Verantwortung und Verantwortlichkeit in der Psychotherapie

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Verantwortung und Verantwortlichkeit in der Psychotherapie
Phänomenal          Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie                               35

Verantwortung und Verantwortlichkeit in der Psychotherapie
Doris Beneder, Kottingbrunn

Das Wort Verantwortung bedeu-            tische Beruf verlangt die ständige
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tet zunächst einmal antworten,           Auseinandersetzung mit ethischen
jemandem auf etwas antworten.            Fragen, um das Bewusstsein für           In diesem Beitrag setzt sich die Autorin
Es stammt aus dem Mittelhoch-            die mit der Aufgabe verbundene           auf dem Hintergrund einer kritisch-rea-
                                                                                  listischen Position mit dem Begriff der
deutschen mit der ursprünglichen         Verantwortung zu schärfen und
                                                                                  Verantwortung in der Psychotherapie
Bedeutung „sich als Angeklagter          zu fördern. Aus gutem Grund wird         auseinander. Dabei versteht sie Verant-
vor Gericht verteidigen“. Bereits        der Selbsterfahrung und Selbstre-        wortung als eine bestimmte Haltung
die Begriffsdefinition verweist auf      flexion in der Therapieausbildung        gegenüber sich selbst, dem Mitmen-
ein potenzielles Spannungsfeld           deshalb in den meisten Methoden          schen und der Aufgabe. Abgerundet
zwischen persönlich erlebter Be-         zentrale Bedeutung zugeschrieben.        wird der Kurzbeitrag zu Gedanken über
                                                                                  Verantwortung als Sorge um die Insti-
reitschaft zur Übernahme von Ver-
                                                                                  tution Psychotherapie und einige damit
antwortung und der gesetzlichen          Max Wertheimer veranschaulicht           verbundene berufspolitische Aspekte.
Norm. Für Psychotherapeutinnen           in seinen Aufsätzen über „Wahr-
sind im Arbeitskontext das Psycho-       heit, Ethik, Demokratie und Frei-       wahrgenommenen Sachlage, die
therapiegesetz und Ethikrichtlinien      heit“ (vgl. Wertheimer 1991) die        die eigene Person miteinschließt,
von Relevanz. Im Psychotherapie-         gestalttheoretische Herangehens-        ausgehen. In der so verstandenen
gesetz ist die eigene Fähigkeit und      weise an Wertefragen, wie sie           Fähigkeit des Menschen zur Sach-
Bereitschaft zur Verantwortung           sich uns als PsychotherapeutInnen       lichkeit sieht Wertheimer auch das
für eine Berufsausübung „nach            ständig stellen. Der Mensch wird        wichtigste Kennzeichen des freien
bestem Wissen und Gewissen und           stets in seiner Bezogenheit auf die     Menschen. Freiheit ist sowohl
dem aktuellen Stand der Wissen-          Umwelt verstanden (relationales         „eine Bedingung im sozialen Feld“
schaft“ (vgl. Kierein et.al. 1991) als   Menschenbild), wobei diese keine        als auch “eine Gestaltqualität der
Forderung zentral verankert – an-        „neutrale“ Welt darstellt. Vielmehr     Einstellung, des Verhaltens, des
gesprochen ist damit zentral die         ist es eine, in der es spürbare (an-    Denkens und des Handelns eines
persönliche Bereitschaft zur ver-        ziehende oder abstoßende) Kräfte        Menschen“ (Wertheimer 1991,
antwortlichen Berufsausübung. „In        gibt, sodass die geforderte Verant-     118). Die unterschiedlichen Bedin-
der Ausübung ihres Berufes wird          wortlichkeit grundsätzlich aus der      gungen im sozialen Feld bestim-
von Psychotherapeutinnen und             Struktur der Situation erkennbar ist.   men „äußere Freiheit“, während
Psychotherapeuten ein besonders          Man muss jedoch bereit (und fähig)      man Freiheit als Gestaltqualität
verantwortungsvoller Umgang mit          sein (Sachlichkeit), diese Forderun-    der Einstellung als „innere Freiheit“
der eigenen Person, mit der psy-         gen wahrzunehmen und entspre-           bezeichnen kann. Die unterschied-
chotherapeutischen Aufgabe so-           chend zu handeln (Gefordertheit         lichen Entwicklungs- und Lebens-
wie mit jenen Menschen gefordert,        der Lage). In der Gestalttheoreti-      bedingungen der Menschen wirken
mit denen sie durch die Psycho-          schen Psychotherapie (GTP) wird         sich fördernd oder hemmend auf
therapie in eine besondere Bezie-        deshalb die Stärkung der Fähigkeit,     ihre Bereitschaft und Fähigkeit zu
hung eintreten. Darüber hinaus ist       diese situativen Forderungen zu         freiem, sachlichem Verhalten aus.
mit der Ausübung der Psychothe-          erkennen und angemessen darauf          Die grundsätzliche Fähigkeit „in
rapie - nämlich auf wissenschaftli-      zu reagieren, als zentrale Entwick-     schöpferischer Freiheit den Anfor-
cher Grundlage zur Erhaltung und         lungsaufgabe in der Psychothera-        derungen und Möglichkeiten des
Wiederherstellung der Gesundheit         pieausbildung verstanden. Unter         Lebens zu begegnen“ (Walter 1985,
oder zur Reifung und Entwicklung         Gefordertheiten versteht Wert-          136) ist jedem Menschen inhärent.
leidender Menschen beizutragen –         heimer für Menschen spürbare, ihr       In den Worten Wertheimers: „Die
auch eine besondere gesellschaft-        Denken und Handeln in eine be-          Fähigkeit und die Tendenz zu ver-
liche Verantwortung verbunden.“          stimmte Richtung weisende Kräfte,       stehen, Einsicht zu erlangen; ein
(Berufskodex 2012, 3: Hervorhe-          die nicht vom anschaulichen Ich,        Gespür für Wahrheit, Gerechtig-
bungen DB). Der psychotherapeu-          sondern von einer in der Umwelt         keit, für Gut und Böse, für Ehrlich-
Verantwortung und Verantwortlichkeit in der Psychotherapie
36      1/2021                                                           Originalarbeiten aus Theorie und Praxis

