Hogan Lovells Kartellrechts-Radar - Herbst 2021 - Was Sie auf dem Schirm haben sollten

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Hogan Lovells Kartellrechts-Radar - Herbst 2021 - Was Sie auf dem Schirm haben sollten
Hogan Lovells
Kartellrechts-Radar
Herbst 2021
– Was Sie auf dem Schirm haben sollten

Fokus Wettbewerbspolitik                               kontrollschwellen fallen, will die Kommission sich
                                                       verstärkt auf ihre neue Verweisungspraxis zu Art.
                                                       22 FKVO stützen (siehe dazu auch den „Fokus En-
Es grünt so grün – Kommission stellt
                                                       forcement“ Bericht unten). Allgemein will die Be-
Überlegungen zu ESG-Kooperationen                      hörde zudem die Auswirkungen von Nachhaltig-
von Wettbewerbern vor                                  keitsaspekten auf die Verbraucherpräferenzen, das
                                                       Wettbewerbsgeschehen und die Marktabgrenzung
Die Kommission hat kürzlich einen neuen „Com-
                                                       genauer in den Blick nehmen.
petition Policy Brief“ veröffentlicht, begleitet von
einer Ansprache der hochrangigen Kommissi-             Im Bereich des Beihilferechts ist die Förderung
onsbeamtin Inge Bernaerts bei der diesjährigen         der Finanzierung nicht-fossiler Brennstoffe und
„Competition Conference“ der International Bar         die Verbesserung der Möglichkeiten zur Unter-
Association. Darin skizziert die Kommission ihre       stützung von Innovationen vorgesehen, insbeson-
Sicht darauf, wie Kartell-, Beihilfe- und Fusions-     dere auf der Grundlage der neuen Leitlinien der
kontrollrecht unterstützend wirken können, um          Kommission für Klima-, Energie- und Umwelt-
die grünen Ziele der EU – namentlich den „Green        beihilfen und der Überarbeitung der Allgemeinen
Deal“ und das „Fit for 55“-Paket – zu fördern. Die     Gruppenfreistellungsverordnung.
Regeln sollen nicht grundsätzlich gelockert wer-
                                                       Erscheint in diesen beiden Rechtsgebieten der
den, da es gerade auch der Wettbewerb sei, der
                                                       Pfad recht klar und – insbesondere im Beihilfe-
Angebot und Nachfrage nach nachhaltigeren Pro-
                                                       recht – vergleichsweise wenig kontrovers, birgt
dukten und Dienstleistungen zusammenbringe
                                                       die Anwendung des Kartellverbots nach Art. 101
und Unternehmen zu effizienten, zukunftsgerich-
                                                       AEUV größeres Konfliktpotenzial. Hierzu haben
teten und innovativen Leistungen antreibe. Aber:
                                                       wir bereits an anderer Stelle einen umfangreichen
Die Kommission schließt sich der durch Mitglied-
                                                       Beitrag veröffentlicht und fassen die wesentli-
staaten wie die Niederlande oder Griechenland
                                                       chen Punkte hier nochmals zusammen. So will die
schon seit geraumer Zeit vertretenen Ansicht an,
                                                       Kommission künftig klarere Leitlinien zu folgen-
dass das Wettbewerbsrecht Teil der Lösung sein
                                                       den Aspekten formulieren:
kann und muss, sodass Umwelt- und Nachhaltig-
keitsthemen bei der Rechtsanwendung durchaus           Erstens soll mehr Klarheit für die Frage geschaf-
eine Rolle zu spielen haben.                           fen werden, wann Kooperationen zu Umwelt- und
                                                       Nachhaltigkeitsthemen überhaupt als (potenziel-
Wesentliche Inhalt des Policy Briefs                   le) Wettbewerbsbeschränkung angesehen werden
In der Fusionskontrolle will die Kommissi-             können. Hier will die Behörde konkrete Beispie-
on besonderes Augenmerk darauf legen, ob eine          le nennen und betont, dass bei vielen gemeinsa-
Transaktion eine mögliche Beeinträchtigung             men Tätigkeiten von Wettbewerbern die Gefahr
„grüner“ Innovationen zur Folge haben könn-            einer solchen Beschränkung ausgeschlossen wer-
te – insbesondere, ob es sich um eine „grüne Kil-      den könne, sodass das Kartellverbot schon keine
ler-Akquisition“ handelt, bei der ein etablierter      Anwendung findet.
Marktteilnehmer ohne umweltfreundliches Ange-
                                                       Zweitens soll erörtert werden, wie Umwelt- bzw.
bot kleinere Unternehmen aufkauft, die Innovati-
                                                       Nachhaltigkeitsvorteile berücksichtigt werden
onen im Bereich nachhaltiger Produkte, Technolo-
                                                       können, wenn eine Wettbewerbsbeschränkung
gien usw. vorweisen können (um diese dann ganz
                                                       besteht, eine bestimmte Zusammenarbeit unter
abzuwürgen oder die Ergebnisse der Innovations-
                                                       Wettbewerbern also sehr wohl dem Kartellverbot
tätigkeit zu schlechteren Bedingungen, höheren
                                                       unterfallen kann. In diesem Fall kommt es auf die
Preisen oder in verminderter Qualität zu vermark-
                                                       Voraussetzungen der Einzelfreistellung nach Art.
ten). Da solche „Killer Akquisitionen“ möglicher-
                                                       101 Abs. 3 AEUV an. Diese Vorschrift setzt in erster
weise durchs Raster der umsatzbasierten Fusions-                                                              1
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    Linie voraus, dass die beteiligten Unternehmen         •   Zugleich betont die Kommission aber: ein
    nachweisen, dass ihre Zusammenarbeit Vortei-               „grünes Laissez-faire“ wird es nicht geben.
    le für die Verbraucher mit sich bringt (traditionell       Vielmehr soll eine strenge Bewertung der
    wird dies als „Effizienzgewinn“ bezeichnet).               wettbewerbswidrigen Auswirkungen einer
                                                               Kooperation und ihres Nutzens vorgenommen
    Vor allem in den letzten 12-18 Monaten wurden
                                                               werden. Außerdem habe diese Bewertung
    teils stark unterschiedliche Ansichten dazu geäu-
                                                               stets „innerhalb der Grenzen eines jeden rele-
    ßert, welche Arten von Effizienzgewinnen hier ak-
                                                               vanten Marktes“ zu erfolgen. Das ist eine zen-
    zeptiert werden können und ob und wie sie zu
                                                               trale Einschränkung, denn es bedeutet, dass
    quantifizieren sind. Hierzu enthält der Policy Brief
                                                               alle oben genannten „Vorteile“ grundsätzlich
    einige interessante und für die weitere Diskussion
                                                               nur insoweit berücksichtigt werden können,
    potenziell wegweisende Gedanken:
                                                               als sie auf demselben Markt auftreten wie die
    •   Die Kommission will „klarstellen, dass Nach-           damit verbundenen Wettbewerbsbeschrän-
        haltigkeitsvorteile als qualitative Effizienz-         kungen (d.h. die jeweiligen Preis- oder Kos-
        gewinne bewertet werden können“. Sie ist               tenerhöhungen, der Wegfall bestimmter Pro-
        also bereit, nicht nur die „quantitativen“ Vor-        dukte, die Angleichung von Forschung und
        teile einer Wettbewerberkooperation zu be-             Entwicklung usw.). Treten die Vorteile hin-
        rücksichtigen (z.B. die geringeren Material-,          gegen auf anderen Märkten auf, können sie
        Transport- und Lagerkosten, die ein neu-               nur berücksichtigt werden, wenn „die Grup-
        es, nachhaltigeres Produkt mit sich bringen            pe der von der Beschränkung betroffenen
        kann), sondern auch die Verbesserungen der             Verbraucher und die Gruppe der begünstig-
        „Qualität oder Langlebigkeit eines Produkts“,          ten Verbraucher im Wesentlichen identisch
        die „den Wert erhöhen, den die Verbraucher             sind“. Das heißt: (Umwelt-)Vorteile, die nur
        diesem Produkt beimessen“ (z.B. Spielzeuge,            solche Verbraucher betreffen, die nicht iden-
        die Holz statt Plastik enthalten oder Kleidung         tisch oder zumindest „im Wesentlichen gleich“
        aus recycelten statt neuen Materialien). Das           mit denen auf dem von der jeweiligen Wettbe-
        ist eine gute Nachricht für alle Befürworter ei-       werbsbeschränkung betroffenen Markt sind,
        ner „umweltfreundlicheren“ Anwendung des               bleiben (weiterhin) irrelevant und können
        Kartellrechts.                                         nicht zu einer Freistellung führen. Mit dieser
    •   Im Policy Brief wird außerdem festgestellt,            strengen Sicht will die Kommission dem von
        dass „Nachhaltigkeitsvorteile nicht notwen-            ihr aufgestellten Erfordernis genügen, dass die
        digerweise die Form einer direkten oder un-            durch eine Wettbewerberkooperation geschä-
        mittelbar spürbaren Verbesserung der Pro-              digten Verbraucher vollständig für den ihnen
        duktqualität oder einer Kosteneinsparung               durch den Wettbewerbsverlust entstehenden
        annehmen müssen“. Das „nicht“ ist hierbei be-          Nachteil entschädigt werden. Diesem Kriteri-
        sonders zu betonen. Es bedeutet, dass eine be-         um könne nur entsprochen werden, indem ein
        stimmte Zusammenarbeit von Wettbewer-                  strikter Bezug zum relevanten Markt herge-
        bern selbst dann freistellungsfähig sein kann,         stellt wird, auf dem sich der Wettbewerbsver-
        wenn sie keinen spürbaren qualitativen oder            lust zeigt.
