Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist - BMWi
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Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist sten +++ schrumpfende Volkskirchen – der Osten bleibt Vorreiter +++ keine Annäherung beim Wohnungseigentum +++ der Osten holt bei der Lebenserwartung ensivsten +++ Studium im Osten beliebter +++ Tennis im Westen, Volleyball im Osten +++ Abwanderung Ost gestoppt +++ bei der Lebenszufriedenheit schließt Berlin-Institut 75
Berlin-Institut Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen beschäftigt. Das Insti- tut wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige Entwicklung zu fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demogra- fischer und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. In seinen Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Berlin-Institut wissenschaftliche Informationen für den politischen Entscheidungsprozess auf. Weitere Infor- mationen, wie auch die Möglichkeit, den kostenlosen regel- mäßigen Newsletter „Demos“ zu abonnieren, finden Sie unter www.berlin-institut.org. Unterstützen Sie die unabhängige Arbeit des Berlin-Instituts Das Berlin-Institut erhält keinerlei öffentliche institutionelle Unterstützung. Projektförderungen, Forschungsaufträge, Spenden und Zustiftungen ermöglichen die erfolgreiche Arbeit des Instituts. Das Berlin-Institut ist als gemeinnützig anerkannt. Spenden und Zustiftungen sind steuerlich absetzbar. Im Förderkreis des Berlin-Instituts kommen interessierte und engagierte Privatpersonen, Unternehmen und Stiftungen zu- sammen, die bereit sind, das Berlin-Institut ideell und finanziell zu unterstützen. Informationen zum Förderkreis finden Sie unter www.berlin-institut.org/partner-foerderer/foerderkreis-des- berlin-instituts 76 Vielfalt der Einheit
Impressum Originalausgabe Die Hauptautoren: September 2020 Susanne Dähner, Diplom in Geographie an der Humboldt- © Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Universität zu Berlin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten. Adrián Carrasco Heiermann, Master in Public Policy an der University of Bristol. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Herausgegeben vom am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Schillerstraße 59 Sabine Sütterlin, Diplom in Naturwissenschaften an der 10627 Berlin ETH Zürich. Freie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Telefon: (030) 22 32 48 45 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Telefax: (030) 22 32 48 46 E-Mail: info@berlin-institut.org Manuel Slupina, Diplom in Volkswirtschaftslehre an der www.berlin-institut.org Universität zu Köln. Ressortleiter Demografie Deutsch- land am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Das Berlin-Institut finden Sie auch bei Facebook und Twitter (@berlin_institut). Frederick Sixtus, Magister in Soziologie, Literaturwis- senschaft und Musikwissenschaft an der Universität Autoren: Susanne Dähner, Adrián Carrasco Heiermann, Potsdam und der Technischen Universität Berlin. Wissen- Sabine Sütterlin, Manuel Slupina, schaftlicher Mitarbeiter am Berlin-Institut für Bevölke- Frederick Sixtus, Antonia Gärtner, Catherina Hinz rung und Entwicklung. Recherche und Grafiken: Lena Reibstein, Johanna Raith, Nele Peschel Lektorat: Sabine Sütterlin Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de) Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de) Druck: LASERLINE, Berlin Der überwiegende Teil der thematischen Landkarten und Grafiken wurde auf Grundlage der Programme Tableau Software, Seattle, USA, und EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstellt. ISBN: 978-3-946332-58-9 Die Studie wurde gefördert durch den Beauftragten der Bundes- regierung für die neuen Bundesländer beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie. 2 Vielfalt der Einheit
INHALT VORWORT: VEREINTES LAND MIT GEGENSÄTZEN..................4 16. ÖKOLOGIE UND KLIMAWANDEL: UMWELT ALS EINHEITSGEWINNER?....................................... 36 1. BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG: DAS DEMOGRAFISCHE ZWISCHENHOCH ZIEHT AM OSTEN VORBEI.............................6 17. MOBILITÄT: AUF DEM LAND WENIG ALTERNATIVEN ZUM EIGENEN 2. KINDER UND GEBURTEN: AUTO............................................................................................... 38 KLEINER BABYBOOM IN OST UND WEST...................................8 18. DIGITALISIERUNG UND KOMMUNIKATION: 3. FAMILIEN UND HAUSHALTE: VOM FEHLENDEN TELEFONANSCHLUSS ZUM IMMER WENIGER LEBEN ZUSAMMEN.......................................10 GLASFASERNETZ..........................................................................40 4. ALTERUNG, PFLEGE UND STERBEN: 19. MEDIENNUTZUNG: DER OSTEN KOMMT KAUM VOR..... 42 EINE NEUE NORMALITÄT............................................................. 12 20. KONSUM: IN REGIONALEN VORLIEBEN VEREINT.........44 5. GESUNDHEIT UND LEBENSERWARTUNG: WOHLHABENDE WERDEN ÄLTER .............................................. 14 21. TEILHABECHANCEN UND GLEICHWERTIGKEIT: DAS GLÜCK WOHNT EHER IM NORDEN...................................46 6. BINNENMIGRATION: ZWISCHEN OST-WEST UND STADT-LAND................................ 16 22. WOHNEN: IM OSTEN NOCH IMMER HÄUFIGER ZUR MIETE...................48 7. ZUWANDERUNG: IM OSTEN NOCH IMMER KAUM MIGRANTEN.......................... 18 23. IDENTITÄT UND EINHEIT: DIE HEIMAT PRÄGT ÜBERALL.................................................... 50 8. SCHULISCHE BILDUNG: DER OSTEN MUSS SICH NICHT VERSTECKEN........................ 20 24. RELIGION UND SÄKULARISIERUNG: DER OSTEN IST SÄKULARER, DER WESTEN VIELFÄLTIGER...................... 52 9. BERUFSBILDUNG UND STUDIUM: DEM OSTEN GEHEN DIE STUDIERENDEN AUS ...................... 22 25. ENGAGEMENT UND EHRENAMT: IM LAND DER „VEREINSMEIER“................................................ 54 10. WISSENSGESELLSCHAFT: DIE ZUKUNFT LIEGT IN DEN METROPOLEN........................... 24 26. POLITIK UND WAHLEN: DEUTSCHLAND IST EINE DEMOKRATISCHE REPUBLIK....... 56 11. ARBEIT UND BESCHÄFTIGUNG: FACHKRÄFTE DRINGEND GESUCHT......................................... 26 27. SPORT UND REISEN: FUSSBALLBEGEISTERUNG GRENZENLOS............................... 58 12. GLEICHSTELLUNG: WO DER WESTEN DEM OSTEN FOLGTE................................... 28 28. KULTUR: DIE ERSTE GEIGE SPIELT IM OSTEN.........................................60 13. EINKOMMEN UND VERMÖGEN: EINHEIT NOCH NICHT IN SICHT................................................ 30 29. KRIMINALITÄT: DIE FURCHT IST GRÖSSER ALS DIE BEDROHUNG................ 62 14. UNTERNEHMENS- UND WIRTSCHAFTSSTRUKTUR: ANGLEICHUNG NOCH NICHT GESCHAFFT.............................. 32 30. CORONA: IN DER PANDEMIE VEREINT? .........................64 15. LANDWIRTSCHAFT UND ERNÄHRUNG: QUELLEN........................................................................................66 DEUTSCHLAND MIT GUTEM APPETIT...................................... 34 Berlin-Institut 3
