Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist - BMWi

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Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist - BMWi
Vielfalt der Einheit
                  Wo Deutschland nach 30 Jahren
                  zusammengewachsen ist

sten +++ schrumpfende Volkskirchen – der Osten bleibt Vorreiter +++ keine Annäherung beim Wohnungseigentum +++ der Osten holt bei der Lebenserwartung
 ensivsten +++ Studium im Osten beliebter +++ Tennis im Westen, Volleyball im Osten +++ Abwanderung Ost gestoppt +++ bei der Lebenszufriedenheit schließt
                                                                                                                                 Berlin-Institut 75
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Berlin-Institut

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  unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und
  globaler demografischer Veränderungen beschäftigt. Das Insti-
  tut wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat
  die Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel
  zu schärfen, nachhaltige Entwicklung zu fördern, neue Ideen
  in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demogra-
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  bereitet das Berlin-Institut wissenschaftliche Informationen
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76 Vielfalt der Einheit
Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist - BMWi
Vielfalt der Einheit
Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist

                                                      Berlin-Institut   1
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Impressum

Originalausgabe                                                  Die Hauptautoren:
September 2020
                                                                 Susanne Dähner, Diplom in Geographie an der Humboldt-
© Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung                Universität zu Berlin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am
                                                                 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten.      Adrián Carrasco Heiermann, Master in Public Policy an
                                                                 der University of Bristol. Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Herausgegeben vom                                                am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Schillerstraße 59                                                Sabine Sütterlin, Diplom in Naturwissenschaften an der
10627 Berlin                                                     ETH Zürich. Freie wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Telefon: (030) 22 32 48 45                                       Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Telefax: (030) 22 32 48 46
E-Mail: info@berlin-institut.org                                 Manuel Slupina, Diplom in Volkswirtschaftslehre an der
www.berlin-institut.org                                          Universität zu Köln. Ressortleiter Demografie Deutsch-
                                                                 land am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.
Das Berlin-Institut finden Sie auch bei Facebook und Twitter
(@berlin_institut).                                              Frederick Sixtus, Magister in Soziologie, Literaturwis-
                                                                 senschaft und Musikwissenschaft an der Universität
Autoren: Susanne Dähner, Adrián Carrasco Heiermann,              Potsdam und der Technischen Universität Berlin. Wissen-
Sabine Sütterlin, Manuel Slupina,                                schaftlicher Mitarbeiter am Berlin-Institut für Bevölke-
Frederick Sixtus, Antonia Gärtner, Catherina Hinz                rung und Entwicklung.

Recherche und Grafiken: Lena Reibstein, Johanna Raith,
Nele Peschel
Lektorat: Sabine Sütterlin

Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de)
Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de)
Druck: LASERLINE, Berlin

Der überwiegende Teil der thematischen Landkarten und Grafiken
wurde auf Grundlage der Programme Tableau Software, Seattle,
USA, und EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn,
erstellt.

ISBN: 978-3-946332-58-9

Die Studie wurde gefördert durch den Beauftragten der Bundes-
regierung für die neuen Bundesländer beim Bundesminister für
Wirtschaft und Energie.

2   Vielfalt der Einheit
Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist - BMWi
INHALT
VORWORT: VEREINTES LAND MIT GEGENSÄTZEN..................4                             16. ÖKOLOGIE UND KLIMAWANDEL:
                                                                                       UMWELT ALS EINHEITSGEWINNER?....................................... 36
1. BEVÖLKERUNGSENTWICKLUNG: DAS DEMOGRAFISCHE
ZWISCHENHOCH ZIEHT AM OSTEN VORBEI.............................6                       17. MOBILITÄT:
                                                                                       AUF DEM LAND WENIG ALTERNATIVEN ZUM EIGENEN
2. KINDER UND GEBURTEN:                                                                AUTO............................................................................................... 38
KLEINER BABYBOOM IN OST UND WEST...................................8
                                                                                       18. DIGITALISIERUNG UND KOMMUNIKATION:
3. FAMILIEN UND HAUSHALTE:                                                             VOM FEHLENDEN TELEFONANSCHLUSS ZUM
IMMER WENIGER LEBEN ZUSAMMEN.......................................10                  GLASFASERNETZ..........................................................................40

4. ALTERUNG, PFLEGE UND STERBEN:                                                       19. MEDIENNUTZUNG: DER OSTEN KOMMT KAUM VOR..... 42
EINE NEUE NORMALITÄT............................................................. 12
                                                                                       20. KONSUM: IN REGIONALEN VORLIEBEN VEREINT.........44
5. GESUNDHEIT UND LEBENSERWARTUNG:
WOHLHABENDE WERDEN ÄLTER .............................................. 14             21. TEILHABECHANCEN UND GLEICHWERTIGKEIT:
                                                                                       DAS GLÜCK WOHNT EHER IM NORDEN...................................46
6. BINNENMIGRATION:
ZWISCHEN OST-WEST UND STADT-LAND................................ 16                    22. WOHNEN:
                                                                                       IM OSTEN NOCH IMMER HÄUFIGER ZUR MIETE...................48
7. ZUWANDERUNG:
IM OSTEN NOCH IMMER KAUM MIGRANTEN.......................... 18                        23. IDENTITÄT UND EINHEIT:
                                                                                       DIE HEIMAT PRÄGT ÜBERALL.................................................... 50
8. SCHULISCHE BILDUNG:
DER OSTEN MUSS SICH NICHT VERSTECKEN........................ 20                        24. RELIGION UND SÄKULARISIERUNG: DER OSTEN
                                                                                       IST SÄKULARER, DER WESTEN VIELFÄLTIGER...................... 52
9. BERUFSBILDUNG UND STUDIUM:
DEM OSTEN GEHEN DIE STUDIERENDEN AUS ...................... 22                         25. ENGAGEMENT UND EHRENAMT:
                                                                                       IM LAND DER „VEREINSMEIER“................................................ 54
10. WISSENSGESELLSCHAFT:
DIE ZUKUNFT LIEGT IN DEN METROPOLEN........................... 24                      26. POLITIK UND WAHLEN:
                                                                                       DEUTSCHLAND IST EINE DEMOKRATISCHE REPUBLIK....... 56
11. ARBEIT UND BESCHÄFTIGUNG:
FACHKRÄFTE DRINGEND GESUCHT......................................... 26                27. SPORT UND REISEN:
                                                                                       FUSSBALLBEGEISTERUNG GRENZENLOS............................... 58
12. GLEICHSTELLUNG:
WO DER WESTEN DEM OSTEN FOLGTE................................... 28                   28. KULTUR:
                                                                                       DIE ERSTE GEIGE SPIELT IM OSTEN.........................................60
13. EINKOMMEN UND VERMÖGEN:
EINHEIT NOCH NICHT IN SICHT................................................ 30         29. KRIMINALITÄT:
                                                                                       DIE FURCHT IST GRÖSSER ALS DIE BEDROHUNG................ 62
14. UNTERNEHMENS- UND WIRTSCHAFTSSTRUKTUR:
ANGLEICHUNG NOCH NICHT GESCHAFFT.............................. 32                      30. CORONA: IN DER PANDEMIE VEREINT? .........................64

15. LANDWIRTSCHAFT UND ERNÄHRUNG:                                                      QUELLEN........................................................................................66
DEUTSCHLAND MIT GUTEM APPETIT...................................... 34

