Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.

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Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
Von der Vielfalt zum Mangel.
Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
Titelbild: © FIAN International

August 2017

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FIAN Österreich
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Autorin: Melanie Ossberger
Unterstützung durch: Daniel Gusenbauer, Andrea Anna Kalcher

Layout: Bernadette Gugerell

Illustrationen: solo-ohne.com

Mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Für den Inhalt sind allein
die Herausgeber verantwortlich. Der Inhalt kann in keiner Weise als Standpunkt der Österreichischen Entwick-
lungszusammenarbeit angesehen werden.

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Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
Inhaltsverzeichnis
 Abkürzungsverzeichnis4
 Vorwort              5
 Infobox 1: Ist genug für alle da?6

 1. Von Menschenrechten und Staatenpflichten7
 Infobox 2: AkteurInnen und Prozesse der internationalen Ernährungspolitik8

 2. Von Mangel, Vielfalt und Anreicherung 9
 2.1. Nährstoffe im Körper und in der Nahrung                         9
 Infobox 3: Die „doppelte Last“ der Mangelernährung im Globalen Süden10
 2.2. Prävalenz und Folgen von Mangelernährung11
 Exkurs 1: Biodiversität 11
 2.3. Arten und Nutzung angereicherter Nahrungsmittel13
 Exkurs 2: Frauen und Mangelernährung                                13
 Infobox 4: Jodanreicherung in Österreich                            14
 Infobox 5: Produktion von Vitaminen14
 Infobox 6: EU-Health Claim ‚adelt‘ ungesunde Lebensmittel 15

 3. Von Konzerndominanz und Ernährungspolitik16
 3.1. AkteurInnen der Anreicherungsallianzen16
 Exkurs 3: Bill und Melinda Gates – die Philanthropen?18
 3.2. Das Landwirtschaftsmodell der Anreicherungsallianzen                                     20
 3.2.1. KleinbäuerInnen im Abseits: Konzerne dominieren Wertschöpfungskette                    20
 Infobox 7: Die Produktivität der KleinbäuerInnen20
 Infobox 8: Die grüne Revolution - der Ausbau des agroindustriellen Modelles21
 3.2.2. Aneignung von Ressourcen: Anreicherungsallianzen privatisieren Saatgut und Land        22
 3.2.3. Exportorientierung: Konzerne diskriminieren lokale Märkte und Bevölkerung              22
 3.3. Ziele und Ansätze der Anreicherungsallianzen23
 3.3.1. Ausrichtung an Wirtschaftsinteressen: Konzerndominanz unterminiert Recht auf Nahrung   23
 3.3.2. Entpolitisierung: Allianzen ignorieren Ursachen für Mangelernährung                    25
 3.3.3. Betroffene ohne Stimme: Bedürfnisse der zentralen Gruppen bleiben unberücksichtigt     25
 Infobox 9: TNC – Finanzkräftige Player aus dem Globalen Norden25
 3.3.4. Keine Rechenschaftspflicht: Staatenpflichten und Konzernverantwortung werden ignoriert 26
 3.3.5. Befehlsempfänger Süden: Machtasymmetrie wird aufrechterhalten                          26
 3.3.6. Forschungslücke I: Lokale Vielfalt und Defizite sind ungenügend analysiert             27
 Infobox 10: Wie unabhängig ist die Forschung zur Anreicherung von Lebensmitteln?27
 3.3.7. Forschungslücke II: Wirksamkeit von Anreicherung bleibt unhinterfragt                  28
 Exkurs 4: Engagement der Anreicherungsallianzen in Afrika am Beispiel von Kenia28
 3.4. Folgen und Defizite des Anreicherungstrends29
 3.4.1. Fehlende Nachhaltigkeit: Mangelernährung wird nur kurzfristig gemildert                29
 3.4.2. Verdrängung lokaler Lebensmittel: Nährstoffreiche Alternativen werden ersetzt          29
 Exkurs 5: Gefährliche Irreführung - Der Milchpulver-Skandal29
 3.4.3. Kaum regionale Wertschöpfung: Anreicherungsallianzen favorisieren profitable Märkte    30
 Exkurs 6: Ready-To-Use-Therapeutic Food: Hilfsmaßnahme mit Risiko30
 3.4.4. Hürde Armut: Angereicherte Lebensmittel erreichen lokale Bevölkerung nicht             31
 3.4.5. Ungenügende Umsetzung: Anreicherungs-Vorgaben werden nicht erfüllt                     31
 3.4.6. Gesundheitliches Risiko I: Mit Nährstoffen angereichert ist nicht gleich gesund        31
 3.4.7. Gesundheitliches Risiko II: Gefahren durch Gentechnik sind unabsehbar                  32
 Exkurs 7: Gesund durch Fertignahrung? 32
 3.4.8. Gezielte Meinungsbildung: Definition gesunder Lebensmittel wird verzerrt               33
 Exkurs 8: PPP und der ‚Multistakeholder-Ansatz‘: Instrumente für ‚Corporate Capture‘34

 4.   Von Mangelernährung und dem Recht auf Nahrung 35
 4.1. Menschenrechtsvergehen der Anreicherungsallianzen            35
 4.2. Menschenrechtsbasierter Kampf gegen Mangelernährung          36
 Infobox 11: Agrarökologie – näher an der Natur und an den Menschen36
 Netzwerkgrafik   38
 Nährstofftabelle 39
 Endnoten 40

                                                                                               3
Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
Abkürzungsverzeichnis
AGRA     Alliance for a Green Revolution in Africa
BMGF     Bill and Melinda Gates Foundation
CEDAW    Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women
CRC      Convention on the Rights of Children
CFS      Committe on World Food Security
CGIAR    Consultative Group on International Agricultural Research
ETO      Extraterritorial Obligations
EU       Europäische Union
FAO      Food and Agriculture Organization of the United Nations
FFI      Food Fortification Initiative
FWA      Fortify West Africa
GAFSP    Globale Agriculture and Food Security Program
GAIN     Global Alliance for Improved Nutrition
G8       Gruppe der 8 größten Industrienationen
G20      Gruppe der 20 größten Industrienationen
GFANRI   Global Food and Nutrition Redesign Initiative
GRI      Global Redesign Initiative
ICN2     Second International Conference on Nutrition
IFAD     International Fund for Agricultural Development
IFC      International Finance Corporation
ILO      International Labour Organization
NAFSN    New Alliance for Food Security and Nutrition
NI       Nutrition International
NRO      Nichtregierungsorganisation
PPP      Public Private Partnerships
RUTF     Ready to use therapeutic food
SCN      Standing Committee on Nutrition
SDG      Sustainable Development Goals
SUN      Scaling Up Nutrition
TNC      Transnational Corporation
UN       United Nations
UNICEF   United Nations International Children’s Fund
USAID    United States Agency for International Development
WEF      World Economic Forum
WFP      World Food Programme
WHO      World Health Organization
WHA      World Health Assembly
WSK      wirtschaftliche, soziale, kulturelle (Rechte)

