Verbraucherbildung: Kaufrationalität, Selbstschutz und Verantwortungsfähigkeit - Ingenta Connect
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PR 2021, 75. Jahrgang, S. 33-46 © 2021 Volker Bank - DOI https://doi.org/10.3726/PR012021.0003 Volker Bank Verbraucherbildung: Kaufrationalität, Selbstschutz und Verantwortungsfähigkeit Jeder Mensch, der nicht gerade in einer können und in den eigenen Transaktionen Robinsonade auf einer einsamen Insel ge- bewusst und souverän zu agieren. Die fangen ist, tauscht mit anderen Menschen Unterstellung vollständiger oder kosten- Güter aus. Prinzipiell ergibt sich daraus freier Information, die in der klassisch- eine Aufgabenstellung für die Erziehung, neoklassischen Ökonomie gemacht wird, denn egal, ob die Transaktion in Form von ist für die Theoriebildung hilfreich, in der Waren oder Dienstleistungen direkt als Praxis jedoch weltfremd. In aller Regel Tausch oder indirekt als Kauf gegen Geld hat der Verkäufer gegenüber dem Käufer durchgeführt wird: Jede Transaktion die- einen erheblichen Wissensvorsprung über ser Art ist ein Kaufakt, der das Individuum die qualitativen Merkmale des gehandel- zum Kunden befördert. Zu dieser Rolle ten Gutes, dessen Vorzüge wie dessen des Kunden, die alle betrifft, gehört eben- Mängel. falls die Auseinandersetzung mit ökonomi- Konsumentenerziehung und Waren- schen Fragestellungen. kunde tragen jedoch auch dazu bei, das Dieses schließt die Bewusstwerdung eigene Konsumverhalten mit Blick auf ex- der eigenen Bedürfnisse ein – was ist terne Effekte und Nachhaltigkeit so zu re- mir wichtig für meinen Lebenserhalt, was gulieren, dass schädliche Produkte oder ist mir wichtig als Gebrauchsartikel? Es schädliches Verkäuferverhalten nicht auch schließt die Reflexion über die zur Ver- noch durch Käufe positiv sanktioniert wer- fügung stehenden Mittel ein – was kann den. So können mit Blick auf das Soziali- ich zum Erwerb des Benötigten oder Ge- sationspostulat des neophilanthropischen wünschten einsetzen? Diese Frage stellt Bildungsbegriffs durch ein informiertes sich materiell beim Tausch von Gütern und verantwortungsvolles Handeln Wirt- oder Dienstleistungen genau wie finanziell schaft und Gesellschaft insgesamt voran- beim Kauf. Aber auch Kenntnisse über gebracht werden. die Waren gehören dazu. Deswegen wird man Urteils- und Handlungsfähigkeit im Umgang mit Gütern und Dienstleistungen 1. Konsumentenerziehung dem Kanon der ökonomischen Bildung zuschlagen. Das Thema Konsumentenerziehung (Ver- Von der Seite der Individuation be- brauchererziehung) kam in Deutschland trachtet ist dieses Wissen und dieses erst sehr spät auf. Mit der Konsumen- Reflektieren die Bedingung, mit der in- tenerziehung wurde historisch gesehen formationellen Asymmetrie umgehen zu generell eine Erziehung zur Konsumkritik 1 / 2021 Pädagogische Rundschau 33 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
verbunden. Dass man dieses lange Zeit Angesichts dieser Asymmetrien be- nicht im Blick hatte, lag nicht zuletzt daran, trachtet man es als gerechtfertigt, dass der dass für konsumkritisches Gedankengut Staat eingreift und die Aufgabe übernimmt, in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahr- den Konsumenten zu schützen. Dazu ge- hunderts sehr wenig Raum war. Diese ent- hören die Absicherung von Konsumfreiheit behrungsreiche Zeit war zunächst durch durch Wettbewerbs- und Ordnungspolitik, die beiden Weltkriege, und die jeweils insbesondere aber sollen den Konsumen- folgenden Wirtschaftskrisen geprägt, und ten die Mittel an die Hand gegeben werden, die beiden Boomphasen in den Zwanzi- sich selbst zu informieren und danach zu ger und Fünfziger Jahren waren durch handeln. Ferner gehört dazu die finanzielle einen unkritischen Konsumrausch gekenn- Unterstützung von Verbraucherorganisa- zeichnet. Die Mangelerscheinungen der tionen und Verbraucherberatungen – wie Vergangenheit prägten die damalige Kon- die Stiftung Warentest. Schließlich ist aber sumeinstellung der Menschen.1 Woher auch der Unterricht in Verbrauchererzie- die Produkte kamen und welche Folgen hung an Schulen hinzugetreten.2 Hier zu sowohl der Gebrauch als auch der Ver- einem Teil des Konsumentenschutzes ganz brauch der Güter mit sich brachte, stand eigener Art geworden, denn er setzt bei der nicht im Fokus der Kaufentscheidung. Das Stärkung der Rationalität des Individuums Wirtschaftswunder zog negative Konse- und seiner Fähigkeit zum Selbstschutz an. quenzen nach sich, wie Umweltschäden Trotz der politisch eindeutigen Posi- durch die Automobil- und Bauwelle oder tionierung zu Konsumentenschutz und gesundheitliche Schäden durch den über- Konsumentenerziehung, bleibt die Berück- mäßigen Nahrungsmittelkonsum. Das aber sichtigung einer Konsumentenerziehung waren die Bedingungen, die erste Forde- als didaktische Aufgabe in schulischen rungen nach einer institutionalisierten Kon- Einrichtungen unzureichend. Gerade auch sumentenerziehung nach sich zogen. in der wirtschaftspädagogischen Fach- didaktik rückte aufgrund ihrer eigenen 1.1. Konsumentenerziehung: Geschichte die Konsumentenerziehung Geschichte und Begriff zugunsten der beruflichen Bildung in den Hintergrund.3 Obwohl in einigen Bundes- Obgleich beim Wort ‚Konsumentenerzie- ländern die Verbraucherbildung zeitweise hung‘ ein pädagogischer Ursprung zu ver- als Schulfach eingerichtet worden ist,4 gibt muten wäre, erwuchs die Forderung nach es selten eine Einbindung in eine umfas- Konsumkritik und Konsumverzicht vor sende ökonomische Bildung. Ohne diese allem politischen Postulaten. Besonders aber wird ein Unterricht zur Verbraucher- bei monopolistischen und oligopolistischen