     keit [...]“ (Wertheimer 1991, 35) ge-   kritisch-realistischen Position leitet   serung der eigenverantwortlichen
     hört zu den tieferen Schichten der      sich eine Haltung der Achtung und        Lebensführung beizutragen und
     Ich-Bedürfnisse des Menschen.           des Respekts für die phänomenale         die Selbstermächtigung zu stärken.
                                                                                      Klientinnen stellen sich selbst oft
                                                                                      die Frage, ob sie für ein bestimm-
                                                                                      tes Symptom oder eine körperliche
                                                                                      Erkrankung verantwortlich bzw.,
                                                                                      wie diese zumeist sagen, „schuld“
                                                                                      sind. Gerade bei sgn. psychoso-
                                                                                      matischen Beschwerden, wo kein
                                                                                      organischer Befund vorliegt, erle-
                                                                                      ben Klientinnen diese Frage sehr
                                                                                      belastend. Hier gilt es feinfühlig
                                                                                      und achtsam die Klientinnen dabei
                                                                                      zu begleiten, die tatsächlichen Ge-
                                                                                      fordertheiten im Lebensraum zu
                                                                                      erkunden, damit sie entsprechend
                                                                                      differenziert ihre Verantwortlich-
                                                                                      keit wahrnehmen und umsetzen
     © Shane (Unsplash)                                                               lernen. Wenn Veränderungen aus-
                                                                                      bleiben, wie z.B. das Beibehalten
     Auf dem Hintergrund dieses Men-         Welt der anderen ab und sie ver-         ungesunder       Verhaltensweisen,
     schenbildes werde ich nun die Be-       deutlicht, wofür und wem gegen-          liegt dies nicht ausschließlich am
     deutung von Verantwortung in der        über man in der therapeutischen          „mangelnden Wollen“ der Person,
     therapeutischen Beziehung und           Situation verantwortlich sein kann       sondern an einer vielfältigen „Ge-
     der gesetzlich und institutionell       (oder auch nicht).                       mengelage“, die es zunächst ein-
     verankerten Psychotherapie einge-                                                mal zu verstehen gilt, bevor man
     hender erörtern.                        Selbstwahrnehmung und Selbst-            „die Verantwortung übernehmen“
                                             reflexion, sowie ein sachlicher          und Veränderungen umsetzen
     Verantwortung in der                    Umgang mit Kritik sind Kernstück         kann. So gibt es Klientinnen (und
     therapeutischen Beziehung               jeder Therapieausbildung, um sich        Therapeutinnen), die dazu neigen,
                                             selbst tiefer kennen zu lernen und       sich rasch für alles verantwortlich
     Aus kritisch-realistischer Sicht ist    schließlich (in der therapeutischen      zu fühlen und solche, die jegliche
     nicht von einer therapeutischen         Situation) von sich absehen zu           Verantwortung zurückweisen und
     Beziehung auszugehen, sondern           können, um der Gefordertheit der         die „Schuld beim Anderen oder bei
     von einer therapeutischen Bezie-        Lage zu folgen. Wie unterschiedlich      den Umständen“ suchen. Ein Blick
     hung zwischen Therapeutin und           die Anliegen der Klientinnen auch        in die Ratgeberliteratur zeigt, dass
     Klientin im Lebensraum der Thera-       sind, letztlich besteht die Aufgabe      (neoliberale) Gedanken der Selbst-
     peutin und einer therapeutischen        der Psychotherapeutin darin, die         optimierung immer mehr um sich
     Beziehung zwischen Therapeutin          Klientin dabei zu unterstützen, ihre     greifen und in die Psychotherapie
     und Klientin im Lebensraum der          Lebensprobleme zu bewältigen,            hineinwirken. Um dynamische Klä-
     Klientin.                               ihre Entwicklung zu fördern und ihr      rungsprozesse anzustoßen, braucht
                                             in angemessener Form beizuste-           es Therapeutinnen, die auch um
     Verantwortung für die                   hen (vgl. Stemberger 2018).              die nicht-psychologischen mate-
     Haltung zu sich selbst                                                           riellen und gesellschaftlichen Le-
                                             Aufgabe der Klientin ist es, ihre        bensbedingungen ihrer KlientInnen
     Therapeutin und Klientin sind auf       persönlichen Wahrnehmungs- und           wissen, wie z.B. die psychischen
     jeweils unterschiedliche Art und        Handlungsmöglichkeit (mit Unter-         Folgen von Arbeitslosigkeit oder
     Weise dafür verantwortlich, wie sie     stützung der Therapeutin) kennen-        Armut oder Reichtum, und diese
     mit ihren Wahrnehmungen (Gefüh-         zulernen, sowie im gelungenen Fall       nicht mit Ergebnissen psychischer
