Unterschied zwischen der EU und Italien im Hinblick auf den Schutz der Bevölkerung vor elektromagnetischen Feldern

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               Unterschied zwischen der EU und Italien im
                Hinblick auf den Schutz der Bevölkerung
                   vor elektromagnetischen Feldern ∗
                                          Prof. Dr. Livio Giuliani
                     National Institute of Occupational Safety and Prevention (ISPESL),
                      Via Caesare Pavese 89, I-00144 Rom, Italien, l-giuliani@libero.it

Der unterschiedliche Ansatz zwischen Italien und anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union
bezüglich der Problematiken zum Schutz der Bevölkerung gegen die elektromagnetischen Felder,
zeigte sich während der Diskussion zur Befürwortung einer Gesetzgebung durch die Kommission
COM (98)268 DEF CNS 0167, die durch den Rat der EU am 12. Juli 1999 (Befürwortung Nr. 519)
(0) mit Stimmenmehrheit angenommen wurde.

Das Prinzip der Vorsichtsmaßnahme
Während der Befürwortungsdiskussion hat Italien, mit Bezugnahme auf den Europäischen Entschluss
A3-0238/94 vom 5. Mai 1994 (1), für die Notwendigkeit einer Beschlussfassung durch die EU be-
züglich der elektromagnetischen Felder, über das Vorsorgeprinzip enthalten im Artikel 130 R der Rö-
mischen Verträge, plädiert.

Obwohl diese Befürwortung einen allgemeinen Hinweis auf den Europäischen Entschluss A3-
0238/94 enthält, hat der Rat der EU nicht die Absicht, diesen so weit auszudehnen, um denselben in
die Befürwortung hinsichtlich des Vorsorgeprinzips einzuschließen.

Das derzeitig aktive deutsche Präsidium vertritt die Meinung, dass das Vorsorgeprinzip nur für die
Umwelt anzuwenden sei, während die Frage der Exposition der Bevölkerung eine Angelegenheit der
Gesundheit ist. Auf dieses Gebiet würde sich, laut dem derzeitigen deutschen Präsidium, der Art. 129
der Römischen Verträge beziehen, deshalb wurde der Verweis auf diesen Artikel in den definitiven
Text der Befürwortung aufgenommen (nunmehr Art. 152.4.2 der Verträge von Amsterdam).

Italien kann diese Stellungnahme bezüglich der Nichtanwendbarkeit des Vorsorgeprinzips bei elek-
tromagnetischen Feldern des deutschen Präsidiums nicht teilen, die damals von der Gemeinschaft
unterstützt wurde.

Die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips beim Umweltschutz, bildet einen wesentlichen Grund der
Anwendung bezüglich des öffentlichen Hygiene- und Gesundheitswesens, und noch mehr in einem
Bereich, wie dem Schutz der Bevölkerung vor einer Verschmutzung mit körperlichen Folgen, wie den
elektromagnetischen Feldern, die auf die Bevölkerung einwirkt, die in der Umgebung solcher Felder
lebt.

Vor kurzem hat die Kommission ein Rundschreiben ergehen lassen (Februar 2000), in dem sie den
Mitgliedsstaaten empfiehlt, das Vorsorgeprinzip in den Bereichen Gesundheitswesen und Arbeit an-
zuwenden, abgesehen von dem Bereich der Umwelt. Endlich führt auch die Weltgesundheits-
organisation mit einem Dokument (2), das durch das Pressebüro am 28. März 2000 verbreitet wurde
(ein Dokument, das u.a. von der italienischen Presse verzerrt dargestellt wurde), eine Überprüfung
der „cautionary policies“ ein, die von verschiedenen Ländern angewendet wird und sich auf den

∗
    ) Übersetzung: Language Promotion, Zell am See, Österreich

                                                                                                   139
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Beschluss der Londoner Konferenz „Gesundheit und Umwelt“ von 1999 bezieht, in der festgelegt
wurde, dass die WHO „strikt“ das Prinzip der Vorsichtsmaßnahme anzuwenden hat.