        quantitativen Nutzen mit sich bringt, es aber      •   Teil der weiterhin eher strengen Sicht auf die
        auf der Abnahmeseite Präferenzen für eine              Freistellungsvoraussetzungen ist zudem, dass
        nachhaltige Produktion oder einen nachhalti-           auch eine „grüne Kooperation“ dem Kriteri-
        gen Vertrieb gibt und diese Präferenzen dazu           um der „Unerlässlichkeit“ genügen muss, um
        führen, dass Verbraucher „bereit sind, aus die-        für eine Freistellung nach Artikel 101 Abs.
        sem Grund einen höheren Preis zu zahlen“.              3 AEUV in Frage zu kommen. Das bedeu-
        Wenn sich beispielsweise Wettbewerbern                 tet: Wenn die beteiligten Unternehmen nicht
        zusammentun, um ein neues Waschmittel                  nachweisen können, dass ein Marktversagen
        zu entwickeln, das zwar kein besseres Reini-           oder ein anderer Umstand vorliegt, der „den
        gungsergebnis liefert, aber umweltfreund-              freien Markt daran hindern würde, [die ange-
        licher hergestellt wird als frühere Produkte,          strebten] Vorteile zu erzielen, und daher eine
        kann diese gemeinsame Produktion mit dem               Vereinbarung zwischen den Unternehmen er-
        Kartellrecht vereinbar sein, wenn die Verbrau-         forderlich macht“, würde die Zusammenarbeit
        cher willens sind, den (relativ höheren) Preis         trotz ihres offensichtlichen Umweltnutzens als
        für dieses neue Produkt zu zahlen.                     kartellrechtswidrig angesehen.
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    Unsere Sicht                                          hier sogar einen sehr flexiblen Ansatz erzwingen.
    Einerseits ist der Vorstoß der Kommission ein         Tatsächlich hatte die Kommission schon im Jahr
    willkommener Schritt hin zu einem wettbewerbs-        2004 – d.h. vor der Veröffentlichung ihrer jetzigen
    rechtlichen Beitrag zum Kampf gegen den Klima-        Horizontalleitlinien – eine Entscheidung über um-
    wandel – einem Generationenprojekt von weltweit       weltfreundlichere Waschmaschinen erlassen, in
    höchster politischer (und letztlich existenzieller)   der sie feststellte: „Derartige gesamtgesellschaft-
    Bedeutung. Jedenfalls in Bezug auf dem Umgang         liche Ergebnisse für die Umwelt lassen den Ver-
    mit dem Kartellverbot scheinen jedoch noch eini-      brauchern eine angemessene Beteiligung am Ge-
    ge Punkt klärungsbedürftig und dürfte die Diskus-     winn zuteil werden, selbst sofern keine Vorteile für
    sion weiter im Fluss bleiben.                         die einzelnen Käufer bestehen sollten“.

    Es besteht insbesondere ein Spannungsverhältnis       Als Stolperstein für die Freistellung könnte sich
    zwischen dem klaren Bestreben, Wege zur Förde-        das Bekenntnis zur traditionellen Auslegung des
    rung „grüner Kooperationen“ zu eröffnen, und der      Kriteriums der „Unerlässlichkeit“ erweisen. Die
    strengen, marktbezogenen Sichtweise auf die Fra-      Kommission räumt zwar ein, dass es Fälle geben
    gen der Verbrauchervorteile sowie der Unerläss-       kann, in denen sich Unternehmen zusammentun
    lichkeit einer Wettbewerberkooperation. Richtig       müssen, um die Risiken eines umweltfreundlichen
    ist sicherlich, dass ein „Green Washing“ nicht ge-    „Vorpreschens“ individueller Anbieter (den sog.
    fördert werden sollte. Es ist auch nicht zu bean-     First Mover Disadvantage) auszugleichen und die
    standen, dass die Kommission grundsätzlich am         Verbraucher dazu zu bewegen, teurere nachhaltige
    Standard der Verbraucherwohlfahrt festhalten          Produkte zu verwenden. Zugleich betont sie aber,
    will. Und es ist positiv, dass die Kommission auch    dass „von gewinnmaximierenden Unternehmen zu
    dann Offenheit für eine Freistellung zeigt, wenn      erwarten ist, dass sie, wenn Verbraucher eine Prä-
    eine Wettbewerberkooperation zu einem erhebli-        ferenz für nachhaltige Produkte haben, solche Pro-
    chen Rückgang an Umweltverschmutzung für die          dukte unabhängig voneinander und nicht im Wege
    Gesamtgesellschaft führt (da dann auch die Ver-       der Zusammenarbeit anbieten“. Sollte diese Sicht
    braucher auf dem relevanten Markt – die Teil der      beibehalten werden, so könnten Unternehmen,
    Gesamtgesellschaft sind – an dem entstandenen         die ihre Zusammenarbeit mit der Bereitschaft der
    Nutzen angemessen beteiligt und für die erfahre-      Verbraucher begründen wollen, mehr für umwelt-
    nen Nachteile „voll entschädigt“ werden).             freundliche Produkte zu zahlen, einen schweren
                                                          Stand haben. Sie müssten argumentieren, dass sie
    Dennoch bleibt die Frage, ob eine umfassende          sich trotz des spürbaren Interesses der Nachfrage-
    Förderung der umweltpolitischen Ziele der EU          seite (und des daraus resultierenden Fehlens eines
    nicht einen noch flexibleren Ansatz erfordern wür-    First Mover Disadvantage) mit Wettbewerbern zu-
    de, der auch marktübergreifende oder marktfrem-       sammentun müssen, um das gewünschte Ergeb-
    de Effizienzgewinne anerkennt – um damit auch         nis zu erzielen. Hier droht eine Zwickmühle: spre-
    solche Kooperationen freistellen zu können, de-       chen die Nachfragepräferenzen für ein Interesse
    ren Vorteile nur auf einem anderen Markt auftre-      an nachhaltigen Produkten, so würde prima facie
    ten oder keinem bestimmten Markt zugeordnet           wenig für die Unerlässlichkeit einer Kooperation
    werden können. Der Wortlaut von Artikel 101 Ab-       sprechen. Gibt es dagegen keine Indikationen für
    satz 3 AEUV stünde dem nicht entgegen, da dort        eine entsprechende Nachfragepräferenz, so ent-
    nur der Begriff der „angemessenen Beteiligung“        fällt bereits ein zentraler, möglicherweise für die
    verwendet wird; der strenge Bezug zu einem be-        Freistellung genügender qualitativer Vorteil.
