VERWENDUNGS-BESCHRÄNKUNGEN - DER BLINDE FLECK DER KECK-JUDIKATUR - JKU ...

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Eingereicht von
                                        Thomas Gstöttenmayr

                                        Angefertigt am
                                        Institut für Europarecht

                                        Beurteiler / Beurteilerin
                                        Univ.-Prof. Dr. Franz
                                        Leidenmühler

VERWENDUNGS-
                                        August 2020

BESCHRÄNKUNGEN –
DER BLINDE FLECK
DER KECK-JUDIKATUR

Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
Magister der Rechtswissenschaften
im Diplomstudium
Rechtswissenschaften

                                        JOHANNES KEPLER
                                        UNIVERSITÄT LINZ
                                        Altenberger Straße 69
                                        4040 Linz, Österreich
                                        jku.at
                                        DVR 0093696
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde
Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die
wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.

Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch.

Linz, am 16.8.2020

Unterschrift

19. August 2020                                                                               2/39
VERWENDUNGSBESCHRÄNKUNGEN – DER BLINDE FLECK
DER KECK-JUDIKATUR

Eine Betrachtung des Problemfeldes Verwendungsbeschränkungen und Besprechung der
möglichen Lösungen, um die bestehenden Lücken in der Rechtsprechung des EuGH zu füllen.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

I.    Die Problemstellung ............................................................................................................ 5
II.   Grundlagen und Kontext ..................................................................................................... 6
A.    Die Idee eines gemeinsamen Europas ................................................................................ 6
B.    Das System der Grundfreiheiten ......................................................................................... 7
C.    Der freie Warenverkehr ....................................................................................................... 8
D.    Der Binnenmarkt ................................................................................................................. 9
III. Die Rechtsprechung vor Keck ........................................................................................... 11
A.    Die Rechtssache Dassonville ............................................................................................ 11
1.    Sachverhalt und Problemstellung ...................................................................................... 11
2.    Das Urteil .......................................................................................................................... 11
3.    Weiteres Regelungsbedürfnis ........................................................................................... 12
B.    Die Rechtssache Cassis de Dijon...................................................................................... 13
1.    Sachverhalt und Problemstellung ...................................................................................... 13
2.    Das Urteil .......................................................................................................................... 13
3.    Die Rechtsfortentwicklung ................................................................................................. 14
IV. Die Rechtssache Keck und Mithouard ............................................................................... 16
A.    Sachverhalt und Urteil ....................................................................................................... 16
B.    Rechtliche Beurteilung ...................................................................................................... 17
1.    Implementierung von Verkaufsmodalitäten ........................................................................ 17
2.    Schutz des Marktzugangs ................................................................................................. 18
C.    Kritik und weiterer Regelungsbedarf .................................................................................. 18
1.    Verkaufsbezogene Maßnahmen........................................................................................ 19
2.    Verwendungsbeschränkungen .......................................................................................... 19
D.    Folgerechtsprechung......................................................................................................... 19
1.    Die Rechtssache Deutscher Apothekerverband ................................................................ 19
2.    Die Rechtssache Alfa Vita ................................................................................................. 20
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V.    Sonderproblem Verwendungsbeschränkungen ................................................................. 22
A.    Definition und Auslegung................................................................................................... 22
B.    Bisheriger Umgang mit Verwendungsbeschränkungen ..................................................... 23
C.    Hürden in der rechtlichen Beurteilung................................................................................ 24
VI. Lösungsansätze ................................................................................................................ 25
A.    Die Rechtssache Kommission/Portugal ............................................................................. 25
1.    Die Schlussanträge von Generalanwältin Trstenjak........................................................... 25
2.    Das Urteil .......................................................................................................................... 26
3.    Schlussfolgerung ............................................................................................................... 26
B.    Rechtssache Kommission/Italien ....................................................................................... 27
1.    Die Schlussanträge von Generalanwalt Bot ...................................................................... 27
2.    Das Verfahren ................................................................................................................... 28
3.    Schlussfolgerung ............................................................................................................... 29
C.    Rechtssache Mickelsson und Roos ................................................................................... 29
1.    Die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott ............................................................... 30
2.    Das Urteil .......................................................................................................................... 31
3.    Schlussfolgerung ............................................................................................................... 31
D.    Die Rechtssache ANETT................................................................................................... 32
E.    Aus Lehre und Literatur ..................................................................................................... 32
1.    Ablösung der Keck-Formel durch Anwendung der Spürbarkeitsschwelle .......................... 32
2.    Vereinheitlichung der Tatbestandsprüfung aller Grundfreiheiten ....................................... 34
VII. Conclusio .......................................................................................................................... 35
A.    Zusammenfassende Würdigung ........................................................................................ 35
B.    Ausblick............................................................................................................................. 36
VIII. Literaturverzeichnis ........................................................................................................... 37
IX. Rechtsprechungsverzeichnis ............................................................................................. 39

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I. Die Problemstellung

Der Binnenmarkt verbindet die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf wirtschaftlicher und
auf politischer Ebene. Die dafür definierte Warenverkehrsfreiheit bedurfte in ihrer Ausgestaltung
jedoch der Mitwirkung des Europäischen Gerichtshofs. Dieser konkretisierte, adaptierte und
gestaltete die Warenverkehrsfreiheit über Jahrzehnte hinweg, um einem funktionierenden
Binnenmarkt die nötige Stabilität und Rechtssicherheit zu verleihen.1

Es ist der Judikatur eigen, dass sie auf die Bedürfnisse der Rechtsunterworfenen stets nur
reagieren kann. Der EuGH griff in der Vergangenheit darüber hinaus jedoch viele Kernpunkte
des freien Warenverkehrs selbstständig auf, entwickelte die Ausgestaltung aktiv weiter und
schloss Lücken.
Diese sukzessive Entwicklung, welche durch die Rechtssache Dassonville begann, ihre
Konkretisierung durch die Cassis-Entscheidung erfuhr und durch die Keck-Judikatur ein bis
dato recht probates Mittel zur Beurteilung des Geltungsbereichs des Art. 34 AEUV erlangte, ist
jedoch mit Sicherheit noch nicht abgeschlossen.

Gerade deswegen, weil in den vergangenen Jahren sogenannte Verwendungsbeschränkungen
für viel Unsicherheit und offene Fragen gesorgt haben, wird das Bedürfnis nach dem nächsten
Schritt in der stetigen Entwicklung der Rechtsprechung stärker. Lösungsansätze gäbe es zur
Genüge, einzig der EuGH hat eine abschließende und einheitliche Lösung dieser Problematik
bislang umgangen.

Inhalt dieser Arbeit soll nicht nur eine Konkretisierung der Thematik rund um die
Verwendungsbeschränkungen sein, sondern vor allem auch eine aktive Auseinandersetzung
mit den bereits angetragenen Lösungsansätzen.

