Venedig - Eine akustische Einladung - Lost in Music - SWR.de
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Lost in Music Venedig – Eine akustische Einladung Von Cristiana Coletti und Wolfgang Hamm Sendung Mittwoch, 29.06.2022, 20:05 Uhr Redaktion: Dr. Anette Sidhu-Ingenhoff Sprecher*innen: Marion Meinka, Bernd Reheuser, Wolfgang Hamm Produktion: SWR 2022 SWR2 Lost in Music können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Die SWR2 App für Android und iOS Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. Alle Sendung stehen mindestens sieben Tage lang zum Nachhören bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App: abonnieren, offline hören, stöbern, meistgehört, Themenbereiche, Empfehlungen, Entdeckungen … Kostenlos herunterladen: www.swr2.de/app
1 Musik: Nino Rota – O Venezia, Venaga, Venusia (3:44) (Musik zu „Il Casanova“ di Federico Fellini, tr. 1) Ansage: Heute „VENEDIG - Eine akustische Einladung“ von Cristiana Coletti und Wolfgang Hamm (Musik wieder freistehend, dann unter Text) Sprecher: Egal, ob man mit dem Flugzeug, dem Zug oder dem Auto ankommt - die Ankunft in Venedig ist jedes Mal ein mehrfacher Schock. Zum einen erlebt man die allmähliche Trennung vom Land und damit von sicherer, stabiler Erde, die Nabelschnur zum Festland wird langsam und physisch spürbar durchschnitten, man fühlt sich ausgesetzt, das Empfinden, an einem Endpunkt und gleichzeitig auf einer Insel angelangt zu sein, führt zu einem Zustand diffuser Erregung und großer Erwartung, in den sich - wie häufig bei der Ankunft auf einer Insel - ein leichter Freiheitsrausch mischt. Schon mit dem ersten Vordringen ins Innere der Stadt beginnt die Wirkung eines verschwenderischen und betörenden Zaubers. Die Bauten scheinen dem Wasser entwachsen und gerade noch auf ihm zu schweben, während die sonst bewegte, oft auch Gefahr bringende Flut stillgelegt und gebändigt erscheint und dadurch nichts anderes mehr ist als ein glatter Spiegel, ein Verdoppeln, Steigern und Umschmeicheln der großen Kulissen aus weißem Stein. Dieses Mit- und Ineinander von Stein und Wasser, von Hartem und Weichem, schafft ein nie gesehenes, vor allem aber nie für möglich gehaltenes Ensemble. Seine außerordentliche Schönheit entsteht durch eine Täuschung oder Verwechslung: Der Stein erscheint nachgiebig und weich, geformt durch eine rätselhafte Ästhetik, die an die Unterwasser-Ästhetik sonst verborgener Naturbauten in den Fluss- oder Meerestiefen erinnert, das Wasser aber glatt, solide und dauerhaft, wie das Terrain einer märchenhaft neuen, geschenkten Erde. Es ist, als hätten geheime und sonst nie zueinanderfindende Phantasien des Menschen und der Natur hier zum einzigen Mal auf glückliche Weise etwas Drittes entstehen lassen: eine Stadt zwischen Himmel und Erde,
2 zwischen Meer und Land, geschaffen durch eine Kunst der Übergänge und Grenzverschiebungen. Ein Geheimnis Venedigs hat genau mit dieser allmählichen Verwandlung zu tun. Ausgesetzt in einem verwirrenden Kosmos von größter, anfangs aber nie ganz zu durchdringender und daher rätselhaft und anziehend bleibender Schönheit, fixiert der Fremde das Rätsel, er umkreist und bestaunt es ununterbrochen (…). Nach einigen Tagen oder Wochen verliert er das Zeitgefühl, die Welt außerhalb, „draußen“, ist nicht mehr von Belang, von