    stimmten relevanten Markt ist in der Norm nicht
    zwingend angelegt. Gleiches gilt für das Kriterium    In dieser Hinsicht wäre es hilfreich, wenn die
    der „vollständigen Entschädigung“ der nachteilig      Kommission konkretere Hinweise geben und ins-
    betroffenen Verbraucher. Auch dieses entstammt        besondere klar kommunizieren würde, dass auch
    nur den geltenden Horizontalleitlinien der Kom-       eine erkennbare „Nachfrageträgheit“ (d.h. die Zu-
    mission, ohne, dass das Primärrecht diese Ein-        rückhaltung der Verbraucher, trotz eines allge-
    grenzung zwingend gebieten würde. Kritiker des        mein bekundeten Interesses an nachhaltigeren
    jetzigen Konzepts argumentieren sogar, dass viel-     Produkten diese auch tatsächlich nachzufragen)
    mehr andere Bestimmungen des Vertrags, die die        bereits ausreichen kann, um die Zusammenar-
    Grundsätze der EU und ihre Umweltpolitik betref-      beit von Wettbewerbern nach Artikel 101 Absatz 3
    fen (d.h. Artikel 191 Absatz 2 und Artikel 11 AEUV)   AEUV freizustellen – zumindest dann, wenn klar
                                                          ist, dass nur eine abgestimmte Änderung von Pro-
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4                                                                                                         Hogan Lovells

    duktmerkmalen oder Produktpaletten die Nach-
    frage tatsächlich in einer Weise verändern würde,
    die den „Green Deal“ fördert.                               Take away
    Möglicherweise wäre aber auch eine Art Be-             Die Kommission beabsichtigt, den nun
    reichsausnahme für „grüne Zusammenarbeit“              eingeschlagenen Weg mit einem zweiglei-
    vorzugswürdig, die – unter noch zu definieren-         sigen Ansatz weiterzuverfolgen. Zum ei-
    den Sondervoraussetzungen – solche Formen der          nen will sie im Rahmen der Überarbeitung
    Wettbewerberabstimmung dem Anwendungsbe-               ihrer Gruppenfreistellungen und Leitli-
    reich von Art. 101 Abs. 1 AEUV insgesamt enthebt.      nien für horizontale Zusammenarbeit und
    Dies würde solche Kooperationen von den Fes-           vertikale Vereinbarungen, die derzeit lau-
    seln kartellrechtlicher Kernelemente wie Marktde-      fen und bis Ende Dezember bzw. Mai 2022
    finition, Wirkungsanalyse und Verbraucherwohl          zu neuen Vorschriften führen sollen, mehr
    befreien und verhindern, dass eine granulare, an       Orientierungshilfe bieten. Zugleich fordert
    lokalen und personengruppenspezifischen Wir-           sie die Unternehmen auf, sich mit etwai-
    kungen orientierte Kartellrechtsanwendung die          gen Kooperationsprojekten zu melden und
    rechtliche Durchführbarkeit von Vorhaben blo-          der Kommission in diesem Rahmen insbe-
    ckiert, die ein globales Problem aller Menschen lö-    sondere ein besseres Bild dazu zu verschaf-
    sen sollen.                                            fen, wann bestehende (Umwelt-)Vorschrif-
                                                           ten den Unternehmen bereits Anreize für
    Ein bereits auf dem legislativen Weg befindliches      eine nachhaltige Produktion bieten (und
    Beispiel hierfür stellt die europäische Landwirt-      somit eine Zusammenarbeit überflüssig
    schaftspolitik dar. In der hierfür zentralen Neufas-   machen), und wann hierfür keine (ausrei-
    sung der Verordnung über die gemeinsame Markt-         chenden) Anreize bestehen. Unternehmen,
    organisation soll ein neuer Artikel 210a enthalten     die irgendeine Art von „grüner Zusam-
    sein. Danach werden Abstimmungen zwischen Er-          menarbeit“ planen oder Nachhaltigkeits-
    zeugern und anderen Akteuren der Wertschöp-            initiativen mit Wirkung im Binnenmarkt
    fungskette im Hinblick auf landwirtschaftliche         in Erwägung ziehen, sollten somit jetzt
    Erzeugnisse wie Getreide, Reis und Zucker, die         mehr denn je darüber nachdenken, sich
    darauf abzielen, Umwelt-, Tiergesundheits- oder        proaktiv an die Kommission zu wenden,
    Tierschutzstandards anzuwenden, die höher sind         um (1) Rechtssicherheit für ihr konkretes
    als diejenigen, die nach Unions- oder nationalem       Projekt zu erlangen und (2) die weiteren
    Recht vorgeschrieben sind, vom Kartellverbot aus-      rechtspolitischen Diskussionen zu beein-
    genommen – sofern nur die entstehenden Vorteile        flussen. In diesem Zusammenhang hat die
    für das öffentliche Interesse die Nachteile für „die   Kommission auch betont, dass sie, wenn es
    Verbraucher“ aufwiegen, und sofern sie nur Be-         das öffentliche Interesse erfordert, den Er-
    schränkungen auferlegen, die für die Erreichung        lass von Entscheidungen gemäß Artikel 10
    ihres Ziels unverzichtbar sind. Die Kommission         der Verordnung 1/2003 in Betracht ziehen
    wird bis Anfang 2024 Leitlinien zu den Bedingun-       wird – also die Feststellung, dass die Wett-
    gen für die Anwendbarkeit dieser Ausnahmerege-         bewerbsregeln auf bestimmte Nachhaltig-
    lung herausgeben.                                      keitsinitiativen nicht anwendbar sind.
                                                           Zugleich zeigen die hier skizzierten Über-
                                                           legungen: Es gibt noch viel zu tun – und in
                                                           jedem Fall stehen hier wichtige Weichen-
                                                           stellungen für die Praxis bevor. Auch ab-
                                                           seits konkreter Nachhaltigkeitsprojekte
                                                           sollten Unternehmen die weiteren Ent-
                                                           wicklungen daher genau beobachten. Ins-
                                                           besondere ist darauf zu achten, ob und wie
                                                           fortschrittlichere Debattenteilnehmer wie
                                                           z.B. die niederländische Wettbewerbsbe-
                                                           hörde die weiteren Diskussionen beein-
                                                           flussen werden.
Hogan Lovells Kartellrechts-Radar - Herbst 2021 - Was Sie auf dem Schirm haben sollten
5                                                                                                                 Hogan Lovells

    Stärkeres Immunsystem nötig? Ideen zur                 Das Bundeskartellamt arbeitet derzeit intern an
    Förderung des Public Enforcement                       Vorschlägen, um einen solchen Ansatz umzuset-
                                                           zen. Ohne gesetzliche Änderung der seit Januar
    Weltweit verzeichnen Kartellbehörden seit gerau-
                                                           förmlich in das GWB überführten „Bonusbekannt-
    mer Zeit einen Rückgang der eingehenden Kron-
                                                           machung“ ginge dies freilich nicht und welche Lö-
    zeugenanträge. Besonders das Bundeskartellamt
                                                           sung hier für (rechtspolitisch) vertretbar gehalten
    trifft dies hart. Im Jahr 2020 erreichten die Behör-
                                                           wird, ist derzeit völlig offen. Klar aber ist: es bildet
    de gerade einmal 13 Kronzeugenanträge – im Jahr
                                                           sich derzeit EU-weit ein entsprechender Konsens
    2013 waren es 64. Da erfahrungsgemäß rund 50%
                                                           heraus. So blickt z.B. die niederländische Kartell-
    der Kartellverfahren auf einen Kronzeugenantrag
                                                           behörde ganz ähnlich auf das Problem und auch
    zurückgehen, ist diese Entwicklung aus Sicht der
                                                           hochrangige Vertreter der EU Kommission ha-
    Bonner Kartellverfolger höchst kritisch – zumal
                                                           ben in den letzten Wochen angedeutet, dass Wege
    es oft erst die in Kronzeugenanträgen enthaltene
                                                           zur „Effizienzsteigerung“ des EU-Kronzeugenpro-
    „Materialsammlung“ ist, die die Behörde befähigt,
                                                           gramms erwogen werden – einschließlich einer
    einen Kartellfall mit gerichtsfesten (den Beweisan-
                                                           Befreiung des Kronzeugen von Schadensersatzan-
    forderungen genügenden) Entscheidungen abzu-
                                                           sprüchen Dritter.
    schließen.
    Seit einigen Wochen ist daher zu beobachten, dass
    vor allem Kartellamtschef Andreas Mundt sowohl
    in Zeitungsinterviews als auch im Rahmen von                     Take away
    Fachtagungen für ein erweitertes „Kronzeugenpri-           Die dargestellten Reformüberlegungen
    vileg“ wirbt. Danach sollen Kronzeugen – d.h. die          hätten ganz erhebliche Auswirkungen so-
    in einem bestimmten Kartellfall ersten die Tat of-         wohl auf (potenzielle) Kartellanten und
    fenlegenden „Whistleblower“ – nicht nur (wie bis-          Whistleblower als auch auf kartellgeschä-
    her) Immunität gegenüber den hoheitlich ver-               digte Kläger. Sollten die Behörden den
    hängten Kartellbußgeldern erhalten, sondern auch           skizzierten Weg weitergehen, gäbe es hier
    von den Kartellschadensersatzansprüchen geschä-            nach der Einführung der Kartellschadens-
    digter Abnehmer ausgenommen werden. Hiervon                ersatzrichtlinie einen neuen „Gamechan-
    erhofft man sich eine gesteigerte Attraktivität des        ger“, der die strategischen Überlegungen
    Kronzeugenprogramms. Das Kartellamt hat näm-               im Schnittfeld von (präventiver) Compli-
    lich den massiven Anstieg von Kartellschadenser-           ance und (reaktivem) Umgang mit den
    satzklagen in den letzten Jahren – wohl zu Recht           Kartellverfolgern neu definieren würde.