Basisgrenzwerte und Referenzwerte
Die Untergliederung der Aufstellung der Einschränkungen in Basisgrenzwerte (basic limits) und Re-
ferenzwerte (reference levels), eine entliehene Untergliederung aus den Leitfäden der ICNIRP (3),
wurde von Italien als ungeeignet beurteilt, da sich diesbezüglich zwei Ordnungsfragen aufwerfen:

1) Die erste bezieht sich auf die instrumentale Natur der Referenzwerte (ein vorgelegter Abände-
   rungsantrag schlug vor, die Referenzwerte als Aussetzungsgrenzwerte anzuwenden), als investi-
   gation levels angesehen, anstatt als einzuhaltende und nicht zu überschreitende Grenzwerte.

2) Die zweite bezieht sich auf die nicht messbare Natur der Basisgrenzwerte und die Nichtüberein-
   stimmung der angewendeten Modelle, um die Referenzwerte ab den Basisgrenzwerten zu be-
   stimmen: Die Nichtübereinstimmung zwischen ICNIRP und CENELEC (4) bei der Bestimmung der
   Referenzwerte für das elektromagnetische Feld bei technischen Frequenzen ist verblüffend. Das
   rein ohmsche Widerstandsmodell, angewendet für die Bestimmung des zugeführten Stroms in
   den menschlichen Körper kann nicht gebilligt werden, auch für die Frequenzen die sich in Dut-
   zenden von Kilohertz ausdrücken, nämlich dort, wo die Kapazitätsströmungen nicht unterbewer-
   tet werden können, die in das Gewebe eindringen (5).

3) Eine dritte Reihe an Problemen wurde durch die von der ICNIRP durchgeführten Vorgehensweise
   (und neuerlich von der Kommission vorgeschlagen) aufgeworfen, zur Bestimmung der Basis-
   grenzwerte und der Referenzwerte, beginnend bei der Schwelle der festgestellten gesundheitli-
   chen Auswirkungen, insbesondere mit Rücksicht auf den Basisgrenzwert der SAR. Es wurde fest-
   gestellt, dass das Bezugsniveau für die SAR mittels Anwendung der anthropometrischen Maße
   eines erwachsenen Mannes mit normalen körperlichen Proportionen bestimmt wurde und über
   die normale Kapazität der Wärmeregulierung: Diese Anwendung würde keinen gleichwertigen
   Schutz für die Bevölkerungsteile liefern, die entweder empfindlicher sind oder eine eingeschränkte
   Kapazität der Wärmeregulierung haben (6).

Demzufolge hat Italien beantragt, dass jede ausdrückliche Bezugnahme auf ICNIRP gestrichen wird,
in Anlehnung dessen, hat das europäische Parlament eine dementsprechende Abänderung zur Be-
fürwortung der Gesetzgebung im Bereich des Beschlusses vom 10. März 1999 (7) formuliert.

Bemerkungen des italienischen Gesundheitsministers zum begleitenden Bericht
der Kommission über den Resolutionsantrag

Bezugnehmend auf die beiden o.g. Themen:

n Annahme des Prinzips der Vorsichtsmaßnahme
n Ablehnung der Untergliederung zwischen Basisgrenzwerten und Referenzwerten

bilden die, durch Italien vorgetragenen, wesentlichen Abänderungen zur Beschlussformel der Befür-
wortung und im Einzelnen zu Punkt II der Beschlussformel.

Diese Abänderungsanträge entspringen nicht nur einer unterschiedlichen Bewertung des Risikos (risk
assessment), sondern auch einem unterschiedlichen Ansatz des Umgangs mit dem Risiko (risk mana-
gement), auf dem Prinzip der Vorsichtsmaßnahme basierend.
Die unterschiedliche italienische Bewertung des Risikos hält sich an die rationale der EU-Norm, die
aus dem Begleitreferat der Kommission zur Befürwortung des Antrags COM(98)268 DEF 98/0166
CNS (7) zu entnehmen ist.

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Die italienischen Einwände zu den durch die Kommission, im letzten Dokument gemachten Bemer-
kungen, sind in Anhang 1 des Dokuments der italienischen Stellungnahme wiedergegeben, bezüglich
der Befürwortung des Antrags durch den Rat der EU COM (98)268 DEF 98/0166 CNS (6), während
die Stellungnahme zur Beschlussformel der Befürwortung des Antrags in der Anlage II desselben Do-
kuments wiedergegeben wird. Die italienischen Einwände beziehen sich sowohl auf die Bemerkungen
zum risk management als auch auf die zum risk assessment, im Dokument der Kommission enthalten.
Obgleich im italienischen Dokument die Bemerkungen zum risk management vor denen zum risk
assessment kommen, werden sie hier in umgekehrter Reihenfolge aufgeführt.