4
Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
Vorwort
       Was wir essen ist ebenso wichtig wie die Frage,        komplexen Ursachen von Mangelernährung, die die-
   wieviel wir essen. Rund zwei Milliarden Menschen,          selben sind wie jene von Armut und Hunger, werden
   mehrheitlich Frauen und Mädchen, leiden weltweit           ignoriert:
   an Mangelernährung – ihren Körpern fehlen überwie-
   gend Vitamine und Spurenelemente. Im Globalen Sü-           • fehlender Zugang zu angemessener, vielfältiger
                                 den führt das zu erhöh-         Ernährung (insbesondere gesunde Lebensmittel
                                 ter Kindersterblichkeit,        wie Obst, Gemüse, Vollkorn) durch mangelnden
  Rund zwei Milliarden
 Menschen, mehrheitlich          Geburtsrisiken,    Blind-       Zugang zu bzw. mangelnde Kontrolle über Land,
 Frauen und Mädchen,             heit,  Muskelschwäche,          Saatgut, Wasser;
    leiden weltweit an           Lethargie, etc. Bei Kin-
   Mangelernährung.              dern können irreversible      • Diskriminierung von Frauen: ungleicher Zugang
                                 physische und kognitive         zu Ressourcen, Verletzung ihrer reproduktiven,
   Defizite auftreten. Die Hauptursache für Mangeler-            wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte;
   nährung ist die am weitesten verbreitete Menschen-
   rechtsverletzung weltweit: der eingeschränkte Zugang        • Vernachlässigung von Kinderrechten: ein-
   zu angemessener Nahrung für die am meisten margi-             geschränkter Zugang zu nährstoffreicher Nah-
   nalisierten Bevölkerungsgruppen – KleinbäuerInnen,            rung und Gesundheitseinrichtungen für Kinder
   FischerInnen, HirtInnen, SlumbewohnerInnen, Land-             aller Altersstufen (pränatal bis jugendlich);
   arbeiterInnen, Indigene, Landlose und insbesondere
   Frauen. Dabei wäre es einfach, dem auf einseitiger          • keine adäquaten Lebens- und Wohnbedingungen
   Ernährung beruhenden Nährstoffmangel vorzubeu-                (Wasser, Sanitäreinrichtungen, Unterkunft);
   gen: Natürliche, ausgewogene Ernährung ist für die
   Deckung des menschlichen Nährstoffbedarfes voll-            • kaum Zugang zu öffentlichen Einrichtungen im
   kommen ausreichend. Die Natur birgt die dafür nötige          Bereich Bildung, Gesundheit, Lebensmittelsicher-
   Vielfalt – dort, wo sie nicht durch die aktuelle Agrar-       heit, etc.;
   und Ernährungspolitik, die Menschen weltweit an der
   Ausübung des Rechts auf Nahrung hindert, zerstört           • Arbeitslosigkeit oder Einkommen, die lediglich
   wird.                                                         prekäres Überleben ermöglichen; fehlendes sozi-
                                                                 ales Netz zur Absicherung;
        Seit einigen Jahren gehen Regierungen unter dem
    Deckmantel des Kampfes gegen Mangelernährung um-           • fehlende Unterstützung für alternative lokale Pro-
    strittene Allianzen mit transnationalen Konzernen ein,       duktions- und Vermarktungssysteme von Lebens-
    die die künstliche Anreicherung von Nahrungsmitteln          mitteln, die KleinbäuerInnen zugute kommen und
    mit Nährstoffen vorantreiben – Gentechnik inklusive.         sie von Weltmarktpreisen und Großkonzernen
    Bei diesen so genannten „Anreicherungsallianzen“1,           unabhängig machen;
    die von UN-Institutionen, Forschungseinrichtungen
                                 und Stiftungen unterstützt    • stattdessen Dominanz und Forcierung nicht-
   Die Hauptursache für          werden, geht es mehr um         nachhaltiger Produktions- und Vermarktungs-
    Mangelernährung:             Profitmaximierung denn          systeme, die auf dem agroindustriellen Modell
eingeschränkter Zugang zu        Mangelminimierung. Die          basieren (inkl. Folgen wie: Verlust von Biodiversi-
 angemessener Nahrung.
                                 Stimmen der von Mangel-         tät und Nahrungsmittelvielfalt, Boden- und Was-
                                 ernährung     Betroffenen,      serverschmutzung, Klimawandel, Unterlaufen
    deren Recht auf Nahrung verletzt wird, und die im            von ArbeitnehmerInnenrechten, Verdrängung von
    Zentrum politischer Interventionen stehen sollten,           KleinbäuerInnen);
    werden nicht gehört. Menschenrechtsstandards wer-
    den unterlaufen und wirksame lokale Alternativen zur       • vermehrter Machtmissbrauch von Konzernen
    Bekämpfung von Mangelernährung ignoriert. Statt-             und fehlende Regelwerke zu deren Regulierung;
    dessen wird der Versuch unternommen, die Thematik            Straffreiheit jener, die für Menschenrechtsverge-
    zu entpolitisieren und auf eine technische Lösung – ein      hen verantwortlich sind;
    Mehr an künstlichen Nährstoffen – zu reduzieren. Die