    – als wesentlichen Treiber für den Rückgang der
    Kronzeugenanträge ausgemacht. Angesichts einer
    sich zunehmend professionalisierenden Kläger-
    seite, die von Prozessfinanzierern, Spezialkanzlei-
    en und eigens gegründeten Klagevehikeln geprägt
    wird, die Multi-Millionenforderungen auf Basis ei-
    nes Sammelinkassos geltend machen, werden die
    finanziellen Risiken aus Kartellschadensersatzpro-
    zessen von vielen Kartelltätern als immens wahr-
    genommen; die finanziellen Risiken eines Kar-
    tellbußgelds können sie weit übersteigen. Folge:
    Verschweigen kann wieder rational sein – und die
    Kartellverfolgung stockt. Umfassendere Privi-
    legien für Kronzeugen, die auch den Kartellscha-
    densersatz einbeziehen, könnten hier Abhilfe ver-
    schaffen.
Hogan Lovells Kartellrechts-Radar - Herbst 2021 - Was Sie auf dem Schirm haben sollten
6                                                                                                              Hogan Lovells

    Kartellrecht nach der Pandemie – Was                    Kartellbehörden und Gerichten. Eine sowohl
    bevorsteht und was zu tun ist                           inhaltlich als auch praktisch ganzheitliche
                                                            Betrachtung der Kartellrechtslage trägt dazu
    Insbesondere unter dem Eindruck von Klima-
                                                            bei, gezielt kombinierte Strategien zu ent-
    wandel, Corona-Pandemie und Digitalisierung
                                                            wickeln, um nicht nur behördliche
    zeichnen sich derzeit weltweit tiefgreifende Um-
                                                            Ermittlungsschritte, sondern auch
    wälzungen in der Praxis der Kartellrechts-
                                                            Schadensersatzansprüche privater Parteien
    verfolgung ab. Diese verdichten sich zu sechs
                                                            erfolgreich abwehren zu können – eine
    Schlüsselthemen, deren Herausforderungen sich
                                                            Fähigkeit, die heute wichtiger ist denn je.
    Unternehmen weltweit stellen müssen. Unter-
    nehmen, die diese Themen ernst nehmen und die         4. Die überragende Bedeutung eines „Tech-
    damit verbundenen Risiken angemessen abbilden,           Mindset“: digitale Kompetenzen sind nicht
    werden auch diese neue, herausfordernde Zeit             mehr wegzudenken. Bereits jetzt hat – durch
    erfolgreich meistern.                                    die Pandemie nochmals verstärkt – die
                                                             Digitalisierung die Art und Weise, wie
    Zu nennen sind hier:
                                                             Unternehmen agieren, nachhaltig verändert.
    1. Das nach der Pandemie allgemein steigende             Zu dieser Veränderung gehört auch das
        Risiko der weltweiten Kartellrechts-                 Aufkommen neuer Mittel und Wege zur
        durchsetzung: Der von Beobachtern teils              Anbahnung oder Umsetzung kartellrechts-
        wahrgenommene „Dornröschenschlaf“ der                widrigen Verhaltens, z.B. durch algorithmen-
        Kartellverfolgung wird enden und der Druck auf       gestützte Preisfindung. Behörden weltweit
        Unternehmen steigen. Die Pandemie klingt ab,         haben dies erkannt und arbeiten mit Hochdruck
        kriseninduzierte Wettbewerberkooperationen           daran, ihre eigenen technologischen
        müssen aufgelöst werden und Kartellbehörden          Fähigkeiten weiter auszubauen, um (Digital-)
        weltweit werden mit neuen finanziellen,              Unternehmen einen „Kampf auf Augenhöhe“
        personellen und rechtlichem Mitteln aus-             liefern zu können. Die Verwendung von
        gestattet.                                           Preisüberwachungssoftware, elektronischen
        ie fortbestehende Unverzichtbarkeit
    2. D                                                     Whistleblower-Tools, Marktscreening-Tools
       funktionierender Kartellrechtscompliance:             oder Big-Data-Analysen wird zur neuen
       Nur ein gut funktionierendes Compliance-              Normalität auf Behördenseite werden.
       Management-System erlaubt es Unternehmen,          5. Die zunehmende Verfolgung von Markt-
       ihre Risikoexposition und das eigene Risiko-           machtmissbrauch und Vertikalverstößen
       profil richtig zu erfassen. Dies wiederum              sowie die Vermengung kartellrechtlicher
       ermöglicht, die notwendigen Strukturen und             und außerkartellrechtlicher Fragen
       Prozesse zu etablieren und zu verfeinern, auf          („Blended Antitrust“): Zwar werden Kartelle
       deren Basis kartellrechtliche Probleme erkannt,        nach wie vor als die schädlichste Form wett-
       bewertet und (wo erforderlich) beseitigt werden        bewerbswidriger Verhaltensweisen wahr-
       können. Allein dies befähigt Unternehmen, die          genommen. Es zeichnet sich aber ab, dass
       zunehmend komplexe Kartellrechtslage adäquat           wir künftig eine sehr viel differenziertere
       zu erfassen, etwaige Bußgeldrisiken zu                 Kartellrechtsdurchsetzung sehen werden,
       minimieren und die Zügel bei der strategisch-          die nicht nur verstärkt Marktmacht-
       taktischen Ausrichtung gegenüber Wettbe-               missbrauchsfälle und vertikale Wettbe-
       werbern und Behörden allzeit in Händen zu              werbsbeschränkungen (wie etwa Geoblocking,
       halten.                                                Meistbegünstigungsklauseln oder die
    3. Die Wichtigkeit einer ganzheitlichen, ver-            Preisbindung der zweiten Hand) aufgreift,
        zahnten Sicht auf sämtliche                           sondern die auch dazu übergeht, Rechtsbereiche
        Kartellrechtsthemen („vom Datenraum bis               miteinander zu verknüpfen, die Beobachtern
        zum Gerichtssaal“): Der angemessene Umgang            noch vor wenigen Jahren als völlig un-
        mit Kartellrechtsrisiken erfordert mehr denn je       zusammenhängend erschienen wären. Die
        nicht nur ein tiefgreifendes Verständnis der          intensive Diskussion um „Grünes Kartellrecht“
        branchenspezifischen Besonderheiten, sondern          (siehe oben) ist nur ein Beispiel hierfür. Ähnlich
        auch die richtige Einordung der Art des               komplexe Rechtsfragen werden sich an der
        potenziellen Verstoßes, fundierte prozessuale         Schnittstelle von traditionellem Kartellrecht
        und verfahrensrechtliche Kenntnisse sowie             und Rechtsmaterien wie z.B. Datenschutzrecht,
        praktische Erfahrung im Umgang mit den                dem Arbeitsrecht oder dem Recht des geistigen
                                                              Eigentums stellen.
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    6. Die bei allen Kartellrechtsthemen stetig          der Kommission in Brüssel geprüft wird. Die frü-
       wachsende Bedeutung der internationa-              here Verwaltungspraxis der Kommission sah aller-
       len Perspektive: Die Globalisierung hat dazu       dings vor, dass keine Anträge von Mitgliedstaaten
       geführt, dass inzwischen sogar kleine und          akzeptiert werden, in denen die nationalen An-
       mittlere Unternehmen in hohem Maße interna-        meldeschwellen nicht überschritten werden. Nach
       tional auftreten (müssen) und sich dem Wettbe-     eigenem Recht unzuständige Mitgliedstaaten
       werb auf globaler Ebene stellen. Umgekehrt hat     konnten daher in der Praxis keine erfolgverspre-
       die Zahl der Wirtschaftsthemen (und dement-        chenden Anträge auf eine Brüsseler Prüfung stel-
       sprechend auch der Kartellrechtsthemen) mit        len. Dies hatte maßgeblich mit dem historischen
       rein lokaler Bedeutung deutlich abgenommen         Hintergrund der Norm zu tun. Ursprünglich wur-
       – und wird dies weiter tun. Unternehmen sind       de Art. 22 FKVO nämlich für Fälle eingeführt, in
       daher gut beraten, jederzeit eine globale Pers-    denen ein Mitgliedstaat gar kein Fusionskontroll-
       pektive auf das Kartellrecht, die Kartellrechts-   regime hat.
       compliance und alle damit zusammenhängen-
       den Fragen einzunehmen. Dies gilt umso mehr
                                                          Neuer Leitfaden
       angesichts der immer enger geknüpften Bande        Im März dieses Jahres hat die Kommission nun
       zwischen den Kartellbehörden, die weltweit ihre    aber ernst gemacht und – ohne vorherige Kon-
       Kooperationsbemühungen verstärken.                 sultation – einen neuen Leitfaden veröffentlicht,
                                                          der ihre Praxis mit sofortiger Wirkung anpasst.