                                                                                                                                                                               Berlin-Institut   3
Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist - BMWi
VEREINTES LAND MIT GEGENSÄTZEN
Jubiläumsjahre lenken den Blick zurück. Nun     Gerade im letzten Jahrzehnt hat sich vieles      Doch nicht überall sind „blühende Land-
feiern wir drei Jahrzehnte Deutsche Einheit.    weiter zum Positiven entwickelt. Arbeitslo-      schaften“ entstanden, in manchen Regionen
Also wieder einmal Zeit, Bilanz zu ziehen.      sigkeit, die die Menschen im Osten in den        sind es eher blühende urbane Inseln. Vom
Aber ist zum Thema Wiedervereinigung nicht      1990er und 2000er Jahren stark erschütter-       Aufschwung Ost profitieren vor allem die
schon alles gesagt? Dass es schwierig war       te, war bis zum Ausbruch der Corona-Pande-       größeren Städte wie Leipzig, Dresden, Jena
– ein Kraftakt ohne gleichen, das Zusammen-     mie im Frühjahr 2020 kaum mehr ein Thema,        oder Potsdam. Auf der Suche nach Arbeits-
wachsen zweier Staaten Zeit braucht, sich       jedenfalls kein spezielles für Ostdeutschland.   plätzen, Bildungs- und Kulturangeboten
nicht alle Hoffnungen erfüllt haben und nach    Die Beschäftigung wuchs Jahr für Jahr zu         drängen besonders junge Menschen dahin.
dem euphorischen Aufbruch in die Freiheit       neuen Rekordhöhen und gute Jobaussichten         Hier schreitet die Digitalisierung schnell
auch Ernüchterung einsetzte. Der große          gibt es nicht mehr nur im wirtschaftsstarken     voran und ballt sich Wissen auf engem Raum
Umbruch war nicht für jeden ein Aufbruch,       Süddeutschland, sondern auch in einigen          – ideale Bedingungen für neue Produkte und
sondern ging für einige auch mit Verunsiche-    aufstrebenden ostdeutschen Regionen. Im          Geschäftsmodelle. Viele Großstädte im Osten
rungen und Verletzungen einher.                 Hinblick auf Bildungserfolge oder kulturelle     müssen den Vergleich mit den westlichen
                                                Angebote haben einige ostdeutsche Länder         Zentren nicht scheuen. Mit ein bisschen Glück
Für die Einheit gab es keine Blaupause.         eine Vorreiterrolle eingenommen. Die Unter-      (und geschickter Kommunalpolitik) werfen
Das Zusammenwachsen beider deutscher            schiede zwischen Ost und West scheinen zu        sie in den nächsten Jahren und Jahrzehnten
Staaten musste Stück für Stück erarbeitet       schwinden und für die im wiedervereinigten       ihre Samen auf die nähere Umgebung ab
werden. Nicht alles funktionierte auf Anhieb.   Deutschland geborene Generation spielt es        oder haben dies schon getan.
Zwischenzeitlich geriet der Einigungsprozess    kaum noch eine Rolle, auf welcher Seite der
auch ins Stocken. Doch trotz aller Schwie-      ehemaligen innerdeutschen Grenze sie zur         Mit der vorliegenden Publikation beleuchten
rigkeiten zeigt der Blick auf die derzeitige    Welt kam.                                        wir verschiedenste Facetten der Lebens-
Lebenssituation einer breiten Mehrheit in Ost                                                    realitäten in Deutschland. Anhand von
und West, dass trotz fortbestehender – aber                                                      30 Themen zeichnen wir die Vielfalt von
immer geringer werdender – materieller Un-                                                       Entwicklungen Deutschlands in den 30 Jah-
terschiede die Wiedervereinigung vor allem                                                       ren seit der Wiedervereinigung im Oktober
eines ist: eine Erfolgsgeschichte.                                                               1990 nach. Sie beschreiben den Alltag der
                                                                                                 Menschen, ihre Lebensverhältnisse und Teil-
                                                                                                 habechancen, aber auch ihre Vorlieben und
                                                                                                 Ängste, Erfolge und Herausforderungen. Wo
                                                                                                 unterscheiden sich diese noch, wo haben sie
                                                                                                 sich angeglichen und wo entwickeln sie sich
                                                                                                 vielleicht auch auseinander?

4   Vielfalt der Einheit
Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist - BMWi
Die seit 30 Jahren vereinigte Bundesrepublik      Den Alltag und das Zusammenleben der              Als wir mit der Arbeit an der Studie began-
bleibt ein Land der vielfältigen Gegensätze       Menschen prägen aber mehr als statistisch         nen, war Corona noch ein Virus im fernen
oder gegensätzlicher Vielfalt, die sich wie ein   messbare Unterschiede in Wirtschaft, Arbeit       China. Inzwischen hat es das Leben der
Flickenteppich übers gesamte Land legt. Dies      sowie Zu- und Abwanderung. Wie die Men-           Menschen in Ost und West arg durcheinan-
lässt sich an vielen Karten auf den nächsten      schen den Einheitsprozess bewerten, hängt         dergewirbelt. Im 30. Jahr der Einheit steht
Seiten erkennen. Ob Bevölkerungsentwick-          auch davon ab, wie sich ihr unmittelbares         Deutschland vor seinem größten wirtschaft-
lung, Alterung oder auch die Einkommensun-        Umfeld entwickelt hat und in welche Zukunft       lichen Einbruch der Nachkriegsgeschichte.
terschiede zwischen Frauen und Männern,           sie schauen. Vor allem Unterschiede in den        Was wird dies langfristig mit den Fortschrit-
hier bleiben klare Ost-West-Linien bestehen.      (wahrgenommenen) Lebensverhältnissen,             ten und Entwicklungen der letzten Jahre
Doch in anderen Bereichen, wie bei den            der Teilhabechancen und Repräsentation            machen, vor allem was bedeutet es für die
Kinderzahlen, Bildungserfolgen oder auch          bleiben bestehen, wenn sich zum Beispiel          Einheit des Landes? Auf dem Arbeitsmarkt,
der Energiewende hat sich die klare Teilung       noch immer Menschen im Osten als Bürger           bei der Gleichstellung oder auch der Bildung?
aufgelöst.                                        zweiter Klasse fühlen oder wenn Ostdeutsche       Wie eine neue Untersuchung der Bertels-
                                                  sich in Medien oder anderen Bereichen kaum        mann Stiftung zeigt, hat sich der gesellschaft-
Auch in ihrem Binnenwanderungsverhalten           oder hauptsächlich negativ vertreten sehen,       liche Zusammenhalt in Deutschland in der
haben sich Ost und West inzwischen angegli-       kann die Bewertung des Einheitsprozesses          Corona-Krise als robust erwiesen und ist in
chen und sind weitgehend auf gleichem Kurs.       schlechter ausfallen, als es die Statistiken      den ersten Monaten nach Ausbruch der Pan-
Mit dem Ende der Abwanderung aus dem              vermuten lassen.                                  demie sogar noch gewachsen. Das zumindest
Osten in den Westen, trat der Strom in die                                                          stimmt hoffnungsvoll im Jubiläumsjahr.
großen Städte stärker in den Vordergrund.         Wichtig ist, dass aus der faktischen Wie-
Heute steht die Politik nahezu überall in         dervereinigung auch eine gefühlte Einheit         Berlin, im August 2020
Deutschland vor der großen Herausforde-           in Vielfalt wird. Überall in Deutschland
rung, einen Ausgleich zwischen den attrakti-      fühlen sich die Menschen am stärksten ihrer       Catherina Hinz
ven und wirtschaftsstarken Zentren und den        Heimatregion verbunden und identifizieren         Direktorin
entlegenen ländlichen Räumen schaffen zu          sich viel weniger entlang der Kategorien          Berlin-Institut für Bevölkerung und
müssen. Die Stadt-Land-Unterschiede stellen       Ost-West. Die vorliegende Publikation zeigt       Entwicklung
jene zwischen Ost und West zunehmend in           eine große Bandbreite von Lebensbereichen
den Schatten.                                     und deren Entwicklung von Familienformen,
                                                  Mediennutzung, Konsumverhalten, sportli-
Neben West-Ost und Stadt-Land prägt ein           chen Vorlieben bis hin zur Mobilität. Es ist
drittes Gefälle entlang der Himmelsrich-          Zeit, auf diese Vielfalt zu schauen und auf die
tungen das Land: Süd-Nord. Die wirt-              sich daraus ergebenen Zukunftschancen für
schaftsstärksten Kreise liegen weiterhin          Menschen in Ost wie West zu bauen.
in Süddeutschland. In Bayern und Baden-
Württemberg verhelfen Automobil- und deren
Zulieferindustrie den Menschen noch immer
zu guten Jobs mit hohen Einkommen. Im
Norden dagegen fehlen große Industrieunter-
nehmen und Länder wie Schleswig-Holstein
schneiden wirtschaftlich schwächer ab.

                                                                                                                                  Berlin-Institut   5
Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist - BMWi
1 | Bevölkerungsentwicklung

