Verbrechen in Berlin 32 historische - Kriminalfälle 1890-1960

Die Seite wird erstellt Vera Seifert
 
WEITER LESEN
REGINA STÜRICKOW

Verbrechen in
 Berlin             32 historische
                    Kriminalfälle
                    1890–1960
Inhaltsverzeichnis

    Kapitel I		                          Kapitel II
    Verbrechen im Kaiserreich            Verbrechen zur Zeit der
                                         Weimarer Republik

    Einleitung		                12 –17   Einleitung		                        50–55

    Fluchtpunkt Brasilien		     18 –23   Der Mörder aus dem
    		                                   Café des Westens                    56–61
    Ein Diener feiner Leute     24 –27
                                         Der Schlächter vom
    Soldat für einen Tag        28 –31   Schlesischen Bahnhof                62–65

    Die Tote im Reisekorb       32 –37   … und immer wieder
                                         nasse Fische                        66–69
    Tödliche Geschäfte          38 –41
                                         Die Steglitzer
    Mord im Hotel Adlon         42 –47   Schülertragödie                    70 –75

                                         Die Gangsterschlacht               76 –79

                                         Das Phantom
                                         vom Mercedes-Palast                 80–83

                                         Der BVG-Lohnraub                    84–89

                                         Die Brüder Sass                     90–93

                                         Horst Wessel – Kult und Wahrheit    94–97

                                         Politische Morde im Berlin
                                         der Weimarer Republik              98–103

4
Inhaltsverzeichnis

Kapitel III		                        Kapitel IV
Verbrechen im Dritten Reich          Verbrechen in
                                     der Nachkriegszeit

Einleitung		              106–111    Einleitung		                    158 –163

Die Entführung des                   Das Millionending               164 –167
Fabrikanten Schlesinger   112 –117
                                     Der Todesengel                  168 –173
Die Autofallenbande       118 –121
                                     Der Mörder hat den Schlüssel    174 –179
Raubmord
am Kurfürstendamm         122 –125   Die Gladowbande                 180 –185

Tod im Taxi               126 –129   Der Liebesknochenmord           186 –191

Lucies letzter Kunde      130 –133   Der König von Kreuzberg         192 –195

Wenn Liebe blind macht    134 –139   Die Hertie-Knacker	    196 – 201

Tod in der S-Bahn         140 –145
                                     Vorwort		7
Der Fall Vera Korn        146 –151   Literatur und Quellen 203 – 205
                                     Bildnachweis		206
Der doofe Bruno           152 –155   Impressum		207