                                                          Im Wesentlichen ist darin fixiert, dass die Kom-
                                                          mission in Fällen, in denen ein Zusammenschluss
             Take away                                    aus Sicht eines Mitgliedstaats (1) den Handel zwi-
       Es ist künftig mit wieder erstarkter Kartell-      schen Mitgliedstaaten beeinträchtigt und (2) den
       rechtsdurchsetzung durch die Behörden              Wettbewerb im Hoheitsgebiet des antragstellen-
       zu rechnen. Die EU Kommission hat dies             den Staats erheblich zu beeinträchtigen droht, die
       kürzlich mit ihren Durchsuchungen in der           Kommission diesen Antrag auch dann prüfen und
       Zellstoff-Industrie unter Beweis gestellt.         annehmen kann, wenn der antragstellende Staat
       In einer dreiteiligen deutschen Blog-Reihe         keine eigene Fusionskontrollzuständigkeit für die
       haben wir die oben skizzierten Themen für          Transaktion hat. Entsprechende Anträge wird
       Sie im Detail aufgearbeitet (hier die Links        die Kommission aber „in der Regel“ dann nicht
       zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3); ergänzend gibt      mehr positiv bescheiden, wenn seit dem Vollzug
       es zudem einen frei verfügbaren englisch-          mehr als sechs Monate vergangen sind, wobei „in
       sprachigen Artikel auf der Website der             Ausnahmesituationen“ auch spätere Verweisun-
       Global Competition Review. Sprechen Sie            gen angemessen sein sollen. Effektiv wird also ein
       uns bei Fragen jederzeit gern an.                  „Post-Closing Regime“ eingeführt, dass die gelten-
                                                          de (umsatzbasierte) präventive Fusionskontrol-
                                                          le ergänzt.

    Fokus Enforcement                                     Hinsichtlich der Indikatoren, anhand derer be-
                                                          stimmt werden soll, ob eine Transaktion für die-
    Alle Wege führen nach Brüssel –                       se neue Praxis in Betracht kommt, bleibt der Leit-
                                                          faden recht vage. Im Kern geht es darum, dass
    Kommission stellt neue Fusionskontroll-
                                                          der Umsatz mindestens eines der beteiligten Un-
    praxis scharf                                         ternehmen nicht sein tatsächliches oder künf-
                                                          tiges Wettbewerbspotenzial widerspiegelt, z.B.
    Hintergrund
                                                          weil es sich um ein Start-up oder einen wichti-
    Schon in unserem Kartellrechts-Radar aus Herbst       gen Innovator handelt. Ziel ist das Schließen ei-
    2020 hatten wir zu den Plänen der Kommissi-           ner wahrgenommen Verfolgungslücke, durch die
    on berichtet, durch eine Änderung ihrer Verwei-       wettbewerblich potenziell kritische Transaktio-
    sungspraxis zu Art. 22 FKVO auch solche Zusam-        nen (insbesondere sog. „Killer Acquisitions“) von
    menschlüsse einer Fusionskontrollprüfung zu           den Kartellbehörden bisher ungeprüft bleiben.
    unterziehen, für die weder sie selbst noch die Kar-   Der Leitfaden wirft dabei eine Fülle von materiel-
    tellbehörden der Mitgliedstaaten originär zustän-     len und verfahrensrechtlichen Fragen auf, die gar
    dig sind. Zur Erinnerung: Art. 22 FKVO erlaubt        nicht oder nur sehr oberflächlich adressiert
    den Mitgliedstaaten, bei der Kommission einen
    Antrag zu stellen, wonach ein Zusammenschluss-
    vorhaben nicht auf nationaler Ebene, sondern von
Hogan Lovells Kartellrechts-Radar - Herbst 2021 - Was Sie auf dem Schirm haben sollten
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    werden. Die Einzelheiten haben wir bereits in ei-       Anspruch nicht gerecht zu werden „could shock
    nem umfangreichen Beitrag für Sie aufgearbei-           the court“. Diese Aussage hat besondere Brisanz,
    tet. Klar ist jedenfalls: Anders als bislang besteht    denn…
    nun trotz der in aller Regel leicht überprüfbaren
    Umsatzschwellen in einigen Fällen keine Rechts-
                                                            Die Premiere – Der Fall Illumina/Grail
    sicherheit mehr für das „ja“ oder „nein“ fusions-       … ein erster Fall, der sich mit der neuen Verwei-
    kontrollrechtlicher Prüfpflichten. Bei bisher nicht     sungspraxis befasst, ist bereits beim EuG an-
    kontrollpflichtigen Transaktionen können erheb-         hängig. Bei der Übernahme des Unternehmens
    liche Vorprüfungen und komplexe Risikobeurtei-          Grail, einem Anbieter von Bluttests auf bestimm-
    lungen durch die beteiligten Unternehmen erfor-         te Krebsarten, durch den Erwerber Illumina, ei-
    derlich werden – und zwar sowohl auf nationaler         nem führenden Anbieter von Gensequenzierern,
    als auch auf EU-Ebene. Die Möglichkeit eines Auf-       setzte die Kommission ihren neuen Ansatz erst-
    greifens selbst nach Vollzug verstärkt diese Unsi-      mals um und ermutigte die Mitgliedstaaten im Fe-
    cherheit noch.                                          bruar 2021 sogar aktiv zur Stellung eines Verwei-
                                                            sungsantrags. Frankreich erhörte den Ruf im März
    Sicht der Stakeholder                                   und Belgien, Griechenland, Island, die Niederlan-
    Während dieser neue Ansatz teils begrüßt wird –         de und Norwegen schlossen sich dem Antrag an.
    so haben sich insbesondere Frankreich (das seit         Die Kommission nahm diesen im April nicht nur
    vielen Jahren für eine Änderung der Verweisungs-        an, sondern führt auf der Basis mittlerweile sogar
    praxis lobbyiert hatte), Belgien, Griechenland, Lu-     ein vertieftes fusionskontrollrechtliches Prüfungs-
    xemburg und die EFTA-Mitgliedstaaten befürwor-          verfahren („Phase II“), dessen Frist zur Zeit am 4.
    tend geäußert – kommt vor allem aus Deutschland         Februar 2022 abläuft (M.10188). Nach Auffassung
    Gegenwind. So wurde vor kurzem ein vom BMWi             der Behörde könnte die geplante Übernahme den
    beauftragtes Rechtsgutachten bekannt, demzufol-         Wettbewerb auf dem im Entstehen befindlichen
    ge der von der Kommission nun verfochtene An-           Markt der Entwicklung und Vermarktung von auf
    satz „probably the least robust [attempt] in law        Sequenzierungstechnologien basierenden Tests
    and practice“ sei, um die Fusionskontrolle im Hin-      zur Krebserkennung sowie die entsprechende In-
    blick auf wettbewerblich potenziell kritische Fälle     novationstätigkeit einschränken.
    zu verbessern. Und auch die Bundesregierung hat
                                                            Unabhängig von der Frage, ob die Kommission
    im jüngsten Tätigkeitsbericht des BKartA Worte
                                                            hier im Ergebnis durchgreifende Wettbewerbs-
    klarer Ablehnung gefunden: Der neue Ansatz blei-
                                                            bedenken haben wird, schlägt der Fall noch aus
    be „mit Blick auf Rechtssicherheit und Effektivi-
                                                            einem weiteren Grund hohe Wellen: Illumina
    tät hinter der vorzugswürdigen Lösung eines ei-
                                                            entschloss sich im laufenden Verfahren zum vor-
    genen Aufgreiftatbestandes zurück. […] Die bloße
                                                            zeitigen Closing der Transaktion und verstieß da-
    Änderung der Verwaltungspraxis durch die Euro-
                                                            mit gegen das Vollzugsverbot der EU-Fusionskon-
    päische Kommission darf die nationale Gesetzge-
                                                            trolle. Zwar erlegte sich Illumina hierbei proaktiv
    bung jedoch nicht aushebeln.“ Dementsprechend
                                                            ein „Hold-Separate“ auf, sodass Grail vorerst als
    hat auch das BKartA öffentlich betont, dass nach
                                                            selbstständiges Unternehmen weitergeführt wird.
