Verlag die brotsuppe - Herbst 2022

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Verlag die brotsuppe - Herbst 2022
verlag die
brotsuppe

  Herbst 2022
Verlag die brotsuppe - Herbst 2022
verlag die brotsuppe
2  Herbst 2022
Verlag die brotsuppe - Herbst 2022
Liebe Leserinnen und liebe Leser,
liebe Buchhändlerinnen und Buchhändler

Russland schickt seine Armee los und         Elisabeth Blum widmet sich auf literari-
überfällt die Ukraine, die Demokratie muss   sche Art der Stadt und schreibt davon, wie
mit mehr als Worten verteidigt werden.       Sprechen Räume kreiert, auch ganz reale,
Und wir machen Bücher.                       urbane.

Es sind Themen dazu gekommen, die alten      Das Buch von Ida Marie Hede aus Däne-
sind noch da und wie immer gesellen sich     mark zeigt uns, wie ein Mittelschichts-
auch neue Erzählformen dazu. Geschich-       schlaraffenland aussehen könnte …
ten sind nötig, um den Blick auf unsere      Schliesslich haben wir, da nur noch wenige
Welt, unsere Nächsten und uns selbst zu      Exemplare von der dritten Auflage vor-
verfeinern. Was wir für oder gegen etwas     handen waren, das erste Buch von Noëmi
ausrichten können, das entscheiden Sie,      Lerch, »Die Pürin«, in einem neuen Format
liebe Leserinnen und Leser.                  aufgelegt.
Wir sorgen dafür, dass Sie von den Ge-       Und wir machen Sie auf ein paar Bücher
schichten, Gedanken, Sprachbildern hö-       aufmerksam, die bereits erschienen sind
ren, sie lesen können.                       und uns ganz besonders beeindruckt
Im Herbstprogramm erfahren wir von           haben. Bitte denken Sie daran, Bücher
Noëlle Gogniat, was Wind und Sturm und       sind keine Joghurts, sie schimmeln nicht,
Wetter mit Dorfbewohnerinnen und Dorf-       sie brauchen viel Zeit, bis sie da sind, und
bewohnern anstellen und wie sich Gianna      sollten dann auch nicht gleich verschwin-
dem widersetzt.                              den.

Sabine Haupt erzählt mit viel schwarzem      Wir danken Manuela Umberg für ihre Ar-
Humor und überaus unerschrocken die          beit als Verlagsvertreterin, die sie wegen
unterschiedlichsten Geschichten über den     einer neuen Aufgabe abgegeben hat, und
Tod und das Sterben, während Thomas          wir begrüssen Katrin Poldervaart, sie wird
Flahaut die Fabrikarbeit und Freundschaft    die Titel des Verlags in Zukunft präsentie-
mit Jugendfreundinnen und -freunden mit      ren. Wir haben sie kennengelernt und freu-
Leben füllt.                                 en uns sehr über diese Zusammenarbeit!

Regina Dürig und Miriam Affolter haben
sich überlegt, ob wir immer sicher sein      Wir wünschen Ihnen alles Gute
können, was zusammenpasst und was
nicht, und ob uns diese Vorstellungen ei-
niges vermiesen. Mit Rezepten zum Nach-
kochen hat sie der Sternekoch René Frank     Ursi Anna Aeschbacher
aus Berlin unterstützt.

                                                                         verlag die brotsuppe
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Verlag die brotsuppe - Herbst 2022
… das Dorf und das Wetter

                                              Noëlle Gogniat, 1996 in Altdorf gebo-
                                              ren, studierte Illustration Fiction an
                                              der Hochschule für Design und Kunst in
                                              Luzern und Literarisches Schreiben an
                                              der H
                                                  ­ ochschule der Künste Bern. Noëlles
                                              Leidenschaft ist das Erzählen mit Bildern
                                              und Worten. Damit ihr der Stoff für ihre
                                              Geschichten und das Geld nicht ausgehen,
                                              unterrichtet sie oder arbeitet in Museen.
                                              Noëlle lebt und arbeitet als freischaffende
                                              Illustratorin und Autorin in Bern. »SO IST
                                              ES EBEN« ist ihr erster Roman.
                                              noellegogniat.com
                                              (Foto: Valentin Luthiger)

Leseprobe. Alle im Dorf sind auf Föhn vorbereitet.       hört es dauernd irgendwo knallen, wie auf einer
Pflänzchen werden abends möglichst nahe an               Baustelle. Sogar das Wasser im Klo schwappt.
die Hausfassade gestellt, nichts im Dorf hängt
                                                         Bei Föhn ist es unmöglich, durchs Leben zu
­irgendwo, es gibt keine Dekosterne oder Laternen,
                                                         schleichen. Sobald jemand ein Fenster öffnet,
 keine Hängepflanzen, nichts, was bloss an einem
                                                         knallt irgendwo eine Tür. Der Föhn wirbelt alles
 Faden oder Seil befestigt ist. Seit Frau Baumanns
                                                         und alle durcheinander. Und wenn er zusammen-
 Spitzenunterwäsche bei Heidi im Garten gelandet
                                                         fällt, dann regnet es so, dass man die Berge nicht
 ist, meiden es die Dorfbewohner, Wäsche draus-
                                                         mehr sieht. Erschöpfung breitet sich aus. Die
 sen zum Trocknen aufzuhängen. Ausser Gianna,
                                                         Bäume und Einwohner sind froh, dass niemand
 die lüftet ihre Wollpullover an einem Kleiderbügel,
                                                         mehr an ihnen zerrt.
 den sie an den Fensterladen hängt …
                                                         7. September [16:43] KUKO-Chat, Nachrichten
Adriana mag den Föhn in seinen Anfängen. Wenn
                                                         und Anrufe sind Ende-zu-Ende-verschlüsselt.
er sich ankündigt, beschleicht sie die Erwartung,
                                                         Niemand ausserhalb dieses Chats kann sie lesen
dass etwas Bedeutendes passieren wird. Viel-
                                                         oder anhören, nicht einmal WhatsApp.
leicht weil der Wind sie dann anschiebt, wenn sie
nach Hause läuft.                                        [18:22] Paul Heute wo genau??
Aber schlussendlich ist es doch nur Föhn. Er zerrt       [18:23] Alois fremdenspital, trauungszimmer
am Haus, heult durch die Ritzen des Balkonge-
                                                         [18:26] Paul
länders, zerrt an einem selbst und an den Nerven.
Nirgendwo ist es still. Das Haus knarzt und man

verlag die brotsuppe
4  Herbst 2022
Verlag die brotsuppe - Herbst 2022
Noëlle Gogniat

                                        Noëlle
SO IST ES EBEN
Roman
144 Seiten

                                        Gogniat
CHF 27 / Euro 24
ISBN 978-3-03867-073-5

                                        SO IST ES
                                        EBEN
                                        verlag die brotsuppe

In einem Dorf mit erbarmungslosem Föhn, rund          »SO IST ES EBEN« erzählt von der Macht der
um eine lokale Tradition, ein gemeinschaftliches      Natur und von Gianna, die sich widersetzt.
Chabis- und Schaf­fleischkochen, bringen sich
                                                      Davon, wie alles zusammenhängt, von wohin die
die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner in
                                                      Schuhspitzen zeigen über den Wind hinaus bis
Position, verschweigen einander Wesentliches,
                                                      zu den schiefhängenden Kupferstichen im Trau-
versichern sich ihrer Identität und verwahren
                                                      ungszimmer. Vom Zögern und vom Anlaufneh-
sich mehr oder minder erfolgreich gegen Neues.
                                                      men, kurz bevor das Leben die Richtung ändert.
Nur einem ist das gänzlich gleichgültig, einem
alles durchziehenden Fallwind. Gemeinsam der
                                                      Die Autorin steht für Lesungen zur Verfügung.
Unbill und der Schönheit des Wetterphänomens
ausgeliefert, kommt es zu Verschiebungen in der
dörflichen Familienaufstellung, zu Reibungen,
Neuanordnungen und einem Knall.