                                                                                                                 5
Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
• unzureichende Kennzeichnung von Lebensmit-                 Im Rahmen der multilateralen Entwicklungs-
      teln, Bewerbung von ungesunden Lebensmitteln.          zusammenarbeit, für die das Bundesministerium für
                                                             Finanzen verantwortlich zeichnet, leistete Österreich
    Die genannten Anreicherungsallianzen sind mit-           2015 Zahlungen in der Höhe von 500 Mio. Euro2
verantwortlich für viele dieser Menschenrechts-              an Weltbank-Gruppe, UN und ihre Teilorganisatio-
vergehen. Zudem höhlen sie demokratische Prozesse            nen WPF (Welternährungsprogramm), FAO (Organi-
aus, indem sie sich zunehmend die Definitionsmacht           sation für Ernährung und Landwirtschaft), UNICEF
über ‚gesunde Ernährung‘ sichern. Über die Verein-           (Kinderhilfswerk), IFAD (Internationaler Fond für
nahmung öffentlicher politischer Prozesse beeinflus-         landwirtschaftliche Entwicklung), WHO (Weltgesund-
sen sie die globale Gesundheits- und Agrarpolitik in         heitsorganisation), regionale Entwicklungsbanken
ihrem Interesse oft langfristig. Damit fällt die Entschei-   und EU – die größte EZA-Geberin weltweit. Auch das
dungshoheit zunehmend an AkteurInnen, die keinerlei          Forschungsnetzwerk CGIAR erhält Gelder aus Öster-
Mandat dafür besitzen. Ihr simplifizierender Zugang          reich. Die überstaatlichen Zusammenschlüsse und
zu Nahrung reduziert das Recht auf Nahrung auf das           Organisationen verwalten die Gelder und schütten
‚Recht auf Kalorien‘. Zudem bergen die von ihnen             sie über thematische Programme an Länder des Glo-
beworbenen und auf den Markt gebrachten Produk-              balen Südens aus. Über nationale VertreterInnen ist
te wie angereicherte Lebensmittel, gentechnisch ver-         Österreich in diversen Gremien, die die politische Aus-
ändertes Saatgut und Fertignahrung gesundheitliche           richtung und Schwerpunktsetzung dieser Institutionen
Risiken. Die betroffenen Menschen werden zu Konsu-           mitbestimmen, beteiligt.
mentInnen oder BittstellerInnen degradiert, die kaum
Entscheidungsmacht haben. Neben der Frage wieviel                Beispielsweise koordiniert das Völkerrechtsbüro
und was wir essen ist also auch die Frage, wer be-           des Außenministeriums die österreichische Vertretung
stimmt, was wir essen, von großer Bedeutung.                 beim Menschenrechtsrat in Genf. Die Abteilung B/7
                                                             des Bundesministerium für Gesundheit und Frauen ist
    FIAN setzt sich für eine Abkehr von der besteh-          zuständig für die Koordination der internationalen Ge-
enden Agrar- und Ernährungspolitik ein: Wirksame             sundheitspolitik und WHO- und UNICEF-Agenden.
Lösungen im Kampf gegen Mangelernährung müssen               Die Abteilung Internationale Agrar- und Handelspoli-
sich mit bestehenden Machtasymmetrien und Vertei-            tik des Lebensministeriums ist für die Agenden der in
lungsgerechtigkeit auseinandersetzen, die strukturel-        Rom angesiedelten FAO zuständig. Diese und weitere
len Ursachen für Hunger, Armut und Mangelernäh-              AkteurInnen – bspw. die jeweiligen VertreterInnen der
rung im Blick haben, sie müssen einen ganzheitlichen         österreichischen Regierung in Rom und Genf – sind
Ansatz verfolgen, Menschenrechte als Basis jeglicher         aufgerufen, ihren Einfluß im Sinne der Menschen-
Interventionen und die betroffenen marginalisierten          rechte geltend zu machen. Wir sehen das Dossier als
Bevölkerungsgruppen als SchlüsselakteurInnen ver-            Debattenbeitrag, der die Notwendigkeit unterstreicht,
stehen. Werte wie Würde, Gleichheit, Nachhaltigkeit          die aktuelle Politik zu überdenken und gemäß den
sind Grundprinzipien, die nicht durch Profitinteressen       Menschenrechten auszurichten.
unterlaufen werden dürfen.                                                                           Melanie Oßberger
                                                                        Studienautorin & Projektleiterin bei FIAN Österreich
    Das vorliegende Dossier analysiert die Anreich-
erungsallianzen vor diesem Hintergrund, stellt sie auf
                                                                Infobox 1: Ist genug für alle da?
den Prüfstein des Rechts auf Nahrung. Es handelt sich
um Teil I einer mehrteiligen Dossierreihe zum The-
                                                                Nach Schätzungen der Welternährungsorgani-
ma Mangelernährung, die im Rahmen des von der                   sation FAO haben 795 Millionen Menschen re-
österreichischen Entwicklungszusammenarbeit geför-              gelmäßig nicht genug zu essen. Sie sind chronisch
derten Projektes ‚Menschenrechte ins Ernährungssys-             unterernährt und hungern. Im Gegensatz dazu ste-
                                                                hen Rekordernten in der Landwirtschaft, die laut
tem‘ erstellt wird. Zielgruppe des Dossiers sind neben
                                                                FAO ausreichen würden, um die Weltbevölkerung
zivilgesellschaftlichen Organisationen aus dem Bereich          zu ernähren.3 2014 betrug die Weltgetreideproduk-
Menschenrechtsarbeit, Entwicklungspolitik und Um-               tion rund 2,5 Milliarden Tonnen. Davon wurden
weltschutz vor allem EntscheidungsträgerInnen aus               allerdings nur 43 Prozent des verwendeten Ge-
                                                                treides direkt als Lebensmittel genutzt. 36 Prozent
Politik und Verwaltung. Es ist als Information für jene
                                                                wurde als Tierfutter verwendet und der Rest zu
österreichischen AkteurInnen, die internationale (sie-          Treibstoff oder anderen Industrieprodukten verar-
he: Infobox 2) und nationale Prozesse der Ernährungs-           beitet.4 Hohe Produktionsraten allein bekämpfen
und Agrarpolitik mitgestalten, gedacht.                         den Hunger also nicht.

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Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
1. Von Menschenrechten und
         Staatenpflichten
           Welche rechtlichen Grundlagen das Recht auf Nahrung definieren

            Das Recht auf Nahrung ist in der Allgemeinen Er-          Im Zusammenhang mit Mangelernährung ist ins-
        klärung der Menschenrechte (Artikel 25)6 verankert         besondere die vierte Säule von Bedeutung:
        und wie alle Menschenrechte ein angeborenes, indi-           • Angemessenheit9: bezieht sich auf Qualität, Un-
        viduelles und unveräußerliches Menschenrecht. D.h.             schädlichkeit und kulturelle Angemessenheit der
        frei von Hunger zu sein ist ein Menschenrecht. Jeder           Lebensmittel um die „individuellen Ernährungs-
        Mensch ist damit ein/e RechteinhaberIn. Seit 1976 ist          bedürfnisse zu befriedigen“. Damit ist gemeint,
        der auf UN-Ebene entstandene Internationale Pakt über          „dass Ernährung insgesamt eine Mischung von
                                             wirtschaftliche,          Nährstoffen für Wachstum, Entwicklung und Er-
„Das Recht auf angemessene Nahrung soziale und kul-                    haltung von Körper und Geist sowie körperliche
   ist dann erfüllt, wenn jeder Mann,        turelle     Rechte        Tätigkeiten umfasst, die den physiologischen Be-
jede Frau und jedes Kind, allein und in (Sozialpakt)7 völ-             dürfnissen des Menschen in allen Lebensphasen
 Gemeinschaft mit anderen, jederzeit         kerrechtlich     in       gerecht wird (...). Innerhalb einer bestimmten
  physisch und wirtschaftlich Zugang         Kraft und macht           Kultur oder für den Verbraucher akzeptabel be-
  zu angemessener Nahrung oder den           das Recht auf             deutet, dass so weit wie möglich auch mit Nah-
  Mitteln zu ihrer Erlangung haben.“5
                                             Nahrung für die           rungsmitteln und Nahrungsaufnahme verbundene
                                             160 Staaten, die          Wertvorstellungen, die mit der Ernährung nichts
        den Sozialpakt gegenwärtig ratifiziert haben, zu einem         zu tun haben, und die Besorgnisse informierter
        verbindlichen Menschenrecht. 1978 ratifizierte Öster-          Verbraucher hinsichtlich der Art der Lebensmit-
        reich den Sozialpakt. Der Ausschuss für wirtschaft-            tel, zu denen Zugang besteht, berücksichtigt wer-
        liche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Rechte)              den müssen.“10
        veröffentlichte 1999 einen Rechtskommentar8, der das
        Recht auf Nahrung konkretisierte und die diesbezüg-            2004 wurde mit den ‚Freiwilligen Leitlinien zur
        lichen Pflichten der Mitgliedsstaaten festlegte. Staaten   Unterstützung der schrittweisen Verwirklichung des
        sind die Pflichtenträger.                                  Rechts auf Nahrung im Kontext nationaler Ernäh-
                                                                   rungssicherung‘ der FAO das Recht auf Nahrung im
         Insbesondere wird auf vier Säulen hingewiesen, die        Völkerrecht gestärkt. Die Leitlinien „zielen darauf ab,
      das Recht auf Nahrung definieren:                            die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in einer Men-
                                                                   ge und Qualität zu garantieren, die ausreicht, um die
        • Zugang zu Nahrung: physischer Zugang (im Sinn            Ernährungsbedürfnisse des Einzelnen zu befriedigen,
          von Erreichbarkeit/ Barrierefreiheit vor allem für       sowie physischen und wirtschaftlichen Zugang für je-
          gefährdete Gruppen) und wirtschaftlicher Zu-             den, einschließlich der gefährdeten Gruppen der Be-
          gang (finanzielle Mittel für den Erwerb von Le-          völkerung, zu angemessener Ernährung ohne gesund-
          bensmitteln);                                            heitsbedenkliche Stoffe und für die jeweilige Kultur
                                                                   akzeptabel oder die Mittel für ihren Erwerb zu garan-
        • Verfügbarkeit: Möglichkeit, selbst Lebensmittel          tieren“11. Die Leitlinien für das Recht auf Nahrung
          zu produzieren bzw. das Bestehen funktionieren-          stellen den ersten zwischenstaatlichen Versuch einer
          der Märkte für jene, die nicht selbst produzieren;       Interpretation des Rechts auf Nahrung dar und bein-
                                                                   halten Handlungsanweisungen für Nationalstaaten im
        • Nachhaltigkeit: Erhaltung von Ressourcen, um             Hinblick auf die Erfüllung ihrer menschenrechtlichen
          das Recht auf Nahrung auch für weitere Gene-             Pflichten. Der Staat ist also verpflichtet das Recht auf
          rationen gewährleisten zu können, und Nicht-             Nahrung zu
          Gefährdung weiterer Menschenrechte durch die                • respektieren, d.h. niemanden daran zu hindern,
          Umsetzung des Rechts auf Nahrung.                              dieses Recht auszuüben;
                                                                      • schützen, d.h. zu garantieren, dass auch sonst
                                                                         niemand die Bevölkerung daran hindert, dieses
                                                                         Recht auszuüben (bspw. Konzerne, die Land be-