1   Vgl Frenz, Handbuch Europarecht – Band 12 (2012), Rz 22 ff (25).
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II. Grundlagen und Kontext

A. Die Idee eines gemeinsamen Europas

Der europäische Gedanke wurde erstmals in den 1950er Jahren durch die Gründung der
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die Gründung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) greifbar. Es manifestierte sich darin der Grundgedanke der
bisher so blutigen und durch die massive staatliche Repression in den vergangenen
Jahrhunderten geprägten europäischen Historie zu entfliehen. Der europäische Kontinent sollte
von der Lähmung der zwischenstaatlichen Konflikte befreit und in eine friedliche und
prosperierende Zukunft geführt werden.2

Es sei nun dahingestellt, ob für diese beginnende europäische Integration einzig die unter den
Nationalstaaten neu gefundene europäische Geschwisterliebe ausschlaggebend war oder doch
viel mehr wirtschaftliche und geopolitische Chancen und vor allem Notwendigkeiten. Im Kern
können dabei jedenfalls drei Motive festgemacht werden, welche die einzelnen Staaten mit
Nachdruck in eine Zusammenarbeit drängten:

1) Bestimmten über Jahrhunderte hinweg die Interessen der europäischen Großmächte den
geopolitischen Pulsschlag, so führten die beiden Weltkriege und der darauffolgende Kalte Krieg
den noch jungen europäischen Demokratien ihren Machtverlust eindrucksvoll vor Augen. Es
war das Erwachen in einer Realität, in der Europa zwischen den neuen Großmächten USA und
UDSSR drohte aufgerieben zu werden. Sich nicht nur als dritte Macht zu behaupten, sondern
als Balance zwischen den beiden Blöcken zu positionieren, war Grundlage der von Graf
Richard Coudenhove-Kalergi erdachten Paneuropa-Idee.3

2) Das Nachkriegseuropa war zum einen geprägt von den Entbehrungen und dem Leid der
Kriegszeit und zum anderen vom Ziel der Wohlstandsschaffung und -steigerung. Durch den
gemeinsamen und partnerschaftlichen Handel sollte dies ermöglicht werden, um in späterer
Folge von einem gemeinsamen Binnenmarkt profitieren zu können. 4

3) Das dritte und grundlegende Motiv der europäischen Integration ist das Bedürfnis der
Friedenssicherung. Eine stabile politische Ordnung musste erst gefunden wurden. Dies war
eine Aufgabe, welche im Hinblick auf die vergangenen Streitigkeiten und Konflikte auf dem
europäischen Kontinent als schier unlösbar erschien. Es zeigte sich, dass politische Motive
äußerst wandelbar sein können, wirtschaftliche jedoch ein umso stärkeres Band bilden, welches
geeignet ist, Nationen untrennbar zu verbinden. Exemplarisch dafür ist der Schuman-Monnet-
Plan, durch den die deutsche und französische Stahlindustrie vereint wurde. Der Verzicht von
nationalen Souveränitätsrechten führte somit zu einer wirtschaftlicher Gemeinschaft.5 Es sollte
der Beginn des Weges hin zu einem neuen, wirtschaftlich und politisch geeinten Europa sein.

2 Vgl Gemeinsame Erklärung über die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten der internationalen Organisationen,
in Vertrag zur Gründung Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft,1957.
3 Vgl Leidenmühler, Europarecht3 (2017), 7.
4 Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 8.
5 Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 8.

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B. Das System der Grundfreiheiten

Elementar für das weitere Zusammenwachsen der Europäischen Union sind die sogenannten
Grundfreiheiten.6 Dem Europarecht ist ein besonders wirtschaftsbezogener Grundansatz eigen,
der in dessen „wirtschaftsorientierter Tradition fußt.“7 Indem die Grundfreiheiten die Freiheit des
grenzüberschreitenden Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs gewährleisten,
beziehen sie sich auf wirtschaftsrelevante Sachverhalte.8

Gemein ist den Grundfreiheiten außerdem, dass sie Teil des Primärrechts und so für alle
Rechtsunterworfenen unmittelbar anwendbar sind. Dies führt im Kollisionsfall mit nationalen
Normen zu einem Anwendungsvorrang. Dass die Grundfreiheiten in enger Verbindung
zueinander stehen beweist nicht zuletzt die Praxis des EuGH, seine Rechtsprechung stetig
fortzubilden und bereits geschaffene Regeln auf andere Grundfreiheiten zu übertragen
(konvergente Ausgestaltung).9

Der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten wird nach sachlichen, persönlichen und
räumlichen Kriterien abgesteckt. Zum einen ist die Berufung auf die „richtige“ Freiheit
maßgeblich, die Abgrenzung voneinander stellt für gewöhnlich jedoch keine allzu großen
Probleme dar. Zum anderen müssen die Voraussetzungen aufseiten der Begünstigten und
Verpflichteten vorliegen. So erfasst die Warenverkehrsfreiheit etwa gem Art 28 Abs 2 AUEV nur
die aus den Mitgliedstaaten stammenden Waren sowie diejenigen Waren aus dritten Ländern,
die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden.10
Verpflichtet zur Einhaltung der Grundfreiheiten sind in der Regel die Mitgliedstaaten bzw. deren
Institutionen und auch die Unionsorgane. Eine analoge Drittwirkung gegenüber Privaten, wie sie
bei Grundrechten üblich ist, gibt es grundsätzlich nicht. Im Sinne des räumlichen
Anwendungsbereichs ist ein zwischenstaatlicher, iSe grenzüberschreitenden Sachverhalts
zwingend erforderlich.11

Inhalt der Tatbestände sind umfassende Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote, sowie
Handlungspflichten, welche aktiv zu einer Vermeidung bzw Verhinderung von
Ungleichbehandlungen und anderen den Grundsätzen des Europarechts zuwiderlaufenden
Akten, dienen.

Eine die Grundfreiheiten beschränkende nationale Regelung bedarf einer umfassenden
Rechtfertigung, wobei der Spielraum hier eng gezogen ist und sich die beschränkenden
Mitgliedstaaten auf übergeordnete Güter, wie öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit
berufen müssen. 12 Eine Erweiterung, keinesfalls jedoch eine Aufweichung, dieser zur
Rechtfertigung tauglichen Gründe, führte der EuGH im Zuge der Rechtssache Cassis de Dijon13
durch.

6 Vgl Frenz, Handbuch Europarecht2, Rz 22.
7 Vgl Frenz, Handbuch Europarecht2, Rz 2.
8 Frenz, Handbuch Europarecht2, Rz 2.
9 Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 156.
10 Artikel 28 Abs 2 AEUV.
11 Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 157 f.
12 Artikel 36 AEUV.
13 EuGH 20.2.1979 Rs C-120/78, Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42.