                                                                                    verlag die brotsuppe
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Verlag die brotsuppe - Herbst 2022
Sabine Haupt, geboren 1959 in Giessen, lebt
                                                     seit 1980 am Genfersee, zwei Töchter, Profes-
                                                     sorin für Allgemeine und vergleichende Litera-
                                                     turwissenschaft an der Universität Fribourg.
                                                     Sie ist im Vorstand des Deutschschweizer
                                                     PEN-Zentrums und des dreisprachigen Litera-
                                                     tur- und Übersetzungsfestivals »Bieler Gesprä-
                                                     che«. Im verlag die brotsuppe erschien 2018
                                                     ihr Roman »Der blaue Faden. Pariser Dunkel-
                                                     ziffern« sowie 2021 der Roman »Lichtschaden.
                                                     Zement«.
                                                     www.sabinehaupt.ch
                                                     (Foto: Christian Fotsch)

                                                     Bilder von
                                                     Frank Lepold, Tätigkeiten im Bereich Werbung,
                                                     Multimedia, als Komponist (u.a. Illustrations-
                                                     musik) und als freischaffender Künstler (Bild,
                                                     Ton, Experimentalfilm).

                   Sabine Haupt:                                        Sabine Haupt:
                   Der blaue Faden                                      Lichtschaden.Zement
                   Roman, 520 Seiten; gebunden                          Roman, 320 Seiten; gebunden
                   CHF 39 / Euro 35                                     CHF 32 / Euro 31
                   ISBN 978-3-03867-008-7                               ISBN 978-3-03867-036-0

Leseprobe. Vielleicht träumen die Leute schlecht     Welche Katze? Ich habe keine Katze. Das hat er
von mir. So wie auch ich schlecht von ihnen          mir doch ausdrücklich verboten! Keine Katzen,
träume. Von dieser rechtschaffenen Bintje zum        keine Kinder, keine Kakteen. Bintje ist unsere
Beispiel, wie sie alles aufräumt, meine Kleider      Nachbarin, ich weiss nicht, warum ich so schlecht
ordnet und zusammenlegt, Bänder und Schlei-          von ihr träume. Sie ist die freundlichste Person
fen glatt zupft, bevor sie die Wäsche einsortiert,   hier im Vorderhaus. Erst neulich klopfte sie wie-
säuberlich in Schubladen verstaut oder auf Bügel     der an unserer Wohnungstür, weil es so laut war.
hängt, auch mein Nachtkästchen nicht vergisst,       »Bitte beruhigen Sie sich«, rief sie durch die Tür,
Ohrenstöpsel und Halsband behutsam von der           »es ist doch Weihnachten!« Es war tatsächlich
Ablage nimmt, gründlich abwischt, ohne die           Weihnachten. Sie blieb ein paar Minuten lang im
Innenseiten zu berühren, dann mein Bett macht,       Stiegenhaus stehen, wartete, dass wir uns beru-
tadellose, mit Liebe und Sorgfalt ausgeführte        higten und in eine weihnachtliche Stimmung ka-
Gesten. Doch abends, wenn ich mich zum Schla-        men. Ihre Umrisse waren gut zu erkennen. Bintje
fen hinlege, bemerke ich, dass sie schon wieder      hat sehr helle und sehr weiche Umrisse, und das
meine Katze in den Bettbezug gestopft und den        liegt nicht nur am Milchglas.
Reissverschluss zugezogen hat, dass sie die
Decke herausgenommen und das Tier hineinge-
steckt hat. Wer aber kann schlafen, wenn er sich
mit einer Katze zudecken soll?

verlag die brotsuppe
6  Herbst 2022
Verlag die brotsuppe - Herbst 2022
Sabine Haupt
Die Zukunft der Toten
Erzählungen
Bilder von Frank Lepold
240 Seiten
CHF 30 / Euro 27
ISBN 978-3-03867-069-8

                                         Sabine Haupt
                                         Die Zukunft der
                                         Toten Erzählungen
                                         verlag die brotsuppe

In »Die Zukunft der Toten« erzählt Sabine Haupt   Erzählungen. Die fünfzehn Illustrationen von
von realen und fantastischen Begegnungen mit      Frank Lepold unterstreichen sowohl das Dunkle
dem Tod, von skurrilen Preppern, historischen     und Verstörende wie auch das Spielerische ihrer
Tierversuchen, sterbenden Menschen und ster-      Texte.
benden Maschinen, grausamen oder grotesken
                                                  »Für kunstfertig komponierte Romane und Er-
Verbrechen.
                                                  zählungen voller tiefgründiger und überraschen-
Schauplätze sind einsame Häuser und Strassen,     der Reflexionen, Ideen und Überlegungen ist
Versuchslabore, eine Palliativstation und eine    Sabine Haupt spätestens seit ihrem Erzählband
psychiatrische Praxis, ein unterirdischer Ge-     ›Blaue Stunden‹ bekannt.« Rolf Löchel in »Fem-
richtssaal und ein kubanischer Friedhof.          Bio«, dem Blog von Luise F. Pusch
Schwarzer Humor und der unerschrockene Blick
in seelische und politische Abgründe kennzeich-   Die Autorin steht für Lesungen zur Verfügung.
nen alle dreizehn in diesem Band versammelten

                                                                                verlag die brotsuppe
                                                                                     Herbst 2022  7
Verlag die brotsuppe - Herbst 2022
… ihre Fabrik und ihr Viertel
                                             Thomas Flahaut wurde 1991 in
                                             Montbéliard geboren. Er hat in
                                             Strassburg Theaterwissenschaf-
                                             ten studiert, ist in die Schweiz
                                             übersiedelt und hat am Schwei-
                                             zerischen Literaturinstitut in
                                             Biel Literarisches Schreiben
                                             studiert. Er schreibt Drehbü-
                                             cher und ist Mitbegründer des
                                             schweizerischen Kollektivs
                                             »Hétérotrophes«. Sein erster
                                             Roman »Ostwald« (2018) handelt
                                             von zwei Brüdern, die sich nach
                                                                                     Der Übersetzer
                                             einer Nuklearkatastrophe eine
                                             neue Zukunft erfinden müssen.           Yves Raeber ist
                                             »Sommernächte«, von der Fon-            Schauspieler, Regis-
                                             dation Leenaards gefördert, ist         seur und Übersetzer
                                             sein zweiter Roman, der 2022 mit        von Theaterstücken
                                             dem Prix du Roman des Romands           und Prosa.
                                             ausgezeichnet wurde.
                                                                                     Er lebt und arbeitet
                                             (Foto: Lucas Dubuis)                    in Zürich.

Leseprobe. Es ist der erste Abend seines siebten       er sie liebt, und dazu das Geräusch des Rotors
Sommers bei Lacombe. Der Parkplatz ist von             nachmachen, da ist sich Mehdi sicher. Dann gibt
Jahr zu Jahr unbelebter. Standen dort früher zur       es Stylo, den letzten Festangestellten und einzi-
Dämmerung noch viele Motorräder, ist er jetzt          gen älteren Mitarbeiter, der kein Chef ist. Auch er
fast leer, ebenso der Hof, die Treppe, der Umklei-     ist vermutlich in seine Fräse verliebt, die einzige
deraum und die Werkstatt. Um die fünf in Betrieb       Maschine in der Werkstatt, die etwas abseits-
befindlichen Maschinen – vier Mirandas und eine        steht. Dann ist in diesem Jahr zum ersten Mal
Fräse – stehen weitere ungenutzt herum. Gegen          auch Thomas dabei. Zu sehen, wie er an diesem
zwanzig Operateure waren sie im letzten Som-           Abend Romuald hinterherläuft und bei dessen
mer, jetzt sind sie nur noch zu sechst. Steven         Erklärungen schüchtern nickt, ist einfach ko-
und Nicolas Lorrain, mit denen er schon als Kind       misch. Thomas, Student und Studienabbrecher,
befreundet war und die so eng miteinander auf-         der die Fabrik nie zu betreten geschworen hat,
gewachsen sind, dass sie wie Zwillinge wirken.         die seinen Vater Gesundheit und Lebensfreude
Dann gibt es Romuald, den Chef, der Miranda in-        kostete, ist da. Vor diesem sich in einer fremden
und auswendig kennt, er weiss, wie sie schnurrt,       Umgebung bewegenden Kindheitsfreund fühlt
bei der Arbeit riecht, beim Einschlafen zu             sich Mehdi wie zuhause.
schnarchen beginnt, Romuald, der die Maschi-
nensprache beherrscht. Nachts, wenn er allein
ist, wird er der Maschine ab und zu sagen, dass