zentraler Bedeutung sind jetzt die Rätsel des venezianischen Kosmos, bis hin zu den winzigsten Details der Gliederung und des Aufbaus einer Hauswand irgendwo auf einem der zahlreichen Campi. (Hanns-Josef Ortheil - Venedig. Eine Verführung) Atmo: Wassergeräusche an einem Kanal, Möwenschreie, Boote schaukeln Sprecherin: „Hier in Venedig entsteht ein ewiges Ineinander und Gegeneinander von Wegen und Tönen, durch die Grundelemente Wasser, Luft und Erde. Die Erde, das sind hier die Steine, der Marmor. Und das Feuer, das wird sozusagen zur Metapher für die Musik, die die anderen Elemente anfacht, also die Luft, den Raum und den Marmor Venedigs. Musik: Nino Rota – Pin Penin (0:58) (u.T.) (Musik zu „Il Casanova“ di Federico Fellini) Sprecherin (Forts.): So wird diese Stadt, die gemeinhin als Touristenort gilt, akustisch zu einem Ort, der sich musikalisch, magisch und menschlich immer wieder regeneriert. Es eröffnet sich ein Venedig, das vollkommen ist, eine Stadt voller Überraschungen, die zu endlosem Staunen verführt.“ (Der venezianische Komponist Luigi Nono)
3 Atmo: Boote schaukeln im Wasser eines Kanals, leise Stimmen, verhaltene Schritte Sprecher: Ein feiner Sonnendunst kauert noch zwischen den Häusern und lagert auf den Kanälen. Du gehst durch die schmalen, gewundenen Gassen (die Calli), von deren Böden die nächtliche Feuchtigkeit aufsteigt, bald aber fluten die ersten Sonnenstrahlen hinein in das Dunkel, es ist, als triebe es das Licht zu den Wassern (…). Eine Seite Deiner Gasse liegt noch im Schatten, die andere aber hat schon die Sonne gepackt und trocknet sie aus, Du schleichst durch dieses Zwielicht, indem Du unaufhörlich zwischen Hell und Dunkel changierst. (…) Du schaust auf einen schmalen Kanal, in dessen Wasser sich der Himmel und die vielfarbigen Hauswände spiegeln. Du erkennst einige scheinbar vergessene Boote, lässig zu beiden Seiten des Kanals postiert und kaum merklich auf der Stelle hin und her schaukelnd. (…) Das Wasser erscheint in seiner traurigen Schwere beinahe regungslos und wellt bei genauerem Hinsehen doch langssam auf Dich zu oder unmerklich von Dir weg. (…) So ist Dein Gehen ein geleitetes, kanalisiertes Fließen und Strömen, Du fließt durch die Calli, in denen die Sonne aufblitzt und sofort wieder verschwindet, Du strömst und schwappst auf die kleinen Brücken und wieder hinab, sonst aber ist es still, so still, dass jeder Laut Dich einzeln erreicht … Atmo: Kirchenglocke von fern, Piazza San Polo: Kinderstimmen, Kinder rennen, spielen Fußball, weitere Stimmen, Hundegebell und andere Geräusche auf der piazza Sprecher: Schließlich aber brichst Du Dir Bahn, vor Dir öffnet sich die Weite eines Platzes (eines Campo). Jeder Campo mischt die Einwohner Venedigs auf seine eigene Weise und gruppiert sie dann zu malerischen Tableaus, auf dem Campo San Polo zum Beispiel tummeln sich die venezianischen Kinder, sie