DAS DEMOGRAFISCHE ZWISCHEN-
HOCH ZIEHT AM OSTEN VORBEI
Ende 2019 lebten rund 83,2 Millionen                       Millionen ihrer einst 14,8 Millionen Einwoh-      massive Einbruch bei den durchschnittlichen
Menschen in Deutschland – mehr als jemals                  ner.2 Wie groß der demografische Riss zwi-        Kinderzahlen pro Frau unmittelbar nach der
zuvor. Seit der Wiedervereinigung ist die                  schen Ost und West ist, verdeutlichte 2019        Wende, der die ostdeutschen Bundesländer
Bevölkerung damit um rund 3,4 Millionen                    eine Studie des ifo Dresden: Wären nach           auf den Abwärtstrend schickte ( 2). Zwar
gewachsen.1 Vor allem die starke Zuwan-                    1949 die Einwohnerzahlen in Ostdeutschland        hellt sich die demografische Lage mittlerweile
derung aus dem Ausland ab 2012 hat die                     genauso gewachsen wie im Westen, würden           etwas auf: Die Abwanderung aus dem Osten
Bevölkerungszahlen wieder steigen lassen,                  heute rund doppelt so viele Menschen zwi-         in den Westen ist seit 2015 gestoppt und
nachdem sie sich zuvor neun Jahre lang                     schen Rügen und Erzgebirge leben. Stattdes-       auch die Kinderzahlen steigen. Aber die ost-
verringert hatten. Deutschland erlebt derzeit              sen ist die Bevölkerungszahl in Ostdeutsch-       deutschen Flächenländer kämpfen mit dem
ein demografisches Zwischenhoch, das sich                  land auf den Wert von 1905 zurückgefallen.        demografischen Echo. Die schwach besetzten
im Zuge der wieder sinkenden Zuwande-                      Im Westen leben heute doppelt so viele            Jahrgänge der 1990er Jahre führen etwa eine
rungszahlen nach Deutschland aber bereits                  Menschen wie zur Jahrhundertwende.3               Generation später dazu, dass es weniger po-
abschwächt ( 7).                                                                                             tenzielle Eltern gibt. Zumal die ostdeutschen
                                                           Ost und West entwickeln sich also nicht erst      Bundesländer bislang auch kaum von der
Doch Ost und West sind nicht im Wachstum                   seit der Wende demografisch auseinander,          Zuwanderung aus dem Ausland profitieren,
geeint, sondern vielmehr auf gegensätzlichen               sondern schon seit den Staatsgründungen           um diese Jahrgänge „aufzufüllen“ ( 7).
demografischen Pfaden unterwegs. Während                   von Bundesrepublik und DDR im Jahr 1949.
die alten Bundesländer zwischen 1990 und                   Mit dem Fall der Mauer vergrößerte sich die       Die regionalen Verwerfungen
2019 einen satten Einwohnerzuwachs von                     Kluft deutlich: Neben der Abwanderung gen         weiten sich aus
über 5,4 Millionen Menschen verzeichnen                    Westen, durch die der Osten seit 1989 rund
konnten, verloren die fünf ostdeutschen                    1,9 Millionen Einwohner an die alten Bun-         30 Jahre nach der Wiedervereinigung schwin-
Flächenländer im gleichen Zeitraum rund 2,2                desländer verlor ( 6), war es vor allem der       det die Hoffnung, dass die demografische

                                                           Index (1991=100)
Zwischen rasantem Wachstum                                 125
und Niedergang                                                                                                                               Hamburg
                                                           120                                                                               Bayern
Im Jahr 2019 lebten in sechs Bundesländern weniger         115                                                                               Berlin
                                                                                                                                             Baden-Württemberg
Menschen als noch 1991. Neben den fünf ostdeut-
schen Bundesländern gehört noch das Saarland
                                                           110                                                                               Hessen
                                                                                                                                             Schleswig-Holstein
dazu. Am stärksten traf der Bevölkerungsrückgang           105                                                                               Niedersachsen
Sachsen-Anhalt, das fast jeden vierten Einwohner                                                                                             Rheinland-Pfalz
                                                           100                                                                               Bremen
eingebüßt hat. Bayern, Baden-Württemberg oder                                                                                                Nordrhein-Westfalen
auch Hamburg konnten hingegen deutliche Zuwächse           95
von über zehn Prozent verzeichnen. Diese demo-
                                                           90
grafische Zweiteilung dürfte sich künftig weiter                                                                                             Brandenburg
fortsetzen.                                                85                                                                                Saarland
                                                           80                                                                                Sachsen
Bevölkerungsentwicklung in den Bundesländern, Index
                                                                                                                                             Mecklenburg-
(1991=100), 1991 bis 2035 (ab 2018 prognostiziert)         75                                                                                Vorpommern
(Datengrundlage: Statistisches Bundesamt4, Cima5, eigene                                                                                     Thüringen
Berechnung)                                                70
                                                                                     Zensusknick                                             Sachsen-Anhalt
                                                           65

                                                                1990   1995   2000     2005        2010   2015   2020    2025    2030    2035

6   Vielfalt der Einheit
Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist - BMWi
Trennlinie zwischen Ost und West künftig                     Flächenstaates gleichen damit auch künftig      Dresden, Erfurt, Jena, Rostock, Halle und
verblasst. Einer aktuellen Bevölkerungspro-                  jenen der ostdeutschen Flächenländer.7          Magdeburg zu den wenigen demografischen
gnose des Berlin-Instituts zufolge wird in                                                                   Leuchttürmen in den fünf ostdeutschen Flä-
allen fünf ostdeutschen Flächenländern die                   Abgelegene Regionen verlieren –                 chenländern. Ungebremst vollzieht sich aber
Bevölkerungszahl bis 2035 im Vergleich zu                    in Ost wie West                                 der Bevölkerungsrückgang in der ostdeut-
2017 weiter abnehmen – am stärksten mit                                                                      schen Peripherie. Zahlreiche Landkreise an
fast 16 Prozent in Sachsen-Anhalt. Nicht viel                In den ostdeutschen Bundesländern vollzog       den Rändern Brandenburgs, im Norden und
besser sind die Aussichten für Thüringen und                 sich der Bevölkerungsrückgang in den            Osten Sachsen-Anhalts oder in den entlege-
Mecklenburg-Vorpommern, wo Verluste von                      1990er Jahren nahezu flächendeckend. Nur        nen Landstrichen in Thüringen und Sachsen
knapp 14 Prozent respektive 11 Prozent zu                    einige Umlandkreise von Berlin, Halle, Leip-    dürften bis 2035 mehr als ein Fünftel ihrer
erwarten sind. In Brandenburg und Sachsen                    zig, Rostock oder Dresden konnten sich dem      Bewohner einbüßen.10
dürfte der prozentuale Bevölkerungsrück-                     Abwärtstrend entziehen und profitierten vom
gang knapp einstellig bleiben. In Berlin                     wachsenden Wunsch der Großstädter nach          Auch in den westlichen Bundesländern kämp-
stehen die Zeichen weiter auf Wachstum.                      „Wohnen im Grünen“ ( 22). Der Traum vom         fen einige ländliche Regionen etwa in Nord-
Fast 11 Prozent mehr Hauptstädter dürfte es                  Eigenheim ging zu Lasten der ostdeutschen       hessen, der Südwestpfalz oder Oberfranken
bis 2035 geben.6                                             Großstädte und verstärkte deren Bevölke-        mit sinkenden Einwohnerzahlen, während
                                                             rungsrückgang. Leipzig, Magdeburg oder Ros-     attraktive Großstädte samt Umland unter
In Westdeutschland ist das Bild zweigeteilt.                 tock verloren im ersten Jahrzehnt der Einheit   einem starken Wachstumsdruck ächzen. Die
Fünf Bundesländer können bis 2035 eine                       mehr als zwölf Prozent ihrer Einwohner. Ihre    bayerischen Städte München, Regensburg
wachsende Bevölkerung erwarten, die                          demografische Entwicklung glich damit jener     und Landshut haben bis 2035 ein Bevölke-
übrigen fünf dürften schrumpfen. Das größte                  in den entlegenen Landstrichen, aus denen       rungsplus von fast 15 Prozent zu erwarten.
Bevölkerungsplus von rund zehn Prozent                       sich nicht täglich in die nächste Großstadt     Für Frankfurt am Main, Mainz und Hamburg
wird Hamburg verzeichnen. Auch die beiden                    pendeln lässt.8, 9                              sieht die Prognose ebenfalls ein Wachstum
wirtschaftsstarken Bundesländer im Süden,                                                                    von über 10 Prozent voraus.13
Baden-Württemberg und Bayern, werden vo-                     Die Großstädte im Osten haben mittlerweile
raussichtlich zulegen – um rund vier Prozent.                auf den demografischen Wachstumspfad            Die demografische Trennlinie verläuft damit
Für das Saarland hingegen werden Verluste                    zurückgefunden. Leipzig kann bis 2035 sogar     nicht nur zwischen Ost und West, sondern
von fast neun Prozent prognostiziert. Die                    bundesweit mit dem größten Bevölkerungs-        zunehmend auch zwischen den attraktiven
demografischen Aussichten des kleinsten                      zuwachs rechnen. Die mittlerweile größte        Großstädten samt Umland und den ländli-
                                                             sächsische Stadt gehört neben Potsdam,          chen Regionen fern der Zentren.

Die demografische Kluft wird größer
Auch wenn sich bis zum Jahr 2035 die Gesamtbevölkerungs-
zahl Deutschlands kaum verändern dürfte, weiten sich die
regionalen Unterschiede aus. Rund 60 Prozent der Kreise
und kreisfreien Städte werden der Prognose des Berlin-Ins-
tituts zufolge bis 2035 an Bevölkerung verlieren. Besonders
hart trifft es Ostdeutschland, wo neben Berlin lediglich
acht weitere Großstädte mit Wachstum zu rechnen haben,
ländliche Kreise aber durchgängig verlieren.