    seiner ständigen Praxis die Stellung eines Ver-
                                                            Der Kommission reicht dies jedoch nicht, weshalb
    weisungsantrags nach Art. 22 FKVO eine Anmel-
                                                            sie nun ein separates Verfahren (M.10493) wegen
    depflicht nach nationalem Kartellrecht erfordert
                                                            des Verstoßes gegen das Vollzugsverbot führt, bei
    und es sich dem neuen Ansatz der Kommission so-
                                                            dem sowohl ein hohes Bußgeld als auch die Auf-
    mit nicht anschließen wird. Auch die US Chamber
                                                            erlegung einstweiliger Maßnahmen zur weiterge-
    of Commerce hat „serious concerns“ gegenüber
                                                            henden Trennung beider Unternehmen im Raum
    dem “Paradigmenwechsel” der Kommission vor-
                                                            stehen. Vor dem EuG klagt Illumina parallel ge-
    gebracht. In dasselbe Horn stößt der mittlerwei-
                                                            gen die Annahme des Verweisungsantrags durch
    le in die Kanzleienwelt gewechselte Ex-Kommis-
                                                            die Kommission (T-227/21). Eine Entscheidung
    sionsbeamte Carles Esteva Mosso. Und auch der
                                                            könnte hier aufgrund des durch die Richter zu-
    Präsident des EuG, Marc van der Woude, hat sich
                                                            gelassenen beschleunigten Verfahrens bereits im
    im Rahmen einer Konferenz mit leiser Skepsis ge-
                                                            Dezember dieses Jahres folgen – was eine für die
    äußert: „[W]hen there is an overhaul in the practi-
                                                            Fusionskontrollpraxis in der EU wichtige Wei-
    ce, for instance an increase in the fines or a funda-
                                                            chenstellung markieren wird.
    mental change in interpretation, the judges would
    expect that change is explained, and reasoned and
    that there is a transition period foreseen.” Diesem
Hogan Lovells Kartellrechts-Radar - Herbst 2021 - Was Sie auf dem Schirm haben sollten
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    Unsere Sicht
    Unabhängig vom Ausgang des gerichtlichen Ver-
                                                          Fokus Rechtsprechung
    fahrens und der materiell-fusionskontrollrecht-       Kinder haften für ihre Eltern – EuGH urteilt
    lichen Bewertung der Transaktion zeigt der Fall       zur Kartellschadensersatzhaftung im
    schon jetzt eines: Die Komplexität und Störanfäl-
                                                          Konzern
    ligkeit der neuen Verweisungspraxis. Gerade ein-
    mal sechs von 30 EWR-Staaten beteiligten sich         Am 6. Oktober 2021 erließ die Große Kammer des
    am Verweisungsverfahren und aus vielen Län-           EuGH ihre mit großer Spannung erwartete Ent-
    dern kommt sogar klarer Widerspruch. Neben            scheidung zu der Frage, gegen welche juristischen
    Deutschland ist dies z.B. für Spanien, Slowenien      Personen Kartellschadensersatzklagen („Follow-
    und Österreich der Fall, die sich ohne eigene Fu-     on-Klagen“) erhoben werden können (C-882/19).
    sionskontrollzuständigkeit jeweils allgemein au-      Hintergrund ist das sog. LKW-Kartell und eine
    ßer Stande sehen, Verweisungsanträge zu stellen       hierzu bei der Audiencia Provincial in Barcelo-
    (oder sich diesen anzuschließen). Berichten zu-       na anhängige Zivilklage. Dort hatte das Unterneh-
    folge haben sich auch Irland, Litauen, die Slowa-     men Sumal Schadensersatz gefordert und hierzu
    kei, Lettland, Schweden und Ungarn im konkre-         die spanische Tochtergesellschaft einer deutschen
    ten Fall skeptisch gezeigt. Zugespitzt gesagt: Was    Kartellbeteiligten verklagt. Es hatte die kartellbe-
    die Kommission nun tut, hat unter Europas Kar-        fangenen LKW von dieser Tochtergesellschaft er-
    tellwächtern keine Mehrheit. Eine dauernde Spal-      worben. In der Bußgeldentscheidung war allerdings
    tung über einen derart wichtigen wettbewerbspo-       nur die Muttergesellschaft und nicht die beklagte
    litischen Aspekt kann sich die Kommission nicht       Tochter als in den Kartellverstoß involviert benannt.
    erlauben – auch, weil andernfalls die Effektivität    Insoweit stellte sich die Frage der Passivlegitimation
    des neuen Ansatzes gefährdet ist. Jedenfalls so-      dieser Konzerngesellschaft, wozu die Richter in Bar-
    weit eine Transaktion Märkte betrifft, die kleiner    celona den EuGH am 24. Oktober 2019 um eine klä-
    als EU-weit abgegrenzt werden müssen, entste-         rende Vorabentscheidung ersuchten.
    hen für jeden Markt, der in das Gebiet eines nicht-
                                                          Nachdem sich bereits der Generalanwalt Pitruzzel-
    antragstellenden Staats fällt, „weiße Flecken“ im
                                                          la für eine entsprechende (Mit-)Haftung der Toch-
    Prüfprogramm der Kommission. Denn recht-
                                                          tergesellschaft ausgesprochen hatte, folgte dem
    lich ist ihre Prüfungsbefugnis bei Art. 22 FKVO
                                                          – wenngleich unter z.T. anderen Voraussetzun-
    stets eine von den antragstellenden Mitgliedstaa-
                                                          gen – nun auch der EuGH. Damit ist der Weg frei,
    ten abgeleitete. Und wo kein solcher Antrag (oder
                                                          um zivilrechtlich nicht nur eine Haftung von Kon-
    ein Anschluss an einen solchen) besteht, existiert
                                                          zernobergesellschaften für die von ihnen kontrol-
    dann auch keine Prüf- und Untersagungsbefugnis.
                                                          lierten kartellbeteiligten Tochtergesellschaften anzu-
                                                          nehmen („Eltern haften für ihre Kinder“ – vgl. dazu
                                                          den Fall „Skanska“) – sondern auch in umgekehr-
             Take away                                    ter Richtung eine Inanspruchnahme zu ermöglichen.
                                                          Tochtergesellschaften können für Kartellverstöße ih-
       Mit ihrer neuen Verweisungspraxis zu Art.          rer Mütter haften und entsprechend verklagt werden
       22 FKVO hat die Kommission einen recht-            („Kinder haften für ihre Eltern“). Die wesentlichen
       lich und praktisch fragwürdigen Zusatz-            Feststellungen sind wie folgt:
       strang in der EU-Fusionskontrolle einge-
       führt, der bei Unternehmen, Verbänden              1. A
                                                              uch wenn Kartellschadensersatzklagen vor den
       und Behörden für viel Kritik und Unsi-                nationalen Gerichten erhoben werden, richtet sich
       cherheit gesorgt hat. Es verwundert daher             die Bestimmung der zum Ersatz des verursach-
       nicht, dass hochrangige Kommissionsbe-                ten Schadens verpflichteten Einheit unmittel-
       amte seit Monaten im Rahmen von Konfe-                bar nach dem Unionsrecht. Die Schadenser-
       renzen und Interviews versuchen, die Wo-              satzklagen seien ebenso integraler Bestandteil des
       gen zu glätten und für den neuen Ansatz zu            Systems zur Durchführung der Wettbewerbsre-
       werben. Unternehmen mit aktuellen oder                geln der Union wie deren Durchführung durch die
       geplanten Transaktionsaktivitäten in der              Behörden. Folglich hat der Begriff „Unterneh-
       EU sollten die weiteren Entwicklungen                 men“ i.S.v. Art. 101 AEUV im Zusammen-
       unbedingt im Blick halten.                            hang mit der Verhängung von Geldbußen
                                                             (Public Enforcement) und im Zusammen-
                                                             hang mit Schadensersatzklagen (Private
                                                             Enforcement) keine unterschiedliche Be-
                                                             deutung.
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     2. Der Begriff „Unternehmen“ umfasst jede Ein-         kauft). Die Tochter müsse daher in demselben Be-
         heit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt,    reich tätig sein, in dem die Muttergesellschaft das
         unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art         wettbewerbswidrige Verhalten an den Tag gelegt
         ihrer Finanzierung, und bezeichnet somit eine       habe, und durch ihr Marktverhalten die Konkreti-
         wirtschaftliche Einheit, selbst wenn diese recht-   sierung der Auswirkungen der Zuwiderhandlung
         lich aus mehreren natürlichen oder juristischen     ermöglicht haben.
