Hogan Lovells Kartellrechts-Radar - Herbst 2021 - Was Sie auf dem Schirm haben sollten
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Hogan Lovells Kartellrechts-Radar Herbst 2021 – Was Sie auf dem Schirm haben sollten Fokus Wettbewerbspolitik kontrollschwellen fallen, will die Kommission sich verstärkt auf ihre neue Verweisungspraxis zu Art. 22 FKVO stützen (siehe dazu auch den „Fokus En- Es grünt so grün – Kommission stellt forcement“ Bericht unten). Allgemein will die Be- Überlegungen zu ESG-Kooperationen hörde zudem die Auswirkungen von Nachhaltig- von Wettbewerbern vor keitsaspekten auf die Verbraucherpräferenzen, das Wettbewerbsgeschehen und die Marktabgrenzung Die Kommission hat kürzlich einen neuen „Com- genauer in den Blick nehmen. petition Policy Brief“ veröffentlicht, begleitet von einer Ansprache der hochrangigen Kommissi- Im Bereich des Beihilferechts ist die Förderung onsbeamtin Inge Bernaerts bei der diesjährigen der Finanzierung nicht-fossiler Brennstoffe und „Competition Conference“ der International Bar die Verbesserung der Möglichkeiten zur Unter- Association. Darin skizziert die Kommission ihre stützung von Innovationen vorgesehen, insbeson- Sicht darauf, wie Kartell-, Beihilfe- und Fusions- dere auf der Grundlage der neuen Leitlinien der kontrollrecht unterstützend wirken können, um Kommission für Klima-, Energie- und Umwelt- die grünen Ziele der EU – namentlich den „Green beihilfen und der Überarbeitung der Allgemeinen Deal“ und das „Fit for 55“-Paket – zu fördern. Die Gruppenfreistellungsverordnung. Regeln sollen nicht grundsätzlich gelockert wer- Erscheint in diesen beiden Rechtsgebieten der den, da es gerade auch der Wettbewerb sei, der Pfad recht klar und – insbesondere im Beihilfe- Angebot und Nachfrage nach nachhaltigeren Pro- recht – vergleichsweise wenig kontrovers, birgt dukten und Dienstleistungen zusammenbringe die Anwendung des Kartellverbots nach Art. 101 und Unternehmen zu effizienten, zukunftsgerich- AEUV größeres Konfliktpotenzial. Hierzu haben teten und innovativen Leistungen antreibe. Aber: wir bereits an anderer Stelle einen umfangreichen Die Kommission schließt sich der durch Mitglied- Beitrag veröffentlicht und fassen die wesentli- staaten wie die Niederlande oder Griechenland chen Punkte hier nochmals zusammen. So will die schon seit geraumer Zeit vertretenen Ansicht an, Kommission künftig klarere Leitlinien zu folgen- dass das Wettbewerbsrecht Teil der Lösung sein den Aspekten formulieren: kann und muss, sodass Umwelt- und Nachhaltig- keitsthemen bei der Rechtsanwendung durchaus Erstens soll mehr Klarheit für die Frage geschaf- eine Rolle zu spielen haben. fen werden, wann Kooperationen zu Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen überhaupt als (potenziel- Wesentliche Inhalt des Policy Briefs le) Wettbewerbsbeschränkung angesehen werden In der Fusionskontrolle will die Kommissi- können. Hier will die Behörde konkrete Beispie- on besonderes Augenmerk darauf legen, ob eine le nennen und betont, dass bei vielen gemeinsa- Transaktion eine mögliche Beeinträchtigung men Tätigkeiten von Wettbewerbern die Gefahr „grüner“ Innovationen zur Folge haben könn- einer solchen Beschränkung ausgeschlossen wer- te – insbesondere, ob es sich um eine „grüne Kil- den könne, sodass das Kartellverbot schon keine ler-Akquisition“ handelt, bei der ein etablierter Anwendung findet. Marktteilnehmer ohne umweltfreundliches Ange- Zweitens soll erörtert werden, wie Umwelt- bzw. bot kleinere Unternehmen aufkauft, die Innovati- Nachhaltigkeitsvorteile berücksichtigt werden onen im Bereich nachhaltiger Produkte, Technolo- können, wenn eine Wettbewerbsbeschränkung gien usw. vorweisen können (um diese dann ganz besteht, eine bestimmte Zusammenarbeit unter abzuwürgen oder die Ergebnisse der Innovations- Wettbewerbern also sehr wohl dem Kartellverbot tätigkeit zu schlechteren Bedingungen, höheren unterfallen kann. In diesem Fall kommt es auf die Preisen oder in verminderter Qualität zu vermark- Voraussetzungen der Einzelfreistellung nach Art. ten). Da solche „Killer Akquisitionen“ möglicher- 101 Abs. 3 AEUV an. Diese Vorschrift setzt in erster weise durchs Raster der umsatzbasierten Fusions- 1
2 Hogan Lovells Linie voraus, dass die beteiligten Unternehmen • Zugleich betont die Kommission aber: ein nachweisen, dass ihre Zusammenarbeit Vortei- „grünes Laissez-faire“ wird es nicht geben. le für die Verbraucher mit sich bringt (traditionell Vielmehr soll eine strenge Bewertung der wird dies als „Effizienzgewinn“ bezeichnet). wettbewerbswidrigen Auswirkungen einer Kooperation und ihres Nutzens vorgenommen Vor allem in den letzten 12-18 Monaten wurden werden. Außerdem habe diese Bewertung teils stark unterschiedliche Ansichten dazu geäu- stets „innerhalb der Grenzen eines jeden rele- ßert, welche Arten von Effizienzgewinnen hier ak- vanten Marktes“ zu erfolgen. Das ist eine zen- zeptiert werden können und ob und wie sie zu trale Einschränkung, denn es bedeutet, dass quantifizieren sind. Hierzu enthält der Policy Brief alle oben genannten „Vorteile“ grundsätzlich einige interessante und für die weitere Diskussion nur insoweit berücksichtigt werden können, potenziell wegweisende Gedanken: als sie auf demselben Markt auftreten wie die • Die Kommission will „klarstellen, dass Nach- damit verbundenen Wettbewerbsbeschrän- haltigkeitsvorteile als qualitative Effizienz- kungen (d.h. die jeweiligen Preis- oder Kos- gewinne bewertet werden können“. Sie ist tenerhöhungen, der Wegfall bestimmter Pro- also bereit, nicht nur die „quantitativen“ Vor- dukte, die Angleichung von Forschung und teile einer Wettbewerberkooperation zu be- Entwicklung usw.). Treten die Vorteile hin- rücksichtigen (z.B. die geringeren Material-, gegen auf anderen Märkten auf, können sie Transport- und Lagerkosten, die ein neu- nur berücksichtigt werden, wenn „die Grup- es, nachhaltigeres Produkt mit sich bringen pe der von der Beschränkung betroffenen kann), sondern auch die Verbesserungen der Verbraucher und die Gruppe der begünstig- „Qualität oder Langlebigkeit eines Produkts“, ten Verbraucher im Wesentlichen identisch die „den Wert erhöhen, den die Verbraucher sind“. Das heißt: (Umwelt-)Vorteile, die nur diesem Produkt beimessen“ (z.B. Spielzeuge, solche Verbraucher betreffen, die nicht iden- die Holz statt Plastik enthalten oder Kleidung tisch oder zumindest „im Wesentlichen gleich“ aus recycelten statt neuen Materialien). Das mit denen auf dem von der jeweiligen Wettbe- ist eine gute Nachricht für alle Befürworter ei- werbsbeschränkung betroffenen Markt sind, ner „umweltfreundlicheren“ Anwendung des bleiben (weiterhin) irrelevant und können Kartellrechts. nicht zu einer Freistellung führen. Mit dieser • Im Policy Brief wird außerdem festgestellt, strengen Sicht will die Kommission dem von dass „Nachhaltigkeitsvorteile nicht notwen- ihr aufgestellten Erfordernis genügen, dass die digerweise die Form einer direkten oder un- durch eine Wettbewerberkooperation geschä- mittelbar spürbaren Verbesserung der Pro- digten Verbraucher vollständig für den ihnen duktqualität oder einer Kosteneinsparung durch den Wettbewerbsverlust entstehenden annehmen müssen“. Das „nicht“ ist hierbei be- Nachteil entschädigt werden. Diesem Kriteri- sonders zu betonen. Es bedeutet, dass eine be- um könne nur entsprochen werden, indem ein stimmte Zusammenarbeit von Wettbewer- strikter Bezug zum relevanten Markt herge- bern selbst dann freistellungsfähig sein kann, stellt wird, auf dem sich der Wettbewerbsver- wenn sie keinen spürbaren qualitativen oder lust zeigt. quantitativen Nutzen mit sich bringt, es aber • Teil der weiterhin eher strengen Sicht auf die auf der Abnahmeseite Präferenzen für eine Freistellungsvoraussetzungen ist zudem, dass nachhaltige Produktion oder einen nachhalti- auch eine „grüne Kooperation“ dem Kriteri- gen Vertrieb gibt und diese Präferenzen dazu um der „Unerlässlichkeit“ genügen muss, um führen, dass Verbraucher „bereit sind, aus die- für eine Freistellung nach Artikel 101 Abs. sem Grund einen höheren Preis zu zahlen“. 