VEREINTES LAND MIT GEGENSÄTZEN Jubiläumsjahre lenken den Blick zurück. Nun Gerade im letzten Jahrzehnt hat sich vieles Doch nicht überall sind „blühende Land- feiern wir drei Jahrzehnte Deutsche Einheit. weiter zum Positiven entwickelt. Arbeitslo- schaften“ entstanden, in manchen Regionen Also wieder einmal Zeit, Bilanz zu ziehen. sigkeit, die die Menschen im Osten in den sind es eher blühende urbane Inseln. Vom Aber ist zum Thema Wiedervereinigung nicht 1990er und 2000er Jahren stark erschütter- Aufschwung Ost profitieren vor allem die schon alles gesagt? Dass es schwierig war te, war bis zum Ausbruch der Corona-Pande- größeren Städte wie Leipzig, Dresden, Jena – ein Kraftakt ohne gleichen, das Zusammen- mie im Frühjahr 2020 kaum mehr ein Thema, oder Potsdam. Auf der Suche nach Arbeits- wachsen zweier Staaten Zeit braucht, sich jedenfalls kein spezielles für Ostdeutschland. plätzen, Bildungs- und Kulturangeboten nicht alle Hoffnungen erfüllt haben und nach Die Beschäftigung wuchs Jahr für Jahr zu drängen besonders junge Menschen dahin. dem euphorischen Aufbruch in die Freiheit neuen Rekordhöhen und gute Jobaussichten Hier schreitet die Digitalisierung schnell auch Ernüchterung einsetzte. Der große gibt es nicht mehr nur im wirtschaftsstarken voran und ballt sich Wissen auf engem Raum Umbruch war nicht für jeden ein Aufbruch, Süddeutschland, sondern auch in einigen – ideale Bedingungen für neue Produkte und sondern ging für einige auch mit Verunsiche- aufstrebenden ostdeutschen Regionen. Im Geschäftsmodelle. Viele Großstädte im Osten rungen und Verletzungen einher. Hinblick auf Bildungserfolge oder kulturelle müssen den Vergleich mit den westlichen Angebote haben einige ostdeutsche Länder Zentren nicht scheuen. Mit ein bisschen Glück Für die Einheit gab es keine Blaupause. eine Vorreiterrolle eingenommen. Die Unter- (und geschickter Kommunalpolitik) werfen Das Zusammenwachsen beider deutscher schiede zwischen Ost und West scheinen zu sie in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Staaten musste Stück für Stück erarbeitet schwinden und für die im wiedervereinigten ihre Samen auf die nähere Umgebung ab werden. Nicht alles funktionierte auf Anhieb. Deutschland geborene Generation spielt es oder haben dies schon getan. Zwischenzeitlich geriet der Einigungsprozess kaum noch eine Rolle, auf welcher Seite der auch ins Stocken. Doch trotz aller Schwie- ehemaligen innerdeutschen Grenze sie zur Mit der vorliegenden Publikation beleuchten rigkeiten zeigt der Blick auf die derzeitige Welt kam. wir verschiedenste Facetten der Lebens- Lebenssituation einer breiten Mehrheit in Ost realitäten in Deutschland. Anhand von und West, dass trotz fortbestehender – aber 30 Themen zeichnen wir die Vielfalt von immer geringer werdender – materieller Un- Entwicklungen Deutschlands in den 30 Jah- terschiede die Wiedervereinigung vor allem ren seit der Wiedervereinigung im Oktober eines ist: eine Erfolgsgeschichte. 1990 nach. Sie beschreiben den Alltag der Menschen, ihre Lebensverhältnisse und Teil- habechancen, aber auch ihre Vorlieben und Ängste, Erfolge und Herausforderungen. Wo unterscheiden sich diese noch, wo haben sie sich angeglichen und wo entwickeln sie sich vielleicht auch auseinander? 4 Vielfalt der Einheit
Die seit 30 Jahren vereinigte Bundesrepublik Den Alltag und das Zusammenleben der Als wir mit der Arbeit an der Studie began- bleibt ein Land der vielfältigen Gegensätze Menschen prägen aber mehr als statistisch nen, war Corona noch ein Virus im fernen oder gegensätzlicher Vielfalt, die sich wie ein messbare Unterschiede in Wirtschaft, Arbeit China. Inzwischen hat es das Leben der Flickenteppich übers gesamte Land legt. Dies sowie Zu- und Abwanderung. Wie die Men- Menschen in Ost und West arg durcheinan- lässt sich an vielen Karten auf den nächsten schen den Einheitsprozess bewerten, hängt dergewirbelt. Im 30. Jahr der Einheit steht Seiten erkennen. Ob Bevölkerungsentwick- auch davon ab, wie sich ihr unmittelbares Deutschland vor seinem größten wirtschaft- lung, Alterung oder auch die Einkommensun- Umfeld entwickelt hat und in welche Zukunft lichen Einbruch der Nachkriegsgeschichte. terschiede zwischen Frauen und Männern, sie schauen. Vor allem Unterschiede in den Was wird dies langfristig mit den Fortschrit- hier bleiben klare Ost-West-Linien bestehen. (wahrgenommenen) Lebensverhältnissen, ten und Entwicklungen der letzten Jahre Doch in anderen Bereichen, wie bei den der Teilhabechancen und Repräsentation machen, vor allem was bedeutet es für die Kinderzahlen, Bildungserfolgen oder auch bleiben bestehen, wenn sich zum Beispiel Einheit des Landes? Auf dem Arbeitsmarkt, der Energiewende hat sich die klare Teilung noch immer Menschen im Osten als Bürger bei der Gleichstellung oder auch der Bildung? aufgelöst. zweiter Klasse fühlen oder wenn Ostdeutsche Wie eine neue Untersuchung der Bertels- sich in Medien oder anderen Bereichen kaum mann Stiftung zeigt, hat sich der gesellschaft- Auch in ihrem Binnenwanderungsverhalten oder hauptsächlich negativ vertreten sehen, liche Zusammenhalt in Deutschland in der haben sich Ost und West inzwischen angegli- kann die Bewertung des Einheitsprozesses Corona-Krise als robust erwiesen und ist in chen und sind weitgehend auf gleichem Kurs. schlechter ausfallen, als es die Statistiken den ersten Monaten nach Ausbruch der Pan- Mit dem Ende der Abwanderung aus dem vermuten lassen. demie sogar noch gewachsen. Das zumindest Osten in den Westen, trat der Strom in die stimmt hoffnungsvoll im Jubiläumsjahr. großen Städte stärker in den Vordergrund. Wichtig ist, dass aus der faktischen Wie- Heute steht die Politik nahezu überall in dervereinigung auch eine gefühlte Einheit Berlin, im August 2020 Deutschland vor der großen Herausforde- in Vielfalt wird. Überall in Deutschland rung, einen Ausgleich zwischen den attrakti- fühlen sich die Menschen am stärksten ihrer Catherina Hinz ven und wirtschaftsstarken Zentren und den Heimatregion verbunden und identifizieren Direktorin entlegenen ländlichen Räumen schaffen zu sich viel weniger entlang der Kategorien Berlin-Institut für Bevölkerung und müssen. Die Stadt-Land-Unterschiede stellen Ost-West. Die vorliegende Publikation zeigt Entwicklung jene zwischen Ost und West zunehmend in eine große Bandbreite von Lebensbereichen den Schatten. und deren Entwicklung von Familienformen, Mediennutzung, Konsumverhalten, sportli- Neben West-Ost und Stadt-Land prägt ein chen Vorlieben bis hin zur Mobilität. Es ist drittes Gefälle entlang der Himmelsrich- Zeit, auf diese Vielfalt zu schauen und auf die tungen das Land: Süd-Nord. Die wirt- sich daraus ergebenen Zukunftschancen für schaftsstärksten Kreise liegen weiterhin Menschen in Ost wie West zu bauen. in Süddeutschland. In Bayern und Baden- Württemberg verhelfen Automobil- und deren Zulieferindustrie den Menschen noch immer zu guten Jobs mit hohen Einkommen. Im Norden dagegen fehlen große Industrieunter- nehmen und Länder wie Schleswig-Holstein schneiden wirtschaftlich schwächer ab. Berlin-Institut 5