     len, Gedanken etc.) und der Bezie-      diese zu erweitern und zu differen-      Dynamiken verwechseln. Erst die
     hung zueinander umgehen. Aus der        zieren, um damit zu einer Verbes-        dynamische Analyse der jeweili-
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gen     Bedingungskonstellationen       raus unsachliche „Sonderrechte“        ten, sondern auch mit kritischen,
und eine sachliche Haltung ermög-       abzuleiten.                            vielleicht sogar negativ getönten
lichen die Übernahme von Verant-                                               Beziehungsdynamiken angemes-
wortung.                                Um dieser Verantwortlichkeit gut       sen umzugehen (vgl. Kästl 2007,
                                        nachkommen zu können, trägt            Fuchs 2020), damit es zu keiner
Selbstverantwortung schließt im-        die Therapeutin auch die Verant-       schädlichen Wechselwirkung zwi-
mer eine Mitverantwortung für die       wortung, mit sich selbst angemes-      schen den Dynamiken der Thera-
Gemeinschaften, in denen die Per-       sen fürsorglich umzugehen. Dazu        peutin und denen der Patientin
son lebt, ein. Das Wissen und der       gehört die Sorge um das eigene         kommt (vgl. Stemberger 2016,
achtsame Umgang mit den eigenen         Wohlbefinden genauso, wie die          2017). Vielmehr trägt die Thera-
Bedürfnissen, Gefühlen, Motiven         Wertschätzung gegenüber der            peutin – auf Grund ihrer fachlichen
und Handlungen unterstützt ein          therapeutischen Aufgabe. Auf ein       Kompetenz – die Verantwortung
vollständigeres Erfassen der eige-      ausgewogenes Verhältnis von Be-        dafür, die jeweiligen Verhaltens-
nen psychologischen Situation und       ruf, Freizeit und privaten Kontak-     und Erlebensweisen der Klientin
ermöglicht darüber die Übernahme        ten zu achten, sind Beispiele für      aus der Struktur und Dynamik ihrer
von Verantwortung sich selbst ge-       ein selbstfürsorgliches Verhalten      phänomenalen Welt zu verstehen,
genüber. Übungen und Interventio-       von Psychotherapeutinnen, das          sowie zur ständigen Klärung und
nen, die das unmittelbar anschau-       notwendig ist, um der Aufgabe          Wiederherstellung der Vertrauens-
liche Erleben fördern, tragen dazu      gerecht werden zu können. Sich         beziehung beizutragen. Den offe-
bei, Umstrukturierungsprozesse in       selbst zu achten bedeutet auch,        nen Austausch über die jeweilige
der phänomenalen Welt der Klien-        sich darüber klar zu werden, wie       phänomenale Welt zu suchen und
tin zu unterstützen, damit diese zu     man auf andere wirken kann (the-       dabei die „KlientInnen selbst spre-
einem besser lebbaren Gleichge-         rapeutischer Stil) und wie man die     chen zu lassen“ (Phänomenologie
wichtszustand finden kann. Hilfe        persönlichen Stärken fördern und       treiben), kann als therapeutische
annehmen stellt bereits ein aktives     entwickeln kann.                       Grundhaltung beschrieben wer-
Sich-Einlassen, Öffnen, Etwas-Wol-                                             den: interessiert, empathisch und
len und auch Durchhalten dar (vgl.      Verantwortung für die                  respektvoll gegenüber dem Erle-
Stemberger 2019). Die Patientin ist     Haltung zum anderen                    ben und der Welt der anderen. Die
in der Psychotherapie weder eine                                               Aufgabe und Verantwortung der
passiv „Erleidende“ noch eine (aus-     „Aufgabe und Verantwortung             Psychotherapeutin besteht daher
schließlich) „informiert Entschei-      der Psychotherapeutin ist es, die      darin, vor allem solche Rahmen-
dende“, sondern eine den Prozess        psychotherapeutische Beziehung         bedingungen herzustellen, die die
aktiv Mitgestaltende und Mit-           förderlich zu gestalten und den        therapeutische Situation zu einem
wirkende. Diese Aufgaben wahr-          Rahmen zu schaffen, in dem das         Ort schöpferischer Freiheit (vgl.
nehmen zu lernen ist bereits Teil       sachliche Arbeiten mit der Pa-         Metzger 1962) werden lassen, da-
des therapeutischen Prozesses. Es       tientin stattfinden kann” (Agstner,    mit die Klientin im gelungenen Fall
kann durch bestimmte Rahmen-            Lindorfer, Sternek 2013, 50). Auch     eine angemessenere Ich-Welt Be-
bedingungen (z.B. Psychotherapie        wenn die Therapeutin in ihrer phä-     ziehung entwickeln kann.
im Zwangskontext) auch erschwert        nomenalen Welt die therapeuti-
sein. Je deutlicher die Klientin ihre   sche Beziehung als eine zwischen       Die     therapeutische   Situation
Verantwortlichkeiten wahrnehmen         einer offenen und zugewandten          trägt immer ein gewisses Maß an
kann, desto größer werden ihre          Therapeutin und einer dafür emp-       Asymmetrie in sich, mit welcher
Freiheitsgrade in der Gestaltung        fänglichen Klientin erlebt, kann in    die Therapeutin sorgsam und ver-
ihres Lebens. Behindernde Gesell-       der phänomenalen Welt der Klien-       antwortungsvoll umgehen muss.
schafts- und Lebensbedingungen          tin die Beziehung als eine zwischen    Klientinnen wenden sich in einer
(wie z.B. die unterschiedlichen sozi-   einer von oben herab belehrenden       Situation der Bedrängnis und Not
alen und materiellen Lebensbedin-       Therapeutin und einer sich unver-      an uns und erwarten sich zurecht,
gungen, die Zugehörigkeit zu einer      standen und machtlos fühlenden         dass sie fachlich kompetent und
Minderheitsgruppe u.a.m.) müssen        Klientin erlebt werden. Es liegt im    menschlich zugewandt beglei-
als soziale Tatsachen wahr- und         Verantwortungsbereich der Thera-       tet werden. Den Dynamiken und
ernstgenommen werden, ohne da-          peutin, nicht nur mit positiv getön-   Wirkungen der unterschiedlichen
38     1/2021                                                         Originalarbeiten aus Theorie und Praxis