3 AEUV in Frage zu kommen. Das bedeu- Wenn sich beispielsweise Wettbewerbern tet: Wenn die beteiligten Unternehmen nicht zusammentun, um ein neues Waschmittel nachweisen können, dass ein Marktversagen zu entwickeln, das zwar kein besseres Reini- oder ein anderer Umstand vorliegt, der „den gungsergebnis liefert, aber umweltfreund- freien Markt daran hindern würde, [die ange- licher hergestellt wird als frühere Produkte, strebten] Vorteile zu erzielen, und daher eine kann diese gemeinsame Produktion mit dem Vereinbarung zwischen den Unternehmen er- Kartellrecht vereinbar sein, wenn die Verbrau- forderlich macht“, würde die Zusammenarbeit cher willens sind, den (relativ höheren) Preis trotz ihres offensichtlichen Umweltnutzens als für dieses neue Produkt zu zahlen. kartellrechtswidrig angesehen.
3 Hogan Lovells Unsere Sicht hier sogar einen sehr flexiblen Ansatz erzwingen. Einerseits ist der Vorstoß der Kommission ein Tatsächlich hatte die Kommission schon im Jahr willkommener Schritt hin zu einem wettbewerbs- 2004 – d.h. vor der Veröffentlichung ihrer jetzigen rechtlichen Beitrag zum Kampf gegen den Klima- Horizontalleitlinien – eine Entscheidung über um- wandel – einem Generationenprojekt von weltweit weltfreundlichere Waschmaschinen erlassen, in höchster politischer (und letztlich existenzieller) der sie feststellte: „Derartige gesamtgesellschaft- Bedeutung. Jedenfalls in Bezug auf dem Umgang liche Ergebnisse für die Umwelt lassen den Ver- mit dem Kartellverbot scheinen jedoch noch eini- brauchern eine angemessene Beteiligung am Ge- ge Punkt klärungsbedürftig und dürfte die Diskus- winn zuteil werden, selbst sofern keine Vorteile für sion weiter im Fluss bleiben. die einzelnen Käufer bestehen sollten“. Es besteht insbesondere ein Spannungsverhältnis Als Stolperstein für die Freistellung könnte sich zwischen dem klaren Bestreben, Wege zur Förde- das Bekenntnis zur traditionellen Auslegung des rung „grüner Kooperationen“ zu eröffnen, und der Kriteriums der „Unerlässlichkeit“ erweisen. Die strengen, marktbezogenen Sichtweise auf die Fra- Kommission räumt zwar ein, dass es Fälle geben gen der Verbrauchervorteile sowie der Unerläss- kann, in denen sich Unternehmen zusammentun lichkeit einer Wettbewerberkooperation. Richtig müssen, um die Risiken eines umweltfreundlichen ist sicherlich, dass ein „Green Washing“ nicht ge- „Vorpreschens“ individueller Anbieter (den sog. fördert werden sollte. Es ist auch nicht zu bean- First Mover Disadvantage) auszugleichen und die standen, dass die Kommission grundsätzlich am Verbraucher dazu zu bewegen, teurere nachhaltige Standard der Verbraucherwohlfahrt festhalten Produkte zu verwenden. Zugleich betont sie aber, will. Und es ist positiv, dass die Kommission auch dass „von gewinnmaximierenden Unternehmen zu dann Offenheit für eine Freistellung zeigt, wenn erwarten ist, dass sie, wenn Verbraucher eine Prä- eine Wettbewerberkooperation zu einem erhebli- ferenz für nachhaltige Produkte haben, solche Pro- chen Rückgang an Umweltverschmutzung für die dukte unabhängig voneinander und nicht im Wege Gesamtgesellschaft führt (da dann auch die Ver- der Zusammenarbeit anbieten“. Sollte diese Sicht braucher auf dem relevanten Markt – die Teil der beibehalten werden, so könnten Unternehmen, Gesamtgesellschaft sind – an dem entstandenen die ihre Zusammenarbeit mit der Bereitschaft der Nutzen angemessen beteiligt und für die erfahre- Verbraucher begründen wollen, mehr für umwelt- nen Nachteile „voll entschädigt“ werden). freundliche Produkte zu zahlen, einen schweren Stand haben. Sie müssten argumentieren, dass sie Dennoch bleibt die Frage, ob eine umfassende sich trotz des spürbaren Interesses der Nachfrage- Förderung der umweltpolitischen Ziele der EU seite (und des daraus resultierenden Fehlens eines nicht einen noch flexibleren Ansatz erfordern wür- First Mover Disadvantage) mit Wettbewerbern zu- de, der auch marktübergreifende oder marktfrem- sammentun müssen, um das gewünschte Ergeb- de Effizienzgewinne anerkennt – um damit auch nis zu erzielen. Hier droht eine Zwickmühle: spre- solche Kooperationen freistellen zu können, de- chen die Nachfragepräferenzen für ein Interesse ren Vorteile nur auf einem anderen Markt auftre- an nachhaltigen Produkten, so würde prima facie ten oder keinem bestimmten Markt zugeordnet wenig für die Unerlässlichkeit einer Kooperation werden können. Der Wortlaut von Artikel 101 Ab- sprechen. Gibt es dagegen keine Indikationen für satz 3 AEUV stünde dem nicht entgegen, da dort eine entsprechende Nachfragepräferenz, so ent- nur der Begriff der „angemessenen Beteiligung“ fällt bereits ein zentraler, möglicherweise für die verwendet wird; der strenge Bezug zu einem be- Freistellung genügender qualitativer Vorteil. stimmten relevanten Markt ist in der Norm nicht zwingend angelegt. Gleiches gilt für das Kriterium In dieser Hinsicht wäre es hilfreich, wenn die der „vollständigen Entschädigung“ der nachteilig Kommission konkretere Hinweise geben und ins- betroffenen Verbraucher. Auch dieses entstammt besondere klar kommunizieren würde, dass auch nur den geltenden Horizontalleitlinien der Kom- eine erkennbare „Nachfrageträgheit“ (d.h. die Zu- mission, ohne, dass das Primärrecht diese Ein- rückhaltung der Verbraucher, trotz eines allge- grenzung zwingend gebieten würde. Kritiker des mein bekundeten Interesses an nachhaltigeren jetzigen Konzepts argumentieren sogar, dass viel- Produkten diese auch tatsächlich nachzufragen) mehr andere Bestimmungen des Vertrags, die die bereits ausreichen kann, um die Zusammenar- Grundsätze der EU und ihre Umweltpolitik betref- beit von Wettbewerbern nach Artikel 101 Absatz 3 fen (d.h. Artikel 191 Absatz 2 und Artikel 11 AEUV) AEUV freizustellen – zumindest dann, wenn klar ist, dass nur eine abgestimmte Änderung von Pro-