erziehung schnell zu einem agrar- und in- Strukturen – also Marktverhältnissen mit dustriekritischen Ideologieunterricht. Das nur einem oder nur einer Handvoll Anbie- führt dazu, dass zwar die Kaufentschei- tern – sieht der Staat den Konsumenten dungen unter Umständen anders als zuvor in einer schutzbedürftigen schwächeren getroffen werden, der Rationalitätsgrad Position. Da selbst bei polypolistischen An- der Entscheidung jedoch in veränderter bieterstrukturen die Möglichkeit besteht, Form, dem Grunde nach aber doch nicht durch passende Marktstrategien eine In- so hoch ist, wie es zu wünschen wäre. transparenz an den Märkten zu erzeugen So wie das Bedürfnis, den Konsu- und diese in unvollkommene Märkte zu menten zu schützen und ihn in Bezug auf verwandeln, sind die Konsumenten oft an das Marktgeschehen zur Mündigkeit zu er- rationalen Entscheidungen gehindert. ziehen, von verschiedenen Seiten und zu 34 Pädagogische Rundschau 1 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
unterschiedlichen Zeiten aufkam, so man- bleibt demzufolge im Rahmen der Konsu- nigfaltig ist der Begriff der Konsumenten- mentenerziehung unzulänglich.9 erziehung.5 Etymologisch bezeichnet das lateinische Wort ‚consumere‘ neben dem 1.2. Ziele und didaktische Ansatzpunkte Verzehr und Verbrauch (die dazu führen, der Konsumentenerziehung dass ein Gegenstand nicht mehr ist) auch der Gebrauch (der die Gegenstände nutzt Kurzgefasst besteht die Intention einer aber nicht sofort oder erst über die Zeit un- Konsumentenerziehung darin, Menschen brauchbar macht). auf die Bewältigung von Problemen vor- Erst mit der Bearbeitung grundlegen- zubereiten, die ihnen beim Kauf und beim der ökonomischer Fragestellungen im Konsum von Gütern und Dienstleistungen Merkantilismus erhielt der Konsumbegriff gegenübertreten.10 Vor diesem Hinter- seine Bedeutung. Er wird als Verbrauch grund ist für die Konsumentenerziehung von Gütern zur Befriedigung bestimmter die Vorbereitung auf eine kritische Aus- Bedürfnisse verstanden6, worin sich eine einandersetzung mit Kaufentscheidungen auffällig enge Beziehung zum Waren- einzufordern, die rational erfolgen sollte begriff von Marx zeigt: Für Karl Marx ist und daher auf umfassenden Informationen ‚Ware‘ ein ökonomischer Grundbegriff beruhen muss. von so zentraler Bedeutung, dass er ihn in Die Edukanden sollen mit der Konsum- seiner ökonomischen Theorie gleich ein- welt, ihren eigenen Bedürfnissen und den gangs bestimmt. Demnach sind Waren Er- Folgen ihrer Kaufentscheidungen konfron- zeugnisse, die durch ihre „Eigenschaften tiert werden, sie müssen ihre eigenen Be- menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art“ dürfnisse und Präferenzen erkennen und befriedigen, also einen qualitativen Ge- sozialen und wirtschaftlichen Restriktio- brauchswert besitzen.7 nen gegenüberstellen können. Das heißt Nach Ablösung der merkantilistischen etwa, dass man keine Impulskäufe tätigt Ökonomik und mit dem Übergang zur (typisches Verhalten ist die Schnäppchen- Klassischen Nationalökonomie rückt das jagd, oder der klassische Kauf von Da- Phänomen ‚Konsum‘ stärker in den Blick, menschuhen). Einzuüben wären kritische wenngleich die Ökonomik in ihren An- Fragen an seine eigenen Präferenzen fängen den Konsum interessanterweise (‚Benötige ich das?‘, ‚Warum gefällt mir aus der Perspektive der Produktion wahr- das?‘), aber auch Fragen an die Finanzier- nahm. So legt Adam Smith unmissver- barkeit (‚Was muss ich diesen Monat noch ständlich fest: „Consumption is the sole kaufen?‘, ‚Reicht mein Geld dafür?‘). end and purpose of all production; and the Diese Auseinandersetzung mit kon- interest of the producer ought to be atten- sumrelevanten Themen soll mithin der ded to, only so far as it may be necessa- Erziehung des Konsumenten dienen und ry for promoting that of the consumer.“8. es muss nicht nur der Kauf an sich, son- In die volkswirtschaftlichen Modelle wird dern auch die einfließenden Gründe und der Konsument zwar als Wirtschaftssub- der Entschluss zu einem Kauf betrachtet jekt ‚Privathaushalt‘ aufgenommen, jedoch werden. Nicht zuletzt diese Auseinan- verhindert die notwendige Komplexitäts- dersetzung mit den Einflussfaktoren des reduktion der Modelle, das Verhalten der Kaufverhaltens ist es, was Bildungswert Konsumenten und ihrer Handlungsgründe aufweist und demnach im Zentrum der mehr als nur pauschalisierend mit abzubil- Konsumentenerziehung stehen müsste.11 den. Der in der klassisch-neoklassischen Dabei darf der Konsument in seiner Ökonomik geprägte Begriff des Konsums Entscheidungsbildung nicht vollständig 1 / 2021 Pädagogische Rundschau 35 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
determiniert sein, nicht alle Freiheitsspiel- sehen mit der wachsenden Freiheit und räume und Konsumalternativen dürfen den vielfältigen Handlungsmöglichkeiten verschwinden. Auf diese Weise ergeben die Notwendigkeit einer ökonomischen sich zwei erziehungsrelevante Pole: die Handlungsfähigkeit und Orientierungsfä- Manipulation zum Konsum auf der einen higkeit gegeben. Es muss demnach also und der Appell zum Antikonsum auf der versucht werden, die Edukanden in die anderen Seite. Die Lehrkräfte haben Lage zu versetzen, ihre Freiheiten nutzen nach Ulrich Pleiß dabei die Aufgabe, den zu können. Dazu muss jedoch als inhaltli- Konsumenten bei der Entwicklung einer che Grundlage das nötige warenkundliche Fähigkeit zur Konsumentscheidung zu Wissen aufgebaut werden. Ferner müs- unterstützen, nicht aber sich zum „Hand- sen die Edukanden handlungsfähig wer- langer der Wirtschaft“ zu machen. Die den und sowohl die eigenen als auch die triviale Lösung gilt gleichwohl