                                                                                   vorigen Jahrhunderts betrachten,
                                                                                   können wir eine zunehmende In-
                                                                                   tegration des Berufsstandes in das
                                                                                   Gesundheitswesen beobachten,
                                                                                   in dem eine Verlagerung der Ver-
                                                                                   antwortung in Richtung Individu-
                                                                                   um deutlich wird. Gesundheit wird
                                                                                   zum „Konsumgut“ in einem sich ra-
                                                                                   sant entwickelnden „Gesundheits-
                                                                                   markt“ (z.B. die rasante Entwick-
                                                                                   lung der Reha-Einrichtungen in den
                                                                                   letzten 10 Jahren). Psychotherapie
                                                                                   wird zur Lösung sozialer Probleme
                                                                                   missbraucht (z.B. verpflichtende
                                                                                   Psychotherapie beim Bezug des Re-
                                                                                   habilitationsgeldes durch die Pensi-
                                                                                   onsversicherungsanstalt), worüber
                                                                                   der Zug des Ziels in Richtung Neu-
                                                                                   ordnung des Lebens aus dem Fokus
                                                                                   verloren werden kann. Selbstver-
                                                                                   ständlich kann Psychotherapie in
                                                                                   Zeiten gesellschaftlicher Umbruch-
                                                                                   prozesse ebenso einen kreativen
                                                                                   Ort der Selbstreflexion und Neu-
                                                                                   orientierung darstellen, gleichzei-
                                                                                   tig besteht die Gefahr, ihn – ohne
                                                                                   Reflexion der gesellschaftlichen
                                                                                   Bedingungen – in einen Raum der
                                                                                   „Fitness für die Seele“ zu verwan-
                                                                                   deln. Diesem Optimierungsdruck
                                                                                   sind auch Psychotherapeutinnen
                                                                                   ausgesetzt, wenn man an die zu-
                                                                                   nehmenden nachgefragten Spezia-
     © Noah Buscher (Unsplash)                                                     lisierungen am Gesundheitsmarkt
     Machtfelder von Therapeutin und       ren. Wir sollten uns also fragen,       (z.B. ausgewiesen bei Psyonline
     Klientin nachzugehen, sollte des-     inwieweit die aktuellen Rahmenbe-       u.a.) denkt oder an den boomen-
     halb immer Teil der psychothera-      dingungen (gesetzlichen Regelun-        den Fortbildungsmarkt zu speziel-
     peutischen Situation sein, damit es   gen und Richtlinien, Finanzierungs-     len Techniken.
     zu keinen schädlichen Wechselwir-     fragen, berufspolitische Vertretung
     kungen in der Beziehung zwischen      u.v.m.) der Sache der Psychothe-        Menschen in seelischer Not ha-
     Therapeutin und Patientin kommt.      rapie ge-recht werden (oder eben        ben das Recht auf eine sorgfältige
                                           auch nicht) und wer denn dafür          Behandlung unter Wahrung der
     Verantwortung als Sorge um            verantwortlich ist. Psychotherapie      menschlichen Würde und Unver-
     die Institution Psychotherapie        ist immer Teil des gesellschaftlichen   sehrtheit der Person und ihres
                                           Feldes und der Funktion und Rolle,      Rechts auf Selbstbestimmung.
     Wertheimer fragt in seinem Artikel    die der Psychotherapie unter den        Aus diesem zentralen Patienten-
     über Freiheit nicht nur nach dem      gegenwärtigen gesellschaftlichen        recht können sich nicht nur Berufs-
     Wesen des freien Menschen, son-       Bedingungen zugewiesen wird.            pflichten der Psychotherapeutin
     dern auch nach den Bedingungen,                                               (z.B. Geheimnisschutz, Informa-
     Regeln und der Art der Einstellung    Wenn wir die Veränderungen in der       tions- und Fortbildungspflichten
     von Institutionen, die Freiheit er-   Psychotherapie seit der Gesetz-         etc.), sondern auch Pflichten des
     möglichen bzw. zu Unfreiheit füh-     werdung in den 90-er Jahren des         Gesetzgebers (z.B. Führen einer ak-
Phänomenal               Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie                                                39