4 Hogan Lovells duktmerkmalen oder Produktpaletten die Nach- frage tatsächlich in einer Weise verändern würde, die den „Green Deal“ fördert. Take away Möglicherweise wäre aber auch eine Art Be- Die Kommission beabsichtigt, den nun reichsausnahme für „grüne Zusammenarbeit“ eingeschlagenen Weg mit einem zweiglei- vorzugswürdig, die – unter noch zu definieren- sigen Ansatz weiterzuverfolgen. Zum ei- den Sondervoraussetzungen – solche Formen der nen will sie im Rahmen der Überarbeitung Wettbewerberabstimmung dem Anwendungsbe- ihrer Gruppenfreistellungen und Leitli- reich von Art. 101 Abs. 1 AEUV insgesamt enthebt. nien für horizontale Zusammenarbeit und Dies würde solche Kooperationen von den Fes- vertikale Vereinbarungen, die derzeit lau- seln kartellrechtlicher Kernelemente wie Marktde- fen und bis Ende Dezember bzw. Mai 2022 finition, Wirkungsanalyse und Verbraucherwohl zu neuen Vorschriften führen sollen, mehr befreien und verhindern, dass eine granulare, an Orientierungshilfe bieten. Zugleich fordert lokalen und personengruppenspezifischen Wir- sie die Unternehmen auf, sich mit etwai- kungen orientierte Kartellrechtsanwendung die gen Kooperationsprojekten zu melden und rechtliche Durchführbarkeit von Vorhaben blo- der Kommission in diesem Rahmen insbe- ckiert, die ein globales Problem aller Menschen lö- sondere ein besseres Bild dazu zu verschaf- sen sollen. fen, wann bestehende (Umwelt-)Vorschrif- ten den Unternehmen bereits Anreize für Ein bereits auf dem legislativen Weg befindliches eine nachhaltige Produktion bieten (und Beispiel hierfür stellt die europäische Landwirt- somit eine Zusammenarbeit überflüssig schaftspolitik dar. In der hierfür zentralen Neufas- machen), und wann hierfür keine (ausrei- sung der Verordnung über die gemeinsame Markt- chenden) Anreize bestehen. Unternehmen, organisation soll ein neuer Artikel 210a enthalten die irgendeine Art von „grüner Zusam- sein. Danach werden Abstimmungen zwischen Er- menarbeit“ planen oder Nachhaltigkeits- zeugern und anderen Akteuren der Wertschöp- initiativen mit Wirkung im Binnenmarkt fungskette im Hinblick auf landwirtschaftliche in Erwägung ziehen, sollten somit jetzt Erzeugnisse wie Getreide, Reis und Zucker, die mehr denn je darüber nachdenken, sich darauf abzielen, Umwelt-, Tiergesundheits- oder proaktiv an die Kommission zu wenden, Tierschutzstandards anzuwenden, die höher sind um (1) Rechtssicherheit für ihr konkretes als diejenigen, die nach Unions- oder nationalem Projekt zu erlangen und (2) die weiteren Recht vorgeschrieben sind, vom Kartellverbot aus- rechtspolitischen Diskussionen zu beein- genommen – sofern nur die entstehenden Vorteile flussen. In diesem Zusammenhang hat die für das öffentliche Interesse die Nachteile für „die Kommission auch betont, dass sie, wenn es Verbraucher“ aufwiegen, und sofern sie nur Be- das öffentliche Interesse erfordert, den Er- schränkungen auferlegen, die für die Erreichung lass von Entscheidungen gemäß Artikel 10 ihres Ziels unverzichtbar sind. Die Kommission der Verordnung 1/2003 in Betracht ziehen wird bis Anfang 2024 Leitlinien zu den Bedingun- wird – also die Feststellung, dass die Wett- gen für die Anwendbarkeit dieser Ausnahmerege- bewerbsregeln auf bestimmte Nachhaltig- lung herausgeben. keitsinitiativen nicht anwendbar sind. Zugleich zeigen die hier skizzierten Über- legungen: Es gibt noch viel zu tun – und in jedem Fall stehen hier wichtige Weichen- stellungen für die Praxis bevor. Auch ab- seits konkreter Nachhaltigkeitsprojekte sollten Unternehmen die weiteren Ent- wicklungen daher genau beobachten. Ins- besondere ist darauf zu achten, ob und wie fortschrittlichere Debattenteilnehmer wie z.B. die niederländische Wettbewerbsbe- hörde die weiteren Diskussionen beein- flussen werden.
5 Hogan Lovells Stärkeres Immunsystem nötig? Ideen zur Das Bundeskartellamt arbeitet derzeit intern an Förderung des Public Enforcement Vorschlägen, um einen solchen Ansatz umzuset- zen. Ohne gesetzliche Änderung der seit Januar Weltweit verzeichnen Kartellbehörden seit gerau- förmlich in das GWB überführten „Bonusbekannt- mer Zeit einen Rückgang der eingehenden Kron- machung“ ginge dies freilich nicht und welche Lö- zeugenanträge. Besonders das Bundeskartellamt sung hier für (rechtspolitisch) vertretbar gehalten trifft dies hart. Im Jahr 2020 erreichten die Behör- wird, ist derzeit völlig offen. Klar aber ist: es bildet de gerade einmal 13 Kronzeugenanträge – im Jahr sich derzeit EU-weit ein entsprechender Konsens 2013 waren es 64. Da erfahrungsgemäß rund 50% heraus. So blickt z.B. die niederländische Kartell- der Kartellverfahren auf einen Kronzeugenantrag behörde ganz ähnlich auf das Problem und auch zurückgehen, ist diese Entwicklung aus Sicht der hochrangige Vertreter der EU Kommission ha- Bonner Kartellverfolger höchst kritisch – zumal ben in den letzten Wochen angedeutet, dass Wege es oft erst die in Kronzeugenanträgen enthaltene zur „Effizienzsteigerung“ des EU-Kronzeugenpro- „Materialsammlung“ ist, die die Behörde befähigt, gramms erwogen werden – einschließlich einer einen Kartellfall mit gerichtsfesten (den Beweisan- Befreiung des Kronzeugen von Schadensersatzan- forderungen genügenden) Entscheidungen abzu- sprüchen Dritter. schließen. Seit einigen Wochen ist daher zu beobachten, dass vor allem Kartellamtschef Andreas Mundt sowohl in Zeitungsinterviews als auch im Rahmen von Take away Fachtagungen für ein erweitertes „Kronzeugenpri- Die dargestellten Reformüberlegungen vileg“ wirbt. Danach sollen Kronzeugen – d.h. die hätten ganz erhebliche Auswirkungen so- in einem bestimmten Kartellfall ersten die Tat of- wohl auf (potenzielle) Kartellanten und fenlegenden „Whistleblower“ – nicht nur (wie bis- Whistleblower als auch auf kartellgeschä- her) Immunität gegenüber den hoheitlich ver- digte Kläger. Sollten die Behörden den hängten Kartellbußgeldern erhalten, sondern auch skizzierten Weg weitergehen, gäbe es hier von den Kartellschadensersatzansprüchen geschä- nach der Einführung der Kartellschadens- digter Abnehmer ausgenommen werden. Hiervon ersatzrichtlinie einen neuen „Gamechan- erhofft man sich eine gesteigerte Attraktivität des ger“, der die strategischen Überlegungen Kronzeugenprogramms. Das Kartellamt hat näm- im Schnittfeld von (präventiver) Compli- lich den massiven Anstieg von Kartellschadenser- ance und (reaktivem) Umgang mit den satzklagen in den letzten Jahren – wohl zu Recht Kartellverfolgern neu definieren würde. – als wesentlichen Treiber für den Rückgang der Kronzeugenanträge ausgemacht. Angesichts einer sich zunehmend professionalisierenden Kläger- seite, die von Prozessfinanzierern, Spezialkanzlei- en und eigens gegründeten Klagevehikeln geprägt wird, die Multi-Millionenforderungen auf Basis ei- nes Sammelinkassos geltend machen, werden die finanziellen Risiken aus Kartellschadensersatzpro- zessen von vielen Kartelltätern als immens wahr- genommen; die finanziellen Risiken eines Kar- tellbußgelds können sie weit übersteigen. Folge: Verschweigen kann wieder rational sein – und die Kartellverfolgung stockt. Umfassendere Privi- legien für Kronzeugen, die auch den Kartellscha- densersatz einbeziehen, könnten hier Abhilfe ver- schaffen.