Einwände zu der Präambel der Kommission bezüglich risk assessment
Fürs erste kann Italien die Auffassung der Kommission nicht teilen, nach der

„inzwischen die Mechanismen bekannt sind, auf Grund derer die elektrischen und magnetischen
Felder – sowohl statisch als auch zeitbedingt schwankend – in direkter Weise auf das menschliche
Gewebe einwirken“.

Das italienische Dokument bestätigt, dass „die Wirklichkeit komplizierter ist; es verschiedene Recher-
chetheorien gibt und dies ist zu verdeutlichen“.

Der Kommission wird folgende Beanstandung vorgelegt:
Die Abwegigkeit der Behauptung und folglich die Überzeugung, nach der die gesundheitlichen Aus-
wirkungen nicht nur in den sogenannten festgestellten Auswirkungen bestehen, d.h. dem Wär-
meeffekt oder Kurzzeiteffekten durch die Induktion von magnetischen Wechselfeldern, sondern so-
gar die Interaktionsweise der Felder mit dem Gewebe, wären lediglich die, die den gesundheitlichen
Auswirkungen unterliegen, nämlich:
n Die thermische Bewegung der Wassermoleküle im Gewebe durch den Effekt der elektromagneti-
  schen Strahlung.
n Stromführung induziert im Gewebe durch elektromagnetische Wechselfelder mit Industriefre-
  quenz.
n Die Unterlassung von Informationen hinsichtlich des Vorhandenseins von anderen vielfachen
  Ansätzen seitens verschiedener Forscher, zur Erklärung der Interaktions-Mechanismen zwischen
  elektromagnetischen Feldern und biologischem Gewebe.

Ferner weist Italien auf den rückständigen Ansatz der Kommission zum Thema der Karzinogenese
und der Cokarzinogenese und die Behauptung der Kommission als „überraschend“ bezeichnet hin,
nach der:

es „äußerst unwahrscheinlich“ sei, dass ein „nicht genotoxisches“ Agens (wie die Kommission über-
zeugt ist, dass dies auf die nicht-ionisierenden elektromagnetischen Felder zutrifft) „auf das Auftreten
der Krebserkrankung irgendeinen Einfluss haben könnte“.

Italien wendet ein, dass diese Behauptung „nicht mit der vor kurzem durchgeführten Untersuchung
der Krebsentstehung übereinstimmt und eindeutig im Widerspruch zu den epidemiologischen Daten
steht. Der krebserzeugende Mechanismus schließt sowohl genetische als auch epigenetische Prozesse
ein. Die Karzinogenese ist ein multifaktorielles Phänomen und die im Spiel befindlichen verschiedenen
Mechanismen sind nicht wechselseitig exklusiv, sondern tragen zusammen zur neoplastischen Pro-
gression bei“.

Schließlich widerspricht Italien den abschließenden Behauptungen der Kommission, für die:

„die epidemiologischen Daten unzureichend sind, um einer Befürwortung für eine Expositionsgrenz-
werte zuzustimmen“ und „die Daten sind nicht ausreichend, um eine Basis zur Festlegung von Nor-
men bezüglich der Exposition zu bilden“

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unter Hinweis auf den Widerspruch dieser Behauptungen, mit dem Eingeständnis – im selben Doku-
ment der Kommission enthalten -, von „wissenschaftlichen Untersuchungen, die eine Erhöhung des
Risikos von bestimmten Krebsarten bestätigen, wie Leukämie, Tumoren des Nervengewebes und,
wenn auch im begrenzten Maße, des Brustkrebses, unter dem Personal, das im elektrischen Bereich
arbeitet“ sowie unter Bezugnahme, wenn auch nur als Zitat angeführt, der „epidemiologischen Da-
ten über das Risiko von Krebserkrankungen als Folgeerscheinung bei Aussetzungen an Felder mit
extrem niedriger Frequenz (ELF), unter den Personen, die in der Nähe von Hochspannungsleitungen
leben“.