                                                                                                                        7
Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
anspruchen);                                             allen voran transnationale Konzerne – Menschen-
    • gewährleisten, d.h. Maßnahmen zur Sicherung              rechtsvergehen begehen, nicht als rein nationale
      dieses Rechts zu ergreifen, wenn das Recht auf           Aufgabe verstanden wer-
      Nahrung für die Bevölkerung nicht gegeben ist.           den, wie dies traditionel-        Staaten müssen ihre
                                                               lerweise im Völkerrecht         Menschenrechtspflichten
                                                                                              auch gegenüber Menschen
    Menschen haben verankerte Rechte und Staaten               der Fall ist. Auch der
                                                                                                 in anderen Ländern
festgelegte Pflichten. Bei Konzernen spricht man von           Gedanke der Universa-
                                                                                                    wahrnehmen.
deren menschenrechtlicher Verantwortung. Sie haben             lität, der die Menschen-
sich im Rahmen von Regelwerken wie UNGP (UN                    rechte trägt, steht im Widerspruch dazu. Vielmehr
Guiding Principles on Business and Human Rights)               muss das Recht auf Nahrung im Kontext ‚extraterri-
zur Einhaltung von Menschenrechten und Umwelt-                 torialer’ Staatenpflichten gesehen werden, d.h. Staaten
standards verpflichtet oder folgen den zehn Prinzipi-          müssen ihre Menschenrechtspflichten auch gegenüber
en des Global Compacts12. Diese Vereinbarungen sind            Menschen in anderen Ländern wahrnehmen. Auskunft
aber unverbindlich und werden oft verletzt (siehe: In-         über Möglichkeiten zur konkreten Umsetzung bieten
fobox 9). Die Hauptverantwortung für die Umsetzung             u.a. die Maastrichter Prinzipien14, die zusammenfas-
der Menschenrechte tragen die Staaten. Insbesondere            sen, welche extraterritorialen Pflichten Staaten unter
sind sie im Rahmen ihrer Schutzpflicht dafür verant-           bestehendem internationalem Recht haben. FIAN setzt
wortlich, dass sie die Einhaltung der Menschenrechte           sich dafür ein, dass das Recht auf angemessene Nah-
durch die Konzerne einfordern, überprüfen und die              rung von Regierungen weltweit als verbindliches Men-
Nicht-Einhaltung sanktionieren. Auch die ‚Voluntary            schenrecht weiter anerkannt und umgesetzt wird.
Guidelines on the Responsible Governance of Tenure
of Land, Fisheries and Forests in the Context of Natio-            Die Bedeutung von Konventionen, die sich mit ein-
nal Food Security‘ benennen die staatlichen Pflichten          zelnen oder mehreren Menschenrechten oder mit den
im Hinblick auf die menschenrechtliche Verantwor-              Rechten von bestimmten Gruppen auseinander setzen,
tung des Staates als “to ensure that businesses are not        ist für die Umsetzung von Menschenrechten zentral.
involved in abuse of human rights”13.                          Insbesondere die UN-Konvention zur Beseitigung al-
                                                               ler Formen von Diskriminierung gegen Frauen (Con-
   Das Recht auf Nahrung zu respektieren, schützen             vention on Elimination of all forms of Discrimination
und gewährleisten darf im Kontext einer globalisier-           against Women, CEDAW)15 sowie die UN-Konvention
ten Welt, in der international vernetzte AkteurInnen –         zum Schutz von Kindern (Convention on the Rights of

     Infobox 2: AkteurInnen und Prozesse der internationalen
     Ernährungspolitik

     Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization
     of the United Nations, FAO)18 sowie das Welternährungsprogramm (World Food Programme, WFP)19 sind zwei
     in Rom angesiedelte Teilorganisationen der UN mit dem Ziel die globale Ernährungssituation zu verbessern. Der
     Welternährungsrat (Committe on World Food Security, CFS)20 ist ein bei der FAO angesiedeltes, zwischenstaatli-
     ches und inklusives Forum, das ein kohärentes Vorgehen der diversen AkteurInnen aus den Bereichen Ernährung
     und Landwirtschaft forciert. Es ist das international entscheidende Forum, um globale Ernährungssicherheit zu
     erreichen und eine der wenigen Plattformen, die zivilgesellschaftlichen Organisationen – und insbesondere auch
     Gruppen, die von Hunger und Mangelernährung betroffen sind – die Möglichkeit bietet, politische Prozesse maß-
     geblich mitzugestalten.