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Eine weitere Erschwernis, um eine Rechtfertigung argumentieren zu können, ist die
anschließende Verhältnismäßigkeitsprüfung, nach der nur jene Eingriffe erlaubt sind, die
tatsächlich erforderlich sind.14

C. Der freie Warenverkehr

Im Kontext der unmittelbaren Wirtschaftsbezogenheit der Grundfreiheiten sticht die
Warenverkehrsfreiheit wohl als am markantesten unter ihren Geschwistern hervor. Im
Primärrecht wird der freie Warenverkehr zu allererst als eine Zollunion wie folgt definiert:

 „Die Union umfasst eine Zollunion, die sich auf den gesamten Warenaustausch erstreckt; sie
umfasst das Verbot, zwischen den Mitgliedstaaten Ein- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher
  Wirkung zu erheben, sowie die Einführung eines gemeinsamen Zolltarifs gegenüber dritten
                                          Ländern.“15

Der freie Warenverkehr begünstigt somit jede Ware mit der grenzüberschreitend gehandelt
wird. Eine klare Definition des Begriffs „Ware“ lässt sich im Primärrecht nicht finden. Diese
Lücke erkannte der EuGH schon früh und schaffte 1968 Klarheit. Demnach sind Waren als „alle
körperlichen Gegenstände … zu verstehen, die einen Geldwert haben und deswegen
Gegenstand von Handelsgeschäften sein können.“ 16

Anknüpfungspunkt ist die Ware selbst. Wonach sich jede Person, gleich ob natürlich oder
juristisch, gleich ob Unionsbürger oder Drittstaatsangehöriger, auf den freien Warenverkehr
berufen kann, solange sie mit der gegenständlichen Ware einen grenzüberschreitenden Handel
durchführt. Demnach ist auch der Handel mit Waren, welche aus Drittstaaten in einen
Mitgliedstaat eingeführt werden, erfasst. 17

Neben der oben schon angedeuteten Funktion als Zollunion, die ihre Ausgestaltung durch die
Artikel 28 bis 33 AEUV findet, sind auch Ein- und Ausfuhrbeschränkungen, sowie Maßnahmen
gleicher Wirkung (in 34 bis 36 AEUV) verboten. Eine Legaldefinition von Maßnahmen gleicher
Wirkung findet sich in den Verträgen nicht. Der EuGH hatte den Begriff eigenständig
auszulegen und definierte ihn in Entscheidungsgrund 5 seiner Entscheidung in der Rs
Dassonville als Maßnahme, welche „geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel
unmittelbar oder potenziell zu behindern.“18 Folge dieser doch sehr unbestimmten und offenen
Formulierung war nicht nur eine neugewonnene und konsequente Rechtssicherheit, sondern
eine Formel, deren Sinn zwar in der Ausdehnung des freien Warenverkehrs bestand, den
Anwendungsbereich jedoch so stark erweiterte, dass sie eine Einschränkung erst recht wieder
notwendig mache. Dies geschah in weiterer Folge durch die Entscheidung in der Rs Keck.19

Aufgrund dieser Struktur spricht man von den „zwei Säulen des freien Warenverkehrs“.20

14 Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 159 ff (164).
15 Art 28 AEUV
16 EuGH 10.12.1968 Rs C-7/68, Kommision/Italien, ECLI:EU:C:1968:51.
17 Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 172.
18 EuGH 11.7.1974 Rs C-8/74, Dassonville, ECLI:EU:C:1974:82 (Rz 5).
19 Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 174 f.
20 Leidenmühler, Europarecht3, 172.

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Der Ansatz, tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse abzubauen, ermöglicht eine
gravierende Erleichterung des innergemeinschaftlichen Handels und einen großen Schritt in
Richtung des politisch gewollten gemeinsamen Markts zur Schaffung von Wohlstand und enger
wirtschaftlicher Verflechtung der Mitgliedstaaten.

D. Der Binnenmarkt

Während zu Beginn der europäischen Integration statt wirtschaftlicher Zusammenarbeit der
volkswirtschaftliche Wettbewerb der einzelnen Staaten im Mittelpunkt stand, verkürzten diese
sich selbst um die Chancen, die ein Zusammenwirken ermöglicht hätte. Der Gedanke eines
gemeinsamen Marktes, durch den Handelshemmnisse abgebaut und wirtschaftliche Potentiale
geschaffen und vergrößert werden, führte schon bald zu einem Umdenken.
Die Europäische Union definiert den Binnenmarkt als Ziel in Art 3 Abs 3 EUV. Durch
konstruktives Zusammenwirken der Staaten soll eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige
soziale Marktwirtschaft“ 21 errichtet werden. Das Motiv dahinter ist die Schaffung von
Wirtschaftswachstum und Preisstabilität.

Der Binnenmarkt wird in Art 26 Abs 2 AEUV wie folgt definiert:

     „Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von
      Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge
                                      gewährleistet ist.“22

Die Grundfreiheiten bilden die Grundlage des Binnenmarktes. Eine vollständige Umsetzung
kann jedoch nur durch ein effektives Funktionieren der Grundfreiheiten erreicht werden. Eine
Umsetzung bis 31.12.1992 (wie in Art 14 Abs 1 EG vorgesehen) scheiterte nicht zuletzt daran,
dass ein Abschluss des Prozesses nicht an einem Ereignis oder einer bestimmten
Zielerreichung festgemacht werden kann. Richtigerweise ist die Umsetzung des Binnenmarktes
als eine Daueraufgabe mit stetiger (Weiter-)Entwicklung der Grundfreiheiten anzusehen.23

Zur aktiven Gestaltung des Binnenmarkts eignen sich sowohl die Grundfreiheiten und deren
Ausgestaltung durch die Judikatur, im Besonderen aber auch die in der Praxis oft verwendeten
Harmonisierungsmaßnahmen. Es handelt sich hierbei um das Instrument der
Rechtsangleichung iSd 114 AEUV.24 Der innergemeinschaftliche Handel kann durch von Nation
zu Nation verschiedene (Mindest-)Standards gehemmt werden. Wodurch eine Angleichung
dieser Standards durch alle Mitgliedstaaten notwendig wird, um ein unionsweites
Inverkehrbringen von Waren (und Dienstleistungen) zu ermöglichen. Selbstverständlich haben
nun alle Waren diese Standards zu erfüllen. Durch einen nationalen Alleingang können
einzelstaatliche höhere Standards beibehalten oder geschaffen werden. Dies ist jedoch nur in
Bedachtnahme auf die „wichtigen Erfordernisse“ des Art. 36 AEUV, oder den Schutz der
Arbeitsumwelt und den Umweltschutz möglich. Weitere Erschwernis dieser in Art 114 Abs 4 und

21 Art 3 Abs 3 S 2 EUV.
22 Art 26 Abs 2 AEUV.
23 Vgl Frenz, Handbuch Europarecht2, Rz 25.
24 Vgl Frenz, Handbuch Europarecht2, Rz 26 f.

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5 AEUV angeführten Möglichkeit zur Anhebung der Standards, ist die Einholung der
Zustimmung zu einer solchen geplanten Abweichung durch die Kommission.25

Trotz dieser umfassenden Bindung der Mitgliedstaaten an gemeinsame Standards soll jedoch
nicht der Eindruck entstehen, dass die einzelnen Nationalstaaten zu einer Aufgabe von
wirtschaftlicher Souveränität gezwungen werden. Ziel der Harmonisierung ist nicht die
Erzeugung einer einheitlichen Wirtschaftsordnung, sondern vielmehr eine Koordinierung der
einzelnen Standards, welche weiterhin der Gestaltung durch die einzelnen Länder unterliegen.26

25   Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 145 ff (149).
26   Vgl Frenz, Handbuch Europarecht2, Rz 29.
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III. Die Rechtsprechung vor Keck