nicht: Es Handlungen Dritter in ihrer Qualität und in ist nicht richtig, dass einer der Pole auto- ihren Folgen beurteilen können.13 matisch zielführend sein muss, weil der gegenüberliegende Pol in die falsche Richtung weist; die Rationalität des Kaufs 2. Waren- und ist keine dichotome. Und so wird eine Er- Dienstleistungskunde ziehung zum Antikonsum, zur Askese im Hinblick auf Lebensstandard und Wohl- Tatsächlich gibt es eine ganze Wissen- stand auch nicht weiterführen, jedenfalls schaft, die Warenkunde, die sich dieser nicht in Richtung einer Erziehung zur Mün- Thematik widmet. Sie wurde im 18. Jahr- digkeit und Souveränität. Das Abwerten hundert begründet, in hervorgehobener von Konsumwünschen ist als Erziehungs- Form ist dies mit dem Namen des Göttin- ziel genauso abzulehnen wie der Verzicht ger Professors Johann Beckmann (1739- eines Abhaltens vom Übermaß. Vielmehr 1811) verbunden.14 Seinerzeit war die sollten die Edukanden dazu befähigt wer- Warenkunde vorwiegend auf enzyklopädi- den, zu unterscheiden, was einer sinnvol- sches Wissen orientiert, was gegen Mitte len Lebensführung dienlich sein kann und des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt was ihr zuwiderläuft. Erst wenn die Konsu- erreichte. Das kann heutzutage natürlich mentenerziehung neben dem affirmativen nicht mehr richtungsweisend sein, sodass ein emanzipatorisches Element enthält, derzeit die Warenkunde weitgehend verlo- welches den Menschen dazu verhilft, trotz rengegangen ist.15 aller Einflussnahme ein selbstbestimmtes Anliegen einer zeitgemäßen Waren- Leben zu führen, kann man die Konsu- kunde müsste es sein, mithilfe didaktisch mentenerziehung demzufolge für legitim angeleiteter Lernprozesse Mündigkeit als erachten.12 Verbraucher zu erlangen, sie ist also ein Die Konsumentenerziehung unter- wichtiger inhaltsbezogener Teil einer Ver- liegt der Zielsetzung, die Edukanden nicht brauchererziehung. Das kann aber nicht nur in der Weise zu befähigen, dass sie nur auf einen Begriff von durch ihre Materia- sinnvoll und verantwortlich konsumieren, lität gekennzeichneten Waren rekurrieren, sondern dass sie sich darüber hinaus auf- sondern muss zugleich Dienstleistungen geklärt ihres eigenen Verstandes bedie- in ihrer ganz eigenen Qualität umfassen. nen. Die Kantsche Idee der Mündigkeit Sicherlich gehört zu beidem auch das kon- nehmen auch Retzmann et al. als eine von sumentendidaktisch wichtige Wissen um drei Leitideen in ihrer Schrift über Stan- die vertragsrechtlichen Grundlagen sowie dards der ökonomischen Bildung auf. Sie die Kenntnis, dass Dienstleistungen unter 36 Pädagogische Rundschau 1 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Umständen anderen vertragsrechtlichen Warenkunde vor Jahrhunderten als „Lehre Regelungen unterliegen. Inhaltlich muss von den Eigenschaften, der Gewinnung, am Ende der Gedanke des uno-actu- der Prüfung und der wirtschaftlichen Be- Prinzips von Produktion und Konsum von deutung der Waren.“ Aus seiner Sicht Dienstleistungen verstanden sein. Deutlich sollte Warenkunde der Erklärung und wird, dessen teilweise Durchbrechung Bekanntmachung der fremdartigen und in Sonderfällen (durch Speichermedien) unvertrauten Kolonialwaren dienen, sie und die unterschiedlichen Grade der Mit- systematisch ordnen, zur Identifikation wirkung des Verrichtungsobjekts.16 Das und Prüfung der Waren sowie zur Ermitt- Wissen um den jeweils spezifischen Ge- lung ihrer Herkunft beitragen. Sie sollte die brauchscharakter der Waren oder auch wichtigsten Herstellungsverfahren, Märkte Dienstleistungen ist zweifellos ein Lern- und die Bedeutung der Waren im Wirt- gegenstand mit Aspiration auf Allgemein- schaftsleben beschreiben sowie die unter- heit und zwar dann, wenn die Edukanden schiedlichen Werte verschiedener Sorten eher lernen, gezielt Fragen zu stellen als und Qualitäten erklären.20 Eigenschaften aufsagen zu können. Die begriffliche Festlegung durch Beckmann wurde im Weiteren ausgebaut, 2.1. Begriff der Ware, Warenkunde und interessanterweise als eine „naturwis- die Entwicklung ihrer bisherigen senschaftliche (!) Disziplin von den Ge- Anliegen brauchswerten der Waren“. So formulierte es Grunde und fügt hinzu, dass die Disziplin Der zunächst marxistische Warenbegriff ist speziell „Gesetzmäßigkeiten, Beziehungen oben bereits eingeführt worden. Eine Ware und Erscheinungen [behandle, Erg. durch weist auch eine quantitative Seite in Form VB], die für die Prüfung und Systemati- eines Tauschwertes auf, der sich unmittel- sierung der Waren […] von Bedeutung bar im Verhältnis zu anderen Waren oder zu sind“ und beschäftige sich eingehend mit Geld ausdrückt. Waren können demzufolge der „Ermittlung der Lagerungs- und Pfle- nicht isoliert als solche existieren, sondern gebedingungen von Waren“. Grundke werden erst durch das Tauschpotential an- erweitert seinen naturwissenschaftlichen derer Güter zu Waren.17 In der Warenlehre Begriff der Warenkunde, indem „soweit es werden Waren als „alle beweglichen, direkt für Fragen der Warenprüfung, der Waren- realen Güter bzw. Energielieferungen, aber systematik und der Warenpflege notwen- auch warenbezogene Dienstleistungen, die dig ist, […] auch Produktionsverfahren einen Tauschwert haben“, bezeichnet.18 In sowie Herkunfts- und Absatzgebiete“ Be- dieser weiteren begrifflichen Fassung kön- rücksichtigung finden sollen.21 Diese Art nen besonders Themen der Konsumenten- von Mündigkeit kann nur erreicht werden, erziehung, etwa die Wechselwirkungen von wenn die Verbraucher das Erfordernis der Produktion bis zur Entsorgung auf die des Lernprozesses annehmen und wenn Umwelt und die Gesellschaft, behandelt das Erlernte auch angewendet wird.22 Im werden. Die Bedeutsamkeit dieser Erwei- didaktisch geschützten Raum sollen die terung zeigt sich daran, dass man gar nicht Edukanden bezüglich ihrer Kaufentschei- die Notwendigkeit der sorgfältigen Müllent- dungen sensibilisiert werden. sorgung zu erklären suchen braucht, wenn Wenngleich die Warenkunde erst im die Lernenden kein Grundlagenwissen 18. Jahrhundert disziplinär ausgeformt über die Waren besitzen.19 wurde, so geht die erste warenkundliche Der einleitend erwähnte Johann Beck- Schrift in das 12. Jahrhundert zurück. In mann bestimmte die von ihm mitbegründete seinem „Anleitung zu den Meriten des 1 / 2021 Pädagogische Rundschau 37 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Handels und zum Erkennen von guten etwa in Hamburg oder Magdeburg, als und von schlechten Handelsgütern etc.