6 Hogan Lovells Kartellrecht nach der Pandemie – Was Kartellbehörden und Gerichten. Eine sowohl bevorsteht und was zu tun ist inhaltlich als auch praktisch ganzheitliche Betrachtung der Kartellrechtslage trägt dazu Insbesondere unter dem Eindruck von Klima- bei, gezielt kombinierte Strategien zu ent- wandel, Corona-Pandemie und Digitalisierung wickeln, um nicht nur behördliche zeichnen sich derzeit weltweit tiefgreifende Um- Ermittlungsschritte, sondern auch wälzungen in der Praxis der Kartellrechts- Schadensersatzansprüche privater Parteien verfolgung ab. Diese verdichten sich zu sechs erfolgreich abwehren zu können – eine Schlüsselthemen, deren Herausforderungen sich Fähigkeit, die heute wichtiger ist denn je. Unternehmen weltweit stellen müssen. Unter- nehmen, die diese Themen ernst nehmen und die 4. Die überragende Bedeutung eines „Tech- damit verbundenen Risiken angemessen abbilden, Mindset“: digitale Kompetenzen sind nicht werden auch diese neue, herausfordernde Zeit mehr wegzudenken. Bereits jetzt hat – durch erfolgreich meistern. die Pandemie nochmals verstärkt – die Digitalisierung die Art und Weise, wie Zu nennen sind hier: Unternehmen agieren, nachhaltig verändert. 1. Das nach der Pandemie allgemein steigende Zu dieser Veränderung gehört auch das Risiko der weltweiten Kartellrechts- Aufkommen neuer Mittel und Wege zur durchsetzung: Der von Beobachtern teils Anbahnung oder Umsetzung kartellrechts- wahrgenommene „Dornröschenschlaf“ der widrigen Verhaltens, z.B. durch algorithmen- Kartellverfolgung wird enden und der Druck auf gestützte Preisfindung. Behörden weltweit Unternehmen steigen. Die Pandemie klingt ab, haben dies erkannt und arbeiten mit Hochdruck kriseninduzierte Wettbewerberkooperationen daran, ihre eigenen technologischen müssen aufgelöst werden und Kartellbehörden Fähigkeiten weiter auszubauen, um (Digital-) weltweit werden mit neuen finanziellen, Unternehmen einen „Kampf auf Augenhöhe“ personellen und rechtlichem Mitteln aus- liefern zu können. Die Verwendung von gestattet. Preisüberwachungssoftware, elektronischen ie fortbestehende Unverzichtbarkeit 2. D Whistleblower-Tools, Marktscreening-Tools funktionierender Kartellrechtscompliance: oder Big-Data-Analysen wird zur neuen Nur ein gut funktionierendes Compliance- Normalität auf Behördenseite werden. Management-System erlaubt es Unternehmen, 5. Die zunehmende Verfolgung von Markt- ihre Risikoexposition und das eigene Risiko- machtmissbrauch und Vertikalverstößen profil richtig zu erfassen. Dies wiederum sowie die Vermengung kartellrechtlicher ermöglicht, die notwendigen Strukturen und und außerkartellrechtlicher Fragen Prozesse zu etablieren und zu verfeinern, auf („Blended Antitrust“): Zwar werden Kartelle deren Basis kartellrechtliche Probleme erkannt, nach wie vor als die schädlichste Form wett- bewertet und (wo erforderlich) beseitigt werden bewerbswidriger Verhaltensweisen wahr- können. Allein dies befähigt Unternehmen, die genommen. Es zeichnet sich aber ab, dass zunehmend komplexe Kartellrechtslage adäquat wir künftig eine sehr viel differenziertere zu erfassen, etwaige Bußgeldrisiken zu Kartellrechtsdurchsetzung sehen werden, minimieren und die Zügel bei der strategisch- die nicht nur verstärkt Marktmacht- taktischen Ausrichtung gegenüber Wettbe- missbrauchsfälle und vertikale Wettbe- werbern und Behörden allzeit in Händen zu werbsbeschränkungen (wie etwa Geoblocking, halten. Meistbegünstigungsklauseln oder die 3. Die Wichtigkeit einer ganzheitlichen, ver- Preisbindung der zweiten Hand) aufgreift, zahnten Sicht auf sämtliche sondern die auch dazu übergeht, Rechtsbereiche Kartellrechtsthemen („vom Datenraum bis miteinander zu verknüpfen, die Beobachtern zum Gerichtssaal“): Der angemessene Umgang noch vor wenigen Jahren als völlig un- mit Kartellrechtsrisiken erfordert mehr denn je zusammenhängend erschienen wären. Die nicht nur ein tiefgreifendes Verständnis der intensive Diskussion um „Grünes Kartellrecht“ branchenspezifischen Besonderheiten, sondern (siehe oben) ist nur ein Beispiel hierfür. Ähnlich auch die richtige Einordung der Art des komplexe Rechtsfragen werden sich an der potenziellen Verstoßes, fundierte prozessuale Schnittstelle von traditionellem Kartellrecht und verfahrensrechtliche Kenntnisse sowie und Rechtsmaterien wie z.B. Datenschutzrecht, praktische Erfahrung im Umgang mit den dem Arbeitsrecht oder dem Recht des geistigen Eigentums stellen.