     Weitere UN-Organisationen, die im Kampf gegen Mangelernährung und Hunger eine Rolle spielen, sind das Kin-
     derhilfswerk (UNICEF)21 und die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO)22. Das Ent-
     scheidungsgremium der WHO, die World Health Assembly (WHA), hat sechs Gesundheitsziele formuliert, um
     Mangelernährung zu bekämpfen.23 Die Generalversammlung der UN hat die ‚Decade on Action on Nutriton‘24
     ausgerufen, die von 2016 bis 2025 dauert und den Rahmen für Bemühungen um eine Verbesserung der Welter-
     nährungssituation bietet. Bei der International Conference on Nutrition (ICN2)25, die 2014 stattfand, wurden ge-
     meinsame Ziele im Bereich Ernährung definiert, die von der Staatengemeinschaft unter Koordinierung von WHO
     und FAO umgesetzt werden sollen. Aktueller Bezugsrahmen für den Kampf gegen Mangelernährung, Hunger und
     Armut sind die Sustainable Development Goals (SDG). Neben weiteren ist insbesondere SDG2, das die Beseitigung
     von Hunger und allen Formen von Mangelernährung fordert, für die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung
     relevant.26

8
Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
Children, CRC)16 sind hier zu nennen (siehe: Exkurs 2).      ger und Mangelernährung betroffenen Menschen – ob
    Verletzungen des Rechts auf Nahrung stehen im Ge-            Kind, Frau oder Mann – in den Mittelpunkt. Es/er/sie
    gensatz zu den genannten Konventionen, Richtlinien           ist RechteinhaberIn des Rechts auf Nahrung und wird
                                  und Verträgen und be-          als aktives Subjekt verstanden.
                                  hindern die Umsetzung
    Die Betroffenen von
                                  weiterer Menschenrech-             FIAN setzt sich sowohl für die Ermächtigung ge-
  Menschenrechtsvergehen
    sehen sich meist mit          te. Denn wer hungert           fährdeter Gruppen als auch für verbesserte Maßnah-
  Diskriminierungen auf           bzw. durch Mangeler-           men zur Überprüfung staatlichen Handelns zur Er-
mehreren Ebenen konfrontiert      nährung körperlich und         höhung staatlicher Rechenschaftspflichten ein. Auch
und verfügen über kaum oder       kognitiv eingeschränkt         wenn sich die Interpretation des Rechts auf angemes-
       keine Stimme.              ist, dem wird neben dem        sene Nahrung weiterentwickelt hat, Fragen zu Macht
                                  Recht auf Gesundheit           und Einfluss innerhalb der Ernährungs- und Agrarpo-
    meist auch das Recht auf Bildung, Arbeit, Familie und        litik und die Auseinandersetzung mit tieferliegenden
    Selbstbestimmung – allesamt Menschenrechte, die im           Ursachen werden in der von Staaten, Konzernen und
    Sozialpakt verankert sind – verwehrt. Ihr Recht auf          UN-Institutionen geprägten internationalen Debatte
    Partizipation in Entscheidungsprozessen, die ihr Leben       weitgehend ausgespart. Auch die soziale, kulturelle
    betreffen, wird ignoriert.17                                 und spirituelle Dimension der Ernährung wird nicht
                                                                 berücksichtigt. Ernährung wird meist noch immer im
        FIAN versteht sich als internationale Menschen-          engen Sinn von Nahrungsaufnahme, das Recht auf
     rechtsorganisation im Einsatz für das Recht auf Nah-        Nahrung als der Anspruch, frei von Hunger zu sein,
     rung. Wir wählen für unsere Arbeit den menschen-            verstanden. Das Recht auf angemessene Nahrung
     rechtsbasierten Ansatz. Der Fokus liegt dabei auf der       ist aber mehr: es geht um Würde, kulturelle und in-
     Rechtsposition und den Ansprüchen der besonders             dividuelle Identitäten sowie Respekt vor Vielfalt und
     Benachteiligten sowie dem Bemühen, eine staatliche          dem Leben an sich. Vor diesem Hintergrund und auf
     Rechenschaftspflicht gegenüber diesen Gruppen einzu-        Grundlage der genannten menschenrechtlichen Rah-
     fordern. Die Betroffenen von Menschenrechtsvergehen         menbedingungen analysiert das vorliegende Dossier
     sehen sich meist mit Diskriminierungen auf mehreren         den Trend zu künstlicher Anreicherung von Lebens-
     Ebenen konfrontiert und verfügen über kaum oder             mitteln und die Allianzen zwischen Regierungen und
     keine Stimme im Hinblick auf die Einforderung ihrer         Konzerne, die diese regieren.
     Rechte. Das Recht auf Nahrung rückt den von Hun-

     2. Von Mangel, Vielfalt und
        Anreicherung
          Wie einseitige Ernährung Mangelernährung verursacht
      2.1. Nährstoffe im Körper und in der Nahrung
        Von Unterernährung oder Hunger spricht man,              belle im Anhang). Viele von ihnen können nicht selbst
     wenn zu wenig Nahrung zur Verfügung steht (siehe:           gebildet werden, sondern müssen mit der Nahrung zu-
     Infobox 1). Unter Mangelernährung versteht man hin-         geführt werden.
     gegen Ernährung, die nicht vollwertig ist, d.h. es fehlen
     einzelne Nährstoffe27. Oft steht ausreichend Nahrung            Die Ernährungslehre ist bekanntermaßen ein Feld,
     zur Verfügung um satt zu werden, die Zusammenset-           das sich durch diverse Meinungen auszeichnet. Eine
     zung der Ernährung ist aber einseitig. Meist meint man      der wenigen Annahmen, die alle ExpertInnen unter-
     einen Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen, wenn          schreiben, ist jene, dass ausgewogene, natürliche Er-
     man von Mangelernährung spricht. Diese nehmen               nährung die Grundlage für gesundheitliches Wohlbe-
     im Körper viele wichtige Funktionen wahr. Sie bauen         finden ist. Und dass Obst und insbesondere Gemüse
     Muskeln auf, sorgen dafür, dass das Blut zirkuliert, der    eine besondere Rolle im Speiseplan zukommen sollte.
     Energiehaushalt ausgeglichen ist, das Herz gut arbeitet     Die offiziellen Empfehlungen der WHO für ernäh-
     und man sich fit und gesund fühlt (siehe: Nährstoffta-      rungsphysiologisch ausgewogene Produkte28 verwei-

                                                                                                                   9
Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
sen auf die Wichtigkeit von vielfältiger Ernährung und         Freihandelsabkommen, der Dominanz von Agrar- und
geben Richtwerte für die Zusammensetzung vor. Die              Lebensmittelkonzernen und deren Marketingkampa-
Ernährungspyramide, die von vielen Ländern als Ori-            gnen (siehe: Exkurs 7) zu tun.
entierung und Basis ihrer Ernährungsempfehlungen
verwendet wird – u.a. von Österreich29, basiert auf die-           Das Phänomen der reduzierten Pflanzen- und Nah-
sen international anerkannten Ernährungsstandards.             rungsvielfalt steht weiters in direktem Zusammenhang
                                                               mit der Verbreitung des agroindustriellen Modelles
    In vielen Haushalten ist der Speiseplan allerdings         und ist weltweit seit dem Einsetzen der ‚grünen Revo-
wenig vielfältig. Fast Food und Fertignahrung sind vor         lution‘ zu beobachten (siehe: Exkurs 1). Heute bilden
allem im Globalen Norden – vermehrt aber auch im               nur zehn Pflanzenarten
Globalen Süden (siehe: Infobox 3 und Exkurs 7) weit            und acht Tierarten die
                                                                                               Grundsätzlich gilt, dass bei
verbreitet. Das bringt ein Zuviel an Zucker und Fett           Basis für die gesamte         einer vollwertigen Ernährung
und ein Zuwenig an wertvollen Nährstoffen. Damit               Welternährung.30      So         ausreichend Nährstoffe in
wird das Recht auf Nahrung auch hier im Globalen               werden aktuell rund           herkömmlichen Lebensmitteln
Norden untergraben: Denn die Verdrängung gesunder,             80 Prozent der Er-             enthalten sind, und zwar in
natürlicher Kost führt zu Übergewicht und Diabetes,            nährung im Globalen             einer für den menschlichen
die als Mangel- bzw. Fehlernährung gelten. Mangel              Süden über die drei                 Körper gewohnten
                                                                                                Kombination und Menge.
trotz Sortimentsfülle und voller Supermarktregale. Die         Hauptnahrungsmittel
Mangelernährung im Globalen Süden gründet sich                 Reis, Weizen und Mais
hingegen vor allem auf den mangelnden Zugang zu di-            abgedeckt.31 Insgesamt
versifizierter, nährstoffreicher Ernährung für die arme        decken sie die Hälfte des weltweiten Energiebedarfes.
und marginalisierte Bevölkerung.                               Es handelt sich um protein- und stärkehaltige Lebens-
                                                               mittel (Eiweiß und Kohlenhydrate), d.h. sie liefern
   Auffallend ist, dass viele Lebensmittel, die bspw.          Energie und füllen den Magen, enthalten aber wenig
in Afrika traditionell auf dem Speiseplan standen und          Mineralstoffe und Vitamine.32 Gerade diese fehlen auf
über viele Nährstoffe verfügen, kaum mehr Verwen-              dem Speiseplan.
dung finden (siehe: Kapitel 3.4.2). Das hat u.a. mit