“ Lehrfach unterrichtet. Durch das Anwach- verband der syrische Scheich Abū al-Faḍl sen des Warenangebots wuchs auch Jaʻfar ibn ʻAlī al-Dimashqī Kenntnisse über das öffentliche Interesse an warenkund- die Waren und den Handel mit moralischen lichen Themen.28 In der Folge wurden Ratschlägen. Die Übermittlung erster wa- Schriften veröffentlicht, welche (1) die renkundlicher Informationen ist ansonsten wichtigsten zeitgenössischen Handelser- ab dem 13. Jahrhundert in Form von Kauf- zeugnisse darstellten, (2) die jeweilige Wa- mannsbriefen dokumentiert.23 renpflege thematisierten und (3) Methoden Reichen die Wurzeln warenkundlicher zum Erkennen von Fälschungen darlegten. Ausführungen folglich bis ins frühe Mittel- Am Ende wurde der Erfolg des Handels alter, so wird eine systematische Waren- mit der Vermehrung verschiedenster lehre erst im 18. Jahrhundert gefordert. Waren den enzyklopädischen Bemühun- Zu dieser Zeit wurde der Handel nach gen der Warenkunde zum Verhängnis, da erfolgter Kolonialisierung globalisiert, die sie unmöglich diesem Tempo folgen konn- einheimische Produktion wurde liberali- te.29 Die Vielfalt wurde zu groß, der perma- siert und in Manufakturen rationalisiert. So nente technische Fortschritt überforderte erreichten neuartige Waren Europa, und die Leser oder Lerner: Wenn Sprangers das Warenangebot expandierte qualitativ These von 1922, dass eine enzyklopädi- und quantitativ.24 Dass ab dem Moment sche Bildung aufgrund der Fülle an Wis- die bildungswirksame Kraft des waren- sen nicht mehr möglich sei, überhaupt je kundlichen Unterrichts erkannt wurde, eines Belegs bedurft hätte, so ist er im Fall zeigt die Forderung Jacob Marpergers der Warenkunde ganz sicher gegeben.30 nach einer Einführung eines warenkundli- Nach dem Ersten Weltkrieg orientier- chen Fachs an höheren Handelsschulen.25 te sich die Warenkunde neu. Die Ware, Damit begründet er einen systematischen deren Eigenschaften, ihre Prüfung und Warenkundeunterricht, der von Karl Gün- Pflege rückten eher in den Hintergrund ter Ludovici weiterentwickelt wurde. Die des Interesses. Faktisch war sie damit Grundsteine für ein umfassendes Sys- aufgelöst. Stattdessen beruhte das Au- tem der Warenkunde waren demzufolge genmerk zunehmend auf Produktionsver- vor über 250 Jahren gelegt.26 Schließlich fahren, Maschinen und Geräte, einzelne hielt Beckmann als erster warenkundliche warenkundliche Institute wurden zu tech- Vorlesungen, sein mehrbändiges Werk nologischen Instituten umgewidmet, mit „Vorbereitung zur Waarenkunde, oder zur der Folge, dass der warenkundliche Unter- Kenntniß der vornehmsten ausländischen richt den Bedürfnissen des Einzelhandels Waaren“ ist für die Verbreitung des Begrif- hinsichtlich der Wissensvermittlung nicht fes Warenkunde sowie für die Handels- mehr gerecht werden konnte. Forderun- geschichte grundlegend und umfasste gen nach einer zweckmäßigen Waren- Informationen zum Warenangebot, zu ihrer kunde im Groß- und Einzelhandel wurden Produktion und ihrem Handel. Übrigens erhoben, blieben aber wirkungslos.31 kam es Beckmann auch darauf an, dass Das bildende Moment ging mit dem nicht nur das Produkt und seine Eigen- Erfolg der Warenkunde als wissenschaft- schaften, sondern auch der Produktions- licher Disziplin unter. Aus allgemeinbilden- prozess vom Rohstoff bis zum Endprodukt der Sicht enthält eine enzyklopädische verständlich wurde.27 Kenntnis ein Übermaß an qualifikatori- Ab der Zeit wird die junge Disziplin Wa- schem oder gar inertem Faktenwissen, renkunde auch an den Handelsschulen, während die die neu in den Blickpunkt 38 Pädagogische Rundschau 1 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
gerückten technischen Aspekte in Über- Erwerbstätigkeit im Dienstleistungsbereich. forderung oder Desinteresse endeten. Sie In allen Lebensbereichen, ob beruflich, ob wurde an mehr als nur wenigen Universi- privaten sind wir stets mit der Inanspruch- täten im deutschsprachigen Raum gelehrt: nahme und Erstellung von Dienstleistungen 1991 wurde in Deutschland der letzte Lehr- konfrontiert. Folglich geraten wir immer stuhl für Warenkunde abgeschafft, der an wieder in Entscheidungssituationen über der Handelshochschule Leipzig verblieben den Erwerb von Dienstleistungen. war. An der Wiener Wirtschaftsuniversität Das Angebot an Dienstleistungen ist wurde das warenwissenschaftliche In massiv angewachsen und damit auch ein stitut mit der Denomination ‚Technologie Stück weit die Bedeutung der Dienstleis- und nachhaltiges Produktmanagement‘ tungen für das tägliche ökonomische Han- Anfang 2013 geschlossen.32 In gewisser deln. Oft fehlen Konsumenten das Wissen Weise ist die Warenkunde damit heimat- und eine kritische Reflexion über den Kon- los geworden - dabei ist sie ein fraglos we- sum bzw. über die Inanspruchnahme von sentlicher Teil