Zensusbereinigte Bevölkerungsentwicklung (1995 bis 2017)
und prognostizierte Bevölkerungsentwicklung (2017 bis
2035) in den Kreisen und kreisfreien Städten, in Prozent
(Datengrundlage: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 11,
Berlin-Institut 12)

    unter -20                 0 bis unter 5
    -20 bis unter -15         5 bis unter 10
    -15 bis unter -10         10 und mehr
    -10 bis unter -5
    -5 bis unter 0

                                                                                                                                         Berlin-Institut   7
Vielfalt der Einheit Wo Deutschland nach 30 Jahren zusammengewachsen ist - BMWi
2 | Kinder und Geburten

KLEINER BABYBOOM IN OST UND WEST
Im Jahr 2011 erreichte die Zahl der Geburten      „Ehekredite“ mit der Geburt von Kindern zu                           Die heftigen Ausschläge der Geburtenziffer
in Deutschland einen historischen Tiefpunkt.      tilgen, zu einem deutlichen Geburtenanstieg.                         im Osten nach der Wiedervereinigung sagen
Rund 663.000 Kinder erblickten damals das         Zum Höhepunkt des „Honecker-Buckels“ im                              dabei nichts über die tatsächliche Famili-
Licht der Welt. Zum Höhepunkt des Baby-           Jahr 1980 bekamen Frauen im Osten durch-                             engröße oder Kinderlosigkeit aus, sondern
booms 1964 waren es mit 1.357.000 Kindern         schnittlich 1,94 Kinder. Doch die Wirkung                            lassen sich auf einen statistischen Effekt zu-
in beiden deutschen Staaten noch mehr als         dieser Maßnahmen hielt nicht lange an. Denn                          rückführen. In der DDR bekamen Frauen mit
doppelt so viele. Seit sieben Jahren erlebt das   der Zuwachs war vor allem dadurch zustande                           durchschnittlich 22 Jahren vergleichsweise
Land nun wieder einen „kleinen“ Babyboom.         gekommen, dass die Frauen in jüngerem Alter                          früh ihr erstes Kind und hatten ihre Familien-
2016 erreichte dieser seinen vorläufigen          und in kürzeren Abständen, aber nicht mehr                           planung in der Regel mit Anfang 30 abge-
Höhepunkt mit rund 792.000 Geburten – der         Kinder bekamen.5, 6                                                  schlossen. Über 30-jährige Frauen im Osten
höchste Stand seit 18 Jahren. 2019 lag die                                                                             hatten somit zu Wendezeiten die gewünschte
Zahl mit 778.000 Geburten wieder leicht           Nach der Wiedervereinigung sackte die                                Familiengröße meist schon erreicht, während
darunter.1 Der Kindersegen dürfte sich in den     Geburtenziffer im Osten dann auf einen                               sich viele jüngere, noch kinderlose Frauen
nächsten Jahren weiter abschwächen. Denn          historisch einmaligen Wert von etwa 0,8                              schnell ihren westdeutschen Geschlechts-
2016 gab es im Vergleich zu 2011 eine halbe       Kindern. Wirtschaftliche Unsicherheiten,                             genossinnen anpassten und die Familien-
Million mehr Frauen im typischen Familien-        aber auch die neu gewonnenen Freiheiten                              gründung in ein höheres Alter verschoben.
gründungsalter zwischen 25 und 39 Jahren          ließen die Ostdeutschen die Familiengrün-                            In der Summe hat dies die Zahl der Geburten
– die Töchter der Babyboomer, die nun selbst      dung erst einmal aufschieben. Erst als sie                           drastisch einbrechen lassen und ein „Gebur-
Nachwuchs bekommen.2 Dieses „demografi-           diese in höherem Alter nachholten, stieg die                         tenloch“ erzeugt.9 Ihr erstes Kind bekommen
sche Echo“ verhallt allmählich, denn künftig      Geburtenziffer wieder.7                                              ostdeutsche Frauen heute mit etwas über 29
rücken wieder schwächer besetzte Jahrgänge                                                                             Jahren und sind damit kein Jahr mehr jünger
ins potenzielle Familiengründungsalter nach.3                                                                          als Erstgebärende in Westdeutschland.10

Absturz und Aufholjagd im Osten                   Stagnation im Westen, große Schwankungen im Osten

                                                  Die Fertilitätsrate hat sich in den beiden deutschen Staaten unterschiedlich entwickelt. Während sie im
Doch nicht nur die gewachsene Zahl an po-
                                                  Westen nach dem „Pillenknick“ relativ konstant blieb, unterlag sie im Osten starken Schwankungen. Seit
tenziellen Müttern trägt zum Geburtenanstieg      Mitte der 2000er Jahre gleichen sich die Fertilitätsraten in beiden Landesteilen wieder einander an.
bei, sondern auch die wieder gestiegene
durchschnittliche Kinderzahl je Frau. Im Jahr     Kinderzahl je Frau
2019 lag die zusammengefasste Geburten-           2,8
                                                                              Babyboom
                                                  2,6
ziffer bei 1,54 Kindern – Mitte der 1990er
                                                  2,4
pendelte sie noch um den Wert von 1,25.4
                                                  2,2
Unterschiede zwischen Ost und West sind                                                              Honecker-Buckel
                                                  2,0
dabei kaum noch zu erkennen.
                                                  1,8
                                                                                                                              Westdeutschland
                                                  1,6
Dies war lange anders. Beide deutschen Staa-
                                                  1,4
ten erlebten nach dem „Babyboom“ ab den                                                Pillenknick
                                                  1,2
späten 1960er Jahren den „Pillenknick“. In        1,0
                                                                                                                                                 Ostdeutschland
Westdeutschland verharrte die durchschnitt-       0,8
                                                                                                          Geburtenloch
liche Kinderzahl pro Frau daraufhin seit Ende     0,6
der 1970er Jahre für mehrere Jahrzehnte
                                                                       1960

                                                                                                                       1990
                                                                                                        1980
                                                                                       1970
                                                      1950

                                                                                1965

                                                                                                                                1995

                                                                                                                                       2000

                                                                                                                                              2005

                                                                                                                                                     2010

                                                                                                                                                            2015

                                                                                                                                                                   2020
                                                                                                               1985
                                                                                              1975
                                                             1955

bei etwa 1,4. Im Osten führten Anreize zum
Kinderkriegen, wie bessere Betreuungs-
angebote oder die Möglichkeit, staatliche         Zusammengefasste Geburtenziffer in West- und Ostdeutschland, 1950 bis 2019
                                                  (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt8)

8   Vielfalt der Einheit
Der Osten wieder kinderreicher

Mitte der 1990er Jahre sanken in den ostdeutschen Ländern die Kinderzahlen je Frau flächendeckend auf historische Tiefstwerte. Während des gesellschaftlichen
Umbruchs schoben die Menschen eine Familiengründung erst einmal auf. Auch in vielen süddeutschen Regionen bekamen Frauen nach und nach weniger Kinder.
In den letzten Jahren zeigen sich nun im gesamten Land wieder steigende Geburtenziffern und Ost-West Unterschiede sind nicht mehr erkennbar.

Zusammengefasste Geburten-               1995                                          2006                                       2017
ziffer in den Kreisen und kreisfreien
Städten, 1995, 2006 und 2017
(Datengrundlage: BBSR12)

    unter 1
    1 bis unter 1,15
    1,15 bis unter 1,30
    1,30 bis unter 1,45
    1,45 bis unter 1,60
    1,60 bis unter 1,75
    1,75 und mehr