1 | Bevölkerungsentwicklung DAS DEMOGRAFISCHE ZWISCHEN- HOCH ZIEHT AM OSTEN VORBEI Ende 2019 lebten rund 83,2 Millionen Millionen ihrer einst 14,8 Millionen Einwoh- massive Einbruch bei den durchschnittlichen Menschen in Deutschland – mehr als jemals ner.2 Wie groß der demografische Riss zwi- Kinderzahlen pro Frau unmittelbar nach der zuvor. Seit der Wiedervereinigung ist die schen Ost und West ist, verdeutlichte 2019 Wende, der die ostdeutschen Bundesländer Bevölkerung damit um rund 3,4 Millionen eine Studie des ifo Dresden: Wären nach auf den Abwärtstrend schickte ( 2). Zwar gewachsen.1 Vor allem die starke Zuwan- 1949 die Einwohnerzahlen in Ostdeutschland hellt sich die demografische Lage mittlerweile derung aus dem Ausland ab 2012 hat die genauso gewachsen wie im Westen, würden etwas auf: Die Abwanderung aus dem Osten Bevölkerungszahlen wieder steigen lassen, heute rund doppelt so viele Menschen zwi- in den Westen ist seit 2015 gestoppt und nachdem sie sich zuvor neun Jahre lang schen Rügen und Erzgebirge leben. Stattdes- auch die Kinderzahlen steigen. Aber die ost- verringert hatten. Deutschland erlebt derzeit sen ist die Bevölkerungszahl in Ostdeutsch- deutschen Flächenländer kämpfen mit dem ein demografisches Zwischenhoch, das sich land auf den Wert von 1905 zurückgefallen. demografischen Echo. Die schwach besetzten im Zuge der wieder sinkenden Zuwande- Im Westen leben heute doppelt so viele Jahrgänge der 1990er Jahre führen etwa eine rungszahlen nach Deutschland aber bereits Menschen wie zur Jahrhundertwende.3 Generation später dazu, dass es weniger po- abschwächt ( 7). tenzielle Eltern gibt. Zumal die ostdeutschen Ost und West entwickeln sich also nicht erst Bundesländer bislang auch kaum von der Doch Ost und West sind nicht im Wachstum seit der Wende demografisch auseinander, Zuwanderung aus dem Ausland profitieren, geeint, sondern vielmehr auf gegensätzlichen sondern schon seit den Staatsgründungen um diese Jahrgänge „aufzufüllen“ ( 7). demografischen Pfaden unterwegs. Während von Bundesrepublik und DDR im Jahr 1949. die alten Bundesländer zwischen 1990 und Mit dem Fall der Mauer vergrößerte sich die Die regionalen Verwerfungen 2019 einen satten Einwohnerzuwachs von Kluft deutlich: Neben der Abwanderung gen weiten sich aus über 5,4 Millionen Menschen verzeichnen Westen, durch die der Osten seit 1989 rund konnten, verloren die fünf ostdeutschen 1,9 Millionen Einwohner an die alten Bun- 30 Jahre nach der Wiedervereinigung schwin- Flächenländer im gleichen Zeitraum rund 2,2 desländer verlor ( 6), war es vor allem der det die Hoffnung, dass die demografische Index (1991=100) Zwischen rasantem Wachstum 125 und Niedergang Hamburg 120 Bayern Im Jahr 2019 lebten in sechs Bundesländern weniger 115 Berlin Baden-Württemberg Menschen als noch 1991. Neben den fünf ostdeut- schen Bundesländern gehört noch das Saarland 110 Hessen Schleswig-Holstein dazu. Am stärksten traf der Bevölkerungsrückgang 105 Niedersachsen Sachsen-Anhalt, das fast jeden vierten Einwohner Rheinland-Pfalz 100 Bremen eingebüßt hat. Bayern, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen auch Hamburg konnten hingegen deutliche Zuwächse 95 von über zehn Prozent verzeichnen. Diese demo- 90 grafische Zweiteilung dürfte sich künftig weiter Brandenburg fortsetzen. 85 Saarland 80 Sachsen Bevölkerungsentwicklung in den Bundesländern, Index Mecklenburg- (1991=100), 1991 bis 2035 (ab 2018 prognostiziert) 75 Vorpommern (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt4, Cima5, eigene Thüringen Berechnung) 70 Zensusknick Sachsen-Anhalt 65 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 6 Vielfalt der Einheit
Trennlinie zwischen Ost und West künftig Flächenstaates gleichen damit auch künftig Dresden, Erfurt, Jena, Rostock, Halle und verblasst. Einer aktuellen Bevölkerungspro- jenen der ostdeutschen Flächenländer.7 Magdeburg zu den wenigen demografischen gnose des Berlin-Instituts zufolge wird in Leuchttürmen in den fünf ostdeutschen Flä- allen fünf ostdeutschen Flächenländern die Abgelegene Regionen verlieren – chenländern. Ungebremst vollzieht sich aber Bevölkerungszahl bis 2035 im Vergleich zu in Ost wie West der Bevölkerungsrückgang in der ostdeut- 2017 weiter abnehmen – am stärksten mit schen Peripherie. Zahlreiche Landkreise an fast 16 Prozent in Sachsen-Anhalt. Nicht viel In den ostdeutschen Bundesländern vollzog den Rändern Brandenburgs, im Norden und besser sind die Aussichten für Thüringen und sich der Bevölkerungsrückgang in den Osten Sachsen-Anhalts oder in den entlege- Mecklenburg-Vorpommern, wo Verluste von 1990er Jahren nahezu flächendeckend. Nur nen Landstrichen in Thüringen und Sachsen knapp 14 Prozent respektive 11 Prozent zu einige Umlandkreise von Berlin, Halle, Leip- dürften bis 2035 mehr als ein Fünftel ihrer erwarten sind. In Brandenburg und Sachsen zig, Rostock oder Dresden konnten sich dem Bewohner einbüßen.10 dürfte der prozentuale Bevölkerungsrück- Abwärtstrend entziehen und profitierten vom gang knapp einstellig bleiben. In Berlin wachsenden Wunsch der Großstädter nach Auch in den westlichen Bundesländern kämp- stehen die Zeichen weiter auf Wachstum. „Wohnen im Grünen“ ( 22). Der Traum vom fen einige ländliche Regionen etwa in Nord- Fast 11 Prozent mehr Hauptstädter dürfte es Eigenheim ging zu Lasten der ostdeutschen hessen, der Südwestpfalz oder Oberfranken bis 2035 geben.6 Großstädte und verstärkte deren Bevölke- mit sinkenden Einwohnerzahlen, während rungsrückgang. Leipzig, Magdeburg oder Ros- attraktive Großstädte samt Umland unter In Westdeutschland ist das Bild zweigeteilt. tock verloren im ersten Jahrzehnt der Einheit einem starken Wachstumsdruck ächzen. Die Fünf Bundesländer können bis 2035 eine mehr als zwölf Prozent ihrer Einwohner. Ihre bayerischen Städte München, Regensburg wachsende Bevölkerung erwarten, die demografische Entwicklung glich damit jener und Landshut haben bis 2035 ein Bevölke- übrigen fünf dürften schrumpfen. Das größte in den entlegenen Landstrichen, aus denen rungsplus von fast 15 Prozent zu erwarten. Bevölkerungsplus von rund zehn Prozent sich nicht täglich in die nächste Großstadt Für Frankfurt am Main, Mainz und Hamburg wird Hamburg verzeichnen. Auch die beiden pendeln lässt.8, 9 sieht die Prognose ebenfalls ein Wachstum wirtschaftsstarken Bundesländer im Süden, von über 10 Prozent voraus.13 Baden-Württemberg und Bayern, werden vo- Die Großstädte im Osten haben mittlerweile raussichtlich zulegen – um rund vier Prozent. auf den demografischen Wachstumspfad Die demografische Trennlinie verläuft damit Für das Saarland hingegen werden Verluste zurückgefunden. Leipzig kann bis 2035 sogar nicht nur zwischen Ost und West, sondern von fast neun Prozent prognostiziert. Die bundesweit mit dem größten Bevölkerungs- zunehmend auch zwischen