7 Hogan Lovells 6. Die bei allen Kartellrechtsthemen stetig der Kommission in Brüssel geprüft wird. Die frü- wachsende Bedeutung der internationa- here Verwaltungspraxis der Kommission sah aller- len Perspektive: Die Globalisierung hat dazu dings vor, dass keine Anträge von Mitgliedstaaten geführt, dass inzwischen sogar kleine und akzeptiert werden, in denen die nationalen An- mittlere Unternehmen in hohem Maße interna- meldeschwellen nicht überschritten werden. Nach tional auftreten (müssen) und sich dem Wettbe- eigenem Recht unzuständige Mitgliedstaaten werb auf globaler Ebene stellen. Umgekehrt hat konnten daher in der Praxis keine erfolgverspre- die Zahl der Wirtschaftsthemen (und dement- chenden Anträge auf eine Brüsseler Prüfung stel- sprechend auch der Kartellrechtsthemen) mit len. Dies hatte maßgeblich mit dem historischen rein lokaler Bedeutung deutlich abgenommen Hintergrund der Norm zu tun. Ursprünglich wur- – und wird dies weiter tun. Unternehmen sind de Art. 22 FKVO nämlich für Fälle eingeführt, in daher gut beraten, jederzeit eine globale Pers- denen ein Mitgliedstaat gar kein Fusionskontroll- pektive auf das Kartellrecht, die Kartellrechts- regime hat. compliance und alle damit zusammenhängen- den Fragen einzunehmen. Dies gilt umso mehr Neuer Leitfaden angesichts der immer enger geknüpften Bande Im März dieses Jahres hat die Kommission nun zwischen den Kartellbehörden, die weltweit ihre aber ernst gemacht und – ohne vorherige Kon- Kooperationsbemühungen verstärken. sultation – einen neuen Leitfaden veröffentlicht, der ihre Praxis mit sofortiger Wirkung anpasst. Im Wesentlichen ist darin fixiert, dass die Kom- mission in Fällen, in denen ein Zusammenschluss Take away aus Sicht eines Mitgliedstaats (1) den Handel zwi- Es ist künftig mit wieder erstarkter Kartell- schen Mitgliedstaaten beeinträchtigt und (2) den rechtsdurchsetzung durch die Behörden Wettbewerb im Hoheitsgebiet des antragstellen- zu rechnen. Die EU Kommission hat dies den Staats erheblich zu beeinträchtigen droht, die kürzlich mit ihren Durchsuchungen in der Kommission diesen Antrag auch dann prüfen und Zellstoff-Industrie unter Beweis gestellt. annehmen kann, wenn der antragstellende Staat In einer dreiteiligen deutschen Blog-Reihe keine eigene Fusionskontrollzuständigkeit für die haben wir die oben skizzierten Themen für Transaktion hat. Entsprechende Anträge wird Sie im Detail aufgearbeitet (hier die Links die Kommission aber „in der Regel“ dann nicht zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3); ergänzend gibt mehr positiv bescheiden, wenn seit dem Vollzug es zudem einen frei verfügbaren englisch- mehr als sechs Monate vergangen sind, wobei „in sprachigen Artikel auf der Website der Ausnahmesituationen“ auch spätere Verweisun- Global Competition Review. Sprechen Sie gen angemessen sein sollen. Effektiv wird also ein uns bei Fragen jederzeit gern an. „Post-Closing Regime“ eingeführt, dass die gelten- de (umsatzbasierte) präventive Fusionskontrol- le ergänzt. Fokus Enforcement Hinsichtlich der Indikatoren, anhand derer be- stimmt werden soll, ob eine Transaktion für die- Alle Wege führen nach Brüssel – se neue Praxis in Betracht kommt, bleibt der Leit- faden recht vage. Im Kern geht es darum, dass Kommission stellt neue Fusionskontroll- der Umsatz mindestens eines der beteiligten Un- praxis scharf ternehmen nicht sein tatsächliches oder künf- tiges Wettbewerbspotenzial widerspiegelt, z.B. Hintergrund weil es sich um ein Start-up oder einen wichti- Schon in unserem Kartellrechts-Radar aus Herbst gen Innovator handelt. Ziel ist das Schließen ei- 2020 hatten wir zu den Plänen der Kommissi- ner wahrgenommen Verfolgungslücke, durch die on berichtet, durch eine Änderung ihrer Verwei- wettbewerblich potenziell kritische Transaktio- sungspraxis zu Art. 22 FKVO auch solche Zusam- nen (insbesondere sog. „Killer Acquisitions“) von menschlüsse einer Fusionskontrollprüfung zu den Kartellbehörden bisher ungeprüft bleiben. unterziehen, für die weder sie selbst noch die Kar- Der Leitfaden wirft dabei eine Fülle von materiel- tellbehörden der Mitgliedstaaten originär zustän- len und verfahrensrechtlichen Fragen auf, die gar dig sind. Zur Erinnerung: Art. 22 FKVO erlaubt nicht oder nur sehr oberflächlich adressiert den Mitgliedstaaten, bei der Kommission einen Antrag zu stellen, wonach ein Zusammenschluss- vorhaben nicht auf nationaler Ebene, sondern von
8 Hogan Lovells werden. Die Einzelheiten haben wir bereits in ei- Anspruch nicht gerecht zu werden „could shock nem umfangreichen Beitrag für Sie aufgearbei- the court“. Diese Aussage hat besondere Brisanz, tet. Klar ist jedenfalls: Anders als bislang besteht denn… nun trotz der in aller Regel leicht überprüfbaren Umsatzschwellen in einigen Fällen keine Rechts- Die Premiere – Der Fall Illumina/Grail sicherheit mehr für das „ja“ oder „nein“ fusions- … ein erster Fall, der sich mit der neuen Verwei- kontrollrechtlicher Prüfpflichten. Bei bisher nicht sungspraxis befasst, ist bereits beim EuG an- kontrollpflichtigen Transaktionen können erheb- hängig. Bei der Übernahme des Unternehmens liche Vorprüfungen und komplexe Risikobeurtei- Grail, einem Anbieter von Bluttests auf bestimm- lungen durch die beteiligten Unternehmen erfor- te Krebsarten, durch den Erwerber Illumina, ei- derlich werden – und zwar sowohl auf nationaler nem führenden Anbieter von Gensequenzierern, als auch auf EU-Ebene. Die Möglichkeit eines Auf- setzte die Kommission ihren neuen Ansatz erst- greifens selbst nach Vollzug verstärkt diese Unsi- mals um und ermutigte die Mitgliedstaaten im Fe- cherheit noch. bruar 2021 sogar aktiv zur Stellung eines Verwei- sungsantrags. Frankreich erhörte den Ruf im März Sicht der Stakeholder und Belgien, Griechenland, Island, die Niederlan- Während dieser neue Ansatz teils begrüßt wird – de und Norwegen schlossen sich dem Antrag an. so haben sich insbesondere Frankreich (das seit Die Kommission nahm diesen im April nicht nur vielen Jahren für eine Änderung der Verweisungs- an, sondern führt auf der Basis mittlerweile sogar praxis lobbyiert hatte), Belgien, Griechenland, Lu- ein vertieftes fusionskontrollrechtliches Prüfungs- xemburg und die EFTA-Mitgliedstaaten befürwor- verfahren („Phase II“), dessen Frist zur Zeit am 4. tend geäußert – kommt vor allem aus Deutschland Februar 2022 abläuft (M.10188). Nach Auffassung Gegenwind. So wurde vor kurzem ein vom BMWi der Behörde könnte die geplante Übernahme den beauftragtes Rechtsgutachten bekannt, demzufol- Wettbewerb auf dem im Entstehen befindlichen ge der von der Kommission nun verfochtene An- Markt der Entwicklung und Vermarktung von auf satz „probably the least robust [attempt] in law Sequenzierungstechnologien basierenden Tests and practice“ sei, um die Fusionskontrolle im Hin- zur Krebserkennung sowie die entsprechende In- blick auf wettbewerblich potenziell kritische Fälle novationstätigkeit einschränken. zu verbessern. Und auch die Bundesregierung hat Unabhängig von der Frage, ob die Kommission im jüngsten Tätigkeitsbericht des BKartA Worte hier im Ergebnis durchgreifende Wettbewerbs- klarer Ablehnung gefunden: Der neue Ansatz blei- bedenken haben wird, schlägt der Fall noch aus be „mit Blick auf Rechtssicherheit und Effektivi- einem weiteren Grund hohe Wellen: Illumina tät hinter der vorzugswürdigen Lösung eines ei- entschloss sich im laufenden Verfahren zum vor- genen Aufgreiftatbestandes zurück. […] Die bloße zeitigen Closing der Transaktion und verstieß da- Änderung der Verwaltungspraxis durch die Euro- mit gegen das Vollzugsverbot der EU-Fusionskon- päische Kommission darf die nationale Gesetzge- trolle. Zwar erlegte sich Illumina hierbei proaktiv bung jedoch nicht aushebeln.