verlag die brotsuppe
8  Herbst 2022
Verlag die brotsuppe - Herbst 2022
Thomas Flahaut
Sommernächte
Roman
Übersetzt von Yves Raeber
                                                 Thomas Flahaut
224 Seiten
CHF 31 / Euro 28
                                                 Sommernächte
ISBN 978-3-03867-070-4                           Roman
                                                 übersetzt von Yves Raeber
                                                 verlag die brotsuppe

                                                                                              Prix:
                                                                                           Le Roman
                                                                                              des
                                                                                           Romands

Thomas, Mehdi und Louise kennen sich seit ihrer        die noch gewalttätiger ist als die ihrer Eltern. Dort
Kindheit.                                              gibt es keine Arbeiter mehr, sondern Operateure,
                                                       und die Maschinen glänzen in seltsamer Schön-
Damals war Les Verrières ein unerschöpflicher
                                                       heit.
Spielplatz. Heute sind sie erwachsen, ihr Viertel
ist verfallen und für einen Sommer wird die Fabrik     Thomas Flahauts grosses Fresko über die Macht
zum Mittelpunkt ihres Lebens.                          und Zerbrechlichkeit des sozialen Erbes ist der
                                                       Roman einer Generation mit ihren Träumen, Hoff-
Die Fabrik, in der ihre Väter viele Jahre lang
                                                       nungen und Enttäuschungen.
geschuftet haben und in der Thomas und Mehdi
gerade erst eingestellt wurden.                        Das Buch hat 2022 die Auszeichnung Roman des
                                                       Romands erhalten.
Die Fabrik steht im Mittelpunkt von Louises Dis-
sertation über Grenzarbeiter zwischen Frankreich
und der Schweiz. Die Kinder aus der Unterschicht       Autor und Übersetzer stehen für Lesungen zur
sehnten sich früh nach einem besseren Leben.           Verfügung.
Sie finden sich in einer keimfreien Welt wieder,

                                                                                        verlag die brotsuppe
                                                                                             Herbst 2022  9
Verlag die brotsuppe - Herbst 2022
… passt nicht und schmeckt
                                            Regina Dürig, geboren 1982 in Mannheim,
                                            ist freischaffende Autorin, Performerin
                                            und Dozentin für literarisches Schreiben.
                                            Für ihre Arbeiten hat sie zahlreiche Aus-
                                            zeichnungen erhalten, u.a. den Peter-Härt-
                                            ling-Preis, ausserdem waren ihre Bücher
                                            für den Schweizer Kinder- und Jugendme-
                                            dienpreis und den Deutschen Jugendlitera-
                                            turpreis nominiert.
                                            www.reginaduerig.ch
                                            Miriam Affolter, geboren 1980 in Bern, ist
                                            Grafikdesignerin. Seit 2010 arbeitet sie als
                                            selbstständige Grafikerin in Biel, seit 2012
                                            in ihrem eigenen Büro »atelier komma«.
                                            Sie unterrichtet an der Fachklasse für
                                            Grafik und arbeitet als Mentorin des Gra-
                                            fikdiplomprojekts.
                                            www.atelierkomma.ch
                                            (Foto: Miriam Affolter, Anja Fonseka)

Leseprobe. »Wir haben Frühstück gemacht«, sagt          »Aber Schokolade und Salz passen überhaupt
eine Stimme, die Maila bekannt vorkommt. »Wo            nicht zusammen!«, haucht Maila. »Deswegen ist
bin ich?«, fragt sie und setzt sich auf. »Auf dem       es ja so gut«, antworten Nello und Meo gleichzei-
Sofa«, sagt Nello. Alles um sie herum ist so eng,       tig. Nello nimmt ein Käsebrot, leckt die Marmela-
dass Maila Angst hat, plötzlich von einem Regal         de runter und hält Maila das Brot hin. Maila wird
oder Schrank verschluckt zu werden. »Frühstück?         schlecht.
Wie lange habe ich geschlafen?« – »Einen Tag,
                                                        Sie will aufstehen, aber Meo hält sie fest. »Du
eine Nacht und dann noch ein bisschen länger. Es
                                                        kannst nicht weggehen, du bist unsere Patien-
ist schon fast Abend, aber wir können nur Früh-
                                                        tin«, sagt er. »Eigentlich wollen wir einen Hund,
stück machen«, sagt Meo und stellt einen Teller
                                                        aber eine Patientin ist auch gut«, sagt Nello. »Ihr
auf die Sofalehne. »Käsebrot mit Marmelade und
                                                        braucht jemanden, die sich um euch kümmert,
Schokoladenbrot mit Salz«, erklärt er.
                                                        nicht umgekehrt«, sagt Maila, zieht ihre Hand aus
Maila hat Hunger, aber ihre Hand will nicht nach        Meos Hand und läuft runter in ihre Wohnung. Aller
den Broten greifen. Wie kommen diese Kinder auf         Schwindel schon wieder vergessen.
so garstige Ideen? Nello nimmt sich ein Scho-
                                                        Arme Maila, in ihrer Wohnung liegt das ganze Par-
koladensalzbrot. Meo will es ihm aus der Hand
                                                        kett in Haufen aufeinander und nicht mehr schön
ziehen, aber Nello ist schneller, er beisst ab und
                                                        und flach nebeneinander. Grosse Metallkisten mit
Meo muss loslassen, damit seine Finger heil blei-
                                                        Propellern brummen vor sich hin, um die Luft zu
ben. »Das schmeckt«, schmatzt Nello und drückt
                                                        trocknen.
Brotpampe durch die Zähne.

verlag die brotsuppe
10  Herbst 2022
Regina Dürig & Miriam Affolter
Regina Dürig

                                             WAS
Miriam Affolter
Maila, Pia und die
Schokoladenzwillinge
Eine Geschichte zum

                                             ZUSAMMEN-
Vorlesen und Nachkochen
112 Seiten
CHF 29 / Euro 27
ISBN 978-3-03867-072-8

                                             PASST
                                                                                                echs
                                                                                         Mit s            chen
                                                                                                  öhnli
                                                                                          ergew           pten
                                                                                     auss          Re z e
                                                                                              ert-         gross
                                                                                                                 e
                                                                                       De s s       und
                                                                                            leine
                                                                                      für k          kof  an s
                                                                                              Scho
                                                                                                     **

                                                                                Maila, Pia und
                                                                      die Schokoladenzwillinge
                                                       Eine Geschichte zum Vorlesen und Nachkochen