tuellen Berufsliste...), der Sozialver-            besondere zeigt er auf, dass die                     tung sich selbst gegenüber geprägt
sicherungen (z.B. entsprechende                    Tendenz, Patientenrechte aus den                     ist, statt einer negativ getönten, die
Versorgung zu ermöglichen) und                     Berufspflichten abzuleiten, dazu                     sich bei erster Gelegenheit aufspal-
anderer Gesundheitseinrichtungen                   beiträgt, den Schwerpunkt der                        tet (z.B. „ärztliche Psychotherapie“
(z.B. ausreichende Versorgung der                  Verantwortung für den Erfolg der                     in Form der PSY-Qualifikationen,
Krankenhäuser mit Psychothera-                     psychotherapeutischen Behand-                        die Diskussion um klinisch-psycho-
peutinnen) ableiten lassen.                        lungen auf die Dyade Psychothera-                    logische Behandlung etc.). Über
                                                   peutin/ Patientin zu verlagern und                   vereintes Handeln und die Über-
Stemberger (2011) verdeutlichte in                 darüber von der Verantwortung                        nahme aktiv tätiger Verantwor-
seinem Beitrag, dass der Gesetzge-                 der demokratischen Einrichtungen,                    tung wäre die Berufsgruppe sicher
ber bereits bei der Gesetzwerdung                  für gerechte und der Aufgabe ent-                    in der Lage, allmählich im Gesund-
ein wesentliches Element ungere-                   sprechende Bedingungen in der                        heitssystem den ihr angemessenen
gelt ließ, nämlich die Einrichtung                 Psychotherapie zu sorgen, ablenkt.                   Platz zu erhalten. Diesen Optimis-
einer gesetzlichen Berufsvertre-                   Innerhalb des Gesundheitssystems                     mus schöpfe ich noch aus der Zeit
tung. Dieses Versäumnis trifft nicht               gehört die Berufsgruppe der Psy-                     vor der Gesetzwerdung, wo die
nur die Psychotherapeutinnen,                      chotherapeutInnen immer noch zu                      unterschiedlichen Teilgruppen das
sondern auch deren Patientinnen                    einer wenig einflussreichen Grup-                    Gemeinsame über das Trennende
auch 30 Jahre nach Inkrafttreten                   pe. Dies sollte als soziale Tatsache                 stellten. Diesen Zug zum gemeinsa-
des Psychotherapiegesetzes auf                     anerkannt werden, damit sich eine                    men Ziel wieder zu entdecken wäre
vielfältige Art und Weise (z.B. Feh-               starke Berufsgruppe entwickeln                       höchste Zeit.
len eines Gesamtvertrages). Ins-                   kann, die von einer positiven Hal-