                                                                                5
Verbrechen im Kaiserreich

    Handzettel der Polizei im Fall des Mordes im Hotel Adlon

6
Vorwort
„Jede Stadt hat eine offizielle Seite und eine in-      authentischen Einblick in die Lebenswelten vergan-
offizielle, und es erübrigt sich, zu sagen, dass die    gener Zeiten. Beschuldigte oder Zeugen geben nicht
letztere die interessantere und für das Verständnis     nur zu Protokoll, was sie gesehen oder gehört haben,
eines Stadtwesens aufschlussreichere ist. […] Wer       sie erzählen von ihren Aktivitäten am Tattag und
Erlebnisse sucht, Abenteuer verlangt, Sensatio-         ihren Lebensumständen. Vor allem die Täter geben
nen erhofft, der wird im Schatten gehen müssen“,        oft detaillierte Schilderungen ihres vergangenen Le-
schreibt Curt Moreck in seinem „Führer durch das        bens und der Umstände, die zur Tat führten. Schon
‚lasterhafte‘ Berlin“ aus dem Jahre 1931. Denn, auch    in der wilhelminischen Zeit haben Polizeifotografen
das schreibt Moreck: „Die im Schatten Wandeln-          den Tatort aus den verschiedensten Perspektiven
den haben immer Sehnsucht nach dem Licht, aber          abgelichtet. So erfahren wir aus einer authentischen
die im Licht Wandelnden haben immer Sehnsucht           Quelle, wie die „kleinen Leute“ gelebt haben. Ein
nach dem Schatten. Nur die Art dieser Sehnsucht ist     Leben, das uns heute ärmlich erscheint, ein Leben
verschieden.“                                           geprägt von Entbehrung, und blanker Not – und
    Schon zur Kaiserzeit lechzten die Bürger nach       nicht selten von Kriminalität.
Kriminalgeschichten. Polizei- und Prozessberichte          Vorwiegend sind es Mordfälle, die uns hier be-
füllten die Zeitungsspalten und steigerten die Aufla-   schäftigen werden. Doch die Motive unterscheiden
ge. Die Namen der ermittelnden Kriminalkommis-          sich grundlegend: Habgier, Eifersucht, enttäuschte
sare waren in aller Munde. Die Hautevolee fand ihr      Liebe, Mord im Affekt, Sexualmord, ja auch der
Vergnügen daran, eine Nacht in den Kaschemmen           politische Mord kommt in „Verbrechen in Berlin“
der Unterwelt zu verbringen. Das waren in erster        vor. Die meisten der hier behandelten Fälle sind
Linie die Lokale in der Spandauer Vorstadt, dem         in den Aktenbeständen des Landesarchivs Berlin
sogenannten Scheunenviertel. Neugierigen wur-           dokumentiert. Den verantwortlichen Kriminalbe-
de jedoch dringend geraten, um die „wirklichen“         amten sowohl der Kaiserzeit als auch der Weimarer
Verbrecherspelunken rund um den Schlesischen            Republik und der NS-Zeit schienen in erster Linie
Bahnhof (heute Ostbahnhof) doch lieber einen            die Mordakten der Aufbewahrung würdig. Seiner-
großen Bogen zu machen.                                 zeit dienten sie „Lehrzwecken“, also der Ausbil-
    Die hier gesammelten 32 Kriminalfälle führen in     dung künftiger Kriminalbeamter. Nur ein Teil der
das „dunkle“ Berlin des ausgehenden 19. Jahrhun-        Polizeiakten aus dem alten Polizeipräsidium am
derts bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es    Alexanderplatz ist erhalten geblieben: authentische
ist ein anderes Berlin – nicht das Berlin des wilhel-   Zeugnisse der Polizeiarbeit vergangener Zeiten.
minischen Pomps der Jahre vor der Wende zum
20. Jahrhundert, sondern das Berlin der Gestrande-      Ohne die Hilfe vieler und ihren Einsatz wäre dieses
ten und Gescheiterten. Es wird erzählt von den un-      Buch nicht möglich gewesen. Zunächst gilt der Dank
bedarften Mädchen aus der Provinz, die ohne Geld,       den Mitarbeitern des Landesarchivs Berlin, die uner-
aber reich an Illusionen am Schlesischen Bahnhof        müdlich Archivalien herbeigeschafft und Zeitungs-
aus dem Zug steigen, in der Hoffnung, bei reichen       jahrgänge geschleppt haben. Insbesondere danke ich
Leuten eine gut bezahlte Anstellung als Dienstmäd-      Bianca Welzing-Bräutigam für ihre Unterstützung.
chen zu bekommen. Die erträumte Stellung finden         Mein besonderer Dank gilt der Leiterin der Polizei-
sie zwar nicht, dafür aber einen netten Herrn, der      historischen Sammlung Berlin, Dr. Bärbel Fest, für
ihnen eine warme Mahlzeit und ein Dach über dem         wertvolle Hinweise und Tipps und für ihren Einsatz,
Kopf verspricht. Die Sache geht oft böse aus.           was die Beschaffung von Fotomaterial betrifft.
    Nicht Sensationslust veranlasst den Historiker,        Der größte Dank gebührt aber meinem Verleger
sich in die Akten der Kriminalpolizei früherer Epo-     Dr. Dirk Palm für seine unermüdliche Geduld, die
chen zu vertiefen, sondern die sozialgeschichtliche     kritische Durchsicht und Korrektur des Manuskripts,
Bedeutung dieser Archivalien. Sie geben nicht nur       für seine hilfreichen Hinweise und Ergänzungen.
Aufschluss über den Wandel der Ermittlungsme-
thoden der Polizei, sondern vielmehr noch einen                                            Regina Stürickow