Im Zentrum des von Miriam Affolter illustrierten        Plötzlich gehören die vier zusammen. Und dann
und von Regina Dürig geschriebenen Kinderro-            bekommt Pia die Kündigung …
mans steht die junge Pianistin Maila, die aus
gesundheitlichen Gründen in ein kleines Küsten-         René Frank, dessen Berliner Restaurant CODA
städtchen reist und ihre Konzerte absagen muss.         mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet ist, hat
Alles ist anders, als sie es kennt, zum ersten          für das Buch sechs ungewöhnliche Schokoladen-
Mal ist sie auf sich selbst gestellt. Sie lernt bald    rezepte entwickelt, die die Geschichte sinnlich
ihre Nachbarn kennen: die Köchin Pia und deren          erfahrbar machen und sich fürs gemeinsame
beiden Söhne Nello und Meo. Die sind laut, frech,       Kochen mit Kindern eignen. René Frank bleibt
neugierig und auch ein bisschen ungezogen.              seiner Philosophie als Patissier treu: Alle R
                                                                                                    ­ ezepte
                                                        arbeiten mit der Eigensüsse der Zutaten. Und
Obwohl Maila Freundinnen und Freunde gebrau-            schaffen durch komplexe Kombinationen ausser-
chen könnte, ist sie so genervt, dass sie den Ver-      gewöhnliche Geschmackserlebnisse. Schokolade
mieter bittet, die störende Familie rauszuwerfen.       und Olive passen nicht zusammen? Deswegen ist
Und dann passiert es: Maila flutet ihre Wohnung         es gerade gut! Eingeleitet wird der Rezeptteil des
und Pia nimmt Maila bei sich auf. Auch wenn sie         Buches mit einer kindgerechten Warenkunde zum
es nie gedacht hätte: Die Zwillinge wachsen ihr         Thema Zucker, Süsse und Schokolade.
so sehr ans Herz, dass Maila sogar für sie kocht.

                                                                                            verlag die brotsuppe
                                                                                                Herbst 2022  11
… die Stadt und die Wörter

                                             Elisabeth Blum ist Architektin und frei-
                                             schaffende Autorin, publiziert seit Jahren
                                             im Forschungsfeld Architektur, urbane
                                             Atmosphären und Stadtperspektiven. Sie
                                             unterrichtete als Gastdozentin an der ETH
                                             Zürich, an der Syracuse University NY und
                                             an der Zürcher Hochschule der Künste
                                             (ZHdK).
                                             Sie gehört zur Gründungs-Clique der
                                             Künstlergruppe »diehasena«, partizipierte
                                             an vielen Kunstausstellungen und Inter-
                                             ventionen. Sie lebt in Zürich.
                                             (Foto: Inge Blum)

Leseprobe. Öffentliches Sprechen lässt sich so          Mittel zur Hand, zu beobachten, wie es um diese
ähnlich verstehen wie das Verlegen eines Schie-         sprachlichen Infrastrukturen steht? Sind sie gut
nennetzes in einer Stadt. Wo keine Bahn, kein           ausgebaut? Oder gleichen sie reduziert betrie-
Bus hinfährt, verschwindet die Stadt. Wo keine          benen Netzen? Liegen zu viele Gleise still? Sind
öffentliche Erzählung hinreicht, reicht auch die        einige noch gar nicht verlegt? Welche wären das?
Wahrnehmung nicht hin. Als Nächstes liesse sich
                                                        Weit und breit kein Forschungstrupp in Sicht, der
behaupten, dass öffentliches Sprechen ein effi-
                                                        Listen führt über urbane Narrative, in die eine
zientes Instrument sei, ausgewählte städtische
                                                        Stadt oder ein Land investiert. Keine Liste der
Phänomene zu suggerieren. Und entsprechend
                                                        abgewiesenen Projekte, in die eine Stadt oder ein
das öffentliche Schweigen ein Werkzeug, Realitä-
                                                        Land nicht investiert. Entscheidend dafür, welche
ten aus dem Stadtverständnis zu verbannen.
                                                        Erzählungen in einer Stadt kursieren, sind beide
Öffentliches Sprechen oder Schweigen ent-               Listen. Abgelehnte Forschungsprojekte auf ihre
scheidet, was Anspruch darauf hat, zur städti-          potentiellen Reden hin zu durchforsten ergäbe
schen Realität zu zählen. Immerfort zu fragen,          Hinweise darauf, welche Geschichten mit der
was gerade zur Sprache kommt oder umgekehrt             Ablehnung marginalisiert werden.
gerade verschwiegen und vertrieben wird, ist ein
                                                        Genehmigtes öffentliches Sprechen. Unterdrück-
vielversprechendes Trainingsfeld für Interpretati-
                                                        tes öffentliches Sprechen. Was vernichtet eine
onen urbaner Welten. Und wenn man öffentliches
                                                        Gesellschaft an sich selber? Was hätschelt sie?
Sprechen wie ein öffentliches Infrastrukturnetz
                                                        In welchen Gruppen? In welchen institutionellen
begreift, hätte man dann nicht ein ganz probates
                                                        Einrichtungen?

verlag die brotsuppe
12  Herbst 2022
Elisabeth Blum
Prekäre Komplizenschaft

                                                    ELISABETH
Die Wörter, das Sprechen,
die Stadt

                                                    BLUM
168 Seiten
CHF 29 / Euro 26

                                                    PREKÄRE
ISBN 978-3-03867-068-1

                                                    KOMPLIZEN-
                                                    SCHAFT DIE
                                                    WÖRTER DAS
                                                    SPRECHEN DIE
                                                    STADT VERLAG
                                                    DIE BROTSUPPE

Warum dieses Theater um Wörter und Sätze?           mittelbar Einfluss nimmt auf die Art und Weise,
Aus dem Sprechen kann ein Blitz aufsteigen.         wie wir die Realität gerade sehen? Wieso auch
Und was tut dieser Blitz? Der lässt uns sehen,      das Realität konstruiert, worüber gerade nicht
was sonst im Schatten um die Wörter herum           gesprochen wird?
geblieben wäre.
                                                    »Prekäre Komplizenschaft« forscht den ge-
Aber, so werden Sie weiter fragen … Warum Wör-      heimnisvollen, räumlichen Ereignissen nach
ter, Sprechen, Stadt? Sprechen kreiert Räume.       beim Beobachten von Wörtern und Sätzen und
Auch ganz reale, urbane. Wörter sind höchst         Sprechweisen.
unbeständige Dinger, die von der Sprache in die
                                                    Die 25 Episoden, die dem quirligen Geschehen
urbane Realität hinüberspringen – in jede Rea-
                                                    eines Dialogs im Reich der Wörter folgen, zeigen
lität. Weil Wörter sich, Amöben ähnlich, Partikel
                                                    keinerlei Geschlossenheit, keine formal stimmi-
einverleiben oder ausstossen, Realitäten ummo-
                                                    ge Logik, sie folgen den Unberechenbarkeiten
deln, in Ausnahmefällen gar revolutionieren.
                                                    des Gesprächs, der Beliebigkeit assoziativen
Wie Vorstellungen von Stadt entstehen? Von          Sprechens, leben von Umwegen und Sprüngen.
gesellschaftlicher Wirklichkeit? Von Wahrheit?
Oder Lüge? Wer sie präfabriziert? Konstruiert?
Manipuliert? Wie man beim Sprechen und Zuhö-
ren an der Wirklichkeit herumschraubt? Warum
sich kein Satz aussprechen lässt, der nicht un-

                                                                                  verlag die brotsuppe
                                                                                      Herbst 2022  13
… im Mittelschichtsschlaraffenland

                                               Ida Marie Hede, 1980 in Braband
                                               bei Århus geboren, studierte
                                               Aural and Visual Culture am
                                               Goldsmiths College in London
                                               und Literarisches Schreiben in
                                               Kopenhagen. Seit ihrem Debüt
                                               2010 hat sie mehrere Bücher
                                               veröffentlicht, darunter »Be-        Der Übersetzer
                                               dårende« (2017), das 2021 unter
                                                                                    Matthias Friedrich
                                               dem Titel »Adorable« auf Eng-
                                                                                    studierte Kreati-
                                               lisch erschienen ist. »Der Sog«
                                                                                    ves Schreiben und
                                               brachte ihr eine Nominierung für
                                                                                    Kulturjournalismus
                                               den Montana-Literaturpreis und
                                                                                    in Hildesheim sowie
                                               den Literaturpreis der dänischen
                                                                                    Skandinavistik und
                                               Zeitung »Politiken« ein.
                                                                                    Kulturwissenschaf-
                                               (Foto: Tine Bek)                     ten in Greifswald.