“ Dementsprechend ein „Hold-Separate“ auf, sodass Grail vorerst als hat auch das BKartA öffentlich betont, dass nach selbstständiges Unternehmen weitergeführt wird. seiner ständigen Praxis die Stellung eines Ver- Der Kommission reicht dies jedoch nicht, weshalb weisungsantrags nach Art. 22 FKVO eine Anmel- sie nun ein separates Verfahren (M.10493) wegen depflicht nach nationalem Kartellrecht erfordert des Verstoßes gegen das Vollzugsverbot führt, bei und es sich dem neuen Ansatz der Kommission so- dem sowohl ein hohes Bußgeld als auch die Auf- mit nicht anschließen wird. Auch die US Chamber erlegung einstweiliger Maßnahmen zur weiterge- of Commerce hat „serious concerns“ gegenüber henden Trennung beider Unternehmen im Raum dem “Paradigmenwechsel” der Kommission vor- stehen. Vor dem EuG klagt Illumina parallel ge- gebracht. In dasselbe Horn stößt der mittlerwei- gen die Annahme des Verweisungsantrags durch le in die Kanzleienwelt gewechselte Ex-Kommis- die Kommission (T-227/21). Eine Entscheidung sionsbeamte Carles Esteva Mosso. Und auch der könnte hier aufgrund des durch die Richter zu- Präsident des EuG, Marc van der Woude, hat sich gelassenen beschleunigten Verfahrens bereits im im Rahmen einer Konferenz mit leiser Skepsis ge- Dezember dieses Jahres folgen – was eine für die äußert: „[W]hen there is an overhaul in the practi- Fusionskontrollpraxis in der EU wichtige Wei- ce, for instance an increase in the fines or a funda- chenstellung markieren wird. mental change in interpretation, the judges would expect that change is explained, and reasoned and that there is a transition period foreseen.” Diesem
9 Hogan Lovells Unsere Sicht Unabhängig vom Ausgang des gerichtlichen Ver- Fokus Rechtsprechung fahrens und der materiell-fusionskontrollrecht- Kinder haften für ihre Eltern – EuGH urteilt lichen Bewertung der Transaktion zeigt der Fall zur Kartellschadensersatzhaftung im schon jetzt eines: Die Komplexität und Störanfäl- Konzern ligkeit der neuen Verweisungspraxis. Gerade ein- mal sechs von 30 EWR-Staaten beteiligten sich Am 6. Oktober 2021 erließ die Große Kammer des am Verweisungsverfahren und aus vielen Län- EuGH ihre mit großer Spannung erwartete Ent- dern kommt sogar klarer Widerspruch. Neben scheidung zu der Frage, gegen welche juristischen Deutschland ist dies z.B. für Spanien, Slowenien Personen Kartellschadensersatzklagen („Follow- und Österreich der Fall, die sich ohne eigene Fu- on-Klagen“) erhoben werden können (C-882/19). sionskontrollzuständigkeit jeweils allgemein au- Hintergrund ist das sog. LKW-Kartell und eine ßer Stande sehen, Verweisungsanträge zu stellen hierzu bei der Audiencia Provincial in Barcelo- (oder sich diesen anzuschließen). Berichten zu- na anhängige Zivilklage. Dort hatte das Unterneh- folge haben sich auch Irland, Litauen, die Slowa- men Sumal Schadensersatz gefordert und hierzu kei, Lettland, Schweden und Ungarn im konkre- die spanische Tochtergesellschaft einer deutschen ten Fall skeptisch gezeigt. Zugespitzt gesagt: Was Kartellbeteiligten verklagt. Es hatte die kartellbe- die Kommission nun tut, hat unter Europas Kar- fangenen LKW von dieser Tochtergesellschaft er- tellwächtern keine Mehrheit. Eine dauernde Spal- worben. In der Bußgeldentscheidung war allerdings tung über einen derart wichtigen wettbewerbspo- nur die Muttergesellschaft und nicht die beklagte litischen Aspekt kann sich die Kommission nicht Tochter als in den Kartellverstoß involviert benannt. erlauben – auch, weil andernfalls die Effektivität Insoweit stellte sich die Frage der Passivlegitimation des neuen Ansatzes gefährdet ist. Jedenfalls so- dieser Konzerngesellschaft, wozu die Richter in Bar- weit eine Transaktion Märkte betrifft, die kleiner celona den EuGH am 24. Oktober 2019 um eine klä- als EU-weit abgegrenzt werden müssen, entste- rende Vorabentscheidung ersuchten. hen für jeden Markt, der in das Gebiet eines nicht- Nachdem sich bereits der Generalanwalt Pitruzzel- antragstellenden Staats fällt, „weiße Flecken“ im la für eine entsprechende (Mit-)Haftung der Toch- Prüfprogramm der Kommission. Denn recht- tergesellschaft ausgesprochen hatte, folgte dem lich ist ihre Prüfungsbefugnis bei Art. 22 FKVO – wenngleich unter z.T. anderen Voraussetzun- stets eine von den antragstellenden Mitgliedstaa- gen – nun auch der EuGH. Damit ist der Weg frei, ten abgeleitete. Und wo kein solcher Antrag (oder um zivilrechtlich nicht nur eine Haftung von Kon- ein Anschluss an einen solchen) besteht, existiert zernobergesellschaften für die von ihnen kontrol- dann auch keine Prüf- und Untersagungsbefugnis. lierten kartellbeteiligten Tochtergesellschaften anzu- nehmen („Eltern haften für ihre Kinder“ – vgl. dazu den Fall „Skanska“) – sondern auch in umgekehr- Take away ter Richtung eine Inanspruchnahme zu ermöglichen. Tochtergesellschaften können für Kartellverstöße ih- Mit ihrer neuen Verweisungspraxis zu Art. rer Mütter haften und entsprechend verklagt werden 22 FKVO hat die Kommission einen recht- („Kinder haften für ihre Eltern“). Die wesentlichen lich und praktisch fragwürdigen Zusatz- Feststellungen sind wie folgt: strang in der EU-Fusionskontrolle einge- führt, der bei Unternehmen, Verbänden 1. A uch wenn Kartellschadensersatzklagen vor den und Behörden für viel Kritik und Unsi- nationalen Gerichten erhoben werden, richtet sich cherheit gesorgt hat. Es verwundert daher die Bestimmung der zum Ersatz des verursach- nicht, dass hochrangige Kommissionsbe- ten Schadens verpflichteten Einheit unmittel- amte seit Monaten im Rahmen von Konfe- bar nach dem Unionsrecht. Die Schadenser- renzen und Interviews versuchen, die Wo- satzklagen seien ebenso integraler Bestandteil des gen zu glätten und für den neuen Ansatz zu Systems zur Durchführung der Wettbewerbsre- werben. Unternehmen mit aktuellen oder geln der Union wie deren Durchführung durch die geplanten Transaktionsaktivitäten in der Behörden. Folglich hat der Begriff „Unterneh- EU sollten die weiteren Entwicklungen men“ i.S.v. Art. 101 AEUV im Zusammen- unbedingt im Blick halten. hang mit der Verhängung von Geldbußen (Public Enforcement) und im Zusammen- hang mit Schadensersatzklagen (Private Enforcement) keine unterschiedliche Be- deutung.