                                                                                                               7
Vorwort

Ein Tatort mitten in Berlin: In diesem Zimmer wurde Martha Franzke,
die „Tote im Reisekorb“, 1916 ermordet.
Verbrechen im Kaiserreich

     verbrechen
     IM KAISERREICH

10
Fluchtpunkt Brasilien

Berliner Polizeirevier, um 1906

                                  11
Verbrechen im Kaiserreich

     Die Berliner sind empört, die Presse entrüstet sich,    Berlin wächst um 1900 rasant. Blick vom Potsdamer Platz
     und im November 1871 nimmt sich die Stadtverord-        in die Bellevuestraße
     netenversammlung des Themas an, das seit Wochen
     in der Öffentlichkeit debattiert wird: der Sicherheit      Bei aller Empörung weckt die „Verbrecherwelt“,
     der Bürger. Keinen Steinwurf vom Schloss entfernt       umnebelt von einer Aura der Romantik, die Neu-
     herrsche weniger Schutz und Sicherheit für die Be-      gier der braven Bürger, und schon zur Kaiserzeit
     völkerung „als in den verrufensten und entlegensten     wird das „dunkle Berlin“ zu einer Attraktion. So
     Winkeln von London“, schreibt eine zeitgenössische      führt der gerade 13-jährige Heinrich Zille 1871
     Gazette. Nun sollen angesichts der „mindestens          Touristen aus der Provinz durch die verrufenen
     40 000, die sich hier von Diebstahl, Raub und Un-       Gassen und Kaschemmen der Stadt und lässt sie
     zucht“ ernähren, Maßnahmen ergriffen werden. Das        mit geflunkerten und wahren Geschichten aus dem
     Ergebnis: Anfang 1872 beschließt das preußische         Verbrecherleben erschaudern.
     Abgeordnetenhaus, die Königliche Schutzmann-               Erst nach dem Attentat auf Kaiser Wilhelm I.
     schaft von 255 auf 1543 Personen zu erhöhen.            am 2. Juni 1878, bei dem der Monarch durch 30