         Personen besteht. Wenn erwiesen ist, dass eine
                                                             Der vom EuGH nun verlangte „konkrete Zusam-
         zu einer solchen wirtschaftlichen Einheit gehö-
                                                             menhang“ scheint demgegenüber weniger streng
         rende Gesellschaft gegen das Kartellverbot ver-
                                                             bzw. ist eine Haftungshürde, die leichter zu über-
         stoßen hat, führen der Begriff „Unternehmen“
                                                             winden ist. Er eröffnet die Mithaftung von Toch-
         und damit der Begriff „wirtschaftliche Einheit“
                                                             tergesellschaften innerhalb desselben wirtschaft-
         zu einer gesamtschuldnerischen Haftung
                                                             lichen Tätigkeitsgebiets eines Konzernteils, selbst
         der Einheiten, die zum Zeitpunkt der Be-
                                                             wenn diese Gesellschaften kein direktes „Werk-
         gehung der Zuwiderhandlung die wirt-
                                                             zeug“ für die Kartellumsetzung waren. Zur Be-
         schaftliche Einheit bilden.
                                                             gründung führt der EuGH am Beispiel von kon-
     3. Der in Art. 101 AEUV verwendete Begriff „Un-        glomeraten Konzernen aus, dass innerhalb von
         ternehmen“ ist ein funktionaler Begriff, bei        Konzernen durchaus verschiedene „wirt-
         dem die wirtschaftliche Einheit, die das Unter-     schaftliche Einheiten“ (= haftungsfähige Un-
         nehmen bildet, unter dem Gesichtspunkt des          ternehmen) enthalten sei können. Dies sei dann
         Gegenstands der fraglichen Vereinba-                der Fall, wenn die Konzerne „in mehreren wirt-
        rung zu bestimmen ist. Ist ein Kartellverstoß        schaftlichen Bereichen tätig sind, die in keinem
        durch die Muttergesellschaft festgestellt wor-       Zusammenhang miteinander stehen […]. Da-
        den, steht es somit dem Opfer dieser Zuwider-        her kann ein und dieselbe Muttergesellschaft Teil
        handlung frei, anstelle der Muttergesellschaft       mehrerer wirtschaftlicher Einheiten sein, die nach
        eine von deren Tochtergesellschaften zivilrecht-     Maßgabe der fraglichen wirtschaftlichen Tätigkeit
        lich haftbar zu machen – vorausgesetzt, dass         aus ihr selbst und aus verschiedenen Kombinatio-
        das Opfer nachweist, dass diese Tochtergesell-       nen ihrer Tochtergesellschaften bestehen, die alle
        schaft zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung mit         zur selben Unternehmensgruppe gehören.” In-
        ihrer Muttergesellschaft eine wirtschaftliche        nerhalb dieser Kombinationen könne jeweils eine
        Einheit bildete. Dies wiederum hat zwei Voraus-      Haftung sowohl der kartellbeteiligten Mutter als
        setzungen:                                           auch der in konkretem Zusammenhang zu deren
                                                             Kartelltätigkeit stehenden Töchter bestehen.
     •   Das Bestehen einer Einheit im Hinblick
         auf die wirtschaftlichen, organisatorischen         Folglich müsse die Klägerin im konkreten Fall
         und rechtlichen Bindungen zwischen beiden           grundsätzlich nachweisen, dass die von der kar-
         Gesellschaften                                      tellbeteiligten Mutter geschlossene wettbewerbs-
                                                             widrige Vereinbarung die gleichen Produkte
     •   Das Bestehen eines konkreten Zusam-
                                                             betrifft, die auch von der beklagten spanischen
         menhangs zwischen der wirtschaftlichen Tä-
                                                             Tochtergesellschaft vermarktet werden. Eine Haf-
         tigkeit der beklagten Tochtergesellschaft und
                                                             tung der Tochter sei nicht schon deshalb ausge-
         dem Gegenstand der Zuwiderhandlung, für
                                                             schlossen, weil die Kommission keinen Beschluss
         die die Muttergesellschaft von der Kommissi-
                                                             gegen diese erlassen hat oder weil mit dem Be-
         on haftbar gemacht wurde.
                                                             schluss, mit dem sie die Zuwiderhandlung fest-
     Bei letzterem Punkt scheint der EuGH einen we-          gestellt hat, der Tochtergesellschaft keine Sank-
     niger restriktiven Ansatz als der Generalanwalt zu      tion auferlegt wurde. Nach alledem stehe Art. 101
     verfolgen. Dieser hatte richtigerweise das Problem      Abs. 1 AEUV somit einer nationalen Regelung ent-
     aufgeworfen, dass die Annahme einer zivilrecht-         gegen, wonach die zivilrechtliche Haftung nur sol-
     lichen Haftung von Tochtergesellschaften die Ge-        che Gesellschaften trifft, die kartellbeteiligte Ge-
     fahr einer uferlosen Inanspruchnahme auch völ-          sellschaften kontrollieren (Haftung „von unten
     lig „kartellferner“ juristischer Personen innerhalb     nach oben“). Vielmehr gebiete ein effektives Pri-
     einer Unternehmensgruppe birgt. Der Generalan-          vate Enforcement, dass eine Haftung auch im an-
     walt hatte daher vorgeschlagen, für die Haftung ei-     deren Fall erfolgen kann („Haftung von oben nach
     ner Tochtergesellschaft zu verlangen, dass deren        unten“).
     Tätigkeit gewissermaßen für die Verwirklichung
     des kartellrechtswidrigen Verhaltens erforderlich
     sei (z.B. weil sie die kartellbefangenen Güter ver-
11                                                                                                             Hogan Lovells

     Es sind aber grundsätzlich die Verteidigungs-
     rechte der beklagten Tochter zu wahren. Die                dern gesondert nur für die konkret „kar-
     Tochtergesellschaft muss, so der EuGH, vor dem             tellbefangene“ wirtschaftliche Einheit be-
     nationalen Gericht über alle Mittel verfügen, die          stimmt werden. Dieser Ansatz aber ent-
     für die sachdienliche Ausübung ihrer Verteidi-             spricht weder der geltenden Bußgeldpraxis
     gungsrechte erforderlich sind, insbesondere um             in Union und Mitgliedstaaten noch der
     die Zugehörigkeit zu demselben Unternehmen                 Vorgehensweise in der Fusionskontrolle.
     wie ihre Muttergesellschaft bestreiten zu können.          Hierüber hinausgehend erscheint zudem
     Aber: in Fällen wie dem vorliegenden sei das Be-           allgemein fraglich, welche Kriterien für die
     streiten auch hierauf beschränkt. Es sei der Toch-         Abgrenzung verschiedener konglomerater
     tergesellschaft dagegen verwehrt, auch das Vor-            Wirtschaftstätigkeiten herangezogen wer-
     liegen eines Kartellverstoßes zu bestreiten. Hier          den sollen (wozu der EuGH im konkreten
     nimmt der EuGH über Art. 16 Abs. 1 VO 1/2003               Fall keine Stellung beziehen musste).
     letztlich eine erweiterte Tatbestandswirkung
     an. Nach dieser Norm dürfen die nationalen Ge-
     richte keine Entscheidungen erlassen, die dem           Vertrauen ist gut, Kontrolle ist … schlech-
     Beschluss der Kommission zuwiderlaufen. Nur,            ter – EuG bestätigt hohe Geldbußen
     wenn die Kommission ein rechtswidriges Ver-             wegen Fusionskontrollverstößen
     halten der Muttergesellschaft nicht in einem Be-
     schluss nach Art. 101 AEUV festgestellt habe, sei       In der jüngeren europäischen Praxis spielte das
     die Tochtergesellschaft „naturgemäß berechtigt,         Vollzugsverbot – also das Verbot des auch als Gun
     nicht nur ihre Zugehörigkeit zu demselben ‚Unter-       Jumping bezeichneten Closings vor Erteilung der
     nehmen‘ wie die Muttergesellschaft, sondern auch        behördlichen Freigabe – nicht nur im Fall Illu-
     das Vorliegen der dieser zur Last gelegten Zuwi-        mina/Grail (siehe oben) eine Rolle. Am 22. Sep-
     derhandlung zu bestreiten“. Dies freilich ist ein       tember 2021 verkündete das EuG sein Urteil im
     für Follow-on-Klagen irrelevanter Punkt. Denn zu        Hinblick auf eine von Altice Europe erhobene
     diesen Streitigkeiten kommt es nur in Fällen, in        Nichtigkeitsklage (T-425/18). Diese richtete sich
     denen die Kommission einen Kartellverstoß gegen         gegen eine Geldbuße in Höhe von 124,5 Mio. EUR
     eine (Mutter-)Gesellschaft explizit festgestellt hat.   aus dem April 2018, die die EU Kommission dem
                                                             Unternehmen wegen des Verstoßes gegen die An-
                                                             meldepflicht und das Vollzugsverbot der FKVO
              Take away                                      auferlegt hatte – ein Rekordwert in Sachen fusi-
                                                             onskontrollrechtlicher Bußgelder. Das Gericht gab
         Das Urteil ist für das Private Enforcement
                                                             der Kommission in der Sache Recht, entschied al-
         wegweisend und wird den Trend zu Kar-
                                                             lerdings zumindest, dass, soweit ein Verstoß gegen
         tellschadensersatzklagen in der EU weiter
                                                             die Pflicht zur Anmeldung des Zusammenschlus-
         beflügeln. Seine Wirkungen weisen jedoch
                                                             ses in Rede stand, die Gesamtgeldbuße um 6,22
         über dieses Gebiet potenziell weit hinaus,
                                                             Mio. EUR herabzusetzen ist.