4 fahren auf ihren winzigen Rollern und Rädern, spielen Ball, krächzen mit ihren hohen, nasalen Stimmen, schwirren wie Schwärme winziger Vögel über den Platz, jagen sich und stoßen gurrende Taubenlaute aus, während ihre Mütter, Großmütter, Tanten und Kindermädchen in kleinen Plaudergruppen um die wenigen Bänke stehen. So hat das Ganze hier etwas Dörfliches, es wirkt schlicht, friedlich und seit Jahrhunderten gleich. (Hanns-Josef Ortheil - Venedig. Eine Verführung) Atmo: wieder Piazza San Polo mit Kinderstimmen, Fußball, Hundegebell (dann Übergang zu) Wasser plätschert an Kanal, Boote, Motorboot von ferne, Schritte, Möwenrufe Sprecherin: Venedig hat - im Vergleich zu allen anderen Städten - eine zusätzliche Dimension: die des Wassers. Nichts führt dies so sehr vor Augen wie die venezianischen Häuser, deren Türen auf den Kanal hinausgehen. Es ist immer eine Herausforderung für die geistige Trägheit des Festland-bewohners, sich daran zu gewöhnen, dass diese die eigentliche Tür ist, während die andere, die zum Campo oder zur Calle hin, zweitrangig ist. Ein Moment des Nachdenkens genügt, um zu verstehen, dass die Tür zum Kanal nicht mit einem speziellen Wasserweg verbindet, sondern mit allen Wasserwegen, mit dem weiten Netz der Flüsse, das den ganzen Planeten bedeckt. Und das ist, was man in den venezianischen Häusern empfindet: dass die landseitige Tür zu einem begrenzten Stück der Welt Zugang gibt, zu einer Insel, während die Tür zum Wasser direkt ins Unendliche führt. (Der italienische Schriftsteller Italo Calvino) Musik: Giovanni Gabrieli – Jubilate Deo a 10 (3:14) Erin Helyard - The Splendour of Venice
5 Giovanni Gabrieli – Symphoniae sacrae II (kurz freistehend, dann u. T.) Erin Helyard – The Splendour of Venice Sprecher: „Alte Vergangenheit“ - das bezeichnet in Venedig nur einen einzigen bestimmten Zeitraum, gemeint sind die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, die Jahrzehnte also vor dem Untergang der Republik im Jahr 1797. Noch heute sehnt sich die Stadt insgeheim nach dem Leben in diesen Jahren, sie träumt von ihnen, ja sie nutzt jede Gelegenheit, sich in diese Zeit zurückversetzen zu können, aus keinem anderen Grund gibt es die vielen Läden mit Masken, alten Stoffen und Kostümen, in denen sich die Fremden so gern fotografieren lassen. Unendlich oft und unaufhörlich sind diese Jahrzehnte in Venedig beschworen worden, noch heute wird die Musik Vivaldis an jeder Straßenecke gespielt, noch heute werden die Stücke Goldonis und Gozzis auf den Plätzen und in den Theatern aufgeführt, ganz zu schweigen von den Veduten Canalettos und Guardis aus dieser Zeit, die überall in der Stadt präsent sind, weil sie ihr beweisen, noch immer dieselbe wie früher zu sein, stark gealtert, erbleicht, aber noch immer dieselbe. Es ist, als hätte es die letzten beiden Jahrhunderte nicht gegeben, und wahrhaftig haben sie in Venedig weniger als in allen anderen Städten der Welt etwas ausrichten können, die Bauten der Stadt stehen noch immer am alten Ort und wurden höchstens ein wenig ergänzt, auf leicht melancholische Weise hält die Stadt so an der Illusion fest, ohne die Modeme ausgekommen zu sein und auch weiter auskommen zu können. „Modern“ nämlich ist in Venedig seit dem Ende der Republik und ihrer jahrhundertelangen, großen Machtfülle im gesamten Mittelmeerraum meist » das Fremde « , fremd war die Idee der Habsburger, die Inselstadt durch eine Brücke mit dem Festland zu verbinden, fremd war die moderne Technik, die Venedig Dampf- und Motorboote bescherte, fremd aber waren vor allem die überfallartigen Eroberungen Venedigs durch die Touristen, die sich der Stadt auf Wegen näherten, auf denen sie in ihren Großmachtzeiten nicht zugänglich war.