den attraktiven demografischen Aussichten des kleinsten zuwachs rechnen. Die mittlerweile größte Großstädten samt Umland und den ländli- sächsische Stadt gehört neben Potsdam, chen Regionen fern der Zentren. Die demografische Kluft wird größer Auch wenn sich bis zum Jahr 2035 die Gesamtbevölkerungs- zahl Deutschlands kaum verändern dürfte, weiten sich die regionalen Unterschiede aus. Rund 60 Prozent der Kreise und kreisfreien Städte werden der Prognose des Berlin-Ins- tituts zufolge bis 2035 an Bevölkerung verlieren. Besonders hart trifft es Ostdeutschland, wo neben Berlin lediglich acht weitere Großstädte mit Wachstum zu rechnen haben, ländliche Kreise aber durchgängig verlieren. Zensusbereinigte Bevölkerungsentwicklung (1995 bis 2017) und prognostizierte Bevölkerungsentwicklung (2017 bis 2035) in den Kreisen und kreisfreien Städten, in Prozent (Datengrundlage: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 11, Berlin-Institut 12) unter -20 0 bis unter 5 -20 bis unter -15 5 bis unter 10 -15 bis unter -10 10 und mehr -10 bis unter -5 -5 bis unter 0 Berlin-Institut 7
2 | Kinder und Geburten KLEINER BABYBOOM IN OST UND WEST Im Jahr 2011 erreichte die Zahl der Geburten „Ehekredite“ mit der Geburt von Kindern zu Die heftigen Ausschläge der Geburtenziffer in Deutschland einen historischen Tiefpunkt. tilgen, zu einem deutlichen Geburtenanstieg. im Osten nach der Wiedervereinigung sagen Rund 663.000 Kinder erblickten damals das Zum Höhepunkt des „Honecker-Buckels“ im dabei nichts über die tatsächliche Famili- Licht der Welt. Zum Höhepunkt des Baby- Jahr 1980 bekamen Frauen im Osten durch- engröße oder Kinderlosigkeit aus, sondern booms 1964 waren es mit 1.357.000 Kindern schnittlich 1,94 Kinder. Doch die Wirkung lassen sich auf einen statistischen Effekt zu- in beiden deutschen Staaten noch mehr als dieser Maßnahmen hielt nicht lange an. Denn rückführen. In der DDR bekamen Frauen mit doppelt so viele. Seit sieben Jahren erlebt das der Zuwachs war vor allem dadurch zustande durchschnittlich 22 Jahren vergleichsweise Land nun wieder einen „kleinen“ Babyboom. gekommen, dass die Frauen in jüngerem Alter früh ihr erstes Kind und hatten ihre Familien- 2016 erreichte dieser seinen vorläufigen und in kürzeren Abständen, aber nicht mehr planung in der Regel mit Anfang 30 abge- Höhepunkt mit rund 792.000 Geburten – der Kinder bekamen.5, 6 schlossen. Über 30-jährige Frauen im Osten höchste Stand seit 18 Jahren. 2019 lag die hatten somit zu Wendezeiten die gewünschte Zahl mit 778.000 Geburten wieder leicht Nach der Wiedervereinigung sackte die Familiengröße meist schon erreicht, während darunter.1 Der Kindersegen dürfte sich in den Geburtenziffer im Osten dann auf einen sich viele jüngere, noch kinderlose Frauen nächsten Jahren weiter abschwächen. Denn historisch einmaligen Wert von etwa 0,8 schnell ihren westdeutschen Geschlechts- 2016 gab es im Vergleich zu 2011 eine halbe Kindern. Wirtschaftliche Unsicherheiten, genossinnen anpassten und die Familien- Million mehr Frauen im typischen Familien- aber auch die neu gewonnenen Freiheiten gründung in ein höheres Alter verschoben. gründungsalter zwischen 25 und 39 Jahren ließen die Ostdeutschen die Familiengrün- In der Summe hat dies die Zahl der Geburten – die Töchter der Babyboomer, die nun selbst dung erst einmal aufschieben. Erst als sie drastisch einbrechen lassen und ein „Gebur- Nachwuchs bekommen.2 Dieses „demografi- diese in höherem Alter nachholten, stieg die tenloch“ erzeugt.9 Ihr erstes Kind bekommen sche Echo“ verhallt allmählich, denn künftig Geburtenziffer wieder.7 ostdeutsche Frauen heute mit etwas über 29 rücken wieder schwächer besetzte Jahrgänge Jahren und sind damit kein Jahr mehr jünger ins potenzielle Familiengründungsalter nach.3 als Erstgebärende in Westdeutschland.10 Absturz und Aufholjagd im Osten Stagnation im Westen, große Schwankungen im Osten Die Fertilitätsrate hat sich in den beiden deutschen Staaten unterschiedlich entwickelt. Während sie im Doch nicht nur die gewachsene Zahl an po- Westen nach dem „Pillenknick“ relativ konstant blieb, unterlag sie im Osten starken Schwankungen. Seit tenziellen Müttern trägt zum Geburtenanstieg Mitte der 2000er Jahre gleichen sich die Fertilitätsraten in beiden Landesteilen wieder einander an. bei, sondern auch die wieder gestiegene durchschnittliche Kinderzahl je Frau. Im Jahr Kinderzahl je Frau 2019 lag die zusammengefasste Geburten- 2,8 Babyboom 2,6 ziffer bei 1,54 Kindern – Mitte der 1990er 2,4 pendelte sie noch um den Wert von 1,25.4 2,2 Unterschiede zwischen Ost und West sind Honecker-Buckel 2,0 dabei kaum noch zu erkennen. 1,8 Westdeutschland 1,6 Dies war lange anders. Beide deutschen Staa- 1,4 ten erlebten nach dem „Babyboom“ ab den Pillenknick 1,2 späten 1960er Jahren den „Pillenknick“. In 1,0 Ostdeutschland Westdeutschland verharrte die durchschnitt- 0,8 Geburtenloch liche Kinderzahl pro Frau daraufhin seit Ende 0,6 der 1970er Jahre für mehrere Jahrzehnte 1960 1990 1980 1970 1950 1965 1995 2000 2005 2010 2015 2020 1985 1975 1955 bei etwa 1,4. Im Osten führten Anreize zum Kinderkriegen, wie bessere Betreuungs- angebote oder die Möglichkeit, staatliche Zusammengefasste Geburtenziffer in West- und Ostdeutschland, 1950 bis 2019 (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt8) 8 Vielfalt der Einheit
Der Osten wieder kinderreicher Mitte der 1990er Jahre sanken in den ostdeutschen Ländern die Kinderzahlen je Frau flächendeckend auf historische Tiefstwerte. Während des gesellschaftlichen Umbruchs schoben die Menschen eine Familiengründung erst einmal auf. Auch in vielen süddeutschen Regionen bekamen Frauen nach und nach weniger Kinder. In den letzten Jahren zeigen sich nun im gesamten Land wieder steigende Geburtenziffern und Ost-West Unterschiede sind nicht mehr erkennbar. Zusammengefasste Geburten- 1995 2006 2017 ziffer in den Kreisen und kreisfreien Städten, 1995, 2006 und 2017 (Datengrundlage: BBSR12) unter 1 1 bis unter 1,15 1,15 bis unter 1,30 1,30 bis unter 1,45 1,45 bis unter 1,60 1,60 bis unter 1,75 1,75 und mehr Heute liegen die geburtenstärksten Regionen einem ausländischen Pass.14 Bei Frauen mit mehr. In Thüringen besuchen 51 Prozent im Osten der Republik. Im Jahr 2017 fanden deutscher Staatsangehörigkeit zeigt sich nur ganztägig eine Krippe oder Kita, in Sachsen- sich 17 ostdeutsche unter den 27 Kreisen und ein kleiner Aufwärtstrend. Sie bekamen 2019 Anhalt und Sachsen über 40 Prozent.17, 18 kreisfreien Städten mit einer Geburtenziffer trotz verbesserter Angebote der Familienpo- von über 1,8. Das Jerichower Land im Nord- litik wie Elterngeld Plus oder den Rechtsan- Eine gute Betreuungsinfrastruktur wird osten Sachsen-Anhalts ist mit 1,94 Kindern spruch auf einen Betreuungsplatz im Schnitt gerade in einer Wissensgesellschaft immer je Frau sogar der geburtenstärkste Kreis in 1,43 Kinder.15 wichtiger. Denn bisher gilt: Je höher der Deutschland. Den wenigsten Nachwuchs gibt Bildungsabschluss