10 Hogan Lovells 2. Der Begriff „Unternehmen“ umfasst jede Ein- kauft). Die Tochter müsse daher in demselben Be- heit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, reich tätig sein, in dem die Muttergesellschaft das unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art wettbewerbswidrige Verhalten an den Tag gelegt ihrer Finanzierung, und bezeichnet somit eine habe, und durch ihr Marktverhalten die Konkreti- wirtschaftliche Einheit, selbst wenn diese recht- sierung der Auswirkungen der Zuwiderhandlung lich aus mehreren natürlichen oder juristischen ermöglicht haben. Personen besteht. Wenn erwiesen ist, dass eine Der vom EuGH nun verlangte „konkrete Zusam- zu einer solchen wirtschaftlichen Einheit gehö- menhang“ scheint demgegenüber weniger streng rende Gesellschaft gegen das Kartellverbot ver- bzw. ist eine Haftungshürde, die leichter zu über- stoßen hat, führen der Begriff „Unternehmen“ winden ist. Er eröffnet die Mithaftung von Toch- und damit der Begriff „wirtschaftliche Einheit“ tergesellschaften innerhalb desselben wirtschaft- zu einer gesamtschuldnerischen Haftung lichen Tätigkeitsgebiets eines Konzernteils, selbst der Einheiten, die zum Zeitpunkt der Be- wenn diese Gesellschaften kein direktes „Werk- gehung der Zuwiderhandlung die wirt- zeug“ für die Kartellumsetzung waren. Zur Be- schaftliche Einheit bilden. gründung führt der EuGH am Beispiel von kon- 3. Der in Art. 101 AEUV verwendete Begriff „Un- glomeraten Konzernen aus, dass innerhalb von ternehmen“ ist ein funktionaler Begriff, bei Konzernen durchaus verschiedene „wirt- dem die wirtschaftliche Einheit, die das Unter- schaftliche Einheiten“ (= haftungsfähige Un- nehmen bildet, unter dem Gesichtspunkt des ternehmen) enthalten sei können. Dies sei dann Gegenstands der fraglichen Vereinba- der Fall, wenn die Konzerne „in mehreren wirt- rung zu bestimmen ist. Ist ein Kartellverstoß schaftlichen Bereichen tätig sind, die in keinem durch die Muttergesellschaft festgestellt wor- Zusammenhang miteinander stehen […]. Da- den, steht es somit dem Opfer dieser Zuwider- her kann ein und dieselbe Muttergesellschaft Teil handlung frei, anstelle der Muttergesellschaft mehrerer wirtschaftlicher Einheiten sein, die nach eine von deren Tochtergesellschaften zivilrecht- Maßgabe der fraglichen wirtschaftlichen Tätigkeit lich haftbar zu machen – vorausgesetzt, dass aus ihr selbst und aus verschiedenen Kombinatio- das Opfer nachweist, dass diese Tochtergesell- nen ihrer Tochtergesellschaften bestehen, die alle schaft zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung mit zur selben Unternehmensgruppe gehören.” In- ihrer Muttergesellschaft eine wirtschaftliche nerhalb dieser Kombinationen könne jeweils eine Einheit bildete. Dies wiederum hat zwei Voraus- Haftung sowohl der kartellbeteiligten Mutter als setzungen: auch der in konkretem Zusammenhang zu deren Kartelltätigkeit stehenden Töchter bestehen. • Das Bestehen einer Einheit im Hinblick auf die wirtschaftlichen, organisatorischen Folglich müsse die Klägerin im konkreten Fall und rechtlichen Bindungen zwischen beiden grundsätzlich nachweisen, dass die von der kar- Gesellschaften tellbeteiligten Mutter geschlossene wettbewerbs- widrige Vereinbarung die gleichen Produkte • Das Bestehen eines konkreten Zusam- betrifft, die auch von der beklagten spanischen menhangs zwischen der wirtschaftlichen Tä- Tochtergesellschaft vermarktet werden. Eine Haf- tigkeit der beklagten Tochtergesellschaft und tung der Tochter sei nicht schon deshalb ausge- dem Gegenstand der Zuwiderhandlung, für schlossen, weil die Kommission keinen Beschluss die die Muttergesellschaft von der Kommissi- gegen diese erlassen hat oder weil mit dem Be- on haftbar gemacht wurde. schluss, mit dem sie die Zuwiderhandlung fest- Bei letzterem Punkt scheint der EuGH einen we- gestellt hat, der Tochtergesellschaft keine Sank- niger restriktiven Ansatz als der Generalanwalt zu tion auferlegt wurde. Nach alledem stehe Art. 101 verfolgen. Dieser hatte richtigerweise das Problem Abs. 1 AEUV somit einer nationalen Regelung ent- aufgeworfen, dass die Annahme einer zivilrecht- gegen, wonach die zivilrechtliche Haftung nur sol- lichen Haftung von Tochtergesellschaften die Ge- che Gesellschaften trifft, die kartellbeteiligte Ge- fahr einer uferlosen Inanspruchnahme auch völ- sellschaften kontrollieren (Haftung „von unten lig „kartellferner“ juristischer Personen innerhalb nach oben“). Vielmehr gebiete ein effektives Pri- einer Unternehmensgruppe birgt. Der Generalan- vate Enforcement, dass eine Haftung auch im an- walt hatte daher vorgeschlagen, für die Haftung ei- deren Fall erfolgen kann („Haftung von oben nach ner Tochtergesellschaft zu verlangen, dass deren unten“). Tätigkeit gewissermaßen für die Verwirklichung des kartellrechtswidrigen Verhaltens erforderlich sei (z.B. weil sie die kartellbefangenen Güter ver-
11 Hogan Lovells Es sind aber grundsätzlich die Verteidigungs- rechte der beklagten Tochter zu wahren. Die dern gesondert nur für die konkret „kar- Tochtergesellschaft muss, so der EuGH, vor dem tellbefangene“ wirtschaftliche Einheit be- nationalen Gericht über alle Mittel verfügen, die stimmt werden. Dieser Ansatz aber ent- für die sachdienliche Ausübung ihrer Verteidi- spricht weder der geltenden Bußgeldpraxis gungsrechte erforderlich sind, insbesondere um in Union und Mitgliedstaaten noch der die Zugehörigkeit zu demselben Unternehmen Vorgehensweise in der Fusionskontrolle. wie ihre Muttergesellschaft bestreiten zu können. Hierüber hinausgehend erscheint zudem Aber: in Fällen wie dem vorliegenden sei das Be- allgemein fraglich, welche Kriterien für die streiten auch hierauf beschränkt. Es sei der Toch- Abgrenzung verschiedener konglomerater tergesellschaft dagegen verwehrt, auch das Vor- Wirtschaftstätigkeiten herangezogen wer- liegen eines Kartellverstoßes zu bestreiten. Hier den sollen (wozu der EuGH im konkreten nimmt der EuGH über Art. 16 Abs. 1 VO 1/2003 Fall keine Stellung beziehen musste). letztlich eine erweiterte Tatbestandswirkung an. Nach dieser Norm dürfen die nationalen Ge- richte keine Entscheidungen erlassen, die dem Vertrauen ist gut, Kontrolle ist … schlech- Beschluss der Kommission zuwiderlaufen. Nur, ter – EuG bestätigt hohe Geldbußen wenn die Kommission ein rechtswidriges Ver- wegen Fusionskontrollverstößen halten der Muttergesellschaft nicht in einem Be- schluss nach Art. 101 AEUV festgestellt habe, sei In der jüngeren europäischen Praxis spielte das die Tochtergesellschaft „naturgemäß berechtigt, Vollzugsverbot – also das Verbot des auch als Gun nicht nur ihre Zugehörigkeit zu demselben ‚Unter- Jumping bezeichneten Closings vor Erteilung der nehmen‘ wie die Muttergesellschaft, sondern auch behördlichen Freigabe – nicht nur im Fall Illu- das Vorliegen der dieser zur Last gelegten Zuwi- mina/Grail (siehe oben) eine Rolle. Am 22. Sep- derhandlung zu bestreiten“. Dies freilich ist ein tember 2021 verkündete das EuG sein Urteil im für Follow-on-Klagen irrelevanter Punkt. Denn zu Hinblick auf eine von Altice Europe erhobene diesen Streitigkeiten kommt es nur in