A. Die Rechtssache Dassonville

1. Sachverhalt und Problemstellung

Im Jahr 1970 führte der französische Unternehmer Gustave Dassonville britischen Marken-
Whiskey in Belgien ein. Die Familie, genauer gesagt Sohn Benoit Dassonville, betrieb dort eine
Zweigniederlassung des in Frankreich ansässigen väterlichen Unternehmens. Die Waren
wurden zuvor von Großbritannien nach Frankreich eingeführt und von den dortigen
Vertriebsgesellschaften bezogen. Die belgische Regierung schrieb allen Verkäufern
ausländischer Waren vor, diese mit Ursprungsbezeichnungen zu kennzeichnen. Bei Branntwein
ist überdies noch ein amtlicher Begleitschein erforderlich, der die Richtigkeit der Bezeichnung
anerkennt.27

Bei der Einfuhr nach Frankreich wurden zwar alle dafür nötigen Papiere anerkannt, da jedoch
keine Ursprungsbescheinigung notwendig war, wurde diese auch nicht ausgestellt. Damit die
Waren nun den Erfordernissen der Einfuhr nach Belgien genügten, versahen die Dassonvilles
die Etiketten der Flaschen mit dem Zusatz „British Customs Certificate of Origin“ und den
maßgeblichen Daten aus dem Freigabeauszug des französischen Zolls.
Dies genügte den belgischen Behörden trotz der einwandfreien französischen
Begleitdokumente nicht und so unterstellten sie neben dem Fehlen der notwendigen amtlichen
Bestätigung der Ursprungsbezeichnung auch eine Fälschungsabsicht der Etiketten.28

Benoit und Gustave Dassonville beriefen sich nun auf die Art 30 ff EWG (34 ff AEUV), da die
belgische Regelung eine Einfuhr von Waren aus einem anderen als dem Herkunftsland faktisch
unmöglich mache, sofern es in diesem Land keine den belgischen entsprechenden Regelungen
hinsichtlich der Ursprungsbescheinigungen gäbe. Faktisch unmöglich deswegen, weil eine
solche Bescheinigung nur im Herkunftsland selbst zu erhalten ist und somit für Importeure, die
nicht vom Herkunftsland aus agieren, den Handel erheblich erschweren. Französische
Importeure müssten sodann im Nachhinein bei den britischen Behörden um ein die
Ursprungsbezeichnung nachweisendes Dokument anfragen, obwohl dieses für eine Einfuhr in
Frankreich nicht obligatorisch ist.

Darüber hinaus wäre das einzige Interesse, der sich am Verfahren auf der Klägerseite
beteiligenden Vertriebsgesellschaften, einen Gebietsschutz für große Direktimporteure zu
erwirken. 29

2. Das Urteil

Der EuGH folgte in seiner Entscheidung den Argumenten der Familie Dassonville und stellte die
beanstandeten belgischen Rechtsvorschriften als mit dem Unionsrecht unvereinbar fest. Dies
würde nämlich gegen ein allgemeines Beschränkungsverbot verstoßen, das über das
Diskriminierungsverbot der Warenverkehrsfreiheit im Tatbestand der Grundfreiheit enthalten

27 Vgl EuGH 11.7.1974 Rs C-8/74, Dassonville, ECLI:EU:C:1974:82 (839).
28 Vgl EuGH 11.7.1974 Rs C-8/74, Dassonville, ECLI:EU:C:1974:82 (839 f).
29 Vgl EuGH 11.7.1974 Rs C-8/74, Dassonville, ECLI:EU:C:1974:82 (840 f).

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sei. Bemerkenswert ist jedoch die im Entscheidungsgrund 5 angeführte Definition des Begriffs
„Maßnahmen gleicher Wirkung“. Hatte der Gerichtshof eine Definition in vorangegangenen
Rechtssachen noch umgangen (International Fruit Company30, Geddo31), so führte dies zu einer
erheblichen Ausweitung des Wirkungsbegriffs der Warenverkehrsfreiheit.32

a) Maßnahmen gleicher Wirkung

Die gefasste Definition von Maßnahmen gleicher Wirkung, welche in Rechtsprechung und
Lehre zur „Dassonville-Formel“ wurde, lautet wie folgt:

  „Jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen
 Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, ist als Maßnahme
         mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen.“33

An dieser Entscheidung fällt auf, dass auf eine Rechtsgrundlage abgestellt wird, welche die
erforderlichen Echtheitsbescheinigungen sowohl von Belgien als auch von Bürgern anderer
Mitgliedstaaten verlangt. Es wird also deutlich, dass ein gravierender Unterschied zwischen der
Subsumtion unter den Begriff Maßnahmen gleicher Wirkung und herkömmlichen
Diskriminierungsfällen besteht. Die Ungleichbehandlung von Unternehmern, deren Heimatland
keine Echtheitsbescheinigungen verlangt, durch die belgischen Behörden ist als unterschiedlich
wirkende Maßnahme zu bewerten. Wie umfassend die Dassonville-Formel ist, zeigt sich auch
an der Auslegung des Begriffs „Handelsregelung“. Dieser darf nicht als
Einschränkungstatbestand verstanden werden, sondern umfasst in seinem Anwendungsbereich
das gesamte staatliche Handeln.

Es bleibt abschließend noch festzuhalten, dass die sehr weite Fassung der Dassonville-Formel
zwar zu einer grundlegenden Definition von Maßnahmen gleicher Wirkung geführt hat, jedoch
nicht zu einer inhaltlich kompletten und abschließenden Klarheit. Sehr weit ist die Formel
deswegen, weil die wenig konkret gehalten Formulierung die Möglichkeit eröffnete, beinahe alle
mitgliedstaatlichen Regelungen zumindest unter den Begriff der Maßnahme gleicher Wirkung zu
subsumieren. Dies führte dazu, dass die Dassonville-Formel vielfach von
Wirtschaftsteilnehmern ausgenützt wurde, um alle nationalen Regelungen zu beanstanden, von
denen sie meinte, diese würden sie in ihrer wirtschaftlichen Freiheit beschränken.34

3. Weiteres Regelungsbedürfnis

Wurde die beinahe uferlose Weite der Dassonville-Formel schon angesprochen, so stellt sie
Rechtsunterworfene und Judikatur fortdauernd vor Probleme. Problematisch ist jedenfalls, dass
„weder der Nachweis eines tatsächlichen Rückgangs der Einfuhren erforderlich ist, noch die
Spürbarkeit einer Behinderung nachgewiesen werden muss.“ 35 Auch bei näherer Betrachtung

30 EuGH 15.12.1971 Rs C-51-54/71, International Fruit Company, ECLI:EU:C:1971:128.
31 EuGH 12.7.1973, Rs C-2/73, Geddo, ECLI:EU:C:1973:89.
32 Vgl Hödl, Die Beurteilung von verkaufsbehindernden Maßnahmen im Europäischen Binnenmarkt, in: Basedow

(Hrsg), Europäisches Privatrecht – Band 3 (1997), 77 f.
33 EuGH 11.7.1974 Rs C-8/74, Dassonville, ECLI:EU:C:1974:82 (852).
34 Vgl EuGH 24.11.1993 verb Rs C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, ECLI:EU:C:1993:905 (Rz 14).
35 Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 82.