Italien weist darauf hin, dass es unter diesen Voraussetzungen angebrachter gewesen wäre, zu einem
Schluss, wie das NIEHS (National Institute of Environmental Health Sciences, USA) zu kommen: „die
elektrischen und magnetischen Felder mit äußerst niedriger Frequenz sind als mögliche Krebserzeuger
für den Menschen in Erwägung zu ziehen“;
und des Weiteren, „die Klassifizierung der elektrischen und magnetischen Felder mit 50/60 Hz als
mögliche Krebserzeuger ist eine Vorsichtsmaßnahme des öffentlichen Gesundheitswesens, basierend
auf einer begrenzten Evidenz eines erhöhten Risikos der Leukämie bei Kindern, im Zusammenhang
mit der Exposition im Wohnviertel und einer zunehmenden Häufigkeit der chronischen lymphati-
schen Leukämie assoziiert an die Exposition während der Arbeit“ (9).

Die Auswirkungen der Radiofrequenzen und der Mikrowellen, die von der Kommission berücksichtigt
wurden, sind lediglich Wärmeeffekte.

Die möglichen Langzeiteffekte und die wissenschaftlichen Arbeiten, die diese Effekte zeigen, wurden
nicht beachtet (10). Die Spezifität der individuellen Antwort auf die thermische Last, verursacht durch
die elektromagnetische Strahlung, mit besonderer Rücksicht auf Drogen- und Alkoholabhängige
blieb unbeachtet (6).

Einwände zu der Präambel der Kommission bezüglich risk management
Es wird gegen die Behauptung Einwand erhoben, nach der:

mangels Gewissheit über einen umweltbedingten Risikofaktor lediglich eines zu tun bleibt, nämlich
die Forschung zu fördern.

Italien schlägt eine Annäherungsweise an das risk management vor, unter Berücksichtigung von:
„die Ergebnisse, wenn auch nur partial, den Unsicherheitsfaktor akzeptierend und die Reproduzier-
barkeit des Faktors zum Verständnis der damit zusammenhängenden biologischen Mechanismen
fördernd“: Das Prinzip der Vorsichtsmaßnahme „zählt zur Bestimmung der passenden Evidenz, um
die Entscheidungen auszuarbeiten: Die Präsenz von Unsicherheitsfaktoren wird nicht geleugnet, son-
dern berücksichtigt, indem deutlich die Tatsache formuliert wird, dass bei der Festlegung der Grenz-
werte die nötigen Vorsichtsmaßnahmen angewendet werden. Mit einem Ansatz dieser Art wird das
Ziel verfolgt, die Situationen zu bewältigen, in denen der Unsicherheitsfaktor durch diejenigen ver-
leugnet wird, die dennoch agieren wollen und ausgedehnt auf diejenigen, die ein Interesse daran
haben, eine Aktion zu verzögern. In einer Gemeinschaft, in der man einen Schaden an der Gesund-
heit befürchtet, aufgrund von ganz bestimmten Umweltexpositionen, könnte das Vertrauensverhält-
nis mit den Technikern brechen, falls man sich auf die Ungewissheit beruft, um das Fehlen vorbeu-
gender Aktionen zu entschuldigen. Im Umweltbereich sind nämlich Situationen, in denen die wissen-
schaftlichen Daten nicht ausreichend sind, um auf einer endgültigen Lösung zu bestehen, an der Ta-
gesordnung und keine Ausnahme, und dennoch wird eine Entscheidung getroffen.“ (6).

Literatur
(1)   European Parliament, Resolution A3-0238/94, May 5 1994
(2)   WHO, Press Bureau, Electromagnetics fields: cautionary policies, Geneva March 2000
(3)   ICNIRP, Guidelines for limiting exposure to time varying electric, magnetic and electromagnetic
      fields (up to 300 GHz), Health Physics, 74,4, April 1998

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(4)   CENELEC, Prestandard ENV 50166-1, 1994
(5)   Schwan HP, Biophysical Principles of Interaction of ELF fields with living matter, NY, Plenum
      Press, 1985
(6)   Italian Government; Italian Position concerning the Proposal of Recommandation of EU Council
      COM (98) 268 Def 98/0166 CNS, Acts of Council of Health Ministries, November 12 1998
(7)   European Parliament, Resolution March 10 1999
(8)   European Commission, Proposal of Recommandation of Council COM (98) 268 Def. 98/0166
      CNS, April 1998
(9)   NIEHS, Assessment of Health Effects from Exposures to Power Line Frequency Electric and
      Magnetic Field, USA NIH Publ. 98-3981, August 1998.
(10) Repacholi M. Et al., Lymphomas in Eu-Pim 1 transgenic Mices exposed to pulsed 900 MHz
     EMF, Rad. Research, 147, May 1997.

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