der ökonomischen Bildung. Dienstleistungen. Eine souveräne Wahrnehmung der Kon- Die rasante Entwicklung der Informa- sumentenrolle beruht auf der Informiert- tions- und Kommunikationstechnologien, heit über die Fallstricke des Konsums für der Bank- und Versicherungsleistungen Individuum und Gesellschaft. Sie bedarf oder die verstärkte Vermarktung von Finan- daher einer Neuberücksichtigung in der zierungsverträgen beim Absatz von Pro- Wirtschaftsdidaktik. Entsprechendes gilt dukten sind hier als Beispiele zu nennen. für eine Dienstleistungskunde, die es über- Wenn man die Anzahl der abgeschlosse- haupt nur in Grundzügen gibt und die nun nen Mobilfunkverträge betrachtet, so lässt separat betrachtet werden soll. sich ausrechnen, dass aktuell auf jeden deutschen Bürger im Jahr 2020 über 1,7 2.2. Dienstleistungskunde als Teil einer Mobilfunkverträge entfallen.34 Zugleich sind modernen Warenkunde gerade bei Jugendlichen die abgeschlosse- nen Mobilfunkverträge berüchtigte Schul- Der Dienstleistungssektor umfasst defini- denfallen. Dies Beispiel alleine zeigt, dass tionsgemäß Handel, Gastgewerbe, Verkehr eine Warenkunde sich nicht bloß auf die und Nachrichtenübermittlung, Kredit- und materiellen Güter beschränken darf. Versicherungsgewerbe, Grundstücks- und Aus volkswirtschaftlicher Sicht nimmt Wohnungswesen, Vermietung beweg- die Bedeutung von Dienstleistungen also licher Sachen, Erbringung von sonstigen kontinuierlich zu – dabei wurde ihnen wirtschaftlichen Dienstleistungen, Gebiets- lange Zeit gar kein ökonomischer Wert körperschaften und Sozialversicherung, beigemessen. Erstmals geschah das bei Erziehung und Unterricht, Gesundheits-, Jean-Baptiste Say (1767-1832). Für Adam Veterinär- und Sozialwesen sowie Sonstige Smith (1723-1790) und Thomas Malthus öffentliche und persönliche Dienstleistun- (1766-1834), selbst noch Karl Marx (1818- gen. Waren im Jahr 1970 knapp 45 Pro- 1883) waren lediglich materielle Güter zent der 26,6 Millionen Erwerbstätigen im wirtschaftliche Güter. Die Unterteilung früheren Bundesgebiet im Dienstleistungs- in materielle und immaterielle Güter, wie sektor tätig, sind fast fünf Jahrzehnte spä- sie bei Say erstmals erfolgte, bildet auch ter mit über 33,7 Millionen fast 75 % der die Grundlage für die Entwicklung einer Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor Drei-Sektoren-Theorie der Volkswirtschaft, zu verzeichnen.33 Die dargestellte Situa- die auf Colin Clark (1957) sowie Jean tion zeigt einen erheblichen Anstieg der Fourastié (1954) zurückgeht.35 Der erste 1 / 2021 Pädagogische Rundschau 39 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Sektor beinhaltet die primäre Produk- modulen und Vertiefungskursen vorge- tion (Urproduktion, z. B. Landwirtschaft, geben, sie sind also nicht obligatorisch Fischerei), der zweite Sektor die sekundä- zu durchlaufen. Mithin liegt die Entschei- re Produktion (industrielle Produktion) und dung zugunsten der Behandlung solcher der dritte die residuale Produktion (imma- Themen bei den einzelnen Lehrkräften terielle Güter, Dienstleistungswirtschaft). oder bei der Fachgruppe in der jeweili- Die Unterscheidung zwischen der Pro- gen Schule. Geht man davon aus, dass duktion von materiellen und immateriellen eine warenkundliche Unterrichtung und Gütern bestimmt sich folglich über die Zu- Konsumerziehung Teil einer ökonomi- ordnung zu dem entsprechenden Sektor. schen Allgemeinbildung ist, bleibt diese Die definitorische Festlegung von hinter dem von Humboldt formulierten Dienstleistungen wird gleichwohl nie- Allgemeinbildungsanspruch zurück, der mals ganz trennscharf sein, denn auch die Allgemeinheit auch in Bildung für alle im Dienstleistungsbereich entstehen ma- sah. Insgesamt sind in den Lehrplänen terielle Güter, und umgekehrt werden für das Gymnasium nicht nur warenkund- von materielle Güter produzierenden Be- liche, sondern auch konsumerzieherische trieben, teils auch Dienstleistungen wie Inhalte zu wenig vertreten. Allerdings kann Wartungsleistungen oder Beratungsleis- man generalisierend feststellen, dass auch tungen erbracht. Die Abgrenzung von andere ökonomische Inhalte in den unter- Dienstleistungen zu Sachgütern bereitet suchten sächsischen Lehrplänen sehr kurz auch dadurch Schwierigkeiten, dass bei- kommen bzw. randständig sind.38 spielsweise im Gastgewerbe physische Mit Blick auf die spezifischere Aufgabe Produkte durch Rohstoffeinsatz entstehen, einer Behandlung der besonderen Pro indem Nahrungsmittel zu Gerichten ver- blematik von Dienstleistungen findet diese, arbeitet werden. Die Leistung bei einem trotz teils vielversprechender Inhaltsbe- Restaurantbesuch ist mithin keine reine schreibungen der Fächer, ebenfalls kaum Dienstleistung, sondern eine Kombina- bzw. mitunter gar keine Berücksichtigung tion aus einem Sachgüteranteil und einem in den Lehrplänen sächsischer Schulen. Dienstleistungsanteil.36 Zwar hat eine allgemeine Auseinander- setzung mit ‚Bedürfnissen‘ und den damit einhergehenden Zielkonflikten zwischen 3. Praxen von Warenkunde, verschiedenen Bedürfnissen Aufnahme Dienstleistungskunde und in den Lehrplänen gefunden. Die Schüler Konsumentenerziehung lernen, dass Bedürfnisse die Grundlage aller konsumrelevanten Entscheidungen Eine Lehrplananalyse in Sachsen, die vor sind. Dessen ungeachtet fehlt eine wei- einigen Jahren exemplarisch durchgeführt terführende Auseinandersetzung mit dem wurde, zeigt im Ergebnis, dass waren- Thema Dienstleistungen, Wissen über kundliche Inhalte in allen drei untersuchten Dienstleistungen wird in isolierter Form allgemeinbildenden Schularten (Grund- und außerhalb jeder Fachsystematik ver- schule, Mittelschule, Gymnasium) vertre- mittelt. Mit Inselwissen allein ist es jedoch ten sind.37 Sofern Warenkunde behandelt sehr unwahrscheinlich, dass eine kritische wird, zielt die Vermittlung der Inhalte eher Reflexion oder Beurteilung durch die Edu- auf das Erlangen technischer Kenntnisse kanden möglich wird. So ist es auch für und Fähigkeiten ab. diesen Inhaltsbereich unwahrscheinlich, Häufig werden jedoch verbraucher- und dass der anzustrebende Bildungseffekt warenkundliche Themen in Wahlpflicht- am Ende auch eintritt. 40 Pädagogische Rundschau 1 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