Heute liegen die geburtenstärksten Regionen            einem ausländischen Pass.14 Bei Frauen mit               mehr. In Thüringen besuchen 51 Prozent
im Osten der Republik. Im Jahr 2017 fanden             deutscher Staatsangehörigkeit zeigt sich nur             ganztägig eine Krippe oder Kita, in Sachsen-
sich 17 ostdeutsche unter den 27 Kreisen und           ein kleiner Aufwärtstrend. Sie bekamen 2019              Anhalt und Sachsen über 40 Prozent.17, 18
kreisfreien Städten mit einer Geburtenziffer           trotz verbesserter Angebote der Familienpo-
von über 1,8. Das Jerichower Land im Nord-             litik wie Elterngeld Plus oder den Rechtsan-             Eine gute Betreuungsinfrastruktur wird
osten Sachsen-Anhalts ist mit 1,94 Kindern             spruch auf einen Betreuungsplatz im Schnitt              gerade in einer Wissensgesellschaft immer
je Frau sogar der geburtenstärkste Kreis in            1,43 Kinder.15                                           wichtiger. Denn bisher gilt: Je höher der
Deutschland. Den wenigsten Nachwuchs gibt                                                                       Bildungsabschluss von Frauen, desto öfter
es hingegen in westdeutschen Großstädten.              Wer den Erfolg familienpolitischer Maßnah-               entscheiden sie sich gegen Kinder. Im Osten
Von ihnen finden sich 16 unter den 20 Kreisen          men messen will, darf aber nicht nur auf                 Deutschlands war der Zusammenhang
und kreisfreien Städten mit den niedrigsten            die Geburtenziffern schauen. Zunächst gilt               zwischen Bildung und Kinderlosigkeit lange
Geburtenziffern. Schlusslicht ist die bayerische       es Eltern dabei zu unterstützen, familiäre               nicht zu beobachten. Erst nach der Wende
Universitätsstadt Passau mit 1,06 Kindern.             und berufliche Aufgaben gut miteinander in               stieg die Kinderlosigkeit über alle Bildungs-
Solche Zahlen sind aber typisch für Hochschul-         Einklang zu bringen, zum Beispiel mit einem              stufen an – besonders unter den Akademike-
standorte: Dort leben sehr viele junge Frauen,         guten Angebot an Betreuungsplätzen. Hier                 rinnen.19 Zwischen 2008 und 2018 hat sich
die selten bereits Mütter sind.11                      zeigen sich bis heute die unterschiedlichen              die Kinderlosenquote in den ostdeutschen
                                                       Familien- und Frauenbilder in den beiden                 Flächenländern von 7 auf 15 Prozent verdop-
Ein Erfolg der Familienpolitik?                        deutschen Staaten. In der DDR gab es eine                pelt; in den westdeutschen ist sie im gleichen
                                                       flächendeckende Kinderbetreuung. Es                      Zeitraum um vier Prozentpunkte auf 22
Inwieweit die Familienpolitik bei den steigen-         war normal, dass beide Eltern einer Arbeit               Prozent gestiegen. Trotz Annäherung bleiben
den Kinderzahlen eine Rolle gespielt hat, ist          nachgingen. Im Westen dagegen fand die                   im Westen noch immer ein Drittel so viele
umstritten. Denn zum neueren „Babyboom“                Kinderbetreuung im Wesentlichen in der                   Frauen kinderlos wie im Osten.20 Der Blick in
hat auch die Zuwanderung der letzten Jahre             Familie statt und viele Frauen mussten sich              die ostdeutsche Vergangenheit zeigt: Gute
beigetragen, bei der viele Frauen im Familien-         zwischen Beruf und Nachwuchs entscheiden                 und flächendeckende Betreuungsangebote
gründungsalter nach Deutschland gekommen               ( 12).16 Das spiegelt sich bis heute in den              können dazu beitragen, dass die Entschei-
sind. Viele von ihnen stammen aus Ländern,             Betreuungsquoten wider: In Bayern kommen                 dung für eine Familie nicht gleichzeitig eine
in denen große Familien noch die Norm sind.13          gerade einmal 10,6 Prozent aller Kinder unter            Entscheidung gegen eine Karriere sein muss.
Entsprechend hoch war 2019 die Gebur-                  3 Jahren ganztags in einer Betreuung unter,
tenziffer mit 2,06 Kindern bei Frauen mit              in Baden-Württemberg mit 11 Prozent kaum

                                                                                                                                                 Berlin-Institut   9
3 | Familien und Haushalte

IMMER WENIGER LEBEN ZUSAMMEN
Wie und mit wem Menschen in Deutschland           wohner der ostdeutschen Länder allein oder                Die Verkleinerung der Haushalte hat verschie-
heute Küche, Bad und Schlafzimmer teilen,         nur mit einer weiteren Person, im Westen                  dene Ursachen. Junge Menschen gründen
ist vielfältiger geworden. Ohne Trauschein        sind es 53 Prozent. Die meisten Single-Haus-              immer später im Leben ihre eigene Familie
zusammen zu wohnen, ist für Paare mit oder        halte finden sich heute wie damals in den                 ( 2). Entsprechend länger leben sie nach
ohne Kinder schon länger nichts Ungewöhn-         Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen.                  dem Auszug aus dem Elternhaus allein oder
liches mehr. Und im Falle einer Trennung          In mehr als der Hälfte der Haushalte dieser               ohne Kinder zusammen mit einem Partner.
entstehen mit den „Patchwork-Familien“ ganz       Großstädte lebt heute nur eine Person. Im                 Im Osten fällt dies besonders stark ins Ge-
neue Konstellationen des Zusammenlebens.          bundesweiten Schnitt ist dies inzwischen in               wicht. Lebten dort Anfang der 1990er Jahre
Auch Lebens- und Wohngemeinschaften –             42 Prozent aller Haushalte der Fall.2                     knapp 13 Prozent der Männer und weniger als
vom Mehrgenerationen-Hausprojekt bis zur                                                                    10 Prozent der Frauen unter 30 Jahren allein,
Senioren-WG – liegen im Trend, zumal sie in                                                                 sind es heute bei den Männern fast 40 und
einer alternden Gesellschaft ein probates Mit-                                                              bei den Frauen mehr als 25 Prozent. Während
tel gegen Einsamkeit sind. Trotz aller Freiheit
beeinflussen aber weiterhin kulturelle Prä-       Schrumpfung im ganzen Land
gungen und politische Rahmenbedingungen
das Zusammenleben der Menschen.                   Zur Wiedervereinigung lebten in den ostdeutschen Ländern deutlich mehr Menschen unter einem Dach als dies
                                                  im Westen der Fall war. Spitzenreiter war Mecklenburg-Vorpommern mit 2,6 Personen. Neben höheren Ge-
                                                  burtenzahlen in den 1980er Jahren dürfte der Wohnraummangel der DDR dafür verantwortlich gewesen sein:
Immer weniger Menschen wohnen gemein-             Junge Erwachsene blieben länger im Elternhaus wohnen. Abwanderung, Alterung und der massive Geburten-
sam unter einem Dach. 1991 lebten in den          rückgang in den 1990er Jahren haben die Haushaltsgrößen im Osten schnell sinken lassen. So sind es heute die
rund 35 Millionen Haushalten in Deutschland       Menschen im Süden und Westen der Republik, die vergleichsweise große Haushalte führen.
im Mittel noch 2,27 Personen. 2018 war der
Durchschnitt in den inzwischen 41 Millionen       Mecklenburg-Vorpommern
Haushalten unter zwei Personen gefallen.                      Brandenburg
Obschon der Trend zu kleineren Haushalten                        Thüringen
älter ist als das wiedervereinigte Deutsch-                 Sachsen-Anhalt
land, hat er im Osten erst mit dem Fall der
                                                            Rheinland-Pfalz
Mauer deutlich an Fahrt gewonnen. Teilten
                                                                    Bayern
sich Anfang der 1990er Jahre dort noch 2,31
Personen Küche und Bad und damit mehr als                          Sachsen
die 2,26 im Westen, so sind es heute mit 1,88                Niedersachsen
im Osten merklich weniger Personen als im              Baden-Württemberg
Westen mit 2,02.1                                                   Hessen
                                                        Schleswig-Holstein
Ostdeutsche Männer
                                                       Nordrhein-Westfalen
häufiger alleinlebend
                                                                  Saarland                                                                                  1991
Überall im Land sind in den letzten 30 Jahren                      Bremen                                                                                   2001
„große“ Haushalte weniger geworden, zu                               Berlin                                                                                 2011
denen drei und mehr Personen gehören.                                                                                                                       2018
                                                                  Hamburg
Wohnten Anfang der 1990er Jahre noch mehr
                                                                          0,0 0,2 0,4 0,6 0,8         1,0    1,2   1,4   1,6   1,8   2,0   2,2    2,4 2,6
als die Hälfte der Bewohner Deutschlands                                                                                                         Bewohner
mit mindestens zwei anderen Personen zu-
sammen, hat sich das Verhältnis inzwischen        Durchschnittliche Größe der Privathaushalte in      *Privathaushalte am Haupt- und Nebenwohnsitz; 1991 und
                                                  den Bundesländern, 1991, 2001, 2011 und 2018*       2001 Stichmonat, 2011 und 2018 Jahresdurchschnitt
umgekehrt. Heute leben 61 Prozent der Be-
                                                  (Datengrundlage: BIB3)