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der Formulierung „den Handel behindern“ lässt sich nicht feststellen nach welchen Kriterien
diese festgemacht werden können. Einige der offenen Punkte konnten erst im Rahmen von
Folgeentscheidungen wie Inno/Atab36 konkretisiert werden. Besonders die zum Teil
gravierenden Unterschiede in der sprachlichen Analyse zwischen deutscher, französischer und
englischer Fassung hinterließen ein starkes Regelungs- und Auslegungsbedürfnis.37

B. Die Rechtssache Cassis de Dijon

1. Sachverhalt und Problemstellung

Dem Urteil zu Grunde liegt die Absicht, den französischen Likör Cassis de Dijon nach
Deutschland einzuführen und zu vertreiben. Klagende Partei ist die REWE-Zentral-AG.
Streitpunkt in diesem Fall ist die verwehrte Einfuhrfähigkeit des Likörs, da dieser maximal 20%
Alkohol und nicht wie im deutschen Branntweinmonopolgesetz vorgeschrieben mindestens 32%
enthält. Anknüpfungspunkt der Klage war das vermeintliche Verbot ausländische Erzeugnisse,
die aufgrund ihrer traditionellen Bedeutung die allgemeinen Erfordernisse von Einfuhr und
Vertrieb nicht erfüllen, vom Markt auszuschließen. Die deutsche Regierung auf der anderen
Seite berief sich auf das Fehlen einer an sich dringenden Harmonisierung der technischen
Anforderungen für vergleichbare Produkte, ebenso auf eine drohende Gesundheitsgefährdung,
da niedrigprozentige alkoholische Getränke die Konsumenten eher zum Genuss von und an die
Gewöhnung von Alkohol verleiten würden.38

2. Das Urteil

Der EuGH hob in Hinblick auf die Argumente der deutschen Regierung hervor, dass die
Regelungen hinsichtlich Herstellung und Vermarktung Sache der Mitgliedstaaten sei und schon
allein deswegen keine Harmonisierung vorgenommen werden kann.39 Jedenfalls
bemerkenswert sind die darauf folgenden Ausführungen, welche ebenfalls in
Entscheidungsgrund 8 zu finden sind:

     „Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der
        nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, müssen
        hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden
                Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen
       einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der
                  Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes.“40

Wonach bei Vorliegen einer Einfuhrbeschränkung eine Rechtfertigung notwendig ist, die
Regelung ansonsten unvereinbar mit dem freien Warenverkehr und damit verboten ist. In
weiterer Konsequenz erklärte der EuGH die Bestimmung des deutschen Gesetzes für nicht
anwendbar, da sie mit der Warenverkehrsfreiheit unvereinbar ist. Dies resultiert daraus, dass

36 EuGH 16.11.1977 C-13/77, INNO/ATAB, ECLI:EU:C:1977:185.
37 Vgl Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 81 ff (86).
38 Vgl Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 87.
39 Vgl EuGH 20.2.1979 Rs C-120/78, Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42 (662).
40 EuGH 20.2.1979 Rs C-120/78, Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42 (Rz 8).

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die Ware vor ihrer Einfuhr in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig erzeugt und in Verkehr
gebracht wurde.41

3. Die Rechtsfortentwicklung

a) Tatbestandseinschränkung durch Rechtfertigungsgründe
Grundtenor der Cassis-Entscheidung ist die endlich erfolgte Einschränkung des durch die
Dassonville-Formel erweiterten Tatbestands durch die Einführung des Begriffs „zwingende
Erfordernisse“. Diesem Urteil kann eine klarstellende Wirkung im Hinblick auf die Dassonville-
Grundsatzentscheidung zugestanden werden. Mit Blick auf die Folgerechtsprechung wird klar
bestätigt, dass das Privileg der „zwingenden Erfordernisse“ nur den unterschiedslosen
Maßnahmen zukommt. Es handelt sich deswegen um ein Privileg der Mitgliedstaaten, da diese
an sich tatbestandsmäßigen nationalen Regelungen durch eine Rechtfertigung mit „zwingenden
Erfordernissen“ aus dem Tatbestand ausgeschieden werden und damit nicht mehr als
unvereinbar mit dem freien Warenverkehr angesehen werden können.42

„De facto führte der EuGH damit aber neue Rechtfertigungsgründe ein, die über den Kreis der
taxativ aufgezählten eigentlichen Rechtfertigungsgründe hinausgehen.“43 Es fand genau
genommen keine technische Einschränkung der Dassonville-Formel, jedoch eine Erweiterung
der bisher geschriebenen Rechtfertigungsgründe und damit eine Tatbestandseinschränkung
statt. Dies hatte auch Folgen für das Prüfungsschema, wonach Maßnahmen zuerst unter die
Dassonville-Formel zu subsumieren und bei unterschiedslosen Maßnahmen anschließend die
Rechtfertigungsgründe aus dem Primärrecht und der Cassis-Entscheidung zu prüfen sind. Als
Abschluss des dreistufigen Prüfungsschemas wird abschließend eine
Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt.44

b) Das Herkunftslandprinzip
Als weitere bemerkenswerte Entwicklung der Rechtsprechung durch das Urteil Cassis de Dijon
ist die Verankerung des Herkunftslandprinzips. Durch die Formulierung „in einem anderen
Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht“45 gesteht der EuGH das Recht zu,
sämtliche Waren die den Vorschriften des Mitgliedstaats entsprechen, in welchem es hergestellt
wurde, in alle anderen Mitgliedstaaten einzuführen und zu vertreiben. Es handelt sich hierbei
um den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung des Ursprungslands.
Grundlage dafür ist, dass die nationalen Vorschriften und Mindeststandards die minimale
Voraussetzung für eine Inverkehrbringung sind. Ziel ist es, die Herstellung von mangelhaften
Produkten, die ausschließlich für den Export bestimmt sind, zu unterbinden. 46

Im Zusammenspiel mit der Schaffung der „zwingenden Erfordernisse“, wird jedoch klar, dass
eine pauschale Anwendung des Herkunftslandprinzip nicht stattfindet. Es ist ein Zugeständnis
des EuGH an jene Mitgliedstaaten, welche einen Rechtfertigungsgrund geltend machen

41 Vgl EuGH 20.2.1979 Rs C-120/78, Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42 (664).
42 Vgl Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 88 ff (90).
43 Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 90.
44 Vgl Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 91.
45 EuGH 20.2.1979 Rs C-120/78, Cassis de Dijon, ECLI:EU:C:1979:42 (664).
46 Vgl Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 92 f.

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können, das Recht vorzubehalten sich gegen die Einfuhr einer Ware zu wehren. Es kommt
durch diese Abwägung somit zu einem Ausgleich zwischen Herkunftslandprinzip und
Bestimmungslandprinzip.47

47   Vgl Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 94.
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IV. Die Rechtssache Keck und Mithouard

A. Sachverhalt und Urteil

Bernard Keck und Daniel Mithouard leiteten französische Einkaufszentren. In diesen
Einkaufszentren wurden Waren mit Verlust, also unter dem Einkaufspreis verkauft. Eine Praxis,
die nach damals geltendem französischen Recht verboten war.48 Da solche Verbote in anderen
Ländern nicht mehr existierten, sahen sich die beiden Leiter durch das Gesetz in ihrer
Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt. Die französische Regelung sei nicht in Einklang mit Art 30
EWG zu bringen.49