Literatur:
Agstner, Irene; Lindorfer, Bernadette & Kathari-   Metzger, Wolfgang (1962): Schöpferische Frei-        Stemberger, Gerhard (2018): Therapeutische
  na Sternek (2013): Sachlichkeit und Respekt,       heit. Frankfurt am Main: Verlag Waldemar             Beziehung und therapeutische Praxis in der
  Phänomenal, 5(1,2), 47–52.                         Kramer.                                              Gestalttheoretischen Psychotherapie (Praxeo-
Fuchs, Thomas (2020): Vom Miteinander, Ge-         Stemberger, Gerhard (2011): Patientenrechte in         logie I). Phänomenal, 10(2), 20–28.
  geneinander und Nebeneinander in der The-          der Psychotherapie: Herausforderungen und          Stemberger, Gerhard (2019): Therapeutische
  rapie. Anmerkungen zu Struktur und Dynamik         Problemfelder. In: Kierein, M; Leitner, A. (Hg):     Beziehung und therapeutische Praxis in der
  der therapeutischen Beziehung. Phänomenal,         Psychotherapie und Recht. Wien: Facultas,            Gestalttheoretischen Psychotherapie (Praxeo-
  12(2), 17–26.                                      203–230.                                             logie III). Phänomenal, 11(1), 42 –50.
Galli, Giuseppe (2017): Der Mensch als Mit-        Stemberger, Gerhard (2016): Machtfelder in der       Walter, Hans Jürgen (1985): Gestalttheorie und
  mensch. Aufsätze zur Gestalttheorie in For-        Psychotherapie. Teil 1 Kurt Lewins theoreti-         Psychotherapie. Opladen: Westdeutscher
  schung, Anwendung und Dialog. Herausgege-          sches Konzept der Machtfelder. Phänomenal,           Verlag
  ben von Gerhard Stemberger. Wien: Krammer.         8(2), 19–32.                                       Wertheimer, Max (1991): Zur Gestaltpsychologie
Kierein, Michael; Pritz, Alfred & Gernot Sonneck   Stemberger, Gerhard (2017): Machtfelder in             menschlicher Werte. Aufsätze 1934–1940. He-
  (1991): Psychologengesetz. Psychotherapiege-       der Psychotherapie. Teil 2. Phänomenal, 9(1),        rausgegeben von Hans-Jürgen Walter. Opla-
  setz. Kurzkommentar. Wien: Orac-Verlag.            17–32.                                               den: Westdeutscher Verlag.