von Frauen, desto öfter es hingegen in westdeutschen Großstädten. Wer den Erfolg familienpolitischer Maßnah- entscheiden sie sich gegen Kinder. Im Osten Von ihnen finden sich 16 unter den 20 Kreisen men messen will, darf aber nicht nur auf Deutschlands war der Zusammenhang und kreisfreien Städten mit den niedrigsten die Geburtenziffern schauen. Zunächst gilt zwischen Bildung und Kinderlosigkeit lange Geburtenziffern. Schlusslicht ist die bayerische es Eltern dabei zu unterstützen, familiäre nicht zu beobachten. Erst nach der Wende Universitätsstadt Passau mit 1,06 Kindern. und berufliche Aufgaben gut miteinander in stieg die Kinderlosigkeit über alle Bildungs- Solche Zahlen sind aber typisch für Hochschul- Einklang zu bringen, zum Beispiel mit einem stufen an – besonders unter den Akademike- standorte: Dort leben sehr viele junge Frauen, guten Angebot an Betreuungsplätzen. Hier rinnen.19 Zwischen 2008 und 2018 hat sich die selten bereits Mütter sind.11 zeigen sich bis heute die unterschiedlichen die Kinderlosenquote in den ostdeutschen Familien- und Frauenbilder in den beiden Flächenländern von 7 auf 15 Prozent verdop- Ein Erfolg der Familienpolitik? deutschen Staaten. In der DDR gab es eine pelt; in den westdeutschen ist sie im gleichen flächendeckende Kinderbetreuung. Es Zeitraum um vier Prozentpunkte auf 22 Inwieweit die Familienpolitik bei den steigen- war normal, dass beide Eltern einer Arbeit Prozent gestiegen. Trotz Annäherung bleiben den Kinderzahlen eine Rolle gespielt hat, ist nachgingen. Im Westen dagegen fand die im Westen noch immer ein Drittel so viele umstritten. Denn zum neueren „Babyboom“ Kinderbetreuung im Wesentlichen in der Frauen kinderlos wie im Osten.20 Der Blick in hat auch die Zuwanderung der letzten Jahre Familie statt und viele Frauen mussten sich die ostdeutsche Vergangenheit zeigt: Gute beigetragen, bei der viele Frauen im Familien- zwischen Beruf und Nachwuchs entscheiden und flächendeckende Betreuungsangebote gründungsalter nach Deutschland gekommen ( 12).16 Das spiegelt sich bis heute in den können dazu beitragen, dass die Entschei- sind. Viele von ihnen stammen aus Ländern, Betreuungsquoten wider: In Bayern kommen dung für eine Familie nicht gleichzeitig eine in denen große Familien noch die Norm sind.13 gerade einmal 10,6 Prozent aller Kinder unter Entscheidung gegen eine Karriere sein muss. Entsprechend hoch war 2019 die Gebur- 3 Jahren ganztags in einer Betreuung unter, tenziffer mit 2,06 Kindern bei Frauen mit in Baden-Württemberg mit 11 Prozent kaum Berlin-Institut 9
3 | Familien und Haushalte IMMER WENIGER LEBEN ZUSAMMEN Wie und mit wem Menschen in Deutschland wohner der ostdeutschen Länder allein oder Die Verkleinerung der Haushalte hat verschie- heute Küche, Bad und Schlafzimmer teilen, nur mit einer weiteren Person, im Westen dene Ursachen. Junge Menschen gründen ist vielfältiger geworden. Ohne Trauschein sind es 53 Prozent. Die meisten Single-Haus- immer später im Leben ihre eigene Familie zusammen zu wohnen, ist für Paare mit oder halte finden sich heute wie damals in den ( 2). Entsprechend länger leben sie nach ohne Kinder schon länger nichts Ungewöhn- Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen. dem Auszug aus dem Elternhaus allein oder liches mehr. Und im Falle einer Trennung In mehr als der Hälfte der Haushalte dieser ohne Kinder zusammen mit einem Partner. entstehen mit den „Patchwork-Familien“ ganz Großstädte lebt heute nur eine Person. Im Im Osten fällt dies besonders stark ins Ge- neue Konstellationen des Zusammenlebens. bundesweiten Schnitt ist dies inzwischen in wicht. Lebten dort Anfang der 1990er Jahre Auch Lebens- und Wohngemeinschaften – 42 Prozent aller Haushalte der Fall.2 knapp 13 Prozent der Männer und weniger als vom Mehrgenerationen-Hausprojekt bis zur 10 Prozent der Frauen unter 30 Jahren allein, Senioren-WG – liegen im Trend, zumal sie in sind es heute bei den Männern fast 40 und einer alternden Gesellschaft ein probates Mit- bei den Frauen mehr als 25 Prozent. Während tel gegen Einsamkeit sind. Trotz aller Freiheit beeinflussen aber weiterhin kulturelle Prä- Schrumpfung im ganzen Land gungen und politische Rahmenbedingungen das Zusammenleben der Menschen. Zur Wiedervereinigung lebten in den ostdeutschen Ländern deutlich mehr Menschen unter einem Dach als dies im Westen der Fall war. Spitzenreiter war Mecklenburg-Vorpommern mit 2,6 Personen. Neben höheren Ge- burtenzahlen in den 1980er Jahren dürfte der Wohnraummangel der DDR dafür verantwortlich gewesen sein: Immer weniger Menschen wohnen gemein- Junge Erwachsene blieben länger im Elternhaus wohnen. Abwanderung, Alterung und der massive Geburten- sam unter einem Dach. 1991 lebten in den rückgang in den 1990er Jahren haben die Haushaltsgrößen im Osten schnell sinken lassen. So sind es heute die rund 35 Millionen Haushalten in Deutschland Menschen im Süden und Westen der Republik, die vergleichsweise große Haushalte führen. im Mittel noch 2,27 Personen. 2018 war der Durchschnitt in den inzwischen 41 Millionen Mecklenburg-Vorpommern Haushalten unter zwei Personen gefallen. Brandenburg Obschon der Trend zu kleineren Haushalten Thüringen älter ist als das wiedervereinigte Deutsch- Sachsen-Anhalt land, hat er im Osten erst mit dem Fall der Rheinland-Pfalz Mauer deutlich an Fahrt gewonnen. Teilten Bayern sich Anfang der 1990er Jahre dort noch 2,31 Personen Küche und Bad und damit mehr als Sachsen die 2,26 im Westen, so sind es heute mit 1,88 Niedersachsen im Osten merklich weniger Personen als im Baden-Württemberg Westen mit 2,02.1 Hessen Schleswig-Holstein Ostdeutsche Männer Nordrhein-Westfalen häufiger alleinlebend Saarland 1991 Überall im Land sind in den letzten 30 Jahren Bremen 2001 „große“ Haushalte weniger geworden, zu Berlin 2011 denen drei und mehr Personen gehören. 2018 Hamburg Wohnten Anfang der 1990er Jahre noch mehr 0,0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1,8 2,0 2,2 2,4 2,6 als die Hälfte der Bewohner Deutschlands Bewohner mit mindestens zwei anderen Personen zu- sammen, hat sich das Verhältnis inzwischen Durchschnittliche Größe der Privathaushalte in *Privathaushalte am Haupt- und Nebenwohnsitz; 1991 und den Bundesländern, 1991, 2001, 2011 und 2018* 2001 Stichmonat, 2011 und 2018 Jahresdurchschnitt umgekehrt. Heute leben 61 Prozent der Be- (Datengrundlage: BIB3) 10 Vielfalt der Einheit