         denn letztlich modifiziert der EuGH den
         Begriff des „Unternehmens“ insgesamt, in-           Was war passiert? Altice, ein multinationales Ka-
         dem er die (grobe) Klammer der Kontrolle            bel- und Telekommunikationsunternehmen,
         einer Muttergesellschaft über (alle) Toch-          strebte 2014 den Erwerb der alleinigen Kontrol-
         tergesellschaften durch die (feinere) Klam-         le über den portugiesischen Telekommunikations-
         mer des konkreten wirtschaftlichen Tätig-           und Multimediabetreiber PT Portugal an. Dass
         keitszusammenhangs ersetzt. Von nun an              der Fall nach der FKVO anmeldepflichtig war, war
         können Unternehmensgruppen, zumin-                  den Parteien bewusst. Der Unternehmenskaufver-
         dest wenn sich die in ihnen gebündelten             trag (SPA) sah deshalb eine Reihe von Vorschrif-
         wirtschaftlichen Tätigkeiten wesentlich             ten zur Führung der Geschäfte von PT Portugal im
         unterscheiden, als Integration verschiede-          Zeitraum zwischen Signing und Closing vor. Die
         ner Unternehmen verstanden werden. Die              Transaktion wurde denn auch später angemeldet
         weltweiten Umsätze, die für die Bußgeld-            und im April 2015 freigegeben.
         berechnung herangezogen werden, müss-
         ten dann konsequenterweise aber auch
         nicht mehr für den Gesamtkonzern, son-
12                                                                                                            Hogan Lovells

     Im März 2016 leitete die Kommission aber auf-          wirksame Kontrolle von Zusammenschlüssen si-
     grund von Presseberichten Ermittlungen gegen           cherzustellen – insbesondere da der Kommissi-
     Altice wegen Verstößen gegen die FKVO-Anmel-           on andernfalls die Möglichkeit genommen wäre,
     depflicht (Art. 4 Abs. 1) sowie das FKVO-Vollzugs-     bei Verhängung von Geldbußen die Situation, in
     verbot (Art. 7 Abs. 1) ein. Sie kam zum Ergebnis,      der das Unternehmen die Anmeldepflicht einhält,
     dass Altice schon durch das SPA die Möglichkeit        aber gegen das Vollzugsverbot verstößt, von je-
     gehabt habe, einen bestimmenden Einfluss auf PT        ner, in der das Unternehmen gegen beide Pflich-
     Portugal auszuüben und das Unternehmen schon           ten zugleich verstößt, zu unterscheiden. Danach ist
     vor der Freigabe und in bestimmten Fällen sogar        nun klar: Gun Jumping kann sowohl in der
     schon vor der Anmeldung auch tatsächlich kont-         Spielart „Nicht-Anmeldung“ als auch in der
     rolliert habe. So hätten einige Vertragsklauseln Al-   Spielart „vorzeitiger Vollzug“ kumulativ
     tice ein Vetorecht bei (1) der Bestellung des Ma-      bebußt werden.
     nagements von PT Portugal sowie hinsichtlich
                                                            Hinsichtlich der materiellen Vorwürfe zu den
     (2) der Preispolitik, (3) der mit Kunden verein-
                                                            (übermäßigen) Einflussrechten durch das SPA
     barten Geschäftsbedingungen sowie (4) der Mög-
                                                            gab das EuG der Kommission ebenfalls recht.
     lichkeiten zur Gestaltung einer großen Bandbrei-
                                                            Nach der FKVO wird ein Zusammenschluss zu
     te von Verträgen eingeräumt. Es sei auf Basis der
                                                            dem Zeitpunkt vollzogen, zu dem sich die Kontrol-
     entsprechenden Klauseln auch tatsächlich mehr-
                                                            le dauerhaft ändert. Das Gericht bekräftigt: Gun
     fach zu einem Eingriff in den täglichen Geschäfts-
                                                            Jumping erfordert weder die tatsächliche
     betrieb von PT Portugal gekommen, z.B. durch
                                                            Ausübung eines bestimmenden Einflusses
     Anweisungen für die Durchführung einer Marke-
                                                            noch die vollständige Vollendung des Er-
     tingkampagne oder den Eingriff in Verhandlungen
                                                            werbsvorgangs. Vielmehr ist eine (rechtswid-
     mit Vertragspartnern. Außerdem habe es ab Un-
                                                            rige) Kontrollveränderung schon dann gegeben,
     terzeichnung des SPA auch einen Austausch wett-
                                                            wenn der Erwerber für die Zeit vor der behördli-
     bewerblich sensibler Informationen zwischen den
                                                            chen Freigabe die Möglichkeit erhält, einen
     Unternehmen gegeben. Die Kommission verhäng-
                                                            bestimmenden Einfluss auf das Zielunter-
     te daher gegen Altice eine Geldbuße von 62,25
                                                            nehmen auszuüben. Und das Recht, die Zu-
     Mio. Euro wegen Verstoßes gegen die Pflicht zur
                                                            sammensetzung der Unternehmensleitung mit-
     Anmeldung des Zusammenschlusses und eine
                                                            zubestimmen, sei regelmäßig hierfür genügend.
     weitere (!) Geldbuße von 62,25 Mio. EUR wegen
                                                            Gleiches gelte für die Abrede, die es Altice ermög-
     Nichteinhaltung des Vollzugsverbots (M.7993).
                                                            lichte, die Preispolitik von PT Portugal zu beein-
     In seinem Urteil weist das Gericht insbesondere        flussen (PT Portugal musste eine schriftliche Zu-
     das Argument von Altice zurück, wonach der Ver-        stimmung von Altice zu jeglichen Preisänderungen
     stoß gegen die Anmeldepflicht in dem gegen das         und jeder Änderung ihrer Geschäftsbedingungen
     Vollzugsverbot aufgehe und eine gleichwohl erfol-      einholen) sowie für die Altice eingeräumte Mög-
     gende Doppelahndung sowohl unverhältnismä-             lichkeit, in Verträge von PT Portugal einzugreifen
     ßig sei als auch einen Verstoß gegen das Verbot        und durch ein Mitbestimmungsrecht bei der Ein-
     der Doppelbestrafung darstelle. Art. 4 Abs. 1 und      gehung neuer Verträge den Geschäftslauf zu be-
     Art. 7 Abs. 1 FKVO verfolgten, so das Gericht, je-     einflussen. Dies galt umso mehr, als hier jeweils
     weils eigenständige Ziele (Absicherung der Anmel-      Entschädigungsansprüche im Fall eines Versto-
     dung als Auslöser für ein Prüfverfahren einerseits     ßes vorgesehen waren und keine Unterscheidung
     und Absicherung des ordnungsgemäßen Verfah-            danach getroffen wurde, ob die durch PT Portugal
     rensgangs ohne vorzeitige Marktstrukturverände-        angestrebten Vertragsabschlüsse und -gestaltun-
     rungen andererseits). Außerdem sehe Art. 4 Abs. 1      gen zum normalen Geschäftsverlauf gehörten und
     eine Handlungspflicht vor, wohingegen Art. 7 Abs.      welcher wirtschaftliche Wert ihnen zukam.
     1 eine Unterlassungspflicht statuiere. Zudem sei
                                                            Das Gericht eröffnete Altice zwar – im Einklang
     ersterer Verstoß eine nur einmalige, der Verstoß
                                                            mit Formulierungen in der einschlägigen Kom-
     gegen das Vollzugsverbot aber eine fortgesetzte
                                                            missionsleitlinie – die Möglichkeit, zu beweisen,
     Zuwiderhandlung. Die parallele Anwendung bei-
                                                            dass die Abreden erforderlich waren, um (1) den
     der Vorschriften als Basis für Bußgelder sei daher
                                                            Erhalt des Werts des übertragenen Unter-
     auch weder unverhältnismäßig noch mit dem Ver-
                                                            nehmens sicherzustellen oder (2) die Beeinträch-
     bot der Doppelbestrafung unvereinbar. Eine an-
                                                            tigung seiner gewerblichen Integrität zu ver-
     dere Sicht liefe dem Ziel der FKVO zuwider, eine
                                                            hindern. Dies aber gelang Altice nicht.
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