Einen Hinweis darauf, dass der EuGH in der Rs Keck und Mithouard 50 Anlass für eine
Grundsatzentscheidung sah, gibt schon der Umstand, dass die Entscheidung in richterlicher
Vollbesetzung getroffen wurde.51 Der Gerichtshof musste sich darüber hinaus in der
Vergangenheit die Kritik gefallen lassen, dass seine Rechtsprechung bislang inkohärent
gewesen sei. Durch den ausdrücklichen Bezug auf die bisherigen Entscheidungen Dassonville
und Cassis de Dijon sollte aber ein ausreichender Kontext hergestellt und die sukzessive
Rechtsentwicklung veranschaulicht werden.52

Im Zentrum der Entscheidung steht die gegenständliche französische Regelung, welche durch
das Verbot des Verkaufs von Waren zum Verlustpreis, den Klägern eine Methode der
Absatzförderung nimmt. Der EuGH hält es jedoch für „fraglich, ob diese Möglichkeit ausreicht,
um die in Rede stehenden Rechtsvorschriften als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung [iSd
Dassonville-Formel] anzusehen.“ 53 Unter dem Hinweis, dass die bisherige Rechtsprechung von
den Wirtschaftsteilnehmern missbräuchlich und überschießend dazu verwendet wurde
nationale Regelungen zu beanstanden54, bestätigte er auch die in der Praxis angewandte
Abwägung zwischen Bestimmungs- und Herkunftslandprinzip.55

Im Kern wird jedoch eine Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit zugunsten der
Mitgliedstaaten durchgeführt.56 Und zwar dadurch, dass die

 „Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder
    verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet [ist], den Handel
  zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils Dassonville [...] unmittelbar oder mittelbar,
     tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern die Bestimmungen für alle betroffenen
  Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz

48 Gem Art 1 Abs 2 und 3 Loi de Finances Nr 63-628 vom 2.7.1963 in der Fassung des Art 32 Ordonnance Nr 86-
1243 vom 1.12.1986.
49 Vgl Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 137 f.
50 EuGH 24.11.1993 verb Rs C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, ECLI:EU:C:1993:905.
51 Vgl Reich, The “November Revolution” of the European Court of Justice: Keck, Meng and Audi Revisited, CMLR

1994, 459 ff (461).
52 Vgl Erlenwein, Die Keck-Formel des EuGH – Funktion, Voraussetzungen, Übertragbarkeit auf andere

Grundfreiheiten und kompetenzrechtliche Rückwirkungen, in: Ludwigs (Hrsg): Würzburger Online-Schriften zum
Europarecht, Nr 3 (2014), 3.
53 EuGH 24.11.1993 verb Rs C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, ECLI:EU:C:1993:905 (Rn 13).
54 EuGH 24.11.1993 verb Rs C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, ECLI:EU:C:1993:905 (Rn 14).
55 EuGH 24.11.1993 verb Rs C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, ECLI:EU:C:1993:905 (Rn 15).
56 Vgl Erlenwein, in: Ludwigs (Hrsg): Würzburger Online-Schriften zum Europarecht, 3.

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der inländischen Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der
                                  gleichen Weise berühren.“ 57

Das bedeutet einen Wandel in der Rechtsprechung. Verkaufsmodalitäten sollen demnach nur
mehr unter den Begriff der Maßnahmen gleicher Wirkung fallen, wenn es sich um
unterschiedlich wirkende Maßnahmen handelt.58 Aus der neugewonnen Perspektive heraus ist
es nunmehr notwendig festzustellen, ob eine Maßnahme „geeignet [ist], den Marktzugang für
diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische
Erzeugnisse tut.“ 59

Zusammenfassend werden als Voraussetzung für die Anwendbarkeit, der durch diese
Entscheidung gestalteten Keck-Formel, nun zwei Umstände notwendig: Zum einen die
unterschiedslose Anwendbarkeit der Regelung auf in- und ausländische Waren und zum
anderen die rechtliche und tatsächliche Gleichbehandlung der Waren.

B. Rechtliche Beurteilung

1. Implementierung von Verkaufsmodalitäten

Durch das Keck-Urteil ist jedenfalls der Begriff der Verkaufsmodalitäten neu in der Judikatur des
EuGH. Es wird nun bei nichtdiskriminierenden Maßnahmen zwischen produktbezogenen und
verkaufsbezogenen Modalitäten unterschieden. Aus dem Urteil geht jedoch keine Definition von
Verkaufsmodalitäten hervor. Erst in der Entscheidung Hünermund wurde von Generalanwalt
Tesauro der Begriff der Verkaufsmodalitäten wie folgt definiert: „Wer verkauft was, wann darf
verkauft werden, wo und wie darf verkauft werden.“60

Es lässt sich jedoch eine Eingrenzung des Begriffs über den Umweg einer Abgrenzung von den
produktbezogenen Vorschriften durchführen.61 Produktbezogen sind Regelungen, welche „auf
ihre Bezeichnung, ihre Form, ihre Abmessungen, ihr Gewicht, ihre Zusammensetzung, ihre
Aufmachung, ihre Etikettierung und ihre Verpackung“ 62 abzielen und damit über den Zugang
der Ware zum Markt entscheiden.63 Die Tatbestandsprüfung findet weiterhin anhand der Art und
Weise nach Dassonville und Cassis de Dijon statt. Wonach Produktmodalitäten jedenfalls als
Maßnahmen gleicher Wirkung zu qualifizieren und damit verboten sind, ausgenommen diese
können durch den Verpflichteten gerechtfertigt werden.64

Im Gegensatz dazu können vertriebsbezogene Modalitäten vom Anwendungsbereich der
Warenverkehrsfreiheit ausgenommen werden, wenn die im Urteil genannten Voraussetzungen
vorliegen.65 Dies bedeutet den Ausstieg aus der Tatbestandsprüfung, falls es sich um eine

57 EuGH 24.11.1993 verb Rs C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, ECLI:EU:C:1993:905 (Rn 16).
58 Vgl Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 138.
59 EuGH 24.11.1993 verb Rs C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, ECLI:EU:C:1993:905 (Rn 17).
60 GA Tesauro, Schlussanträge 27.10.1993, Rs. C-292/92, Hünermund, ECLI:EU:C:1993:863 (Rn. 20).
61 Vgl Ehlotzky, in: Leidenmühler/Eder/Leingartner/Winkler (Hrsg), Grundfreiheiten – Grundrechte - Europäisches

Haftungsrecht, 126
62 EuGH 24.11.1993 verb Rs C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, ECLI:EU:C:1993:905 (Rn 15).
63 Vgl Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004), 176f.
64 Vgl Erlenwein, in: Ludwigs (Hrsg): Würzburger Online-Schriften zum Europarecht, 4.
65 Vgl Erlenwein, in: Ludwigs (Hrsg): Würzburger Online-Schriften zum Europarecht, 5.