sich ostdeutsche Frauen aber heute kaum Zwar leben inzwischen mehr Menschen in Auch alleinerziehende Mütter oder Väter sind noch von ihren westdeutschen Gegenübern Haushalten ohne Kinder. Die durchschnittli- im Osten der Republik selbstverständlicher unterscheiden, führen ostdeutsche Männer che Größe von Familien* ist aber seit Mitte anzutreffen. Zwischen Thüringen und Meck- weit häufiger ihren Haushalt allein – und dies der 1990er Jahre nahezu konstant geblieben. lenburg-Vorpommern leben in knapp einem über fast alle Altersgruppen hinweg. Hier Zu einer westdeutschen Familie gehören Viertel der Familien Kinder mit nur einem zeigen sich immer noch die Spätfolgen der heute im Schnitt 3,45 Personen, zu einer Elternteil zusammen, zwischen Schleswig- starken Abwanderung junger Frauen bis zur ostdeutschen 3,28. Im Osten steigt seit Mitte Holstein und Bayern dagegen nur in einem Jahrtausendwende. Erst im hohen Alter ab 70 der 2000er Jahre sogar die Zahl der Mitglie- reichlichen Sechstel. In beiden Landesteilen Jahren sind Männer in Ost und West in ihrer der von Familienhaushalten wieder leicht an. sind es aber weiterhin mehrheitlich Frauen, Haushaltsgröße vereint.4, 5 War die Kinderzahl in ostdeutschen Familien die eine Familie ohne Partner stemmen.13 bis 2006 auf 1,43 im Mittel gesunken, leben Weniger Familien, mehr ältere Singles dort inzwischen wieder 1,58 minderjährige Kinder in einer Familie. Der Unterschied zu Heirat gehört nicht überall dazu Kleinere Haushalte gibt es auch, weil der westdeutschen Familien, zu denen heute Unterschiedliche Vorstellungen zu Ehe und Kindern Anteil der Familien an allen Haushalten im Schnitt 1,65 Kinder gehören, ist damit aus der Zeit vor der Wiedervereinigung haben abnimmt. Noch Mitte der 1990er Jahre lebte zurückgegangen.10 weiterhin Bestand. Dass vor der Geburt des ersten mehr als die Hälfte der Bevölkerung Deutsch- Kindes geheiratet wird, ist gerade im Süden bis heute lands in Familienhaushalten, das heißt Er- Trauschein bleibt für viele Eltern für viele eine Selbstverständlichkeit. In Landkrei- wachsene zusammen mit Kindern. Seit dem die Norm sen wie Böblingen und Calw haben vier von fünf Neugeborenen verheiratete Eltern. Mit Ausnahme des Beginn der 2010er Jahre bilden kinderlose thüringischen Eichsfelds kommen dagegen in allen Paare sowie Alleinstehende die Mehrheit.6 Die Ehe gilt schon länger nicht mehr als ostdeutschen Kreisen und kreisfreien Städten mehr Voraussetzung für Paare, eine Familie zu als die Hälfte der Kinder unehelich zur Welt. Dahinter steht ein wachsender Anteil älterer gründen. Trotzdem sind in drei von fünf Menschen, bei denen die Kinder längst aus Familien mit minderjährigen Kindern die dem Haus sind. Waren 1990 13 Prozent der Eltern miteinander verheiratet. Kündigen sich Bevölkerung Deutschlands 67 Jahre und Kinder an, ist dies für viele der Anlass, den älter, sind es heute im Durchschnitt bereits Weg zum Standesamt zu beschreiten, jeden- über 19 Prozent.7 Insbesondere in den fünf falls im Westen der Republik. Dort sind zwei ostdeutschen Ländern trägt die Alterung der Drittel der Mütter bei der Geburt ihres ersten Bevölkerung wesentlich zum Schrumpfen der Kindes bereits verheiratet, im Osten ist es nur Haushaltsgrößen bei. Denn mit zunehmenden etwas mehr als ein Drittel.11 Alter leben Menschen immer häufiger allein, vor allem Frauen. Ein reichliches Viertel der Und auch später leben in einem Viertel der 60- bis 69-Jährigen und die Hälfte der über ostdeutschen Familien die Eltern in „wilder“ 69-Jährigen lebten 2016 in einem Einperso- Ehe, im Westen der Republik ist das nicht nenhaushalt, von den Männern dieser Alters- einmal in jeder zehnten Familie der Fall.12 gruppen ungefähr jeder Fünfte.8, 9 Mit den Ein Zusammenwachsen der Einstellungen ist Babyboomern, die nun in diese Altersgruppe hier kaum erkennbar. Ein Grund könnte darin vorrücken, dürfte die Zahl der Senioren- liegen, dass die Einkommensunterschiede Singlehaushalte noch einmal stark ansteigen. zwischen den Geschlechtern im Osten sehr Doch im Unterschied zu vorangegangenen viel geringer sind als im Westen ( 12). Die Generationen ziehen die Babyboomer auch steuerrechtlichen Vorteile, die Ehepaare ge- Alternativen zum Alleinleben im Alter in nießen, bieten für ostdeutsche Paare keinen Betracht – von der Alten-WG mit Freunden ausreichenden Anreiz zu heiraten. bis zum Mehrgenerationen-Wohnen. Anteil von Lebendgeborenen unter 40 mit verheirateten Eltern in 40 bis unter 50 den Kreisen und kreisfreien Städten, in Prozent, 2017 50 bis unter 60 (Datengrundlage: Statistische 60 bis unter 70 * Als Familie werden hier alle Lebensformen mit Ämter des Bundes und der 70 bis unter 80 Kindern gezählt Länder14) 80 und mehr Berlin-Institut 11
4 | Alterung, Pflege und Sterben EINE NEUE NORMALITÄT Als die DDR kurz nach ihrem 40. Geburtstag Und so ist in den dreißig Jahren seit der sen Lüchow-Dannenberg oder Ostholstein aufhörte zu existieren, blickte eine ver- deutschen Einheit die Bevölkerung zwischen gehören mehr als ein Viertel der Bewohner gleichsweise junge Bevölkerung in eine unge- Rügen und Erzgebirge schneller gealtert als dieser Altersgruppe an.6, 7 Gemeinsam teilen wisse Zukunft. Zum Zeitpunkt der Wieder- zwischen Sylt und Alpen. Während bundes- diese Regionen das Schicksal, dass sie einen vereinigung war rund jeder vierte Bewohner weit das Durchschnittsalter inzwischen bei großen Teil ihres Nachwuchses an attrakti- Ostdeutschlands noch jünger als 20 Jahre, im etwas mehr als 44 Jahren liegt, hat es in ve Großstädte verlieren, der meist nicht in damals jüngsten Bundesland Mecklenburg- Sachsen-Anhalt – dem Bundesland mit der die Heimatregion zurückkehrt ( 6). In den Vorpommern hatten die unter 20-Jährigen ältesten Bevölkerung – schon fast 48 Jahre Großstädten bremst hingegen der Zustrom sogar einen Anteil von fast 30 Prozent. Im erreicht. Auch in Thüringen, Brandenburg der Bildungswanderer die Alterung – in Ost Westen dagegen war nur jeder Fünfte jünger und Mecklenburg-Vorpommern sind die wie West. In Leipzig oder Jena ist bislang nur als 20 Jahre alt. Heute gehört nur noch rund Menschen im Schnitt bereits älter als 47 Jah- jeder fünfte, in Köln oder München sogar nur jeder sechste Einwohner Ostdeutschlands zu re. Heute sind die Bewohner von Hamburg, jeder sechste Bewohner 65 Jahre oder älter.8 dieser Altersgruppe.1 Berlin und auch Baden-Württemberg jünger als der bundesdeutsche Durchschnitt.3 Die Kreise und kreisfreien Städte, die Mit der neuen Freiheit und aufgrund der heute schon stark gealtert sind, dürften auch schwierigen Arbeitsmarktsituation in den Altes Land, junge Stadt künftig zu den ältesten zählen. Es sind vor folgenden Jahren verließen gerade die allem Gebiete in den peripheren Regionen im Jüngeren ihre Heimatorte gen Westen ( 6). Sowohl östlich als auch westlich der ehema- Osten, in denen der Anteil der über 64-Jäh- Hinzu kam ein drastischer Geburtenknick in ligen innerdeutschen Grenze altern heute rigen bis 2035 auf bis zu 40 Prozent und den 1990er Jahren. Aufgrund der unsicheren vor allem die ländlichen, abgelegenen und mehr anwachsen dürfte. Den relativ stärksten Perspektiven warteten viele Ostdeutsche mit vom Strukturwandel betroffenen Gebiete Zuwachs an Älteren dürften allerdings die ihrer Familiengründung. Die Geburtenziffer schneller. Im thüringischen Altenburger bislang noch jungen und wirtschaftlich erreichte Mitte der 1990er Jahre ein histori- Land, im sächsischen Vogtlandkreis oder in erfolgreichen ländlichen Regionen im Westen sches Tief ( 2).2 Die Abwanderung und der den ostdeutschen Städten Suhl und Dessau- und vor allem im Süden der Republik erleben. fehlende Nachwuchs hinterließen Spuren in Roßlau ist heute schon fast ein Drittel der Dort leben überproportional viele Menschen der ostdeutschen Bevölkerungspyramide und Bewohner 65 Jahre und älter. Aber auch in aus der Gruppe der Babyboomer, die heute sorgten für eine rasche Alterung. den abgelegenen westdeutschen Landkrei- meist noch im Berufsleben stehen, aber bis Deutschland altert 1995 2017 2035 In den vergangenen Jahrzehn- unter 20 ten ist die Bevölkerung in 20 bis unter 23 Deutschland deutlich gealtert. 