In der dualen Berufsausbildung spielt 4. Zusammenfassung: Konsumentenerziehung naturgemäß eine Forderungen an eine nachgeordnete Rolle. Doch auch die all- warenkundlich gestützte gemeinen, berufsübergreifenden Fächer haben kaum konsumerzieherische Inhalte, Verbrauchererziehung obwohl hier offensichtlich viel Potential dafür gegeben wäre, vor allem aufgrund Durch die Einbettung der Waren- und der zeitlichen Rahmenbedingungen dieser Dienstleistungskunde in die Auseinander- Fächer. Allerdings wird man bei ausge- setzung mit der Konsumentenerziehung wählten Berufen fündig: Die Analyse der wird nunmehr noch deutlicher, wie eine Lernfelder des Berufs ‚Bäcker‘ zeigten, ökonomische (und nur mittelbar die tech- dass einer berufsspezifischen Warenkun- nische) konsumentenbildnerische Waren- de nachgegangen wird. In der Ausbildung und Dienstleistungskunde erweitert der Einzelhandelskaufleute werden fachli- werden müsste, damit sie einem zeitge- che Themen wie die Beschaffung, Lage- mäßen Bildungspostulat gerecht werden rung und Pflege, die Präsentation und der kann. Verkauf der Waren behandelt. Die Edukanden sollen in der Lage sein, Sicherlich kann man sagen, dass die mündig ihre Entscheidungen zu treffen und warenkundlichen Kenntnisse, die im Rah- diese Entscheidungen auch begründen zu men der Berufsausbildung erworben wer- können. Neben dem Handlungs- und Ent- den, auch im Allgemeinen von Nutzen sein scheidungsvermögen sollen sie aber vor werden. Dafür bedarf es jedoch eines selb- allem lernen, ihren potentiellen Vertrags- ständigen Lerntransfers durch die Schüler, partnern bei allen Formen des Kaufs die der in berufsbildenden Schulen sicher sel- richtigen Fragen zu stellen. Dabei kann ten didaktisch vorbereitet werden dürfte. in der globalisierten Welt mit seiner Viel- Zudem durchlaufen wegen der steigen- falt an Waren eine Universalwarenkunde den Studierneigung immer weniger junge kaum zur Handlungsfähigkeit der Edukan- Menschen eine berufliche Ausbildung, mit den beitragen. Ebenso wenig kann eine der Folge, dass dieses Thema bereits mit enzyklopädisch erschöpfende Dienstleis- dem Abgang aus den allgemeinbildenden tungskunde gelehrt werden. Es kann und Schulen thematisiert worden sein müsste. soll auch nicht Zielsetzung sein, umfassen- In den Lehrplänen der beruflichen des Wissen über bestimmte Dienstleistun- Schularten findet die nötige Fachkenntnis gen zu vermitteln, das zumeist in wenigen in Sachen Waren- und Dienstleistungskun- Jahren schon wieder überholt sein wird. de am ehesten Berücksichtigung. Das ist Vielmehr soll neben grundlegenden Kennt- unterdessen nur eine nötige Bildungsbe- nissen das Erzeugen von Sensibilität für dingung. Die erst hinreichende Bedingung Risiken Zielsetzung sein, um den Edukan- eines regulativen Überbaus hingegen findet den Handlungsfähigkeit in unmöglich zuvor man kaum. Die Ausrichtung auch der be- bestimmbaren Situationen zu ermöglichen ruflichen Bildung auf die Ausbildung von sowie soziale und ökologische Verantwor- Fachkompetenzen bedarf aus didaktischer tung für sich und für Dritte übernehmen Sicht einer Erweiterung um einen Überbau zu können. Dazu gehört wesentlich die hinsichtlich moralischer und sozialer Aspek- Auseinandersetzung mit dem Prozess der te. Erstaunlicherweise gilt dieselbe Aussa- Leistungserstellung,39 die Merkmale und ge weitgehend auch für die Lehrpläne der Besonderheiten von Dienstleistungen und allgemeinbildenden Schulen des Freistaats. die Dienstleistungsqualität. 1 / 2021 Pädagogische Rundschau 41 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Dieses sei am Beispiel des Primärener- Warenkunde in den Ausbildungsordnun- gieverbrauchs durch Automobilproduktion gen nicht mehr spezifiziert, der Betrieb und –betrieb veranschaulicht. Nur weni- soll den zu bestimmenden Warenbereich gen Konsumenten ist es bekannt, dass selbst festlegen. Völlig richtigerweise for- ein großer Teil des gesamten Umweltver- dert das BMBF, dass die Auszubilden- brauchs eines Kraftfahrzeugs bereits zum den lernen sollen, fehlende Informationen Zeitpunkt des Erwerbs erfolgt ist, und zwar selbst einzuholen.40 nicht nur Rohstoffe, sondern auch Wasser In den allgemeinbildenden Schulen und Energie: „Je nach Gesamtfahrleistung gibt es keinen dualen Partner in Form eines entstehen 15 bis 20 Prozent der CO2- Ausbildungsbetriebes, der die Edukanden Emissionen bei der Produktion eines Pkw auf ihrem Bildungsweg zur individuellen und ein Prozent beim Recycling. […] Ver- Souveränität begleiten kann. Deshalb braucht ein Neuwagen etwa einen Liter empfiehlt es sich hier, die Warenkunde weniger pro 100 Kilometer, kompensiert er als integrativen Bestandteil eines fachlich bei einer jährlichen Kilometerleistung von organisierten Wirtschaftsunterrichts be- 10.000 Kilometern erst nach 20 Jahren reitzustellen. Diese Handlungsempfehlung Betrieb jene Menge Treibhausgase, die bei gilt auch für den berufsübergreifenden der Produktion des Fahrzeugs verursacht Bereich in der Berufsschule. Die geübte wurde.