6 Murrend, anklagend und immer wieder protestierend, hat Venedig sich all diesen Verfremdungen geöffnet und sie, so gut es eben noch ging, integriert, in seinem Innern aber, da, wo es noch immer für sich ist, wo man seinen uralten Dialekt spricht und die Fremden in den Sicherheitszonen der eigenen Häuser nicht gerne zulässt, hat es sich den Traum einer nicht enden wollenden Vergangenheit bewahrt, wünscht es die ganze Modeme zum Teufel und verehrt Giacomo Casanova, den Hohen Priester und die Inkarnation seiner alten Kultur, seiner Vorlieben, Phantasien und Passionen, jenen Casanova also, der nach einem langen abenteuerlichen Leben ein Jahr nach dem Ende der Republik fern von seiner Heimatstadt im böhmischen Dux starb, als könnte er ohne sie nicht weiterleben. (Hanns-Josef Ortheil – Venedig. Eine Verführung) Musik: Antonio Vivaldi – Vier Jahreszeiten Frühling 2. Satz Largo (2:22) Winter 1. Satz Allegro non molto (3:06) Amsterdam Sinfonietta & Janine Jansen (Violine) Internationaal Kamermuziek Festival 2014 Atmo: Kirchenglocken von fern Sprecherin: Im Winter erwachst du in dieser Stadt, vornehmlich am Sonntag, beim Läuten unzähliger Glocken, als vibriere hinter deinen Gazevorhängen ein gigantisches Teeservice aus Porzellan auf einem silbernen Tablett im perlgrauen Himmel. Du reißt das Fenster auf, und das Zimmer wird im Nu von diesem geläutbefrachteten Dunst draußen überflutet, der zum Teil aus Sauerstoff und zum Teil aus Kaffee und Gebeten besteht. (...) An einem Tag wie diesem hat die Stadt tatsächlich ein porzellan-artiges Aussehen, mit all ihren zinnbedeckten Kuppeln, die Teekannen oder umgedrehten Tassen ähneln, und den schiefen Profilen von Campaniles, die klimpern wie weggeworfene Löffel und sich im Himmel auflösen. (Der russisch-amerikanische Dichter Joseph Brodsky)
7 Atmo: Kaffeehausmusik auf der Piazza San Marco, Menschenmenge, Platzgeräusche Musik: Nino Rota – O Venezia, Venaga, Venusia (Variation) (2:00) (Musik zu „Il Casanova“ di Federico Fellini, tr. 18) Sprecher: Es war Mitte April im letzten Jahr des alten Jahrtausends, als wir die Lagunenstadt erreichten. Die Pension, in der wir abstiegen, hieß »Seguso«, befand sich am Canale della Giudecca und war einmal Schauplatz eines Kriminalromans von Patricia Highsmith gewesen. Jetzt stand sie unter Wasser, denn es herrschte das berühmte Aqua alta, welches Venedig im Frühjahr und Herbst gern heimsucht. Musik: Nino Rota – A pranzo della Marchesa (1:52) (u.T.) (Musik zu „Il Casanova“ di Federico Fellini, tr. 3 und 15) Nino Rota – Pin Penin (Clavicembalo und Toypiano) (0:55) Sprecher (Forts.): Was für ein Aufenthalt! Schon das Mittagessen wurde zu einem absurden Theaterstück. Als sei es ein ganz normaler Vorgang, der sich jeden Tag genauso wiederholte, wurde man in einen Speisesaal gebeten, der völlig überflutet war. Antike Tische, hübsch eingedeckt, Stühle und eine mächtige Anrichte standen im Wasser, das mir bis zu den Knien reichte und immer weiter zu steigen schien. Der Patrone im schwarzen Anzug und hohen Gummistiefeln überließ uns die Speisekarte und fragte, ob er noch einen Gast an unseren Tisch setzen dürfe, einen französischen Herrn, der hier schon seit vielen Jahr- zehnten verkehrte. Monsieur de V., weit jenseits der siebzig, kam mit hochgekrempelten Hosen und ohne Schuhe an unseren Tisch gewatet, stellte sich vor, setzte sich, entfaltete eine blütenweiße Serviette und erklärte ohne weitere Umstände, dass das Wasser, n'est ce pas, doch so viel mehr sei als H₂O, nämlich Symbol für Eros, Geburt und Tod, und nur hier in dieser Stadt könne man sinnlich erfassen, wie bedroht und vorübergehend das Leben wäre und zugleich von welch unerhörter Schönheit. Für die alten Veneter sei die Lagune Fluchtpunkt vor den Gefahren des Festlandes gewesen, aber da