23 bis unter 26 Dieser Trend dürfte sich auch in 26 bis unter 29 den nächsten Jahren fortsetzen. Während 1995 in den meisten 29 bis unter 32 Kreisen und kreisfreien Städten 32 bis unter 35 noch weniger als 20 Prozent der 35 bis unter 38 Bevölkerung über 64 Jahre alt 38 und mehr war, dürften es bis 2035 man- cherorts mehr als 40 Prozent sein. Vorreiter sind ländliche Re- gionen im Osten Deutschlands. Vergleichsweise jung dürften die attraktiven Großstädte bleiben – in Ost und West. Anteil der über 64-Jährigen in den Kreisen und kreisfreien Städten, in Prozent, 1995, 2017 und 2035 (prognostiziert) (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt4, Berlin-Institut5) 12 Vielfalt der Einheit
Wo der Tod in den Alltag drängt 2017 2035 In Teilen Süd- und Nordwestdeutschlands starben 2017 bis zu neun Personen pro 1.000 Einwohner. Bis 2035 dürfte es kaum noch Kreise geben, deren Sterberaten so niedrig liegen. Vielerorts werden dann vermutlich zwischen 12 und 15 Sterbefälle auf 1.000 Einwohner kommen. In den östlichen Bun- desländern sowie in Teilen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind deutlich höhere Raten zu erwarten. Sterbefälle pro 1.000 Ein- unter 9 wohner in den Kreisen und 9 bis unter 12 kreisfreien Städten, 2017 12 bis unter 15 und 2035 (prognostiziert) (Datengrundlage: Statistisches 15 bis unter 18 Bundesamt21, Berlin-Institut22) 18 bis unter 21 21 und mehr 2035 in den Ruhestand gehen werden. In mit der Alterung und der steigenden Lebens- mehr als eine Million Einwohner aus dem Le- den niedersächsischen Kreisen Vechta und erwartung wächst die Zahl der Hochbetagten, ben scheiden.20 Dieser Trend wird mittelfristig Cloppenburg oder im bayerischen Freising der 80-Jährigen und Älteren, und damit auch anhalten, denn die geburtenstarken Babyboo- dürften 2035 zwischen 55 und 68 Prozent die Zahl an Menschen, die Unterstützung und mer-Jahrgänge rücken in ein Alter mit höherer mehr über 64-Jährige leben als heute.9 Pflege benötigen.12 Ende 2017 lag die Zahl Sterbewahrscheinlichkeit auf. Immer mehr der Pflegebedürftigen in Deutschland bei 3,4 Angehörige und Freunde werden sich deshalb Ältere sind länger fit – und engagiert Millionen Menschen.13 Die bereits gealterten mit dem Sterben beschäftigen müssen. ostdeutschen Flächenländer kamen dabei Das Rentenalter zu erreichen bedeutet heute auf 5.000 und mehr Pflegebedürftige je Und die Menschen haben genaue Vorstellun- nicht mehr den „Ruhestand“ im Wortsinn 100.000 Einwohner. In Bayern waren es da- gen von ihren letzten Stunden. Die meisten anzutreten. Heutige Rentner sind oft noch fit gegen nur rund 3.000.14 Bis 2030 dürfte die möchten schmerzfrei, gut versorgt, nah an und wünschen sich auch im Alter sinnvolle absolute Zahl Pflegebedürftiger in Deutsch- ihrem gewohnten Leben, sozial eingebunden Aufgaben. Gerade die Babyboomer bringen land auf 4,1 Millionen steigen.15 Das wirft die sowie selbstbestimmt und zufrieden sterben. gute Qualifikationen mit, haben wertvolle Frage auf, wer sie versorgen wird. Es mangelt Darin gleichen sich Ost- und Westdeutsche, Erfahrungen aus ihrem Berufsleben und schon heute nahezu bundesweit an Arbeits- Frauen und Männer, Arme wie Reiche, möchten die Gesellschaft auch im „dritten kräften für die Altenpflege.16 Heute wird Menschen mit und ohne Migrationshinter- Lebensabschnitt“ mitgestalten.10 Und so noch gut die Hälfte aller Pflegebedürftigen grund. Doch es gibt auch Unterschiede: So steigt der Anteil der engagierten Älteren ausschließlich durch Angehörige zu Hause wünschen sich die Bewohner ländlicher überall im Land ( 25). Unter den über gepflegt.17 Neben den Partnern erledigen Regionen eher als Großstädter, dass ihre 64-Jährigen brachten sich 2014 in Baden- diese Aufgabe vor allem Kinder und Schwie- Angehörigen im Sterben für sie da sind und Württemberg und Rheinland-Pfalz über 40 gerkinder. Sie stehen künftig aber seltener diese von Freunden und Nachbarn unter- Prozent ehrenamtlich ein, in Brandenburg zur Verfügung, wenn viele Hochbetagte von stützt werden.23 und Mecklenburg-Vorpommern mehr als 30 morgen keine Nachkommen haben oder Prozent. Zur Jahrtausendwende waren im diese weit entfernt leben.18 Viele ostdeutsche Regionen sind Vorreiter im Osten weniger als 20 Prozent und im Westen demografischen Wandel und müssen bereits nur 24 Prozent der Altersgruppe ehrenamt- Das Sterben rückt näher heute Aufgaben lösen, die früher oder später lich aktiv.11 auch in der restlichen Republik auf die Agenda Mit der Alterung wird auch die Zahl der Ster- rücken. Wie gut sie den Bedürfnissen der Die Belastungsprobe kommt befälle künftig merklich steigen. 2019 starben wachsenden Zahl Älterer gerecht werden oder in Deutschland 939.520 Menschen, in den wie es ihnen gelingt, die große Engagementbe- Dennoch fordert die zunehmende Zahl an 1990er Jahren waren es jährlich noch unter reitschaft für sich zu nutzen, dürfte Kommu- Älteren die Gesellschaft auch heraus. Denn 900.000.19 Schon bald werden jedes Jahr nen im ganzen Land als Lehrbeispiel dienen. Berlin-Institut 13
5 | Gesundheit und Lebenserwartung WOHLHABENDE WERDEN ÄLTER Bis Mitte der 1970er Jahre nahm die Der ostdeutsche Aufholsprung geht dabei vor schen. Schon 20 Jahre nach der Einheit hat- Lebenserwartung auf beiden Seiten der allem auf die nachgeholte „kardiovaskuläre ten sich viele gesundheitliche Unterschiede Mauer in annähernd gleichem Maße zu. Dann Revolution“ und die damit gewonnenen Jahre verringert oder waren ganz verschwunden. verlangsamte sich der Anstieg in der DDR, im höheren Alter zurück. Im Westen hatte Der Trend hat sich bis heute fortgesetzt.6 während er sich in der alten Bundesrepublik die Medizin bereits seit Ende der 1960er fortsetzte.1 So konnten kurz nach der Wie- Jahre dazu beigetragen, die Sterblichkeit an Soziale Ungleichheit bestimmt dervereinigung geborene Jungen im Westen Herz-Kreislauf-Erkrankungen von Menschen über Lebensdauer durchschnittlich auf 73 Jahre und Mädchen im Rentenalter erheblich zu verringern. In der auf 80 Jahre Lebenszeit hoffen. Das waren ehemaligen DDR stand dagegen im Vorder- Wie stark die Menschen auf ihre Ernährung 3,2 respektive 2,3 Lebensjahre mehr als für grund, die Arbeitskraft der Bevölkerung im und Gesundheit achten, hängt auch von Neugeborene im Osten.2 Erwerbsalter zu erhalten. Nach der Wieder- ihrer