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nichtdiskriminierende Verkaufsmodalität – also um eine Regelung, die keinen Unterschied
zwischen Waren aus dem In- und Ausland machen – handelt. In weiterer Folge müssen solche
Maßnahmen darum auch nicht mehr durch Rechtfertigungsgründe gedeckt werden.66

2. Schutz des Marktzugangs

Der in Rz 17 der Keck-Entscheidung explizit angesprochene „Marktzugang“ ist als das
entscheidende Kriterium zur Differenzierung von produkt- und vertriebsbezogenen Maßnahmen
anzusehen.67 Es soll beurteilt werden, welche Wirkung eine Maßnahme auf den Marktzugang
hat. So setzen produktbezogene Maßnahmen bei der Frage an, welchen Waren überhaupt
Zugang zum Markt gewährt wird. Vertriebsbezogene Maßnahmen zielen jedoch auf Kriterien
von Waren ab, die bereits Zugang zum Markt haben. Daraus ergibt sich auch die neu
entwickelte Trennung beider Begriffe und deren unterschiedlichen Rechtsfolgen. Zweck der
Keck-Formel ist es in dieser Hinsicht also Maßnahmen, die den Marktzugang nicht betreffen
aus dem Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit herauszufiltern. In letzter Konsequenz
bedeutet dies für die Warenverkehrsfreiheit eine Rückkehr zu ihrer eigentlichen Bestimmung als
Marktzugangsrecht.68

C. Kritik und weiterer Regelungsbedarf

Bei kritischer Betrachtung des Urteils fällt auf, dass aus dem Entscheidungstext nicht
hervorgeht, ob der EuGH seine bisherige inkohärente Rechtsprechung69 ändern oder klarstellen
will. Es ist zwar grundsätzlich nicht erwartbar, dass ein Höchstgericht seine eigene
Rechtsprechung revidiert – vor allem unter der Prämisse, dass Stabilität das höchste Gut
solcher Entscheidungen ist, möchte der Gerichtshof seine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel
setzen70 – so ist dies trotzdem schon einige Male vorgekommen71. Es bestand also die
Hoffnung auf Korrektur der Dassonville-Formel.

In der Literatur überschlugen sich des Weiteren die Reaktionen auch im Hinblick auf die
fehlende Definition des Begriffs „Verkaufsmodalitäten“. Oliver72 sieht eine weitreichende
Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Fortgeltung früherer Urteile heraufziehen. Müller-Graff
73
  wiederum bemängelt die Vorgehensweise des EuGH sei einzig eine Selbstentlastung von
seiner Begründungslast.74

66 Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 177.
67 EuGH 24.11.1993 verb Rs C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, ECLI:EU:C:1993:905 (Rn 17).
68 Vgl Erlenwein, in: Ludwigs (Hrsg): Würzburger Online-Schriften zum Europarecht, 6 f.
69 Siehe IV A.
70 Vgl Hödl, in: Basedow (Hrsg), Europäisches Privatrecht, 143
71 Beispielsweise in: EuGH 17.10.1990, Rs C-10/89, Hag II, ECLI:EU:C:1990:359 (I-3711).
72 Oliver, Free Movement of Goods in the European Community3 (1996).
73 Müller-Graff, Binnenmarktauftrag und Subsidiaritätsprinzip?, ZHR (1995), 34.
74 Vgl Hammer, Eine Analyse der Rechtsprechung zu Art 30 EGV vor und nach dem Urteil „Keck und Mithouard“, in:

Aicher/Ress/Straube (1998), Handbuch zum freien Warenverkehr (1998), 153.
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1. Verkaufsbezogene Maßnahmen

Offen und ungeregelt blieb nach wie vor, wie mit solchen verkaufsbezogenen Maßnahmen
umgegangen werden soll, die als Marktzugangsschranken wirken, jedoch nach der Keck-
Formel aus dem Tatbestand fallen würden. Es geht hier um unterschiedslose
Verkaufsmodalitäten, die den Marktzugang ausländischer Waren behindern. Beispielsweise
können das absolute Werbeverbote für ein Produkt sein.75 Der EuGH nimmt hier bis dato eine
indirekte Diskriminierung an, da ein Werbeverbot immer ausländische Waren härter trifft, da die
Verbraucher mit den inländischen Waren unwillkürlich besser vertraut sind.76

2. Verwendungsbeschränkungen

Ebenso offen bleibt der Umgang mit Verwendungsbeschränkungen. Diese setzen erst nach
Inverkehrbringen der Ware an und verhindern den bestimmungsgemäßen Gebrauch der Ware.
Aufgrund der Dassonville-Formel klar tatbestandsmäßig droht durch die Tatbestandsreduktion
der Keck-Judikatur ein Herausfallen aus dem Tatbestand.77 Zu einem einheitlichen und klaren
Umgang mit der Thematik konnte sich der EuGH noch nicht durchringen.

D. Folgerechtsprechung

Dem Urteil in der Rs Keck kommt gerade auch deswegen so große Bedeutung zu, weil es den
vorläufigen Höhepunkt in der gerichtlichen Ausgestaltung der Warenverkehrsfreiheit bildet. Die
Entscheidung ist in ihrer Form Inbegriff der stetigen Fortentwicklung der Rechtsprechung des
EuGH, dennoch sind noch einige Lücken zu schließen. Im Zentrum der Folgeentscheidungen
stand immer wieder der Marktzugang als ausschlaggebendes Kriterium. Dies soll nun anhand
der jüngeren Judikatur beleuchtet werden.

1. Die Rechtssache Deutscher Apothekerverband

Die Rs Deutscher Apothekerverband 78 dreht sich um den Marktzugang und den tatsächlichen
Umfang der Keck-Formel. Im Ausgangsrechtsstreit sehen sich der Deutsche Apothekenverband
und die niederländische DocMorris AG gegenüber. Das niederländische Unternehmen bietet
ausgehend von einer zu Deutschland grenznahe gelegenen Apotheke einen Versandhandel
von verschreibungspflichtigen und nicht verschreibungspflichtigen Arzneien an und warb dafür
auf seiner Homepage. Bestellungen können über das Internet aufgegeben werden. Eine
nationale deutsche Regelung untersagte jedoch den grenzüberschreitenden Versandhandel
von Arzneimitteln über das Internet, worauf sich der klagende Verband berief. 79

Generalanwältin Stix-Hackl hob in ihren Schlussanträgen die Bedeutung des Marktzugangs
nachdrücklich hervor. Dieser sei den beiden Voraussetzungen für die Keck-Formel

75 Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 178.
76 Vgl EuGH 8.3.2001 Rs C-405/98, Gourmet International, ECLI:EU:C:2001:135 (Rz 21).
77 Vgl Leidenmühler, Europarecht3, 179.
78 EuGH 11.12.2003 Rs C-322/01, Deutscher Apothekerverband, ECLI:EU:C:2003:664.
79 EuGH 11.12.2003 Rs C-322/01, Deutscher Apothekerverband, ECLI:EU:C:2003:664 (Rz 42).

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übergeordnet und das höchste Gut bei der Beurteilung der gegenständlichen Regelungen.80 Der
EuGH folgte dieser Argumentation und konzentrierte sich bei der Beurteilung der
Voraussetzungen übergeordnet auf die Beurteilung der deutschen Regelung als
Marktzugangshindernis. 81 Ein Werbeverbot für nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel ist
demnach mit Unionsrecht nicht vereinbar, da ein solches Verbot und die damit verbundene
erhebliche Erschwerung des Marktzugangs auch nicht durch einen Rechtfertigungsgrund erklärt
werden könne.82

2. Die Rechtssache Alfa Vita

Bei der Betrachtung der Rs Alfa Vita83 im Hinblick auf die Fortentwicklung der Keck-Judikatur
stehen nicht unbedingt das Urteil selbst, sondern vielmehr die Schlussanträge von
Generalanwalt Maduro 84 im Mittelpunkt. Dieser setzte sich intensiv mit der Keck-Formel
auseinander. Grundtenor ist, dass diese vereinfacht und den Entwicklungen der
Rechtsprechung angepasst werden müssen.