12
Einleitung

Schrotkugeln eine schwere Kopfverletzung erleidet,     werden die berüchtigten Mietskasernenviertel mit
wird die Schutzmannschaft noch einmal aufge-           ihren Seitenflügeln, Quergebäuden und engen
stockt, doch Sicherheit vor Verbrechen gewährleis-     Höfen, in die wenig Licht und kaum Luft dringt, aus
tet der preußische Schutzmann mit der Pickelhaube      dem Boden gestampft und dehnen sich vom Schle-
nicht.                                                 sischen über den Stettiner Bahnhof bis weit nach
    Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wächst die     Moabit und in den Wedding aus. Oft haust eine aus
Stadt unaufhörlich. Zuwanderer aus den nord- und       sechs und mehr Personen bestehende Familie in
ostdeutschen Provinzen strömen massenhaft nach         einer Wohnung, bestehend aus Stube und Küche.
Berlin und hoffen auf Arbeit in den ständig expan-     Eine Toilette für mehrere Mietparteien befindet sich
dierenden Industriebetrieben. Von 1849 bis 1871        entweder auf dem Treppenabsatz oder im Hof. In
verdoppelt sich die Einwohnerzahl auf 826 000,         der Gegend um den Schlesischen Bahnhof sind die
1877 erreicht sie die Millionengrenze, und bis 1900    Häuser noch nicht an die Kanalisation angeschlos-
wird sie auf rund 2,7 Millionen anwachsen. Die         sen. Nicht selten teilen die Hauptmieter die Stube
einst beschauliche preußische Residenz entwickelt      noch mit sogenannten Schlafburschen, Untermie-
sich zu einer der modernsten Metropolen Europas.       tern, denen kein Zimmer, sondern nur eine Schlaf-
Das Berlin von 1900 ähnelt kaum noch dem von           stelle für ein oder zwei Mark Miete im Monat zur
1871. Die biedermeierliche Stadt wird rigoros dem      Verfügung gestellt wird. Das Zusammenleben zahl-
Zeitgeist geopfert. Der amerikanische Schriftsteller   reicher Kinder und Erwachsener auf derart engem
Mark Twain, der 1891 einige Monate in Berlin ver-      Raum hat verheerende Auswirkungen. Dass sich
bringt, nennt die junge Kaiserstadt „The Chicago       „Schlafburschen“ an den Kindern ihrer Wirtsleute
of Europe“ und schreibt: „Die Hauptmasse der           vergehen, ist keine Seltenheit.
Stadt macht den Eindruck, als sei sie erst vorige          Die widrigen Lebensverhältnisse in den her-
Woche erbaut worden; der Rest wirkt eine kaum          untergekommenen Arbeitervierteln bilden einen
wahrnehmbare Schattierung gesetzter und sieht          Nährboden für ständig wachsende Kriminalität.
aus, als wäre er sechs oder vielleicht sogar acht      Kaum ein Tag vergeht, an dem die Presse nicht von
Monate alt.“ Mit seinem Ausspruch: „Spreeathen         Raubmorden, einer aus der Spree gefischten Leiche
ist tot, und Spreechicago wächst heran“, treibt der    oder angeschwemmten Leichenteilen berichtet.
Industrielle und spätere Außenminister Walther         Die roten Fahndungsplakate, die sogenannten
Rathenau den Vergleich auf die Spitze.                 Mordplakate mit schwarzer Schrift und weißer
    Das Tempo des Wandels ist atemberaubend:           Umrandung, die das Polizeipräsidium nach jedem
Das Berlin von 1905 gleicht kaum noch dem der          Kapitalverbrechen an die Litfaßsäulen kleben und
Jahrhundertwende, und schon 1910 hat sich das          in den Bahnhofshallen aushängen lässt, sind stets
Stadtbild erneut gewandelt. Im Tiergartenviertel       von Neugierigen umlagert. Auch Hinrichtungen
entstehen breite Straßen und Alleen, hochherr-         werden der Öffentlichkeit durch „Bekanntmachun-
schaftliche Villen und Wohnhäuser mit stucküber-       gen“ an Litfaßsäulen angezeigt.
ladenen Fassaden und prächtigen, marmorprotzen-            Angesichts der ständig wachsenden Aufgaben
den Treppenhäusern. In den westlichen Vororten         der Polizei bekommt das Polizeipräsidium, das
wachsen noble Wohnviertel, die den Geldadel            seinen Sitz in der Stadtvogtei am Molkenmarkt
anziehen. Charlottenburg wird die reichste Stadt       hat, endlich ein repräsentatives Domizil. Auf dem
Preußens.                                              Gelände des ehemaligen „Ochsenkopfes“, des
    Die Jahre 1895 bis 1913 sind von Hochkonjunk-      einstmals berüchtigten Arbeitshauses am Alexan­
tur geprägt. Die Industrie nimmt einen rasanten        derplatz, entsteht nach den Plänen des Baustadtrats
Aufschwung und wächst mit ihren Produktionsstät-       Hermann Blankenstein das neue Polizeipräsi-
ten bis weit über das Stadtgebiet hinaus. Doch für     dium. Nach knapp vier Jahren Bauzeit ist es am
die Arbeiter, die in Massen nach Berlin kommen,        1. Oktober 1889 bezugsfertig. Der vierstöckige
fehlt es an Wohnungen. Die Kehrseite: Ausufernde       Backsteinkoloss mit seinen acht Innenhöfen, einem
Bodenspekulation führt in den nördlichen und           überdachten Mittelhof und dem Polizeigefängnis
östlichen Stadtteilen zu einer in Europa einzigarti-   ist nach dem Stadtschloss und dem im Bau befind-
gen städtebaulichen Verdichtung. In wenigen Jahren     lichen Reichstag das größte Gebäude Berlins. Die

                                                                                                              13
Verbrechen im Kaiserreich

     „Zwingburg am Alex“ oder „Adelsklub“ nennen                    quittiert haben, sowie aus Abkömmlingen mehr
     die Berliner das Polizeipräsidium spöttisch. Denn              oder weniger verarmter Adelsfamilien, die auf-
     in der Tat gibt es zur Kaiserzeit kaum einen Krimi-            grund ihrer misslichen wirtschaftlichen Lage
     nalbeamten, der nicht von Adel ist. Die Mehrzahl               eine Karriere im Staatsdienst anstreben, denn die
     der Beamten im höheren Dienst rekrutiert sich                  Beamtenstellung bietet ihnen wenigstens finanzi-
     zum einen aus Offizieren, die den Militärdienst                elle Sicherheit. Der Werdegang des Kriminalkom-
                                                                    missars Hans von Tresckow, der sich mit seinen
     Das Polizeipräsidium, hier auf einer Postkarte von 1906, be-   1922 erschienenen Erinnerungen „Von Fürsten
     fand sich dort, wo heute das Einkaufszentrum „Alexa“ steht.    und anderen Sterblichen“ einen Namen macht, ist