Leseprobe. Schaut, wie Herzscham langsam, wie             Brüste wollen raus. Leibscham ist liebessüchtig,
in einem Musikclip, ihre bestickte Jeansjacke fal-        hat aber keine Geduld. Ficken tut sie in der Regel
len lässt: Über ihrem weissen T-Shirt und der aus-        als Erstes, und sie macht es im Rausch, das ist
gewaschenen Pyjamahose mit dem Schlangen-                 wie Binge-Watching … – und hinterher steckt
hautaufdruck hat sie ein plissiertes Trägerkleid          sie voller Anek­doten und Sodbrennen, ständig
an. An ihrer Taille klumpt das T-Shirt, schlingt sich     scheint irgendwer mit ihr Schluss zu machen.
wie echte Dellen über die falschen … Herzscham
                                                          Arschscham rückt die goldene Plastikkappe auf
ist eine chaotische, aufreizende Romantikerin.
                                                          ihren Haaren zurecht. Ihr Mantel steht offen. Ein
Herzscham ist Krähwinkels hübscheste White
                                                          Gummiband schlingt sich lose um ihre Hüften.
Trash. Sie lebt für den Liebesrausch. Sie verliebt
                                                          Etwas schmaler als ein Fahrradreifen. Ein kleiner,
sich in alles, dem sie nahekommt. Quer über ihr
                                                          rosa Knoten auf ihrem Hüftknochen. Ich kenne
T-Shirt: ein kleiner Simili-Alien.
                                                          keine, die so fickt wie Arschscham. Unter Leucht-
Direkt hinter Herzscham Leibscham. Jetzt, als             stofflampen. In Küchen. Auf jahrhundertealten
müsste sie sich nicht darum kümmern, lässt sie            Bäumen … Solange man ihr verspricht, kein Mann
ihre Jacke fallen: darunter ein knöchellanger,            zu sein, sich nicht wie ein Mann zu benehmen,
kunstlederner Rock. Ihre Hüften springen hervor           niemals wie ein Mann zu denken. Wie denkt denn
wie ausgemeisselte Büsten, tragen sie Ge-                 ein Mann?, frage ich blöde, als wir, sturmum-
sichtszüge? Unter ihrem shiny Rock zappeln ihre           tost und ins Gespräch vertieft, an der Kreuzung
Schenkel und Waden. Sie ist vakuumverpackt.               stehen.
Ein Nylonhemd, das nach aussen krängt. Die

verlag die brotsuppe
14  Herbst 2022
Ida Marie Hede
Der Sog
oder Wäscht du unsere
Stinkefinger mit deinen                            Ida Marie Hede
Tränen?
Übersetzt aus dem Däni-
schen von Matthias Friedrich
320 Seiten
CHF 33 / Euro 30
ISBN 978-3-03867-071-1                    oder
                                          Wäschst du unsere
                                          Stinkefinger mit
                                          deinen Tränen?
                                          übersetzt von Matthias Friedrich
                                          Roman

                                                                                        Nominiert:
                                                                                      Literaturpreis
                                                                                      der dänischen
                                          verlag die brotsuppe                           Zeitung
                                                                                         Politiken

Nachdem die Erzählerin mit ihrem Mann und                 ausgestossenen Frauen die Verbündeten, die
einer unbändigen Kinderschar eine gelbe Villa im          sie braucht. Dann aber erhält sie eine Vorladung
unsicheren und grössenwahnsinnigen Krähwinkel             vom Referat für HUREREI UND FLAMMENDE
bezogen hat, wacht sie nicht in der versproche-           BUCHSTABEN, die ihr Leben auf den Kopf stellt.
nen Idylle auf, sondern in einer Dystopie.                Sie muss eine Entscheidung treffen: Wird sie
                                                          sich Krähwinkels Regime unterwerfen? Oder
Ständig wird ihre Reproduktionsfähigkeit be-
                                                          wird sie ihre neugewonnenen Freiheiten verteidi-
wertet, mal von ihren Mitmenschen, mal von
                                                          gen können?
der lokalen Kommunalverwaltung, die in ihre
körperliche Freiheit eingreift, sich aber hinter          »Der Sog« ist ein Geheimbrief aus dem Mittel-
einer hippen, Instagram-tauglichen Fassade                schichtsschlaraffenland einer nicht allzu fernen
versteckt.                                                Zukunft. In rasenden Monologen und pointierten
                                                          Beobachtungen erzählt Ida Marie Hede von ei-
So sucht die Erzählerin Kontakt zur örtlichen
                                                          nem Panoptikum, dem kein Bereich des Lebens
Widerstandsbewegung, die Krähwinkels kon-
                                                          entgeht.
servative Vorstellungen von Mutterschaft und
Sorgearbeit unterwandern will, und findet in drei

                                                                                        verlag die brotsuppe
                                                                                            Herbst 2022  15
Noëmi Lerch, 1987 geboren in Baden,
                                                      ­studierte am Schweizerischen Literatur­
                                                       institut in Biel und an der Universität
                                                       Lausanne. 2015 erschien ihr erstes Buch
                                                       »Die Pürin«, 2017 der Roman »Grit« und 2019
                                                       »Willkommen im Tal der Tränen«.
                                                      Noëmi Lerch lebt mit ihrem Sohn auf einem
                                                      Bauernhof in Aquila, im Tessin.
                                                      Sie hat 2016 für »Die Pürin« den Terra Nova
                                                      Preis für Literatur bekommen und stand 2017
                                                      auf der Shortlist für den Rauriser Literatur-
                                                      preis. 2020 wurde sie mit dem Schweizer
                                                      Literaturpreis ausgezeichnet.
                                                      (Foto: Hanin Lerch)

                                                                                Schweizer
                                                                              Literaturpreis
                                                                                   2020

                                                                            Noëmi Lerch:
                                                                            Willkommen im Tal der Tränen
                       Noëmi Lerch: Grit                                    Bilder vom Duo Walter Wolff
                       104 Seiten, gebunden                                 288 Seiten, gebunden mit Lei-
                       CHF 24 / Euro 20                                     nenumschlag; CHF 29 / Euro 27
                       ISBN 978-3-905689-85-3                               ISBN 978-3-03867-015-5

Leseprobe. Als die Pürin Pürin werden wollte,         schöne Aussicht zeigen. Aber meine Grossmutter
sagte man ihr, das sei gegen das Gesetz. Die          liebte die Berge nie. Sie war froh, dass sie nicht
Pürin gibt es nur als die Frau vom Bauer. Und         Bergsteigerin werden musste.
eine Pürin ohne Mann, das sei schon kompliziert
                                                      Ich wäre gerne Bergsteiger geworden wie mein
genug. Aber die Pürin wollte alleine, und als Frau,
                                                      Grossvater. Es sollte nicht sein. So kam ich als
Bäuerin werden. Man sah sich ihren Hof an. Fand
                                                      jemand anderes zur alten Villa. Sie war ganz ein-
da ein paar Pferde und eine illegale Kuh, die die
                                                      gewachsen. Ich öffnete die Tür, ohne zu wissen,
Pürin von einer nordischen Insel importiert hatte.
                                                      was ich tat. Drinnen sass die Grossmutter und
Die Kuh war für eine Kuh sowieso zu klein. Man
                                                      sang das Lied von den Kosaken. Als sie fertig war,
sah darüber hinweg. Als erste Frau besuchte die
                                                      fragte sie, ob ich schon wisse, wo ich einmal blei-
Pürin die Schule für Landwirtschaft. Sie bestand
                                                      ben werde. Ich ging wieder nach draussen. Da traf
mit Bestnote. Ihr Mann später war froh, dass er
                                                      ich die Pürin, sie sass auf dem Rücken des alten
nicht Bauer werden musste.
                                                      Schimmels. Sie sagte, in diesem Jahrhundert der
Im selben Jahr, als die Pürin besagtes Gesetz um-     unbegrenzten Mög­lichkeiten, warum nicht Pürin
gegraben hatte, baute mein Grossvater die Villa       werden? Für die Grossmutter wäre ich überall
Laudinella. Er baute sie für die Grossmutter auf      geblieben. Wie die Pürin hoch zu Ross sein, das
der Sonnenterrasse über dem Tal. Wollte ihr, die      wünschte ich mir.
vom anderen Ende der Welt gekommen war, die

verlag die brotsuppe
16  Herbst 2022
Noëmi Lerch
Die Pürin
Roman
Neuauflage                                           Noëmi Lerch
112 Seiten
CHF 25 / Euro 23
ISBN 978-3-03867-075-9