8 draußen liege nun mal der Ozean, der bis in die Stadt hineindringe, und Ozeane, nicht wahr, seien Gräber, die uns Menschen verschlängen. Eine kleinwüchsige ältere Dame kam hereingeschwommen wie ein Fabelwesen, das sich auf ein Seerosenblatt gesetzt hat. Sie steckte bis zum Bauch in Wasser, und ihr Rock hatte sich mit der darüberliegenden Schürze aufgebauscht und wie ein Blätterkranz um ihre Hüfte gelegt. Sie brachte Speisen, wünschte einen guten Appetit und trieb mit der Strömung wieder hinaus in die Küche. (Ulrich Tukur: Die Seerose im Speisesaal) Atmo: Kaffehausmusik auf der Piazza San Marco, Menschenmenge Sprecherin: "Hör auf, allen Vorbeigehenden der Erde obszöne Einladungen zuzuflüstern, Venedig, du alte Kupplerin, die du unter deinem schweren Gewand aus Mosaiken zermürbende romantische Nächte, klagende Ständchen und erschreckende Hinterhalte bereitstellst!" (...) Lasst uns die Gondeln verbrennen, Schaukelstühle für Kretins, und lasst uns die imposante Geometrie von Metallbrücken und rauchgeschwängerten Fabriken in den Himmel heben, um die durchhängenden Kurven der alten Architektur zu beseitigen." (Der Futurist Filippo Tommaso Marinetti) Atmo: immer mächtiger klingendes Glockengeläut von San Marco Sprecherin: Unverwechselbar die Schläge der Marangona in der prickelnden Luft der ersten ruhigen Nacht, weggefegt das Getöse des Karnevals. Laut erklingt die bronzene Stimme,
9 dringt überall ein, in Campi, Gassen und Kanäle aufs Neue mit dem Ton der Gebieterin, hallt wider von Glockenturm und Platz und rollt - rund - über die Dächer meiner Stadt (Laura Voghera Luzzatto. Die Marangona *die tiefste Glocke von San Marco) Atmo: Schritte durch Gassen und Plätze, dann fast Stille, Pfeifen, Männerstimme Sprecherin: Jenseits der üblichen Straßen und Wege, inmitten des Labyrinths, im blinden Dickicht, in diesem dunklen Netz der Gassen, wo man kaum atmen kann, hinter den am Ufer aufgereihten Fassaden entdeckt man sie: unverhoffte Gärten, Grünanlagen, Beete, Rasenflächen, Bäume. Man muss sie sich verdienen, diese schwer zu findenden Lichtungen inmitten des Irrgartens, aber es gibt sie, und sie warten auf uns. Zufällig stoße ich auf eine dieser Grünflächen, sie ist sehr groß und alles in einem: Garten und Beet, wildwuchernder Wald, Rasen, Boccia-Spielfeld und Treffpunkt: ein öffentlicher Platz an der Kirche San Angelo Raffaele. Und es ist gut, dass ich auch sie hier wiederfinde: die alten Klassenkameraden, die still im Schatten Boccia spielen, so als trügen sie nicht die Last eines ganzen Lebens auf den Schultern. (Paolo Barbaro: Gärten) Musik: Tommaso Albinoni - Adagio für Orgel und Streicher (4:37) The New York Classical Players Live April 2017 St. Peter‘s Episcopan Church, Morristown, N.J.
10 Atmo: Schritte in Gassen, Stimmen, allmählich ruhiger werdend, nächtliche Stille Sprecher: Jahrhundertelang ist Venedig dafür berühmt gewesen, dass die Nächte hier nicht enden wollten, erstaunt und begeistert berichteten noch die Fremden des 18.Jahrhunderts von den vielen Theatern mit ihren Aufführungen spätnachts, von den zweihundert Cafes, die niemals geschlossen waren, oder von den unzähligen Casini, in denen sich die Damen und Herren des hohen Adels erst weit nach Mitternacht trafen, um gemeinsam die Nacht zu verbringen. (...) Das ist längst vorbei, jetzt versinkt Venedig, als wollte man nun das andere Extrem übertreiben, viel früher als andere Städte im Dunkel. Die Nacht hat nichts Festliches mehr, eher hat sie nun etwas Spukhaftes, ein paar Spaziergänger begegnen Dir noch, huschen aber sofort ums nächste Eck, einige schwache Stimmen säuseln im Hintergrund, verebben aber bald, niemand verweilt noch lange draußen, nächtliche Unterhaltungen sind nicht beliebt, es ist, als ginge es nur noch darum, der dämonisch wirkenden nächtlichen Stille möglichst schnell zu entkommen. Dir aber gefällt dieses nächtliche Gehen und Streunen, denn erst jetzt hast Du die Stadt ganz für Dich. Niemand steht Dir noch im Weg, niemand lenkt Dich ab, die tiefe Nacht ist die Zeit einer einsamen Führung, Venedig führt Dich jetzt selbst, es öffnet seine weiten Campi und lässt Dich Platz nehmen auf den Stufen seiner Zisternen. Musik: Nino Rota – Canto della Buranella (1:23) (u.T. und freistehend ) (Musik zu „Il Casanova“ di Federico Fellini, tr. 5) Sprecher (Forts.): Es dreht den großen nächtlichen Sternenhimmel über Dir wie zu einem sehr späten vollkommenen Panorama, es lockt Dich mit seinen letzten, süßen Aromen und lässt seine Farben verschwimmen hinter dem immer mehr vorherrschenden Blassgrau der Fassaden.