     Infobox 3: Die „doppelte Last“ der Mangelernährung im Globalen Süden

     Mangelernährung in jeder Form stellt eine ernstzunehmende Bedrohung für die Gesundheit der Betroffenen dar. In
     vielen Ländern gesellen sich zu den ‚klassischen‘ Folgen der Mangelernährung zunehmend auch chronische Erkran-
     kungen des Herzens oder Diabetes hinzu. Die WHO betont, wie stark diese beiden vermeintlich widersprüchlichen
     Phänomene miteinander verflochten sind: so deutet die Forschung darauf hin, dass Unter- bzw. Mangelernährung
     in frühen Lebensjahren (und sogar im Uterus) die Anfälligkeit für Übergewicht und damit verbundene chronische
     Erkrankungen im Erwachsenenalter erhöht.33 Besonders Schwellenländer sehen sich mit der ‚doppelten Last‘ kon-
     frontiert: So weisen bspw. in Indonesien 12 Prozent der Kinder Symptome von Übergewicht auf; zugleich sind 12
     Prozent der Kinder zu leicht für ihre Größe. In Thailand stiegen zwischen 2006-2012 sowohl die Anteile an Kin-
     dern mit Übergewicht als auch mit Wachstumsdefiziten an.34 Als wichtige Ursache für das zunehmende Auftreten
     von Übergewicht gilt – neben dem Mangel an körperlicher Aktivität – die wachsende Verfügbarkeit von industriell
     hergestellten, verarbeiteten Lebensmitteln und speziell Junk-Food. Oft werden diese von transnationalen Nah-
     rungsmittelkonzernen auf problematische Weise gezielt in Schwellenländern vermarktet (siehe: Exkurs 7).

    Auch wenn der Bauch voll ist, kann der Körper              Zusammenstellung seiner Ernährung spürt, ist die Lö-
geschwächt und unterversorgt sein. Abseits des Kalo-           sung doch einfach: denn grundsätzlich gilt, dass bei
rienzählens wird also schnell klar, dass nicht nur die         einer vollwertigen Ernährung ausreichend Nährstoffe
Quantität der verfügbaren Lebensmittel eine Rolle              in herkömmlichen Lebensmitteln enthalten sind, und
spielt, sondern auch die Qualität der Nahrung und              zwar in einer für den menschlichen Körper gewohnten
deren Zusammensetzung. Wissen um Nährstoffreich-               Kombination und Menge.36 Entscheidend ist der Zu-
tum sowie Kenntnisse zu Lagerung und Zubereitung               gang zur natürlichen Vielfalt an hochwertigen, nähr-
von Lebensmitteln befördern gesunde Ernährung. Und             stoffreichen Nahrungsmitteln, die wiederum auf der
auch wenn man angesichts der vielen Wechselwirkun-             Vielfalt der Natur beruht (siehe: Exkurs 1).
gen zwischen den Nährstoffen35 Überforderung bei der

10
Exkurs 1: Biodiversität

   Rund 30 Millionen Pflanzenarten existieren laut ExpertInnen auf der Erde, nicht einmal zwei Millionen davon sind
   wissenschaftlich erfasst. Und nur 5.000 bis 30.000 Arten werden vom Menschen genutzt. Diese Vielfalt zu erhalten
   ist Ziel einiger internationaler Übereinkommen.37 Der Vormarsch des industriellen Landwirtschaftsmodelles hat
   massiv dazu beigetragen, dass die Vielfalt stark reduziert wurde. So wurden vor der so genannten ‚Grünen Revo-
   lution‘ (siehe: Infobox 8) in der traditionellen Landwirtschaft weltweit etwa 75.000 Reissorten angebaut. 2008
   waren es nur noch 50. Allein in Indien waren rund 30.000 Arten in Verwendung, von denen heute nur mehr zehn
   eine Rolle für die Ernährung spielen.38 Diversität ist für die Menschheit die Grundlage für gesunde, ausgewogene
   Ernährung – und damit unser aller Gesundheit. Für die Milliarden KleinbäuerInnen weltweit – rund 2,5 Milliarden
   Menschen weltweit leben vorwiegend von der Landwirtschaft39 – ist die Diversität der Natur ihre Existenzgrund-
   lage. Je größer die Vielfalt der Pflanzen und Tierarten desto größer ist auch die Absicherung gegenüber Missernten
   und Schädlingsanfälligkeit. Der Saatgut-Pool muss durch die Kreuzung ‚neuer‘ Sorten immer wieder aufgefrischt
   werden, das erhöht die Anpassungs- und Überlebenschancen der Pflanzen und mit ihnen der künftigen Generatio-
   nen.40

   Der Erhalt und die Förderung der Biodiversität stellen darüber hinaus die beste Prävention gegen Naturkatastro-
   phen dar. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ist dem Risiko ausgesetzt, zumindest von einer Naturkatastro-
   phe betroffen zu sein. Traditionelle kulturelle Ökosysteme wie Agrarforstwirtschaft oder Terrassenanbau spielen
   eine wichtige Rolle bei der Linderung extremer Wetterphänomene. Der Schutz natürlicher Ökosysteme trägt außer-
   dem dazu bei, der Desertifikation und Bodendegration entgegen zu wirken. Auch bei Tsunamis, Flächenbränden,
   Hurrikanes oder Erdbeben übt die natürliche Artenvielfalt stabilisierende Wirkungen aus41. Besondere Beachtung
   verdient die Rolle, die Frauen beim Erhalt der Biodiversität einnehmen. Vor allem Frauen in indigenen Gemein-
   schaften betonen, dass die Artenvielfalt die Existenzgrundlage ihrer Gruppen darstelle. Aus Wildpflanzen haben
   sie über Jahrhunderte die Vielfalt der Nutzpflanzen entwickelt. Als Sammlerinnen von Feuerholz, natürlichen Heil-
   mitteln, Nahrungsmitteln oder Baumaterial und als Bewirtschafterinnen von Agrarflächen gelten Frauen als das
   wichtigste Bindeglied zwischen Ernährung und dem Erhalt der Biodiversität42.