                                                                     Roman

                                       Die Pürin
                                                                                       Terra Nova
                                                                                        Preis für
                                                                                        Literatur
                                                           verlag die brotsuppe

Die Gehilfin notiert sich alles, was sie nicht       zend nüchtern, sachlich genau. Sie hört auf die
vergessen will: von den Kühen, den Hühnern,          Herztöne der Dinge, der Lebewesen, selbst der
der Arbeit im Kreislauf der vier Jahreszeiten. Die   Maschinen, auch der Steine. Ob beseelt oder
Pürin merkt an, ergänzt, fragt nach, schliesst       angeblich unbeseelt, ob belebt oder nicht: Alles
den Reissverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn.     ist ihrer erzählerischen Aufmerksamkeit und
Lässt die Gehilfin machen. Man sieht, wie die        Achtsamkeit gleicherweise bedeutsam. Wenn
Pürin geht. Wie sie kommt, weiss man nicht. Sie      die Sprache eine Wünschelrute ist: Hier erlebt
ist dann einfach wieder da.                          man, dass noch dem Geringsten ein Zauber
                                                     innewohnt. Und dass die Sprache eigentlich ein
Die Gehilfin kehrt jeden Abend zurück in die
                                                     Hörorgan ist.« Roman Bucheli, NZZ
alte Villa ihrer Grosseltern. Längst wohnt dort
niemand mehr, aber auf dem Tisch stehen noch         »Die Pürin« ist das erste Buch von Noëmi Lerch.
immer die beiden Tassen. Die Gehilfin versucht       Es erhielt 2016 von der Schillerstiftung den Terra
sich zu erinnern, oder zu vergessen. Wer war der     Nova Preis für Literatur und stand 2017 auf der
andere, der mit ihr aus diesen Tassen getrunken      Shortlist für den Rauriser Literaturpreis.
hat? Und wo ist er jetzt?
»Noëmi Lerch erweist sich in ihrem Prosade-          Die Autorin steht für Lesungen zur Verfügung.
büt als fabelhafte Erzählerin – und sie erzählt
gleichwohl nicht, vielmehr berichtet sie, aufrei-

                                                                                    verlag die brotsuppe
                                                                                        Herbst 2022  17
… gerade erst erschienen

     Erlend O. Nødtvedt
                                                                          Claudia Walder

                                                           BRUCHPILOTEN
  WESTLAND
  DURCH DAS
                       Roman

                                verlag die brotsuppe

     übersetzt                                                            verlag die brotsuppe
     von Matthias Friedrich

Erlend O. Nødtvedt: Durch das Westland                  Claudia Walder: Bruchpiloten
Roman, übersetzt von Matthias Friedrich                 Roman
232 Seiten, gebunden; CHF 32 / Euro 28                  100 Seiten, gebunden; CHF 25 / Euro 23
ISBN 978-3-03867-064-3                                  ISBN 978-3-03867-061-2

In einem klapprigen Toyota Camry ziehen der             Der Pilot ist abgestürzt auf dem Hang über
Schriftsteller Erlend und sein Malerfreund ­Yngve       dem Dorf. Der Vater und die Knechte haben ihn
aus der Grossstadt Bergen ins norwegische               aufgesammelt, seinen zerschundenen Körper in
Westland, die regenreichste Gegend Europas.             Mutters Stube getragen. Die Mutter pflegt den
Sie wollen das Wesen dieses Küstenstrichs, der          Piloten, der im Fieberschlaf spricht. Wenn der
bei den Künstlern des 19. Jahrhunderts so hoch          Pilot träumt, träumt er vom Fliegen, und seine
im Kurs stand, neu bestimmen. Auf der Rück-             Worte wecken in der Mutter die Sehnsucht. Nach
bank liegt der Schädel des Anders Lysne, der            dem Fliegen, nach dem Fortgehen.
1803 hingerichtet wurde, weil er es wagte, sich
                                                        Aber die Mutter hat ein Leben im Dorf, am Berg,
gegen die dänische Obrigkeit aufzulehnen. Das
                                                        auf dem Hof. Sie hat eine Familie, hat den Vater,
Ziel ihrer feuchtfröhlichen Don Q   ­ uichottiade ist
                                                        ihren Garten, ihre Hühner. Doch ihre Träume
Lærdal, die Heimat des Revolutionärs, wo die
                                                        lassen sich nicht so leicht aussperren, sie
beiden Lausbuben den Totenkopf bestatten wol-
                                                        schleichen sich ins Herz wie der Fuchs in den
len. Auf ihrem Weg treffen Erlend und Yngve auf
                                                        Hühnerstall.
rabiate Bärenjägerinnen, schusselige Antiquare
und Dichter von Jon Fosse bis Rolf Sagen. Sie
erleben die Westländische Befreiungsfront, die
mit subversiven Performances gegen die Para-
graphenhirne aus der Osloer Regierung angehen
will, live mit, verlieren sich in Visionen und fin-
den eine neue Sprache. Doch sie geraten auch in
einen Hinterhalt, der Schädel kommt ihnen ab-
handen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, denn
der Orkan Vegard hat sich aufgemacht, Westland
zu zerstören.

verlag die brotsuppe
18  Herbst 2022
Nicolas Verdan

                                                            Doktor
                                                          Hirschfelds
                                                            Patient
                                                                                               Roman
                                                                                                                  Schillerpreis
                                                                                                                     2012

                                                                                             Roman

                                                             übersetzt
                                                                             übersetzt
                                                             von Hilde Fieguth
                                                                             von Hilde Fieguth                   Prix du public
                                                             verlag die brotsuppe                                     RTS
                                                                                    verlag die brotsuppe

Eva Seck: versickerungen                                Nicolas Verdan: Doktor Hirschfelds Patient
gedichte, geschichten, bilder und szenen                Roman, übersetzt von Hilde Fieguth
112 Seiten, gebunden; CHF 25 / Euro 23                  276 Seiten, gebunden; CHF 34 / Euro 29
ISBN 978-3-03867-063-6                                  ISBN 978-3-03867-065-0