11 Die Gondeln und Boote erscheinen jetzt wie erstarrt, das Wasser wirkt flach und gesättigt, Du schleichst über die Brücken und kommst schnell voran, es schlägt drei oder vier, Du horchst, nichts, keine Stimmen mehr, nicht das geringste Geräusch ... - und dann ist die pure Schönheit der Nacht plötzlich da, alles ruht in sich selbst, die Häuser und Kanäle rücken zusammen und gruppieren sich in der Stille zu sonst niemals gesehenen, einzigartigen Bildern aus Schwarz-Weiß und goldenem Braun, die Venedig so zeigen, wie es sich selbst in Jahrhunderten zeugenlos, in all seiner Einsamkeit, sah. (Hanns-Josef Ortheil - Venedig. Eine Verführung) (Musik bis Ende, dann trocken) Sprecherin: In der Nacht vom 8. auf den 9. November 2027 bahnte sich das Meer durch die Lücken an der Küste seinen Weg in die Lagune von Venedig, spülte durch die Hotelunterführungen und über die Nehrungen hinweg, gurgelte die Kanäle hinauf und überwand schließlich selbst die gemauerten Schutzwälle. Die Welle zerschellte an der Fassade des Dogenpalasts und schlug schließlich über den Menschen zusammen, die mitsamt der Hunde, Ratten, Vögel ertranken, zwischen den Kaffeetischen und Korbstühlen der Bars und den Fernsehgeräten, die von den strömenden Wassermassen mitgerissen wurden. In den Stunden danach mussten die wenigen überlebenden Ärzte, die im Stadion Sant'Elena ein Feldlazarett aufgeschlagen hatten, entscheiden, wen sie behandelten und wen sie sterben ließen. Irgendwo weit im Norden war die Polkappe ins Meer gestürzt, unter dem gewaltigen Donnern der Eisseen, die sich in die Flüsse der Arktis ergossen. Weiter im Süden, viel weiter im Süden, hatte sich ein anderes Meer über die Lagune ergossen. Die Lagune war ertrunken. Nach tausend Jahren Amphibiendasein war Venedig wieder die tote Sumpflandschaft von einst. (Antonio Scurati: Nova Venezia) Musik: Nino Rota – The Great Mouna (2:02) (Musik zu „Il Casanova“ di Federico Fellini, tr. 4)
12 Atmo: Möwengeschrei, Verladegeräusche von Booten, Stimmen, Wassergeräusche am Kanal Musik: Nino Rota – L‘Uccello magico (1:12) (Musik zu „Il Casanova“ di Federico Fellini, tr. 2) Sprecher: Nach dem Untergang Venedigs werden sie sagen (ihr wisst schon wer) es hat nie eine Stadt auf einer Lagune gegeben Alles Erfindung (…) Legenden beschreiben nur einen erdachten Ort Es ist bloß ein Begriff für eine kanalisierte Anlage Doch nach einiger Zeit am Horizont des Vergessens tauchen die Kuppeln von San Marco auf der Dogenpalast die Piazzetta mit zwei Säulen trotzdem und die Gefängnisse füllen sich mit Leuten die glauben auf dem Canal Grande gefahren zu sein. (Günter Kunert: Venedig II) Musik: Nino Rota – Canto della Buranella (1:23)
13 Nino Rota – Pin Penin (2:38) (tr. 8) (freistehend und u. T.) Absage: Das war die Sendung „Lost in music: VENEDIG - Eine akustische Einladung“ von Cristiana Coletti und Wolfgang Hamm. Es sprachen: Mario Mainka und Bernd Reheuser. Regie und Realisation: Die Autoren. Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Musik: Nino Rota . La Poupée Automate (1:31) (u. T. dann freistehend bis Schluss) (Musik zu „Il Casanova“ di Federico Fellini, tr. 5, 8 und 19)
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