sozioökonomischen Situation, im vereinigung schloss der Osten rasch auf.4 Wesentlichen von Bildung, Erwerbsstatus In den Nachwendejahren verringerten sich und Einkommen sowie gesellschaftlichen die Differenzen zwischen beiden Landes- Die Menschen in der DDR hatten insgesamt Teilhabechancen ab. Die Risikofaktoren teilen. Für Mädchen macht es seit Mitte der ein ungesünderes Leben geführt als jene in für krankhaftes Übergewicht, Diabetes, 2000er Jahre keinen Unterschied mehr, ob der alten Bundesrepublik. Sie tranken mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen und manche sie östlich oder westlich der ehemaligen Alkohol und vor allem die Männer rauchten Arten von Krebs sind häufiger bei denjeni- deutsch-deutschen Grenze zur Welt kommen. öfter. Bluthochdruck und krankhaftes Überge- gen zu finden, die eine niedrigere Bildung Ihre durchschnittliche Lebenserwartung wicht waren stärker verbreitet als im Wes- und weniger Einkommen haben. Arme und beträgt zwischen Aachen und Zittau heute 83 ten.5 An Herz-Kreislauf-Erkrankungen – also sozial Schwache leben oft in einem wenig Lebensjahre. Auch für ostdeutsche Jungen ist an Herzinfarkt und anderen Erkrankungen gesundheitsfördernden Umfeld, zudem setzt seit Anfang der 1990er Jahre die Lebenser- der Herzkranzgefäße, Herzinsuffizienz oder sie womöglich ihre soziale, familiäre oder wartung gestiegen, doch bis heute bleibt eine Schlaganfall – starben die Ostdeutschen rund finanzielle Situation unter Druck.7 Langzeit- Lücke von 1,3 Jahren zu ihren westdeutschen eineinhalb Mal häufiger als die Westdeut- stress wiederum schwächt das Immunsys- Geschlechtsgenossen.3 Wer gut verdient, lebt länger Vor allem in den wirtschaftlich schwachen Regionen der östlichen Peripherie und im Ruhrgebiet ist die Lebenserwartung relativ niedrig. Im wohlhabenden Süden leben die Menschen dagegen besonders lang. Je besser Menschen finanziell dastehen, je besser sie gebildet sind, je mehr Möglichkeiten sie haben, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich selbst zu verwirklichen, desto länger leben sie im Schnitt. Median der geschätzten Lebenserwartung bei Geburt von Frauen und Männern in den Kreisen und kreisfreien Städten, Altersjahre, 2015 bis 2017 (Datengrundlage: Roland Rau & Carl P. Schmertmann19) unter 82 unter 77 82 bis unter 83 77 bis unter 78 83 bis unter 84 78 bis unter 79 84 bis unter 85 79 bis unter 80 85 und mehr 80 und mehr 14 Vielfalt der Einheit
tem, erhöht so die Anfälligkeit für Infektionen Bundesländern als im Westen und in Berlin: Stressland Deutschland und andere Erkrankungen.8 Wer dagegen eine riskanter Alkoholkonsum bei Männern und Überall in Deutschland steht mehr als die Hälfte der höhere Bildung genießen durfte und über ein bei beiden Geschlechtern Mangel an körperli- Menschen nach eigener Aussage manchmal oder sicheres Einkommen verfügt, hat es leichter, cher Bewegung, Bluthochdruck, krankhaftes häufig unter Stress. Ob dies das Leben verkürzt, lässt einen gesundheitsfördernden Lebensstil zu Übergewicht (Adipositas) und Diabetes.14 In sich anhand dieser Daten nicht sagen. Interessanter- pflegen.9 Ostdeutschland ist ein deutlich geringerer weise ist aber das Stresslevel dort besonders hoch, Anteil der Bevölkerung in einem Sportverein wo die Menschen im Schnitt gesund und lange leben – vor allem in Baden-Württemberg und Bayern. Dort Soziale Ungleichheit bestimmt somit organisiert als in Westdeutschland ( 27). läuft die Wirtschaft gut und es gibt viel Arbeit. Genau maßgeblich über Unterschiede bei der Das ist ein Indiz für Inaktivität, mag aber das stresst offenbar am meisten: Viele belastet ein Lebenserwartung.10 Heute ist der Abstand auch darauf zurückgehen, dass Vereinssport zu hohes Arbeitspensum, sie fühlen sich gehetzt oder zwischen wirtschaftlich starken und struk- zu DDR-Zeiten hauptsächlich für Leistungs- stehen unter konstantem Termindruck. turschwachen Regionen aussagekräftiger sportler da war. In Mecklenburg-Vorpom- als jener zwischen Ost und West. So weist mern, Sachsen-Anhalt und Thüringen findet das prosperierende Baden-Württemberg mit sich Adipositas am häufigsten, während der 84 Jahren für Frauen und 80 für Männer die Bevölkerungsanteil krankhaft Übergewichti- höchste durchschnittliche Lebenserwartung ger in Hamburg am geringsten ausfällt. Beim auf. Die niedrigste haben Frauen mit 82 Rauchen, einem Risikofaktor für Erkran- Jahren im Saarland und Männer mit 76 Jahren kungen der Gefäße und der Lungen, liegen in Sachsen-Anhalt.11 Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen zusammen mit dem Stadtstaat Bremen vorn, Kleinräumig fallen die Differenzen noch deut- am niedrigsten ist die Rauchquote für Männer licher aus: Nach neuen Modellrechnungen und Frauen zusammengenommen in Bayern. können sich Frauen im reichsten deutschen Dabei haben die Frauen im Osten, die zur Zeit Landkreis, dem bayerischen Starnberg, da- der Wiedervereinigung noch deutlich seltener rüber freuen, durchschnittlich 85,7 Jahre alt zur Zigarette griffen als die Westfrauen, zu werden. Ihre Geschlechtsgenossinnen im seither im negativen Sinne aufgeholt.15 sachsen-anhaltinischen Salzlandkreis, einer ländlichen Region mit geringen gesellschaft- Im Osten ist Impfen normaler lichen Teilhabechancen für die Bewohner ( 21), kommen auf 81,8 Jahre. Bei den Beim Infektionsschutz liegen die westdeut- Männern ist die Diskrepanz noch größer: Im schen Bundesländer weit hinter den ostdeut- Landkreis München, Teil des „Speckgürtels“ schen zurück. Bis zur Jahrtausendwende der Bayernmetropole, können sie auf 81,2 lagen die Impfquoten bei Kindern im Osten Anteil Befragter, die manch- 54 mal oder häufig im Stress 57 Jahre Lebenszeit hoffen, in Bremerhaven, wo deutlich über jenen im Westen, inzwischen sind, in den Bundesländern, immer noch ein tiefgreifender Strukturwan- haben sie sich angenähert.16, 17 In der DDR 62 in Prozent, 2016 del nachwirkt, haben sie nur 75,8 Jahre.12 hatte es für die meisten ansteckenden Krank- (Datengrundlage: Techniker 63 heiten zumindest eine teilweise Impfpflicht Krankenkasse20) 66 68 Wo sich Ost und West immer gegeben. Vielen Ostdeutschen gilt daher bis noch unterscheiden heute die präventive Impfung als selbstver- ständlich. Noch 2016 befürworteten mit 85 Trotz weitgehender Angleichung zwischen Prozent zehn Prozent mehr Ostdeutsche Imp- Ost und West sind bei einigen Gesundheits- fungen als Westdeutsche.18 Falls in nächster indikatoren nach wie vor Differenzen zu Zukunft ein wirksamer Impfstoff gegen das beobachten – etwa bei der kardiovaskulären Coronavirus zur Verfügung steht, dürfte das Sterblichkeit. Im Jahr 2018 gingen im Osten Thema wieder hochkochen. 191 Todesfälle je 100.000 Einwohner auf das Konto von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, im Westen waren es 155.13 Auch einige der wichtigsten Risikofaktoren dafür finden sich nach wie vor häufiger in den östlichen Berlin-Institut 15
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