                                                   Giuseppe Galli
                                                   Der Mensch als Mit-Mensch

                                                   Aufsätze zur Gestalttheorie in Forschung, Anwendung und Dialog
                                                   Herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Stemberger

                                                   Verlag Wolfgang Krammer / Wien 2017 / ISBN 978-3-901811-75-3 / 208 Seiten / € 25,–

                                                   „Giuseppe Gallis konsequentes Streben nach einer angemessenen Berücksichtigung
                                                   beider Pole, des Subjektpols ebenso wie des Objektpols, sowohl in der Forschung
                                                   als auch in allen Bereichen des mitmenschlichen Lebens kommt im vorliegenden
                                                   Sammelband in allen Arbeiten zum Tragen.“
                                                   – Gerhard Stemberger, Einleitung

                                                     Bezug über die ÖAGP: info@oeagp.at
Gestalttheorie-Bibliothek für PsychotherapeutInnen
Hellmuth Metz-Göckel (Hrsg.):                                                      Hellmuth Metz-Göckel (Hrsg.):
Gestalttheorie aktuell.                                                            Gestalttheoretische Inspirationen.
Handbuch zur Gestalttheorie Band 1.                                                Handbuch zur Gestalttheorie Band 2.
314 Seiten. ISBN 978-3901811364. € 32,–                                            246 Seiten. ISBN 978-3901811593. € 32,–

Wer glaubt, Gestalttheorie wäre nur noch eine Fußnote der Geschichte, wird         Der zweite Band des Handbuchs führt den Einblick in die Aktualität der Gestalt-
hier eines Besseren belehrt. 12 Beiträge zeigen den aktuellen Stand gestalt-       theorie in 11 Beiträgen zu weiteren Anwendungsgebieten fort: Philosophie
theoretischer Forschung und Anwendung in Systemtheorie, Kognitions-                (Gestalttheorie und Phänomenologie), Psychotherapie, Psychologie sozialer
wissenschaft, Entwicklungspsychologie, Denkpsychologie, Pädagogischer              Tugenden, Sportpsychologie, Gestalttheorie in der Literatur (Musil), Kunster-
Psychologie, Psychologischer Diagnostik, Sprachwissenschaft, Kunst, Musik-         ziehung, Fotografie, Kunst der Tarnung, Tierpsychologie, Dual-Process-Theori-
wissenschaft und Erziehungspsychologie. Abgerundet durch eine fächerüber-          en in der sozialen Kognition.
greifende Einführung in die Grundideen der Gestalttheorie und eine Geschich-
te der Gestalttheorie in Italien.

Gerhard Stemberger (Hrsg.):                                                        Giuseppe Galli: (Hrsg. und eingeleitet von G. Stemberger)
Psychische Störungen im                                                            Der Mensch als Mit-Mensch: Aufsätze
Ich-Welt-Verhältnis. Gestalttheorie und                                            zur Gestalttheorie in Forschung,
psychotherapeutische Krankheitslehre                                               Anwendung und Dialog.
184 Seiten. ISBN 978-3901811098. € 25,–                                            197 Seiten. ISBN 978-3901811753. € 25,–

Eine Einführung in die Krankheits- und Gesundheitslehre der Gestalt-               In 24 Beiträgen führt Giuseppe Galli in die Grundgedanken der Gestalttheo-
theorie und Gestalttheoretischen Psychotherapie. Mit klassischen Tex-              rie und ihre praktische Bedeutung im Verständnis der Persönlichkeit und der
ten zur klinischen Theorie von Max Wertheimer, Heinrich Schulte, Erwin             zwischenmenschlichen Beziehungen im Alltagsleben und in psychotherapeuti-
Levy, Abraham Luchins und anderen sowie einer Einordnung in aktuelle               schen Zusammenhängen ein.
Diskussionszusammenhänge.