10 Vielfalt der Einheit
sich ostdeutsche Frauen aber heute kaum          Zwar leben inzwischen mehr Menschen in            Auch alleinerziehende Mütter oder Väter sind
noch von ihren westdeutschen Gegenübern          Haushalten ohne Kinder. Die durchschnittli-       im Osten der Republik selbstverständlicher
unterscheiden, führen ostdeutsche Männer         che Größe von Familien* ist aber seit Mitte       anzutreffen. Zwischen Thüringen und Meck-
weit häufiger ihren Haushalt allein – und dies   der 1990er Jahre nahezu konstant geblieben.       lenburg-Vorpommern leben in knapp einem
über fast alle Altersgruppen hinweg. Hier        Zu einer westdeutschen Familie gehören            Viertel der Familien Kinder mit nur einem
zeigen sich immer noch die Spätfolgen der        heute im Schnitt 3,45 Personen, zu einer          Elternteil zusammen, zwischen Schleswig-
starken Abwanderung junger Frauen bis zur        ostdeutschen 3,28. Im Osten steigt seit Mitte     Holstein und Bayern dagegen nur in einem
Jahrtausendwende. Erst im hohen Alter ab 70      der 2000er Jahre sogar die Zahl der Mitglie-      reichlichen Sechstel. In beiden Landesteilen
Jahren sind Männer in Ost und West in ihrer      der von Familienhaushalten wieder leicht an.      sind es aber weiterhin mehrheitlich Frauen,
Haushaltsgröße vereint.4, 5                      War die Kinderzahl in ostdeutschen Familien       die eine Familie ohne Partner stemmen.13
                                                 bis 2006 auf 1,43 im Mittel gesunken, leben
Weniger Familien, mehr ältere Singles            dort inzwischen wieder 1,58 minderjährige
                                                 Kinder in einer Familie. Der Unterschied zu       Heirat gehört nicht überall dazu
Kleinere Haushalte gibt es auch, weil der        westdeutschen Familien, zu denen heute
                                                                                                   Unterschiedliche Vorstellungen zu Ehe und Kindern
Anteil der Familien an allen Haushalten          im Schnitt 1,65 Kinder gehören, ist damit
                                                                                                   aus der Zeit vor der Wiedervereinigung haben
abnimmt. Noch Mitte der 1990er Jahre lebte       zurückgegangen.10                                 weiterhin Bestand. Dass vor der Geburt des ersten
mehr als die Hälfte der Bevölkerung Deutsch-                                                       Kindes geheiratet wird, ist gerade im Süden bis heute
lands in Familienhaushalten, das heißt Er-       Trauschein bleibt für viele Eltern                für viele eine Selbstverständlichkeit. In Landkrei-
wachsene zusammen mit Kindern. Seit dem          die Norm                                          sen wie Böblingen und Calw haben vier von fünf
                                                                                                   Neugeborenen verheiratete Eltern. Mit Ausnahme des
Beginn der 2010er Jahre bilden kinderlose
                                                                                                   thüringischen Eichsfelds kommen dagegen in allen
Paare sowie Alleinstehende die Mehrheit.6        Die Ehe gilt schon länger nicht mehr als          ostdeutschen Kreisen und kreisfreien Städten mehr
                                                 Voraussetzung für Paare, eine Familie zu          als die Hälfte der Kinder unehelich zur Welt.
Dahinter steht ein wachsender Anteil älterer     gründen. Trotzdem sind in drei von fünf
Menschen, bei denen die Kinder längst aus        Familien mit minderjährigen Kindern die
dem Haus sind. Waren 1990 13 Prozent der         Eltern miteinander verheiratet. Kündigen sich
Bevölkerung Deutschlands 67 Jahre und            Kinder an, ist dies für viele der Anlass, den
älter, sind es heute im Durchschnitt bereits     Weg zum Standesamt zu beschreiten, jeden-
über 19 Prozent.7 Insbesondere in den fünf       falls im Westen der Republik. Dort sind zwei
ostdeutschen Ländern trägt die Alterung der      Drittel der Mütter bei der Geburt ihres ersten
Bevölkerung wesentlich zum Schrumpfen der        Kindes bereits verheiratet, im Osten ist es nur
Haushaltsgrößen bei. Denn mit zunehmenden        etwas mehr als ein Drittel.11
Alter leben Menschen immer häufiger allein,
vor allem Frauen. Ein reichliches Viertel der    Und auch später leben in einem Viertel der
60- bis 69-Jährigen und die Hälfte der über      ostdeutschen Familien die Eltern in „wilder“
69-Jährigen lebten 2016 in einem Einperso-       Ehe, im Westen der Republik ist das nicht
nenhaushalt, von den Männern dieser Alters-      einmal in jeder zehnten Familie der Fall.12
gruppen ungefähr jeder Fünfte.8, 9 Mit den       Ein Zusammenwachsen der Einstellungen ist
Babyboomern, die nun in diese Altersgruppe       hier kaum erkennbar. Ein Grund könnte darin
vorrücken, dürfte die Zahl der Senioren-         liegen, dass die Einkommensunterschiede
Singlehaushalte noch einmal stark ansteigen.     zwischen den Geschlechtern im Osten sehr
Doch im Unterschied zu vorangegangenen           viel geringer sind als im Westen ( 12). Die
Generationen ziehen die Babyboomer auch          steuerrechtlichen Vorteile, die Ehepaare ge-
Alternativen zum Alleinleben im Alter in         nießen, bieten für ostdeutsche Paare keinen
Betracht – von der Alten-WG mit Freunden         ausreichenden Anreiz zu heiraten.
bis zum Mehrgenerationen-Wohnen.                                                                   Anteil von Lebendgeborenen          unter 40
                                                                                                   mit verheirateten Eltern in         40 bis unter 50
                                                                                                   den Kreisen und kreisfreien
                                                                                                   Städten, in Prozent, 2017           50 bis unter 60
                                                                                                   (Datengrundlage: Statistische       60 bis unter 70
                                                 * Als Familie werden hier alle Lebensformen mit   Ämter des Bundes und der            70 bis unter 80
                                                 Kindern gezählt                                   Länder14)                           80 und mehr

                                                                                                                                     Berlin-Institut 11
4 | Alterung, Pflege und Sterben

EINE NEUE NORMALITÄT
Als die DDR kurz nach ihrem 40. Geburtstag             Und so ist in den dreißig Jahren seit der               sen Lüchow-Dannenberg oder Ostholstein
aufhörte zu existieren, blickte eine ver-              deutschen Einheit die Bevölkerung zwischen              gehören mehr als ein Viertel der Bewohner
gleichsweise junge Bevölkerung in eine unge-           Rügen und Erzgebirge schneller gealtert als             dieser Altersgruppe an.6, 7 Gemeinsam teilen
wisse Zukunft. Zum Zeitpunkt der Wieder-               zwischen Sylt und Alpen. Während bundes-                diese Regionen das Schicksal, dass sie einen
vereinigung war rund jeder vierte Bewohner             weit das Durchschnittsalter inzwischen bei              großen Teil ihres Nachwuchses an attrakti-
Ostdeutschlands noch jünger als 20 Jahre, im           etwas mehr als 44 Jahren liegt, hat es in               ve Großstädte verlieren, der meist nicht in
damals jüngsten Bundesland Mecklenburg-                Sachsen-Anhalt – dem Bundesland mit der                 die Heimatregion zurückkehrt ( 6). In den
Vorpommern hatten die unter 20-Jährigen                ältesten Bevölkerung – schon fast 48 Jahre              Großstädten bremst hingegen der Zustrom
sogar einen Anteil von fast 30 Prozent. Im             erreicht. Auch in Thüringen, Brandenburg                der Bildungswanderer die Alterung – in Ost
Westen dagegen war nur jeder Fünfte jünger             und Mecklenburg-Vorpommern sind die                     wie West. In Leipzig oder Jena ist bislang nur
als 20 Jahre alt. Heute gehört nur noch rund           Menschen im Schnitt bereits älter als 47 Jah-           jeder fünfte, in Köln oder München sogar nur
jeder sechste Einwohner Ostdeutschlands zu             re. Heute sind die Bewohner von Hamburg,                jeder sechste Bewohner 65 Jahre oder älter.8
dieser Altersgruppe.1                                  Berlin und auch Baden-Württemberg jünger
                                                       als der bundesdeutsche Durchschnitt.3                   Die Kreise und kreisfreien Städte, die
Mit der neuen Freiheit und aufgrund der                                                                        heute schon stark gealtert sind, dürften auch
schwierigen Arbeitsmarktsituation in den               Altes Land, junge Stadt                                 künftig zu den ältesten zählen. Es sind vor
folgenden Jahren verließen gerade die                                                                          allem Gebiete in den peripheren Regionen im
Jüngeren ihre Heimatorte gen Westen ( 6).              Sowohl östlich als auch westlich der ehema-             Osten, in denen der Anteil der über 64-Jäh-
Hinzu kam ein drastischer Geburtenknick in             ligen innerdeutschen Grenze altern heute                rigen bis 2035 auf bis zu 40 Prozent und
den 1990er Jahren. Aufgrund der unsicheren             vor allem die ländlichen, abgelegenen und               mehr anwachsen dürfte. Den relativ stärksten
Perspektiven warteten viele Ostdeutsche mit            vom Strukturwandel betroffenen Gebiete                  Zuwachs an Älteren dürften allerdings die
ihrer Familiengründung. Die Geburtenziffer             schneller. Im thüringischen Altenburger                 bislang noch jungen und wirtschaftlich
erreichte Mitte der 1990er Jahre ein histori-          Land, im sächsischen Vogtlandkreis oder in              erfolgreichen ländlichen Regionen im Westen
sches Tief ( 2).2 Die Abwanderung und der              den ostdeutschen Städten Suhl und Dessau-               und vor allem im Süden der Republik erleben.
fehlende Nachwuchs hinterließen Spuren in              Roßlau ist heute schon fast ein Drittel der             Dort leben überproportional viele Menschen
der ostdeutschen Bevölkerungspyramide und              Bewohner 65 Jahre und älter. Aber auch in               aus der Gruppe der Babyboomer, die heute
sorgten für eine rasche Alterung.                      den abgelegenen westdeutschen Landkrei-                 meist noch im Berufsleben stehen, aber bis