2.2. Prävalenz und Folgen von Mangelernährung
    Mangelernährte sind von Blindheit, Herzkreislauf-         in diesem generationsübergreifenden Kreislauf aus Ar-
störungen, Muskelschwäche, Einschränkungen in der             mut und niedrigem Bildungsstand gefangen sind, sind
kognitiven und physischen Entwicklung und weiteren            besonders von Mangelernährung betroffen. Kleinste
Leiden (siehe: Nährstofftabelle im Anhang) betroffen.         Veränderungen in der Verfügbarkeit von Nahrung las-
Insgesamt fühlen sich mangelernährte Menschen ge-             sen sie zudem von Mangelernährten zu Hungernden
schwächt und sind anfälliger für Krankheiten.43 Durch         werden. Das ist insbesondere bei Kindern eine große
die Einschränkung ihres Rechts auf Nahrung wird               Gefahr.
auch ihr Menschenrecht auf Gesundheit verletzt.44 Und
da es für an Mangelernährung leidende Menschen auf-               Hunger und Mangelernährung sind das Resultat
grund des eingeschränkten Leistungsvermögen schwie-           von Marginalisierung und Diskriminierung auf mehre-
rig ist, einer fordernden Tätigkeit oder (Aus-)Bildung        ren Ebenen: sozial, politisch,
nachzugehen, sind auch weitere Menschenrechte wie             wirtschaftlich und geogra-              Hunger und
                                                                                                   Mangelernährung
das Recht auf Bildung und Arbeit vermehrt in Gefahr,          fisch. Die besonders betrof-
                                                                                                 sind das Resultat von
was wiederum die Armut fördert. Damit setzt sich ein          fenen Gruppen haben kaum
                                                                                                 Marginalisierung und
Kreislauf in Gang, der schwer zu durchbrechen ist.            Möglichkeiten, Einfluss auf        Diskriminierung auf
                                                              Politikentscheidungen       zu       mehreren Ebenen.
    Insbesondere Frauen – sie sind überdurchschnitt-          nehmen, werden im Alltags-
lich oft von Menschenrechtsverletzungen betroffen             leben ausgegrenzt, wirtschaftlich benachteiligt und in
– werden aufgrund fehlender Bildungsperspektiven              Gebiete abgedrängt, in denen es besonders schwierig
und Verdienstmöglichkeiten in die Abhängigkeit von            ist zu überleben. Mangelernährte finden sich vor allem
Ehemännern und Dorfgemeinschaften manövriert                  unter den KleinbäuerInnen und HirtInnen, Indigenen,
und diskriminierenden Traditionen (siehe: Exkurs 2)           SlumbewohnerInnen und Landlosen. Also besonders
ausgesetzt. Die Missachtung ihres Rechts auf Nah-             jene ländlichen Bevölkerungsgruppen, die nicht aus-
rung wirkt sich auch auf ihre Kinder aus, die meist           reichend Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Land,
schon mangelernährt zur Welt kommen. All jene, die            Wasser und Saatgut haben, um eigene hochwertige

                                                                                                                        11
Nahrung anzubauen. Und jene urbane Bevölkerung,                 Frauen sind während der Schwangerschaft und
  die aufgrund von Arbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen        Stillzeit besonders von Nährstoffmangel betroffen,
  oder mangelhafter sozialer Absicherung über zu wenig       denn der gesteigerte Energiebedarf kann oft nicht
  finanzielle Mittel verfügt, um diese Nahrungsmittel zu     durch ein Mehr an qualitativen Lebensmitteln ausge-
  kaufen. Insbesondere betroffen sind Frauen und Mäd-        glichen werden. Das erhöht wiederum die gesundheit-
  chen. Sie sind auch Armut und Hunger in besonderem         lichen Risiken: Mangelernährung fördert Anämie. Der
  Maße ausgesetzt (siehe: Exkurs 2) – dies stellt einen      reduzierte Hämoglobinwert führt zu vermehrten Blu-
  klaren Bruch mit CEDAW und der UN-Kinderrechts-            tungen bei der Geburt – das bringt Komplikationen für
  konvention (CRC) dar.                                      Mutter und Kind mit sich und erhöht die Sterberaten
                                                             bei Geburten.49 Ein Zusammenhang, der vor allem in
      Die Zahlen zu Mangelernährung sind vage, die Be-       Ländern mit hohen Aids-Raten eine große Rolle spielt,
  troffenen oft nicht als solche erkennbar. Trotz Man-       ist jener, dass mangelernährte HIV-positive Mütter das
  gelernährung ‚funktionieren‘ sie. Die FAO geht aber        Virus öfter an die Kinder im Uterus weiter geben als
  davon aus, dass weltweit ca. zwei Milliarden Men-          ausgewogen und ausreichend ernährte Frauen. Auch
                                     schen       mangeler-   ein beschleunigter Ausbruch der Krankheit konnte bei
                                     nährt sind.45 Rund      Kindern mangelernährter, aidskranker Frauen festge-
 Insbesondere betroffen sind         800 Millionen Men-      stellt werden.50
Frauen und Mädchen. Sie sind         schen hungern (sie-
 auch Armut und Hunger in            he: Infobox 1). Das        Insgesamt kann festgehalten werden, dass mangel-
besonderem Maße ausgesetzt.
                                     Recht auf Nahrung       ernährte Frauen mangelernährte Kinder bekommen.
                                     ist damit das am        Mitunter neigen sie später auch zu Übergewicht und
  meisten verletzte Menschenrecht. Die verlässlichsten       Fettleibigkeit, wie neueste
  Angaben gibt es in Bezug auf mangelernährte Kinder.        Studien zeigen (siehe: Info-       Der Kampf für
                                                                                               Frauenrechte und
  Denn hier lässt sich laut ExpertInnen ein konkreter        box 3). Und auch der Vater
                                                                                             gerechtere Verteilung
  und trauriger Zusammenhang herstellen. Im Jahr 2015        kann die Folgen von Man-
                                                                                            von Macht, Ressourcen
  starben lt. UNICEF 5,9 Millionen Kinder unter fünf         gelernährung an das Kind         und Arbeit muss ein
  Jahren. Fast die Hälfte der Todesfälle ist auf Mangeler-   weitergeben, wenn er zum       Kernanliegen im Kampf
  nährung zurückzuführen – die geschwächten Körper           Zeitpunkt der Befruchtung     gegen Mangelernährung
  der Kinder haben zu wenig Abwehrmechanismen, um            darunter leidet.51 Die Ge-              sein.
  sich gegen an sich nicht tödliche Krankheiten wie Lun-     sundheit der Kinder hängt
  genentzündung, Durchfall oder Malaria zu wehren.46         also stark von der Gesundheit der Eltern – und insbe-
                                                             sondere der Mutter – ab. So wichtig diese Feststellung
      Man geht weiters davon aus, dass 160 Millionen         ist und so wichtig deren Berücksichtigung im Kampf
  Kinder unter fünf Jahren im Globalen Süden bzw. je-        gegen Mangelernährung, so vehement muss der damit
  des vierte Kind weltweit von ‚Stunting‘ betroffen sind.    in Zusammenhang stehenden Aushöhlung von Frau-
  Dabei handelt es sich um eine zu geringe Körpergrö-        enrechten entgegen getreten werden.
  ße im Vergleich zu gesunden AltersgenossInnen. 80
  Prozent der Kinder, die darunter leiden, finden sich in        Der Hinweis auf die Bedeutung von Frauen im
  den 36 ärmsten Ländern der Welt.47 Mangelernährung         Kampf gegen Mangelernährung darf nicht als Plädoy-
  kann schon das ungeborene Kind beeinträchtigen:            er für die Erhaltung von geschlechtsspezifischen Rol-
  Jodmangel kann beispielsweise zu irreversiblen kogni-      len oder den schmalen Fokus auf Maßnahmen nur für
  tiven und physischen Beeinträchtigungen des Babys          Schwangere und Mütter missverstanden werden. Auch
  führen. Rund 20 Millionen Neugeborene sind jährlich        nicht als Argument dafür, Frauen im Globalen Süden
  davon betroffen. Vitamin A-Defizit, von dem ca. 140        neben all ihren Verantwortungen noch eine weitere
  Millionen Kinder im Globalen Süden betroffen sind,         aufzubürden. Es darf aber als Anerkennung der bedeu-
  ist die häufigste Ursache von Blindheit. Am weitesten      tenden Rolle verstanden werden, die Frauen im Kampf
  verbreitet ist der Eisenmangel, der zu allgemeiner Ab-     gegen Mangelernährung spielen können und schon
  geschlagenheit führt. Rund 40 Prozent aller Kinder im      jetzt spielen (siehe: Exkurs 2). Der Kampf für Frauen-
  Globalen Süden sind davon betroffen.48                     rechte und gerechtere Verteilung von Macht, Ressour-
                                                             cen und Arbeit muss ein Kernanliegen im Kampf gegen
                                                             Mangelernährung sein.