Gegenstand der Rechtssache ist eine griechische Regelung, welche das Inverkehrbringen von
Bake-off-Erzeugnissen denselben Voraussetzungen unterwarf wie den Verkauf von
herkömmlichen Backwaren. Bei Bake-off-Waren handelt es sich um tiefgefrorene Backprodukte,
welche am Verkaufsort lediglich aufgebacken werden. Die Vorschrift, solche Verkaufsorte
müssten über dieselbe Ausstattung wie Bäckereien verfügen, benachteiligte die Anbieter
solcher Bake-off-Produkte, da sie von ihnen die Bereitstellung nicht benötigter Infrastruktur
verlangte.85 Es findet hier also eine Ausdehnung der Keck-Formel auf produktionsbezogene
Maßnahmen statt.

Das Herzstück der Auseinandersetzung Maduros mit der bisherigen Keck-Judikatur ist
jedenfalls im zweiten Teil der Schlussanträge zu finden. Den Ansatzpunkt bildet dabei die oft
schwere Unterscheidung in verkaufs- und produktbezogene Regelungen. Die Folge ist eine oft
schwer durschaubare einzelfallbezogene Rechtsprechung, welche nicht die eigentlich
erforderliche Rechtssicherheit bietet. Des Weiteren sei die Anwendung der Keck-Formel
komplex und nicht auf die anderen Grundfreiheiten übertragbar.86

GA Maduro setzt sich für eine grundlegend andere Betrachtung der Keck-Formel ein. Nationale
Regelungen sollen im Verhältnis zur Warenverkehrsfreiheit einem Drei-Phasen-Test unterzogen
werden. Die gegenständliche Regelung darf demnach weder direkt noch indirekt
diskriminierend sein. Darüber hinaus dürfen keine Kosten für den Grenzübertritt einer Ware
anfallen. Abschließend soll jede Behinderung des Marktzugangs für Waren aus anderen
Mitgliedstaaten verboten sein. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der nationale dem
grenzüberschreitenden Handel bevorzugt wird.87

80 GA Stix-Hackl, Schlussanträge 11.3.2003, Rs C-322/01, Deutscher Apothekerverband, ECLI:EU:C:2003:147 (Rn
74).
81 EuGH 11.12.2003 Rs C-322/01, Deutscher Apothekerverband, ECLI:EU:C:2003:664 (Rz 72).
82 Vgl Gast/Reiser, Arzneimittel aus der Internet-Apotheke?, RdM 2004, 41.
83 EuGH 14.9.2006 verb Rs C-158/04 und C-159/04, Alfa Vita, ECLI:EU:C:2006:562.
84 GA Maduro, Schlussanträge 30.3.2006, verb Rs C-158/04 und C-159/04, Alfa Vita, ECLI:EU:C:2006:212.
85 Vgl Mraczansky, Verwendungsbeschränkungen im Europarecht – Eine „Kecke“ Entwicklung (2013), 24.
86 Vgl Brigola, Die Metamorphose der Keck-Formel in der Rechtsprechung des EuGH, EuZW 2012, 249.
87 Vgl Mraczansky, Verwendungsbeschränkungen im Europarecht (2013), 25 ff (28).

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V. Sonderproblem Verwendungsbeschränkungen

Innerhalb der Tatbestandsprüfung des Art 34 AEUV wird bereits zwischen produkt- und
verkaufsbezogenen Maßnahmen unterschieden. Dass die Einordnung von nationalen
Regelungen in diese Kategorien jedoch nicht immer leicht fällt wurde bereits beschrieben. Es ist
sowohl eine gemeinsame Stärke als auch eine Schwäche der Rechtssetzung und
Rechtsprechung ihre Leitsätze so allgemein wie möglich, aber trotzdem im notwendigen Maße
konkret zu halten. In der Entwicklung der Judikatur zur Warenverkehrsfreiheit gelang dies
jedoch nicht immer. Es sei hier besonders auf die viel zu unkonkret ausgefallene Dassonville-
Formel verwiesen. Mit der Zeit traten jedoch immer mehr Problemfelder auf, die sich nicht ohne
Weiteres in die bereits bestehenden Kategorien einordnen ließen. Eines dieser Problemfelder
sind sogenannte Verwendungsbeschränkungen. Im Umgang mit diesen Fällen zeigt der EuGH
bisher keine klare Linie. Anstatt einen maßgeschneiderten Tatbestand zu entwickeln, wurde
bisher nur auf behelfsmäßige Lösungen zurückgegriffen. Die Folge ist eine stark
einzelfallbezogene Judikatur, ohne die notwendige Klarheit und Rechtssicherheit.

A. Definition und Auslegung

Verwendungsbeschränkungen (Nutzungsregelungen) sind in den nationalen Rechtsordnungen
keine Ausnahme. Anknüpfungspunkt dieser Regelungen ist nicht die Inverkehrbringung selbst,
sondern der Gebrauch und die Nutzung der Ware anschließend an deren Erwerb. Die Folge ist
eine meist erhebliche Auswirkung auf die Attraktivität der Ware. So kaufen Verbraucher
Produkte gerade deswegen, um diese nach ihrem bestimmungsgemäßen Grund zu benutzen.
Steht dieser Nutzung eine Regelung im Weg, schwindet auch das Interesse an dem Produkt
selbst. Es entsteht somit ein erheblicher Attraktivitätsverlust der Ware und damit ein
wirtschaftlicher Schaden auf Seiten des Verkäufers.88 Denkt man zum Beispiel an eine
Autofahrt, so kommen einem wahrscheinlich recht schnell Tempolimits und andere
Verkehrsregeln in den Sinn.

Auf den ersten Blick scheint das Wesen von Verwendungsbeschränkungen klar zu sein.
Dennoch fallen bei genauem Hinsehen Beurteilung und Einordnung der Thematik nicht
unmittelbar leicht. Betrachtet man die gesamte Problematik nun vor dem Hintergrund der
Warenverkehrsfreiheit, so ist eine Einordnung von Verwendungsbeschränkungen als
Maßnahme gleicher Wirkung durchaus möglich. Behält man jedoch die in der Rs Alfa Vita
durchgeführte Ausdehnung der Keck-Formel auf produktionsbezogene Regelungen im
Hinterkopf, so würde dies, auch wenn der Weg dahin sicher weiter wäre, auch für
Verwendungsbeschränkungen möglich sein.89 Geht man noch einen Schritt weiter und reduziert
Beschränkungen ausschließlich auf ihren wirtschaftlichen Gehalt, so kann man es mit
Parapatits halten und Produktmodalitäten genauso wie Nutzungsbeschränkungen rein nach
dem Anerkennungsgrundsatz beurteilen. Wonach in Europa ordnungsgemäß in Verkehr

88 Vgl Albin/Valentin, Dassonville oder doch Keck – zwei anstehende Urteile des EuGH zur Anwendung des Art 28
EG auf Verwendungsbeschränkungen, EWS 2007, 533 f.
89 Vgl Mraczansky, Verwendungsbeschränkungen im Europarecht (2013), 32 ff (34).

19. August 2020                                                                                             22/39
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