14
Einleitung

typisch: Nach dem Tod des Vaters kann der junge         Hinrichtungen wurden öffentlich bekannt gegeben.
von Tresckow sein Studium der Rechts- und Wirt-
schaftswissenschaften in Königsberg nicht mehr             Überdies stoßen die polizeilichen Ermittlungen
finanzieren und bewirbt sich 1889, eher der Not         an noch unüberwindliche Grenzen. So werden
als der Überzeugung gehorchend, für den höheren         Giftmorde zu einer Modeerscheinung, denn der
Polizeiexekutivdienst.                                  Umgang mit Giften jeglicher Art wird erschreckend
   In den 1890er-Jahren ist die Kriminalpolizei noch    sorglos gehandhabt. Buchstäblich jedermann kann
nicht klar strukturiert, die Kompetenzen sind unklar.   starke Betäubungsmittel, tödliche Chemikalien,
Ein „Morddezernat“ gibt es noch nicht. Erst 1902        sowie arsen-, strychnin- und zyankalihaltige Schäd-
wird ein sogenannter Mordbereitschaftsdienst einge-     lingsbekämpfungsmittel problemlos in Drogerien
richtet, um jederzeit Beamte an einen Tatort schicken   erwerben. Andererseits ist die Gerichtsmedizin
zu können. Bis dahin hat die Kripoleitung immer erst    noch nicht in der Lage, Giftmorde zweifelsfrei
im Bedarfsfall damit begonnen, geeignete Ermittler      nachzuweisen. Generell wird es potenziellen Mör-
ausfindig zu machen. Mitunter dauert es Stunden, bis    dern leicht gemacht: Pistolen sind für relativ wenig
die Beamten am Tatort eintreffen.                       Geld sogar in Warenhäusern zu haben.

                                                                                                                  15
Verbrechen im Kaiserreich

        Nach der Jahrhundertwende ist es die ständig     neue Medium Film, das gerade die Jugend anzieht,
     wachsende Kinder- und Jugendkriminalität, die       für diese Entwicklung verantwortlich gemacht.
     die Polizei beschäftigt. Nicht nur Diebstähle und   Zeitgenössische Publikationen werden nicht müde,
     Einbrüche gehen auf das Konto Minderjähriger,       den moralischen Verfall der Kinokinder, die einen
     auch immer mehr Raubmorde werden von Jugend-        beachtlichen Teil ihrer Freizeit in den Lichtspiel-
     lichen begangen. Pädagogen meinen die Haupt­        häusern verbringen, zu beklagen.
     ursache für die Verrohung der Jugend im sich
     rasch wandelnden Freizeitverhalten ausmachen        Hans von Tresckows Erinnerungen
     zu können: in der Lektüre billiger Detektiv- und
     Abenteuerromane, wie der beliebten Nic-Carter-
     Groschenheftchen, und anderer Schundromane,
     die in jeder Bahnhofsbuchhandlung
     in großer Auswahl angeboten
     werden. Mehr noch
     wird das