Deutschland altert                                     1995                                    2017                                   2035

In den vergangenen Jahrzehn-         unter 20
ten ist die Bevölkerung in           20 bis unter 23
Deutschland deutlich gealtert.
                                     23 bis unter 26
Dieser Trend dürfte sich auch in
                                     26 bis unter 29
den nächsten Jahren fortsetzen.
Während 1995 in den meisten          29 bis unter 32
Kreisen und kreisfreien Städten      32 bis unter 35
noch weniger als 20 Prozent der      35 bis unter 38
Bevölkerung über 64 Jahre alt        38 und mehr
war, dürften es bis 2035 man-
cherorts mehr als 40 Prozent
sein. Vorreiter sind ländliche Re-
gionen im Osten Deutschlands.
Vergleichsweise jung dürften die
attraktiven Großstädte bleiben
– in Ost und West.
                                                 Anteil der über 64-Jährigen in den Kreisen und kreisfreien Städten, in Prozent, 1995, 2017 und 2035 (prognostiziert)
                                                 (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt4, Berlin-Institut5)

12 Vielfalt der Einheit
Wo der Tod in den Alltag drängt                         2017                                               2035

In Teilen Süd- und Nordwestdeutschlands starben
2017 bis zu neun Personen pro 1.000 Einwohner.
Bis 2035 dürfte es kaum noch Kreise geben, deren
Sterberaten so niedrig liegen. Vielerorts werden
dann vermutlich zwischen 12 und 15 Sterbefälle auf
1.000 Einwohner kommen. In den östlichen Bun-
desländern sowie in Teilen von Nordrhein-Westfalen
und Rheinland-Pfalz sind deutlich höhere Raten zu
erwarten.

Sterbefälle pro 1.000 Ein-        unter 9
wohner in den Kreisen und         9 bis unter 12
kreisfreien Städten, 2017
                                  12 bis unter 15
und 2035 (prognostiziert)
(Datengrundlage: Statistisches    15 bis unter 18
Bundesamt21, Berlin-Institut22)   18 bis unter 21
                                  21 und mehr

2035 in den Ruhestand gehen werden. In               mit der Alterung und der steigenden Lebens-       mehr als eine Million Einwohner aus dem Le-
den niedersächsischen Kreisen Vechta und             erwartung wächst die Zahl der Hochbetagten,       ben scheiden.20 Dieser Trend wird mittelfristig
Cloppenburg oder im bayerischen Freising             der 80-Jährigen und Älteren, und damit auch       anhalten, denn die geburtenstarken Babyboo-
dürften 2035 zwischen 55 und 68 Prozent              die Zahl an Menschen, die Unterstützung und       mer-Jahrgänge rücken in ein Alter mit höherer
mehr über 64-Jährige leben als heute.9               Pflege benötigen.12 Ende 2017 lag die Zahl        Sterbewahrscheinlichkeit auf. Immer mehr
                                                     der Pflegebedürftigen in Deutschland bei 3,4      Angehörige und Freunde werden sich deshalb
Ältere sind länger fit – und engagiert               Millionen Menschen.13 Die bereits gealterten      mit dem Sterben beschäftigen müssen.
                                                     ostdeutschen Flächenländer kamen dabei
Das Rentenalter zu erreichen bedeutet heute          auf 5.000 und mehr Pflegebedürftige je            Und die Menschen haben genaue Vorstellun-
nicht mehr den „Ruhestand“ im Wortsinn               100.000 Einwohner. In Bayern waren es da-         gen von ihren letzten Stunden. Die meisten
anzutreten. Heutige Rentner sind oft noch fit        gegen nur rund 3.000.14 Bis 2030 dürfte die       möchten schmerzfrei, gut versorgt, nah an
und wünschen sich auch im Alter sinnvolle            absolute Zahl Pflegebedürftiger in Deutsch-       ihrem gewohnten Leben, sozial eingebunden
Aufgaben. Gerade die Babyboomer bringen              land auf 4,1 Millionen steigen.15 Das wirft die   sowie selbstbestimmt und zufrieden sterben.
gute Qualifikationen mit, haben wertvolle            Frage auf, wer sie versorgen wird. Es mangelt     Darin gleichen sich Ost- und Westdeutsche,
Erfahrungen aus ihrem Berufsleben und                schon heute nahezu bundesweit an Arbeits-         Frauen und Männer, Arme wie Reiche,
möchten die Gesellschaft auch im „dritten            kräften für die Altenpflege.16 Heute wird         Menschen mit und ohne Migrationshinter-
Lebensabschnitt“ mitgestalten.10 Und so              noch gut die Hälfte aller Pflegebedürftigen       grund. Doch es gibt auch Unterschiede: So
steigt der Anteil der engagierten Älteren            ausschließlich durch Angehörige zu Hause          wünschen sich die Bewohner ländlicher
überall im Land ( 25). Unter den über                gepflegt.17 Neben den Partnern erledigen          Regionen eher als Großstädter, dass ihre
64-Jährigen brachten sich 2014 in Baden-             diese Aufgabe vor allem Kinder und Schwie-        Angehörigen im Sterben für sie da sind und
Württemberg und Rheinland-Pfalz über 40              gerkinder. Sie stehen künftig aber seltener       diese von Freunden und Nachbarn unter-
Prozent ehrenamtlich ein, in Brandenburg             zur Verfügung, wenn viele Hochbetagte von         stützt werden.23
und Mecklenburg-Vorpommern mehr als 30               morgen keine Nachkommen haben oder
Prozent. Zur Jahrtausendwende waren im               diese weit entfernt leben.18                      Viele ostdeutsche Regionen sind Vorreiter im
Osten weniger als 20 Prozent und im Westen                                                             demografischen Wandel und müssen bereits
nur 24 Prozent der Altersgruppe ehrenamt-            Das Sterben rückt näher                           heute Aufgaben lösen, die früher oder später
lich aktiv.11                                                                                          auch in der restlichen Republik auf die Agenda
                                                     Mit der Alterung wird auch die Zahl der Ster-     rücken. Wie gut sie den Bedürfnissen der
Die Belastungsprobe kommt                            befälle künftig merklich steigen. 2019 starben    wachsenden Zahl Älterer gerecht werden oder
                                                     in Deutschland 939.520 Menschen, in den           wie es ihnen gelingt, die große Engagementbe-
Dennoch fordert die zunehmende Zahl an               1990er Jahren waren es jährlich noch unter        reitschaft für sich zu nutzen, dürfte Kommu-
Älteren die Gesellschaft auch heraus. Denn           900.000.19 Schon bald werden jedes Jahr           nen im ganzen Land als Lehrbeispiel dienen.