“ Diese Fakten kann und muss nicht Praxis einer fächerübergreifenden Be- jeder kennen. Das Bewusstsein, dass jede handlung der warenkundlichen und ver- Investition eine ganze Zeit benötigt, dass brauchererzieherischen Inhalte birgt die sie sich amortisiert, hingegen schon. Wer Gefahr der „Halbheit im Hundertfältigen“41 das nicht weiß, kann letztlich nicht die rich- und eines mangelnden Gesamtüberblicks, tigen Fragen beim Kauf stellen und ist in ohne den die Lernenden keinen ganzheit- selbstverschuldeter Abhängigkeit von der lichen, systematischen Zusammenhang Transparenzbereitschaft des Verkäufers. nachvollziehen können. Ein warenkundlicher Unterricht sollte Inhaltlich sollte die Konsumentenerzie- im Falle der berufsbezogenen Fächer zu hung so ausgestaltet sein, dass die Edu- einer ausreichenden Qualifikation der Aus- kanden den gesamten Weg der Waren zubildenden führen. Dafür wird es didak- und Dienstleistungen von der Produktidee tisch sinnvoll sein, die Berufsschulklassen bis hin zu ihrer Entsorgung unter ökono- wie gehabt nach Branchen einzuteilen, um mischen, ökologischen und sozialen As- eine Homogenisierung der berufsbezoge- pekten verfolgen können – diesen Weg nen Interessen zu erreichen. In der Rea- weist schon Beckmanns Warenlehre. lität schrumpfender Berufsschulklassen Auch die Fragen der Aktualität der zu- ist diese Zusammenstellung der Auszu- grundeliegenden Informationen und der bildenden nach Branchen allerdings nicht Nachhaltigkeit sind wichtige Punkte. Es immer möglich. Dann bleibt keine andere geht in der Hauptsache also darum, um- Lösung, als die unterschiedlichen Lernvor- fassende Prinzipien zu erlernen, die Orien- aussetzungen hinzunehmen, zugleich aber tierung bei der Beurteilung von Waren muss für die Spezifizierung der Warenkun- und Dienstleistungen gewähren, auch, de der Betrieb noch mehr in die Verant- wenn die konkreten Produkte zum Zeit- wortung genommen werden. Diesem wird punkt des Schulbesuchs vielleicht noch die Aufgabe zuteil, den Auszubildenden gar nicht existiert haben. Es müssen In- über die Warengruppen zu informieren, formationsstrategien vermittelt werden, die den Auszubildenden während seiner die sich auf die unmittelbaren Gütereigen- Ausbildung begegnen. Derzeit wird die schaften beziehen, die unterdessen nicht 42 Pädagogische Rundschau 1 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
die gesundheitlichen, ökologischen und Handlung vorausgeht, die die Handlung dem- sozialen Auswirkungen ihrer Produktion nach vollständig macht und als solche, gera- de wegen der gedanklichen Vorwegnahme und ihres Konsums ausblenden dürfen. der Handlungen dann bildsam. Kerschenstei- Die Entscheidung für oder gegen den Kauf ner, G.: Der pädagogische Begriff der Arbeit, des Produktes soll mithin in der Zukunft in: ders.: Texte zum pädagogischen Begriff der Lernenden auf einem höheren Niveau der Arbeit und zur Arbeitsschule, besorgt von an Rationalität erfolgen, als kennten sie G. Wehle. Paderborn 1968, S. 46-62, hier nur den Preis und das Design des Produk- S. 48. tes. Von prinzipieller Bedeutung ist auch 12 Konsum und Antikonsum: vgl. Pleiß 1993, S. 118 f.; „Handlanger der Wirtschaft“ und die Auseinandersetzung mit gesetzlichen folgende Aussagen: ebd., S. 119, affirmativ Grundlagen der Rechte und Pflichten von vs. emanzipatorisch: S. 114. Dienstleistern und Dienstleistungsempfän- 13 Retzmann, T., Seeber, G., Remmele, B. & gern. Lernpsychologisch trivial, jedoch of- Jongebloed, H.-C.: Ökonomische Bildung fenbar weitab von der geübten Praxis, ist an allgemein bildenden Schulen: Bildungs- die Forderung, dass die zu vermittelnden standards, Standards für die Lehrerbildung. Inhalte der Waren- und Dienstleistungs- Essen u.a. 2010, online: http://www.zdh.de/ fileadmin/user_upload/presse/Pressemel- kunde im Rahmen der Konsumerziehung dungen/2010/Gutachten.pdf [28. 03. 2017], einer erkennbar systematischen Ordnung S. 12 f. folgen müssen. Erst dann ist eine Verbrau- 14 Vgl. Reith, R. (2003) Einleitung. »Luxus und chererziehung ein gleichwertiger Teil der Konsum« – Eine historische Annäherung, in: allgemeinen Bildung. Reith, Reinhold & Meyer, Torsten (Hg.): Luxus und Konsum. Eine historische Annäherung. Münster, S. 9-27, hier S. 17. Bei Susanne Gruber wird hingegen noch eine vorgelager- Anmerkungen te Phase beschrieben, sie unterscheidet eine (1) beschreibende Phase, (2) eine enzyklo- 1 Vgl. Pleiß, U.: Konsumentenerziehung. Ur- pädische Phase (der Beckmann zuzuordnen sprünge, Strömungen, Probleme, Gestal- ist), (3) eine empirische Phase, (4) eine so- tungsversuche, in: May, H. (Hg.): Handbuch zioökonomische Phase und (5) eine informa- zur ökonomischen Bildung, München 1993. tionstechnologische Phase. Vgl. Gruber, S.: S. 99-140, hier S. 101. Commodity Science 2.0: Evolution des Fa- 2 Vgl. ebd., S. 101-104. ches Warenlehre – Ein Weg in die Zukunft, in: 3 Vgl. ebd., S. 106 f. Forum Ware 44 (2016), S. 28-36, hier S. 31 4 Z. B. so in Nordrhein-Westfalen; Stand 2017. ff. 5 Vgl. Pleiß, a.a.O., S. 109. 15 Vgl. Hölzl, J.: Einführung in die Warenlehre. 6 Vgl. Yamazaki, M.: Die Entstehung des sanf- München, Wien 1989, S. 1 ten Individualismus. Zur Ästhetik der Kon- 16 Vgl. Maleri, R.: Grundlagen der Dienstleis- sumgesellschaft, München 2002, S. 148. tungsproduktion. 4. Aufl., Berlin u.a. 1997. 7 Marx, K.: Das Kapital. Der Produktionsprozeß 17 Vgl. Heinrich, M.: Kritik der politischen Öko- des Kapitals. Marx-Engels Werke Bd. I. Ber- nomie: Eine Einführung. Stuttgart 2005, lin 1968, S. 49. S. 38. 8 Smith, A.: An Inquiry into the Nature and Cau- 18 Brandtweiner, R. & Loicht, H.: Ware und Wa- ses of the Wealth of Nations. London, Stra- renlehre in der Digital Economy, in: Löbbert, han & Caddell 1776, hier Buch 4 Kapitel VIII. Reinhard (Hg.): Der Ware Sein und Schein. 9 Vgl. Pleiß 1993, S. 110. Zwölf Texte über die Warenwelt, in der wir 10 Vgl. May 1998, S. 59. leben. Haan-Gruiten 2002, S. 169-177, hier 11 Diese Idee spiegelt exakt das Argument S. 169 f. Kerschensteiners, was ‚Arbeit‘ zu einem pä- 19 Vgl. o.V.: Konsumieren vor Wissen. Warum dagogisch wertvollen – weil bildsamen – Be- wir von der Ware so wenig wissen müssen?, griff macht. Es ist die geistige Mühe, die der in: Forum Ware 20, 1992, S. 130-132, hier S. 132. 1 / 2021 Pädagogische Rundschau 43 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
