten gegen bauliche Verän-
                                                                   derungen verteidigen und damit städtebauliche Veränderungen verhindern. Als Schimpf-
der Raumentwicklung ein. Sollten diese Entwicklungen wei-          wort soll die Bezeichnung zum Ausdruck bringen, dass Individualinteressen gegenüber
                                                                   Gemeinwohlpolitik zurückzustehen haben. Allerdings disqualifiziert es dadurch jeden Bür-
terhin keine Berücksichtigung bei der Planung finden, leh-         gerprotest und schließt Verhandlungsräume darüber, was Gemeinwohlorientierung in den
nen wir eine IBA Berlin-Brandenburg 2020–2030 auch wei-            konkreten Fällen überhaupt sein soll.

terhin klar ab.

Katalin Gennburg ist Mitglied der Linksfraktion im Abgeord­
netenhaus von Berlin und Sprecherin für Stadtentwicklung,
­Tourismus und Smart City. Isabelle Vandre ist wohnungs- und
 ­mietenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Brandenburger
  Landtag.

                                                                   IMPRESSUM
                                                                   STANDPUNKTE 2/2021 erscheint online
                                                                   und wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
                                                                   V. i. S. d. P.: Ulrike Hempel
                                                                   Straße der Pariser Kommune 8A · 10243 Berlin · www.rosalux.de
                                                                   ISSN 1867-3171
                                                                   Redaktionsschluss: April 2021
                                                                   Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin
                                                                   Satz/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation

                                                                   Diese Publikation ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit
                                                                   der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie wird kostenlos abgegeben
                                                                   und darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden.
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