Giuseppe Galli (Hrsg.):                                                            Anna Arfelli Galli:
Gestaltpsychologie und Person: Entwick-                                            Gestaltpsychologie und Kinderforschung
lungen der Gestaltpsychologie                                                      148 Seiten. ISBN 978-3901811661. € 22,–
153 Seiten. ISBN 978-3901811432. € 25,–                                            Anna Arfelli Galli stellt hier eine erstmalige Gesamtschau der
                                                                                   Leitideen, Methodik und Ergebnisse der gestaltpsychologischen
                                                                                   Forschungsarbeiten zur Kindesentwicklung vor. Sie stellt die
Ein Sammelband zu den Grundlagen der gestalttheoretischen Persönlichkeits-         Befunde grundlegender Studien aus den Jahren 1921-1975 in den Kontext heuti-
psychologie. Die Person und ihr Ich – Die Person in Beziehung – Die handeln-       ger Strömungen in der Kinderforschung und zeigt die Aktualität des besonderen
de Person – Entstehung der Person (Entwicklungspsychologie) – Die Person im        Zugangs der Gestaltpsychologie zu den Fragen menschlicher Entwicklung auch
Dialog (Sprache und Kommunikation) – Zentrierung und Person. Mit Beiträgen         über das Kindesalter hinaus. Die Wiederentdeckung der Kinderforschung für das
von Giuseppe Galli, Anna Arfelli Galli, Andrzej Zuczkowski, Ilaria Riccioni, Ma-   Verständnis grundlegender Prozesse in der Psychotherapie macht dieses Buch zu
ria Armezzani.                                                                     einem Standardwerk Gestalttheoretischer Psychotherapie.

Paul Tholey: (Hrsg. und eingeleitet von G. Stemberger)                             Kurt Lewin:
Gestalttheorie von Sport, Klartraum und                                            Schriften zur angewandten Psychologie.
Bewusstsein: Ausgewählte Arbeiten                                                  Aufsätze, Vorträge, Rezensionen.
284 Seiten. ISBN 978-3901811760. € 36,–                                            288 Seiten. ISBN 978-3-901811-46-3. € 28,–

Paul Tholey, einer der namhaftesten Gestaltpsychologen und Pioniere der Be-        Die gestaltpsychologische Feldtheorie Kurt Lewins und die empirischen Un-
wusstseinsforschung unserer Zeit, behandelt in den 11 Beiträgen dieses Sam-        tersuchungen, die ihr zugrunde liegen, gehören zum Kern der Gestalttheore-
melbandes ein breites Spektrum von Fragen, die für die Psychotherapie von          tischen Psychotherapie. Dieser Sammelband macht sie mit einer Vielzahl von
grundlegender Bedeutung sind, auch wenn in vielen dieser Beiträge das Wort         Arbeiten aus unterschiedlichen Anwendungsbereichen, von der Kinderpsycho-
Psychotherapie gar nicht aufscheint. Für transpositionsfähige LeserInnen.          logie über Autokratie und Demokratie bis zur Psychotherapie anschaulich und
                                                                                   praxisnahe zugänglich. Dem Buch liegt eine DVD mit seinen berühmten Filmen
                                                                                   zur Welt des Kindes bei.

Wolfgang Metzger:
Psychologie. Die Entwicklung ihrer
Grundannahmen seit der Einführung des
Experiments.                                                                                     Im Verlag Wolfgang Krammer erschienen
6. Aufl. 2001. 407 Seiten. ISBN 978-3-901811-07-9. € 45,–                                          Nun direkt über die ÖAGP erhältlich:
Für alle Fragen der psychotherapeutischen Praxis ist das Verständnis der in die-
                                                                                                             info@oeagp.at
sem Klassiker der Gestaltpsychologie differenziert und forschungsbasiert be-
arbeiteten Probleme grundlegend. Das Problem des Wirklichen, das Problem
der Eigenschaften, des Zusammenhangs, des Bezugssystems, der Zentrierung,
der Ordnung, der Wirkung, das Leib-Seele-Problem und das Problem des Wer-
dens. Ein unverzichtbares Standardwerk.
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