Fällen, in Nichtigkeitsklage (T-425/18). Diese richtete sich denen die Kommission einen Kartellverstoß gegen gegen eine Geldbuße in Höhe von 124,5 Mio. EUR eine (Mutter-)Gesellschaft explizit festgestellt hat. aus dem April 2018, die die EU Kommission dem Unternehmen wegen des Verstoßes gegen die An- meldepflicht und das Vollzugsverbot der FKVO Take away auferlegt hatte – ein Rekordwert in Sachen fusi- onskontrollrechtlicher Bußgelder. Das Gericht gab Das Urteil ist für das Private Enforcement der Kommission in der Sache Recht, entschied al- wegweisend und wird den Trend zu Kar- lerdings zumindest, dass, soweit ein Verstoß gegen tellschadensersatzklagen in der EU weiter die Pflicht zur Anmeldung des Zusammenschlus- beflügeln. Seine Wirkungen weisen jedoch ses in Rede stand, die Gesamtgeldbuße um 6,22 über dieses Gebiet potenziell weit hinaus, Mio. EUR herabzusetzen ist. denn letztlich modifiziert der EuGH den Begriff des „Unternehmens“ insgesamt, in- Was war passiert? Altice, ein multinationales Ka- dem er die (grobe) Klammer der Kontrolle bel- und Telekommunikationsunternehmen, einer Muttergesellschaft über (alle) Toch- strebte 2014 den Erwerb der alleinigen Kontrol- tergesellschaften durch die (feinere) Klam- le über den portugiesischen Telekommunikations- mer des konkreten wirtschaftlichen Tätig- und Multimediabetreiber PT Portugal an. Dass keitszusammenhangs ersetzt. Von nun an der Fall nach der FKVO anmeldepflichtig war, war können Unternehmensgruppen, zumin- den Parteien bewusst. Der Unternehmenskaufver- dest wenn sich die in ihnen gebündelten trag (SPA) sah deshalb eine Reihe von Vorschrif- wirtschaftlichen Tätigkeiten wesentlich ten zur Führung der Geschäfte von PT Portugal im unterscheiden, als Integration verschiede- Zeitraum zwischen Signing und Closing vor. Die ner Unternehmen verstanden werden. Die Transaktion wurde denn auch später angemeldet weltweiten Umsätze, die für die Bußgeld- und im April 2015 freigegeben. berechnung herangezogen werden, müss- ten dann konsequenterweise aber auch nicht mehr für den Gesamtkonzern, son-
12 Hogan Lovells Im März 2016 leitete die Kommission aber auf- wirksame Kontrolle von Zusammenschlüssen si- grund von Presseberichten Ermittlungen gegen cherzustellen – insbesondere da der Kommissi- Altice wegen Verstößen gegen die FKVO-Anmel- on andernfalls die Möglichkeit genommen wäre, depflicht (Art. 4 Abs. 1) sowie das FKVO-Vollzugs- bei Verhängung von Geldbußen die Situation, in verbot (Art. 7 Abs. 1) ein. Sie kam zum Ergebnis, der das Unternehmen die Anmeldepflicht einhält, dass Altice schon durch das SPA die Möglichkeit aber gegen das Vollzugsverbot verstößt, von je- gehabt habe, einen bestimmenden Einfluss auf PT ner, in der das Unternehmen gegen beide Pflich- Portugal auszuüben und das Unternehmen schon ten zugleich verstößt, zu unterscheiden. Danach ist vor der Freigabe und in bestimmten Fällen sogar nun klar: Gun Jumping kann sowohl in der schon vor der Anmeldung auch tatsächlich kont- Spielart „Nicht-Anmeldung“ als auch in der rolliert habe. So hätten einige Vertragsklauseln Al- Spielart „vorzeitiger Vollzug“ kumulativ tice ein Vetorecht bei (1) der Bestellung des Ma- bebußt werden. nagements von PT Portugal sowie hinsichtlich Hinsichtlich der materiellen Vorwürfe zu den (2) der Preispolitik, (3) der mit Kunden verein- (übermäßigen) Einflussrechten durch das SPA barten Geschäftsbedingungen sowie (4) der Mög- gab das EuG der Kommission ebenfalls recht. lichkeiten zur Gestaltung einer großen Bandbrei- Nach der FKVO wird ein Zusammenschluss zu te von Verträgen eingeräumt. Es sei auf Basis der dem Zeitpunkt vollzogen, zu dem sich die Kontrol- entsprechenden Klauseln auch tatsächlich mehr- le dauerhaft ändert. Das Gericht bekräftigt: Gun fach zu einem Eingriff in den täglichen Geschäfts- Jumping erfordert weder die tatsächliche betrieb von PT Portugal gekommen, z.B. durch Ausübung eines bestimmenden Einflusses Anweisungen für die Durchführung einer Marke- noch die vollständige Vollendung des Er- tingkampagne oder den Eingriff in Verhandlungen werbsvorgangs. Vielmehr ist eine (rechtswid- mit Vertragspartnern. Außerdem habe es ab Un- rige) Kontrollveränderung schon dann gegeben, terzeichnung des SPA auch einen Austausch wett- wenn der Erwerber für die Zeit vor der behördli- bewerblich sensibler Informationen zwischen den chen Freigabe die Möglichkeit erhält, einen Unternehmen gegeben. Die Kommission verhäng- bestimmenden Einfluss auf das Zielunter- te daher gegen Altice eine Geldbuße von 62,25 nehmen auszuüben. Und das Recht, die Zu- Mio. Euro wegen Verstoßes gegen die Pflicht zur sammensetzung der Unternehmensleitung mit- Anmeldung des Zusammenschlusses und eine zubestimmen, sei regelmäßig hierfür genügend. weitere (!) Geldbuße von 62,25 Mio. EUR wegen Gleiches gelte für die Abrede, die es Altice ermög- Nichteinhaltung des Vollzugsverbots (M.7993). lichte, die Preispolitik von PT Portugal zu beein- In seinem Urteil weist das Gericht insbesondere flussen (PT Portugal musste eine schriftliche Zu- das Argument von Altice zurück, wonach der Ver- stimmung von Altice zu jeglichen Preisänderungen stoß gegen die Anmeldepflicht in dem gegen das und jeder Änderung ihrer Geschäftsbedingungen Vollzugsverbot aufgehe und eine gleichwohl erfol- einholen) sowie für die Altice eingeräumte Mög- gende Doppelahndung sowohl unverhältnismä- lichkeit, in Verträge von PT Portugal einzugreifen ßig sei als auch einen Verstoß gegen das Verbot und durch ein Mitbestimmungsrecht bei der Ein- der Doppelbestrafung darstelle. Art. 4 Abs. 1 und gehung neuer Verträge den Geschäftslauf zu be- Art. 7 Abs. 1 FKVO verfolgten, so das Gericht, je- einflussen. Dies galt umso mehr, als hier jeweils weils eigenständige Ziele (Absicherung der Anmel- Entschädigungsansprüche im Fall eines Versto- dung als Auslöser für ein Prüfverfahren einerseits ßes vorgesehen waren und keine Unterscheidung und Absicherung des ordnungsgemäßen Verfah- danach getroffen wurde, ob die durch PT Portugal rensgangs ohne vorzeitige Marktstrukturverände- angestrebten Vertragsabschlüsse und -gestaltun- rungen andererseits). Außerdem sehe Art. 4 Abs. 1 gen zum normalen Geschäftsverlauf gehörten und eine Handlungspflicht vor, wohingegen Art. 7 Abs. welcher wirtschaftliche Wert ihnen zukam. 1 eine Unterlassungspflicht statuiere. Zudem sei Das Gericht eröffnete Altice zwar – im Einklang ersterer Verstoß eine nur einmalige, der Verstoß mit Formulierungen in der einschlägigen Kom- gegen das Vollzugsverbot aber eine fortgesetzte missionsleitlinie – die Möglichkeit, zu beweisen, Zuwiderhandlung. Die parallele Anwendung bei- dass die Abreden erforderlich waren, um (1) den der Vorschriften als Basis für Bußgelder sei daher Erhalt des Werts des übertragenen Unter- auch weder unverhältnismäßig noch mit dem Ver- nehmens sicherzustellen oder (2) die Beeinträch- bot der Doppelbestrafung unvereinbar. Eine an- tigung seiner gewerblichen Integrität zu ver- dere Sicht liefe dem Ziel der FKVO zuwider, eine hindern. Dies aber gelang Altice nicht.
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