16
Einleitung

   Doch das Spektrum der Kriminalität ist weit            der rumänische Hochstapler und Hoteldieb Geor-
gefächert:                                                ges Manolesku. In allen europäischen Hauptstäd-
   Zu den häufigsten Delikten der Kaiserzeit              ten ist er bekannt – und gefürchtet. Im Sommer
gehören Erpressungen im Zusammenhang mit                  1900 mietet er sich im Hotel Bristol Unter den
dem § 175, der Homosexualität unter Strafe stellt.        Linden als Fürst Lahovary ein und erleichtert
Bei Hofe hat der „175er“ zu zahlreichen Skan-             die Gäste ihres Bargeldes und ihres Schmuckes.
dalen geführt. An Skandalen mangelt es dem                Diesmal wird Manolesku allerdings gefasst, landet
Kaiserreich ohnehin nicht, oftmals mit tragischem         im Polizeigefängnis am Alex und wird schließlich
Ausgang. So wurde der Kriminaldirektor Leopold            an Österreich ausgeliefert, wie Hans von Tresckow
  von Meerscheidt-Hüllessem, der Begründer des            schreibt. Einige Jahre später veröffentlicht er seine
   Verbrecheralbums und des Erkennungsdienstes,           Memoiren. Sie werden ein Erfolg.
    in einen Bestechungsskandal verwickelt und               Ist die Kriminalität seit der Jahrhundertwende
     verübte Selbstmord. Meerscheidt-Hüllessem            wirklich so dramatisch angestiegen? Mangels ver-
      hatte für Berlin eine „Homosexuellenliste“          lässlicher Statistiken kann darüber nur spekuliert
       angelegt, was den SPD-Vorsitzenden August          werden. Sicher ist jedoch, dass die Presse inzwi-
        Bebel zu der Bemerkung veranlasste: „Die          schen auch in Deutschland die Publikumswirk-
         Zahl dieser Personen ist aber so groß und        samkeit von Sensationsmeldungen erkannt hat.
          greift so in alle Gesellschaftskreise, von      Ausführliche Berichte über Verbrechen, besonders
           den untersten bis zu den höchsten, ein,        über Mordtaten, werden von den Lesern förmlich
            daß, wenn die Polizei pflichtmäßig ihre       verschlungen und beherrschen ebenso wie Pro-
              Schuldigkeit thäte, der preußische          zessberichte die Titelseiten.
               Staat sofort gezwungen würde, allein,         Der Ausbruch des Krieges 1914 trifft die Wirt-
                um das Verbrechen gegen § 175,            schaft auf nahezu allen Ebenen. Die folgenschwere
                 soweit es in Berlin begangen wird,       Fehleinschätzung der Gesamtsituation lässt es
                  zu sühnen, zwei neue Gefängniß-         die kaiserlichen Behörden versäumen, rechtzeitig
                   anstalten zu bauen.“                   geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Ver-
                        Auch die Wirtschaftskrimi-        sorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwen-
                      nalität blüht. Betrügerische        digsten sicherzustellen. Angesichts der Not erlangt
                       Bankrotteure, Wechselbe-           die Kriminalität eine neue Qualität. Racheakte
                        trüger, Schieber und Spe-         gegen Wucherer und Schieber, Raubmorde an
                          kulanten tummeln sich in        alleinstehenden Inhaberinnen kleiner Läden oder
                           Berlin. Doch die Maschen       Kneipenwirtinnen, sowie Überfälle auf Lebens-
                            des Gesetzes sind weit        mittelgeschäfte sind an der Tagesordnung. Am
                              gestrickt. „Je ergiebiger   16. April 1917 berichtet Polizeipräsident Heinrich
                               Sie ihre Mitmenschen       von Oppen von mehreren Lebensmittelläden,
                                übervorteilen, umso       die von Jugendlichen geplündert worden sind:
                                 gewissenhafter           „So versuchten etwa 100 bis 150 junge Burschen
                                  müssen Sie darauf       und Mädchen, darunter auch Schulkinder, in
                                  achten, dass Sie        der Münz-, Gips- und Großen Hamburgerstraße
                                   das Recht auf Ihrer    einige Geschäfte zu plündern. In etwa 5–6 Bäcker-
                                  Seite haben“, rät der   läden wurden die Schaufenster zertrümmert und
                                Marquis von Keith in      hierbei Backwaren entwendet.“ Nicht nur unter
                   Frank Wedekinds gleichnamigem          Proletariern kursiert der Spruch:
       Schauspiel von 1901. – Die Wirtschaftskri-
minellen achten penibel darauf.                             Die Armen liefern die Leichen,
   Auch internationale Verbrecher, Mädchen-                 der Mittelstand muss weichen,
händler, Betrüger, Heiratsschwindler, Fassaden-             den Krieg gewinnen die Reichen.
kletterer, Hochstapler und Hoteldiebe tummeln
sich zunehmend in Berlin. Der berühmteste ist             Das Kaiserreich ist am Ende.

                                                                                                                  17
Sie können auch lesen