In den Gedichten kreist das Ich um die Frage der        »Doktor Hirschfelds Patient« handelt von der
Identität und der Herkunft, um das Frau- und            Patientenliste des Arztes und Sexologen M   ­ agnus
Muttersein und es trifft immer wieder auf Men-          Hirschfeld, der 1919 in Berlin das Institut für
schen, die nichts zu sagen haben in unserer             ­Sexualwissenschaft gründete. Der fiktive SS-
Gesellschaft. Es erzählt von den Eltern und der          Mann Wilfried Blume hat in den zwanziger Jahren
Vererbbarkeit ihrer Erfahrungen auf die Kinder,          Hilfe bei Dr. Hirschfeld gesucht. Er will mit allen
aber auch von gescheiterten Beziehungen.                 Mitteln dessen Patientenliste an sich bringen, ehe
                                                         sie in die Hände der Partei gerät.
Lyrik und Prosa wechseln sich ab.
                                                        Der zweite Patient, Karl Fein, eine mehr oder
In den Prosatexten setzt sich die Ich-Erzählerin
                                                        ­weniger historisch verbürgte Gestalt und deutsch-
mit Zugehörigkeit und Solidarität, Verlust und
                                                         sprachiger Jude aus Brünn, ist Hirschfelds Anwalt.
Verwandlung auseinander. Die Erzählerin sucht
                                                         Er wird 1939 nach Palästina ausgeschafft.
ihren Platz in der Welt, der für sie alles andere als
selbstverständlich ist.                                 Der Roman, sehr aktuell in Zeiten der Queer-
                                                        Debatten, ist ein überzeugendes und berüh­rendes
»Eva Secks Gedichte schaffen das Schwierigste:
                                                        Plädoyer für Toleranz im Sinne Hirschfelds gegen-
einerseits grosse Intimität und Innigkeit, sie sind
                                                        über allen Erscheinungsformen der Sexualität.
nie abstrakt, nie unpersönlich, stets durchflu-
                                                        Er dokumentiert mit Mitteln der Literatur die
tet von Leben und Wärme. Da trägt jemand auf
                                                        totalitäre Verfolgung der Homosexuellen durch
schönste Weise das Herz auf der Zunge. Gleich-
                                                        die Nazis. In Hirschfeld’scher Perspektive werden
zeitig weisen sie jederzeit über den Moment hin-
                                                        die verborgenen sexuellen Facetten und Motive
aus, geben uns Sprache für Dinge, die uns bisher
                                                        sowohl von Individuen als auch von Kollektiven
sprachlos machten, und zeichnen uns Räume
                                                        in ihren Taten und Untaten offengelegt – und in
vor, wo bisher Leere war.« Auszug aus der Jury-
                                                        dieser Perspektive liegt die Originalität dieses
Begründung von Tim Krohn, Aargauer Kuratorium
                                                        Romans.

                                                                                                           verlag die brotsuppe
                                                                                                               Herbst 2022  19
Antoinette
                                                           Rychner
                                                                           Erzählung

                                                          immer wir sind
                                                                           übersetzt
                                                                           von Yla M. von Dach

                                                          wo auch
       Marie-Luise Könneker
       Fotos von Ernst Fischer

       einfach schön und gut
       Leben an den Rändern der Konsumgesellschaft
                                                                           verlag die brotsuppe
       verlag die brotsuppe

Marie-Luise Könneker: einfach schön und gut          Antoinette Rychner: wo auch immer wir sind
Fotos von Ernst Fischer                              Übersetzt von Yla M. von Dach
ca. 176 Seiten, gebunden; CHF 33 / Euro 30           ca. 160 Seiten, gebunden; CHF 29 / Euro 26
ISBN 978-3-03867-066-7                               ISBN 978-3-03867-062-9

Marie-Luise Könneker findet, altersgemäss,           Nachdem bei ihrem fünfjährigen Sohn eine
Zeit aufzuräumen. Viel im Lauf der Jahrzehnte        schwere Leukämie diagnostiziert worden ist,
Angesammeltes will noch einmal angeschaut,           protokolliert Antoinette Rychner den Alltag ihrer
geprüft, dokumentiert und allenfalls aufgehoben      aus der Bahn geworfenen Familie. Monatelang
und weitergegeben werden. Die Autorin ver-           werden die Eltern zwischen der Hoffnung auf
sucht, schreibend und collagierend, ein Stück        Genesung und der Verzweiflung über Rückfälle
weit Bilanz zu ziehen und Abstand zu gewinnen        und Komplikationen hin- und hergeworfen, kom-
von vergangenen Dingen und Festlegungen.             men an ihre Grenzen – und finden doch immer
                                                     wieder neue, ungeahnte Kräfte.
Sie beschäftigt sich seit langem mit der The-
matik des Hauses, praktisch und theoretisch,         Benjamin, der kleine Bruder des Erkrankten, ist
und bezeichnet sich selbst unerschrocken als         da gerade drei Monate alt. An ihn, der von all
»HausFrau und Autorin« und hinterfragt die De-       dem noch nichts versteht und es doch so haut-
gradierung des Begriffs Hausfrau. Sie möchte in      nah miterlebt, richtet die Autorin ihre Worte.
diesem Buch nicht Kritik und Verlust in den Vor-     Weit davon entfernt, nur das – womöglich be-
dergrund stellen, sondern versuchen zu zeigen,       ängstigende – Zeugnis einer schweren Schick-
dass an den Rändern des Konsumismus nicht            salsprüfung zu sein, entlässt dieser Bericht den
nur Elend und Prekariat lauern und dass gerade       Lesenden vielmehr gestärkt durch den wun-
in Nischen Neues entstehen kann. Sie geht den        derbaren Mut, die Solidarität, die Liebe und die
Möglichkeiten einer alternativen Ökonomie nach,      ungeschönte Aufrichtigkeit, die hier aus jeder
setzt sich mit dem aktuellen Trend des Mini-         Zeile sprechen.
malismus und der Aufräum-Methodik von Marie
                                                     Dass der kleine Junge inzwischen geheilt ist,
Kondō auseinander …
                                                     setzt diesem berührenden Lebenszeugnis die
Die Fotos von Ernst Fischer sind nicht illustrativ   Krone auf!
gemeint, sondern zeigen auf der Bildebene eine
Art »Poe­tologie des Raumes«, wie sie das gleich-
namige Werk von Gaston Bachelard wahrzuneh-
men lehrt.

verlag die brotsuppe
20  Herbst 2022
Buchpreis
                   Andri Bänziger                                                                               Kanton Bern
                                                                                                                   2021

   Gegen Gewicht

                   Roman

                                                          I WILL BE DIFFERENT EVERY TIME
                                                          SCHWARZE FRAUEN IN BIEL
                                                                 FEMMES NOIRES À BIENNE
                                                                             BLACK WOMEN IN BIEL
                                                          FORK BURKE, MYRIAM DIARRA & FRANZISKA SCHUTZBACH (EDS.)
                           verlag die brotsuppe

Andri Bänziger: Gegen Gewicht                         Fork Burke, Myriam Diarra, Franziska Schutzbach
Roman, 176 Seiten, gebunden; CHF 27 / Euro 25         (Eds.): I WILL BE DIFFERENT EVERY TIME
ISBN 978-3-03867-056-8                                296 Seiten, gebunden; CHF 35 / Euro 30
                                                      ISBN 978-3-03867-025-4

»Gegen Gewicht« erzählt die Geschichte einer          Dieses Buch erzählt ein Stück »Black History« in
betäubten ­Mutter, die unter dem Druck ihrer          der Schweiz. Es macht Frauen mit ihren Stim-
beeinträchtigten und eigensinnigen Tochter nach       men, Biographien, Denkweisen, Perspektiven und
und nach aufbricht.                                   Lebenswelten sichtbar, die in der Schweiz selten
                                                      zur Kenntnis genommen werden.
»Ich fühlte mich, als sähe ich Aliena zum ersten
Mal, als sähe ich sie wirklich, auf kleinen Pickeln   Die Schweizer Gesellschaft wird immer pluraler,
kam sie meine Mauer hochgeklettert, mit jedem         Schwarze Menschen prägen die Schweiz mit.
Einschlag barst der Beton, und als sie oben war,      Biel ist durch die Zweisprachigkeit ein zentraler
konnte ich sie sehen in ihrer Ganzheit, und ihre      Ort Schwarzer Schweizer ­Geschichte, Migration
Schönheit drückte so schwer auf mich, dass es         und Schwarzen Schweizer Lebens. Schwarze
schmerzte, ich fühlte es in der Kehle, ich fühlte     Menschen kamen und kommen aus den unter­
es in der Brust, im Bauch, in den Beinen, Steine      schiedlichsten Ländern und Gründen. Viele
fielen nieder, krachten, Beton, der aufbricht.«       wurden hier bereits als Schweizerinnen geboren,
                                                      andere kommen aus Amerika, Afrika, viele sind
                                                      Asyl­bewerberinnen.
                                                      Kaum jemand aber kennt ihre Geschichten. Mit
                                                      diesem Buch soll sich das ändern. Frauen aus
                                                      der afrikanischen Diaspora in Biel – mit unter-
                                                      schiedlichen Hintergründen und aus verschie-
                                                      denen Generationen – berichten über ihr Leben
                                                      und ihre Erfahrungen. Ihre Texte werden durch
                                                      die aktuelle Forschung zur Geschichte Schwarzer
                                                      Menschen in der Schweiz ergänzt.