20 Beckmann, J.: Vorbereitung zur Waarenkun- Vgl. zuletzt Statista Research Department de, oder zur Kenntniß der vornehmsten aus- (20.10 2020) Statistiken zum Thema Er- ländischen Waaren. Erstes Stück. Göttingen werbstätige, https://de.statista.com/the- 1793, Reprint: Vorbereitung zur Warenkunde men/81/erwerbstaetige/ [14.12. 2020]. oder zur Kenntnis der vornehmsten ausländi- 34 Betrachtet man die Gesamtzahl der von schen Waren. Berlin 1978, hier S. 5 ff. Zitat der Bundesnetzagentur ermittelten Mobil- nach Grundke, G.: Nachwort zur Reprint- funkteilnehmer (144.012.000) und der vom Ausgabe, in: Beckmann, Johann: Vorberei- Statistischen Bundesamt bekanntgegeben tung zur Warenkunde oder zur Kenntnis der Bevölkerungszahl von 83,1 Millionen erge- vornehmsten ausländischen Waren. Berlin ben sich für Mitte 2020 im arithmetischen 1978, S. 1-26, hier S. 25. Mittel je Bundesbürger 1,73 Mobilfunkver- 21 Grundke, G.: Grundriß der allgemeinen Wa- träge (2012 lag dieser Durchschnitt noch bei renkunde. Leipzig 1987, S. 12. 1,4). Bundesnetzagentur 2020: https://www. 22 Vgl. May, H.: Didaktik der ökonomischen Bil- bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/Tele- dung. München, Wien 1998, S. 61. kommunikation/Unternehmen_Institutionen/ 23 Vgl. Grundke 1987, a.a.O., S. 16 f. Marktbeobachtung/Deutschland/Mobilfunk- 24 Vgl. ebd., S. 17. teilnehmer/Mobilfunkteilnehmer_node.html; 25 Marperger, P.J.: Trifolium mercantile aureum destatis 2020: Pressemitteilung Nr. 404 vom oder dreyfaches güldenes Klee-Blat der 13. Oktober 2020: https://www.destatis.de/ werthen Kauffmannschafft (Nachdruck der DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/10/ Ausgabe Dresden, Leipzig 1723). Darmstadt PD20_404_12411.html beide zuletzt (30. 10. 1990. 2020). 26 Vgl. Ludovici, K. G.: Eröffnete Akademie der 35 Vgl. Maleri 1997, a.a.O., S. 8 f. Kaufleute; zwischen 1752 und 1756. Vgl. 36 Vgl. Bieger, T.: Dienstleistungsmanagement, Reith 2003, S. 17, Hölzl 1989, a.a.O., S. 1. Einführung in Strategien und Prozesse bei 27 Zum Bericht über die Vorlesungen in Göt- persönlichen Dienstleistungen. Bern 2007, tingen vgl. Grundke 1987, a.a.O. S. 18. Zur S. 8. Warenkunde vgl. denselben 1978, a.a.O., 37 Frühere Fassungen des vorliegenden Texts S. 23 sowie Reith 2003, S. 17. Die Prozess- wie auch die Daten der hier vorgetragenen perspektive berichtet wieder Gundke, S. 9. Untersuchung wurden an der Professur Vo- 28 Vgl. Grundke 1987, a.a.O., S. 18 f. kationomie der TU Chemnitz 2013 im Sinne 29 Vgl. Hölzl 1989, a.a.O., S. 1. von Einheit von Forschung und Lehre mit 30 Vgl. Spranger, Eduard: Berufsbildung und den Studenten des Masterstudiengangs Be- Allgemeinbildung, in: Kühne, Alfred (Hg.): rufs- und Wirtschaftspädagogik erarbeitet. Handbuch für das Berufs- und Fachschulwe- Im Weiteren wurde der Text in Auseinander- sen, Leipzig 1922, S. 24-45. setzung mit weiteren Studenten kontinuierlich 31 Vgl. Grundke 1987, a.a.O. S. 21. verbessert. Der Autor dankt den mittlerweile 32 Vgl. Kiridus-Göller, R. & Seifert, E. K.: Das zahlreichen Studenten für den anregenden Symposium ‚Evolution – Ware – Ökonomie‘. gedanklichen Austausch. Eine Erneuerung Vorwort der Herausgeber, in: dies. (Hg.): Evo- der Untersuchung wird für die Zeit nach einer lution - Ware - Ökonomie: bioökonomische anstehenden Studiengangreform geplant. Grundlagen zur Warenlehre (Österreichische 38 Eine sehr viel weitergehende aktuelle Gesellschaft für Warenwissenschaften und Untersuchung von Anja Günther hat ge- Technologie). München 2012, S. 9-12, hier zeigt, dass ökonomische Lerninhalte in S. 11. Sachsen als solche unterrepräsentiert sind. 33 Vgl. Statistisches Bundesamt: Der Dienstleis- Zudem werden ihnen nur sehr knappe zeit- tungssektor. Wirtschaftsmotor in Deutsch- liche Anteile zugewiesen; vgl. Günther, A., land. Ausgewählte Ergebnisse von 2003 bis Ökonomische Bildung zwischen fachwis- 2008. Wiesbaden, 2009, S. 7, zugl. file:///C:/ senschaftlicher Abstraktion und lebenswelt- Users/bwp_bank/AppData/Local/Temp/ licher Konkretion – Zur Schülerperspektive dienstleistungssektor-5474001099004. des wirtschaftskundlichen Unterrichts der pdf%3bjsessionid=C8B50A0B6372DBF Sekundarstufe II in Sachsen. In Vorberei- 9556BB5D963FFB8FF.internet8722.pdf. tung 2021, Manuskriptseite 180. 44 Pädagogische Rundschau 1 / 2021 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
39 Verkehrsclub Österreich VCÖ: Wie viele 40 Vgl. BMBF Bundesministerium für Bildung Ressourcen werden bei der Pkw–Produktion und Forschung: Berufsbildungsbericht 2005. verbraucht (o.J. [2020]), www.vcoe.at/service/ Berlin und Bonn 2005, S. 159. fragen-und-antworten/wie-viele-ressourcen- 41 Goethe, J.W.: Wilhelm Meisters Wanderjah- werden-bei-der-pkw-produktion-verbraucht re, oder: die Entsagenden. Stuttgard (sic) und (03. 11. 2020). Tübingen 1821, hier Erstes Buch, Kapitel 12. 1 / 2021 Pädagogische Rundschau 45 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
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