                                                                                                                                     Berlin-Institut 13
5 | Gesundheit und Lebenserwartung

WOHLHABENDE WERDEN ÄLTER
Bis Mitte der 1970er Jahre nahm die                     Der ostdeutsche Aufholsprung geht dabei vor      schen. Schon 20 Jahre nach der Einheit hat-
Lebenserwartung auf beiden Seiten der                   allem auf die nachgeholte „kardiovaskuläre       ten sich viele gesundheitliche Unterschiede
Mauer in annähernd gleichem Maße zu. Dann               Revolution“ und die damit gewonnenen Jahre       verringert oder waren ganz verschwunden.
verlangsamte sich der Anstieg in der DDR,               im höheren Alter zurück. Im Westen hatte         Der Trend hat sich bis heute fortgesetzt.6
während er sich in der alten Bundesrepublik             die Medizin bereits seit Ende der 1960er
fortsetzte.1 So konnten kurz nach der Wie-              Jahre dazu beigetragen, die Sterblichkeit an     Soziale Ungleichheit bestimmt
dervereinigung geborene Jungen im Westen                Herz-Kreislauf-Erkrankungen von Menschen         über Lebensdauer
durchschnittlich auf 73 Jahre und Mädchen               im Rentenalter erheblich zu verringern. In der
auf 80 Jahre Lebenszeit hoffen. Das waren               ehemaligen DDR stand dagegen im Vorder-          Wie stark die Menschen auf ihre Ernährung
3,2 respektive 2,3 Lebensjahre mehr als für             grund, die Arbeitskraft der Bevölkerung im       und Gesundheit achten, hängt auch von
Neugeborene im Osten.2                                  Erwerbsalter zu erhalten. Nach der Wieder-       ihrer sozioökonomischen Situation, im
                                                        vereinigung schloss der Osten rasch auf.4        Wesentlichen von Bildung, Erwerbsstatus
In den Nachwendejahren verringerten sich                                                                 und Einkommen sowie gesellschaftlichen
die Differenzen zwischen beiden Landes-                 Die Menschen in der DDR hatten insgesamt         Teilhabechancen ab. Die Risikofaktoren
teilen. Für Mädchen macht es seit Mitte der             ein ungesünderes Leben geführt als jene in       für krankhaftes Übergewicht, Diabetes,
2000er Jahre keinen Unterschied mehr, ob                der alten Bundesrepublik. Sie tranken mehr       Herz-Kreislauf-Erkrankungen und manche
sie östlich oder westlich der ehemaligen                Alkohol und vor allem die Männer rauchten        Arten von Krebs sind häufiger bei denjeni-
deutsch-deutschen Grenze zur Welt kommen.               öfter. Bluthochdruck und krankhaftes Überge-     gen zu finden, die eine niedrigere Bildung
Ihre durchschnittliche Lebenserwartung                  wicht waren stärker verbreitet als im Wes-       und weniger Einkommen haben. Arme und
beträgt zwischen Aachen und Zittau heute 83             ten.5 An Herz-Kreislauf-Erkrankungen – also      sozial Schwache leben oft in einem wenig
Lebensjahre. Auch für ostdeutsche Jungen ist            an Herzinfarkt und anderen Erkrankungen          gesundheitsfördernden Umfeld, zudem setzt
seit Anfang der 1990er Jahre die Lebenser-              der Herzkranzgefäße, Herzinsuffizienz oder       sie womöglich ihre soziale, familiäre oder
wartung gestiegen, doch bis heute bleibt eine           Schlaganfall – starben die Ostdeutschen rund     finanzielle Situation unter Druck.7 Langzeit-
Lücke von 1,3 Jahren zu ihren westdeutschen             eineinhalb Mal häufiger als die Westdeut-        stress wiederum schwächt das Immunsys-
Geschlechtsgenossen.3

Wer gut verdient, lebt länger

Vor allem in den wirtschaftlich schwachen Regionen
der östlichen Peripherie und im Ruhrgebiet ist die
Lebenserwartung relativ niedrig. Im wohlhabenden
Süden leben die Menschen dagegen besonders lang.
Je besser Menschen finanziell dastehen, je besser sie
gebildet sind, je mehr Möglichkeiten sie haben, am
gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich selbst
zu verwirklichen, desto länger leben sie im Schnitt.

Median der geschätzten Lebenserwartung bei Geburt
von Frauen und Männern in den Kreisen und kreisfreien
Städten, Altersjahre, 2015 bis 2017
(Datengrundlage: Roland Rau & Carl P. Schmertmann19)

   unter 82                  unter 77
   82 bis unter 83           77 bis unter 78
   83 bis unter 84           78 bis unter 79
   84 bis unter 85           79 bis unter 80
   85 und mehr               80 und mehr

14 Vielfalt der Einheit
tem, erhöht so die Anfälligkeit für Infektionen   Bundesländern als im Westen und in Berlin:      Stressland Deutschland
und andere Erkrankungen.8 Wer dagegen eine        riskanter Alkoholkonsum bei Männern und
                                                                                                  Überall in Deutschland steht mehr als die Hälfte der
höhere Bildung genießen durfte und über ein       bei beiden Geschlechtern Mangel an körperli-
                                                                                                  Menschen nach eigener Aussage manchmal oder
sicheres Einkommen verfügt, hat es leichter,      cher Bewegung, Bluthochdruck, krankhaftes       häufig unter Stress. Ob dies das Leben verkürzt, lässt
einen gesundheitsfördernden Lebensstil zu         Übergewicht (Adipositas) und Diabetes.14 In     sich anhand dieser Daten nicht sagen. Interessanter-
pflegen.9                                         Ostdeutschland ist ein deutlich geringerer      weise ist aber das Stresslevel dort besonders hoch,
                                                  Anteil der Bevölkerung in einem Sportverein     wo die Menschen im Schnitt gesund und lange leben
                                                                                                  – vor allem in Baden-Württemberg und Bayern. Dort
Soziale Ungleichheit bestimmt somit               organisiert als in Westdeutschland ( 27).
                                                                                                  läuft die Wirtschaft gut und es gibt viel Arbeit. Genau
maßgeblich über Unterschiede bei der              Das ist ein Indiz für Inaktivität, mag aber     das stresst offenbar am meisten: Viele belastet ein
Lebenserwartung.10 Heute ist der Abstand          auch darauf zurückgehen, dass Vereinssport      zu hohes Arbeitspensum, sie fühlen sich gehetzt oder
zwischen wirtschaftlich starken und struk-        zu DDR-Zeiten hauptsächlich für Leistungs-      stehen unter konstantem Termindruck.
turschwachen Regionen aussagekräftiger            sportler da war. In Mecklenburg-Vorpom-
als jener zwischen Ost und West. So weist         mern, Sachsen-Anhalt und Thüringen findet
das prosperierende Baden-Württemberg mit          sich Adipositas am häufigsten, während der
84 Jahren für Frauen und 80 für Männer die        Bevölkerungsanteil krankhaft Übergewichti-
höchste durchschnittliche Lebenserwartung         ger in Hamburg am geringsten ausfällt. Beim
auf. Die niedrigste haben Frauen mit 82           Rauchen, einem Risikofaktor für Erkran-
Jahren im Saarland und Männer mit 76 Jahren       kungen der Gefäße und der Lungen, liegen
in Sachsen-Anhalt.11                              Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen
                                                  zusammen mit dem Stadtstaat Bremen vorn,
Kleinräumig fallen die Differenzen noch deut-     am niedrigsten ist die Rauchquote für Männer
licher aus: Nach neuen Modellrechnungen           und Frauen zusammengenommen in Bayern.
können sich Frauen im reichsten deutschen         Dabei haben die Frauen im Osten, die zur Zeit
Landkreis, dem bayerischen Starnberg, da-         der Wiedervereinigung noch deutlich seltener
rüber freuen, durchschnittlich 85,7 Jahre alt     zur Zigarette griffen als die Westfrauen,
zu werden. Ihre Geschlechtsgenossinnen im         seither im negativen Sinne aufgeholt.15
sachsen-anhaltinischen Salzlandkreis, einer
ländlichen Region mit geringen gesellschaft-      Im Osten ist Impfen normaler
lichen Teilhabechancen für die Bewohner
( 21), kommen auf 81,8 Jahre. Bei den             Beim Infektionsschutz liegen die westdeut-
Männern ist die Diskrepanz noch größer: Im        schen Bundesländer weit hinter den ostdeut-
Landkreis München, Teil des „Speckgürtels“        schen zurück. Bis zur Jahrtausendwende
der Bayernmetropole, können sie auf 81,2          lagen die Impfquoten bei Kindern im Osten       Anteil Befragter, die manch-         54
                                                                                                  mal oder häufig im Stress            57
Jahre Lebenszeit hoffen, in Bremerhaven, wo       deutlich über jenen im Westen, inzwischen       sind, in den Bundesländern,
immer noch ein tiefgreifender Strukturwan-        haben sie sich angenähert.16, 17 In der DDR                                          62
                                                                                                  in Prozent, 2016
del nachwirkt, haben sie nur 75,8 Jahre.12        hatte es für die meisten ansteckenden Krank-    (Datengrundlage: Techniker           63
                                                  heiten zumindest eine teilweise Impfpflicht     Krankenkasse20)                      66
                                                                                                                                       68
Wo sich Ost und West immer                        gegeben. Vielen Ostdeutschen gilt daher bis
noch unterscheiden                                heute die präventive Impfung als selbstver-
                                                  ständlich. Noch 2016 befürworteten mit 85
Trotz weitgehender Angleichung zwischen           Prozent zehn Prozent mehr Ostdeutsche Imp-
Ost und West sind bei einigen Gesundheits-        fungen als Westdeutsche.18 Falls in nächster
indikatoren nach wie vor Differenzen zu           Zukunft ein wirksamer Impfstoff gegen das
beobachten – etwa bei der kardiovaskulären        Coronavirus zur Verfügung steht, dürfte das
Sterblichkeit. Im Jahr 2018 gingen im Osten       Thema wieder hochkochen.
191 Todesfälle je 100.000 Einwohner auf
das Konto von Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
im Westen waren es 155.13 Auch einige der
wichtigsten Risikofaktoren dafür finden
sich nach wie vor häufiger in den östlichen

                                                                                                                                     Berlin-Institut 15
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