                                                                                                  verlag die brotsuppe
                                                                                                      Herbst 2022  21
Christine
                                                              Rinderknecht

                                                                           SIEBEN
                                                                           JAHRE
                                            Schweizer
                          Louis Soutter, Literaturpreis
                              sehr                                  MIT DEM
                                              2017
   verlag die brotsuppe

                          wahrscheinlich                            JAPANER
                                                                    verlag die brotsuppe

Michel Layaz: Louis Soutter, sehr wahrscheinlich          Christine Rinderknecht:
Roman, übersetzt von Yla M. von Dach                      SIEBEN JAHRE MIT DEM JAPANER
248 Seiten, gebunden; CHF 28 / Euro 26                    Roman, 320 Seiten, gebunden; CHF 33 / Euro 29
ISBN 978-3-03867-024-7                                    ISBN 978-3-03867-057-5

Wer war Louis Soutter? Tatsächlich gehört Louis           Was wissen wir über uns selbst, über einander,
Soutter, der einen grossen Teil seines Lebens als         über die stimmlosen Dinge, die uns begleiten?
Insasse in einem Altersheim verbrachte, heute             Was kann über einen Menschen nach langer Zeit
zu den Künstlern, die weit über die Grenzen der           herausgefunden, gesagt, gezeigt werden, was
Schweiz hinaus Anerkennung gefunden haben.                bleibt für immer im Dunkeln?
Zu seinen Lebzeiten jedoch eckte der hochbe-              Am Anfang steht ein goldenes Kästchen, ein
gabte Louis Soutter überall an – hochempfindlich          sogenanntes Takamakie-Lackkästchen. In den
und zugleich hochintelligent, wie er war, ver-            frühen Tagen des 20. Jahrhunderts in einem
mochte er sich den starren Normen der bürgerli-           kleinen Geschäft in Kyoto erworben, wird es
chen Gesellschaft, in die er 1871 hineingeboren           zusammen mit diversen Bücherkisten, gesam-
wurde, nie anzupassen.                                    melten Kunstgegenständen und der Garderobe
Und die Gesellschaft war hilflos und hart: Sol-           seines Besitzers eingeschifft und gelangt auf
che Leute wurden eingesperrt, in Heimen, nicht            dem Seeweg nach Antwerpen, von dort weiter in
in Gefängnissen, was aber beinahe aufs Selbe              ein kleines Dorf im Schweizer Fricktal, wo es auf
hinauslief. Adolf Wölfli und Robert Walser teilten        einem staubigen Dachboden landet.
dieses Schicksal.
                                                          Einige Jahrzehnte später steht es auf der Fri-
Mit grosser Behutsamkeit zeichnet Michel Layaz            sierkommode einer jung verheirateten Frau, wo
das Lebensdrama dieses ungewöhnlichen Men-                es die Neugier eines kleinen Mädchens weckt.
schen nach. Er bringt ihn uns nahe, ohne ihm zu           Das Mädchen wird zur Frau, die Frau macht
nahe zu treten, er hat zwischen poetischer Frei-          sich, wieder Jahrzehnte später, daran, seine
heit und biografischer Faktentreue eine Sprache           Geschichte zu erzählen. Wieder reist sie durch
gefunden, in der Louis Soutter etwas von dem              die Jahrhunderte, nur diesmal in umgekehrter
zuteil wird, was ihm sein Leben lang schmerzlich          Richtung, reist nach Paris, Rouen, Moskau und
gefehlt hat: einfühlsame Anerkennung.                     kommt schliesslich in Kyoto an.
Der Roman wurde 2017 mit dem Schweizer Lite-
                                                          Was sie findet, bleibt bruchstückhaft, wird fass-
raturpreis ausgezeichnet.
                                                          bar und entzieht sich wieder. Doch jedes einzel-
                                                          ne Dokument und jede zufällige Begegnung sind
                                                          prall gefüllt mit Leben.
verlag die brotsuppe
22  Herbst 2022
X schneeberger

                                                          Neon
                  Johanna
                    Lier                                  Pink &                           Schweizer

                                                          Blue
                                                                                         Literaturpreis
    AMORI                                                                                     2021

  DIE INSELN                                              verlag die brotsuppe             HOTLIST
                          verlag                                                              der
                      die brotsuppe                                                      unabhängigen
                                                                                            Verlage
                                                                                             2020

Johanna Lier: AMORI. DIE INSELN                      X Schneeberger: NEON PINK & BLUE
328 Seiten, gebunden; CHF 31 / Euro 27               Roman, 272 Seiten, gebunden; CHF 30 / Euro 28
ISBN 978-3-03867-031-5                               ISBN 978-3-03867-027-8

Sie fliehen vor Krieg, Diktatur, Hunger und den      In »NEON PINK & BLUE« findet sich eine Drag
Auswirkungen der Klimakatastrophe; manche            Queen in einem Klimasommer obdach- und
sind auf der Suche nach einem besseren Leben;        papierlos am Zürisee wieder. Ohne Garderobe out
sie kommen aus dem Mittleren Osten, aus Süd-         the closet, ohne Badezimmerspiegel und Kostüme
ostasien, dem Maghreb und subsaharischen Län-        ergreift X ein Gefühl der Nacktheit.
dern. Allen ist gemein, dass sie in seeuntüchtigen
                                                     Geschichten zu in Frage gestellter Identität und
Gummibooten das Ägäische Meer überqueren
                                                     schwer belegbarer Herkunft drängen sich ins un-
und auf den griechischen Inseln in Lagern gefan-
                                                     tergehende Postkartenbild des Alpenpanoramas.
gen gehalten werden, bis entschieden ist, ob sie
in Europa Asyl beantragen dürfen – oder ob sie       »… ein wunderbares Machwerk, gemacht von
in die Türkei deportiert werden. Das kann Jahre      Menschenhand.« Annina Haab
dauern.                                              »Es geht um ein Dirigieren von verschwundenen
Neun Männer und Frauen aus dem Lager Moria           oder verdunkelten Körpern, um einen Kutscher
auf der Insel Lesbos, Geflüchtete und Aktivis-       der Schatten des Körpers.« Stefan Humbel
tinnen, erzählen der Autorin (oder ihrem fiktiven
Alter Ego Henny L.), was es braucht, um dort zu
überleben. Es geht um Hunger, Kälte, Hitze, War-
ten, Gewalt und um den radikalen Kontrollverlust
über das eigene Leben.
»AMORI. DIE INSELN« ist keine Chronik der
Skandale, sondern ein dokumentarischer Be-
richt, der mit literarischen Mitteln die grösst-
mögliche Nähe zu den Beteiligten sucht.
Jahrhundertealte europäische Praxis wird doku-
mentiert: die Selektion und das Lager.
Die Protagonistinnen und Protagonisten setzen
ihr die ganz eigenen Vorstellungen von persönli-
cher Erfüllung und Freiheit entgegen.
                                                                                    verlag die brotsuppe
                                                                                        Herbst 2022  23
verlag die brotsuppe                 Auslieferung                        Auslieferung in
Gartenstrasse 31                     in der Schweiz                      Deutschland/Österreich
CH-2503 Biel/Bienne
                                     Buchzentrum AG                      Lambertus Verlag GmbH
Telefon +41 32 323 36 31
                                     Industriestr. Ost 10                Mitscherlichstr. 8
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Wir danken der Fondation Jan                                             D-60486 Frankfurt a. M.
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