  12
Exkurs 2: Frauen und Mangelernährung

       Frauen und Mädchen sind überproportional von Mangelernährung betroffen. Die patriarchalen Strukturen füh-
       ren dazu, dass Ressourcen, Einkommen und Bildungschancen sowie Entscheidungsmacht (innerhalb der Familie,
       Gesellschaft und Politik) ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt sind. Das widerspricht der UN-Frauen-
       rechtskonvention CEDAW und untergräbt das Recht auf Nahrung. Frauen tragen im Globalen Süden rund 60 - 80
       Prozent der Nahrungsmittelproduktion52 und sind zusätzlich meist für Haushalt, Kindererziehung und die Pflege
       der Älteren verantwortlich. Der erhöhte Energiebedarf, der sich aus diesem anstrengenden Alltag ableitet, wird
       nicht durch ein Mehr an Energielieferanten und Nährstoffen ausgeglichen. Im Gegenteil: In vielen Kulturen stehen
       die Frauen in der Familienhierarchie ganz unten, d.h. sie essen als letzte und bekommen die kleinsten Portionen.

       Das steht im krassen Widerspruch zu der Rolle, die sie im Kampf gegen Mangelernährung spielen. Sie leisten nicht
       nur körperlichen Einsatz, indem sie die Nahrung für die Familie produzieren und zubereiten, viele Frauen erleich-
       tern die prekäre Ernährungssituation in ihren Haushalten durch ihr Wissen um Lagerung, kulinarische Vielfalt,
       Nährstoffreichtum und schonende Zubereitungsarten lokaler Pflanzen. Bisher bestellen Frauen mehrheitlich Land,
       das (ihren) Männern gehört. Denn Frauen verfügen geschätzt über nur zehn Prozent der Anbauflächen weltweit –
       für die sie kaum offizielle Landtitel besitzen. Bei Enteignungen trifft es sie als erste. Zusätzlich werden sie meist mit
       dem am wenigsten fruchtbaren Land abgespeist.53

       Mehr Zugang zu Ressourcen und somit stärkere ökonomische Unabhängigkeit von (ihren Ehe-)Männern ist ein
       wirksamer Hebel für die Durchsetzung der reproduktiven Rechte von Frauen. Bildungs- und Einkommenschancen
       sind Schlüsselfaktoren, die Frauen in die Lage versetzen, selbst zu bestimmen, wie sie ihr Leben führen möchten.
       Die Stärkung der Frau im Kampf gegen Mangelernährung darf nicht darauf abzielen, sie einzig in ihrer Rolle als
       Mutter und Versorgerin zu begreifen. Relevante Zusammenhänge zwischen der Ermächtigung von Frauen und der
       Gesundheit ihrer Kinder dürfen aber auch nicht außer Acht gelassen werden. Neben anderen Studien bestätigen
       eine statistische Auswertung der Entwicklung in Brasilien sowie eine Gesundheitsumfrage aus Kenya die Zusam-
       menhänge zwischen dem Bildungsgrad der Mutter und dem Ernährungsstatus der Kinder.54

       Während diese Zusammenhänge hinlänglich bekannt sind, bleibt die Stärkung von Frauenrechten seit Jahrzehnten
       hinter den Lippenbekenntnissen zurück. Die Anreicherungsallianzen, die sich offiziell dem Kampf gegen Mangel-
       ernährung annehmen, nehmen Frauen vor allem in jener Rolle wahr, die Potential für Profitmaximierung aufweist:
       als um ihre Kinder besorgte Konsumentinnen. Mit Nährstoffen angereicherte Baby-Nahrung wird als Lösungsweg
       aufgedrängt, wie in der Vergangenheit das Milchpulver, dessen Einsatz nach der Aufdeckung des Nestlé-Skandals
       1974 nicht mehr aktiv beworben werden darf – ein Verbot, das nicht immer eingehalten wird (siehe: Exkurs 5). Ziel
       des neuerlichen Engagements der Konzerne ist es abermals, eine Abhängigkeit der Mütter von den Unternehmen
       zu erzeugen.

     2.3. Arten und Nutzung angereicherter Nahrungsmittel
        Functional Food, RUTF (Ready to use food), Sport-             aus vielen europäischen Ländern ist der Jodzusatz im
    nahrung, Nutraceutica, Nahrungsergänzungsmittel...                Speisesalz. (siehe: Infobox 4)
    hinter den zahlreichen Bezeichnungen verbirgt sich ein
    Konzept: Lebensmittel mit ‚Gesundheitsnutzen‘ für                     Im Globalen Süden finden sich ebenfalls teure
    die Menschen auszustatten, sie mit Nährstoffen anzu-              Nahrungsergänzungsmittel oder ‚functional food’ wie
    reichern. Im Globalen Norden reicht die Palette von               Müsli- und Sportriegel – sie sind aber exklusiv einer
    mit Vitaminen angereicherten Säften über probiotische             reichen Elite vorbehalten. Arme Bevölkerungsgruppen,
                                    Joghurts und Müsli                die Zielgruppen von Hilfsmaßnahmen durch UNICEF
Es wird der Eindruck vermittelt,    mit Wellnessverspre-              und WFP sind, werden vor allem über therapeutische
 dass natürliche, ausgewogene       chen bis hin zu Brot,             Nahrung erreicht. Der Einsatz in Nicht-Krisenzeiten
  Ernährung für die optimale        dem Omega 3 zuge-                 ist umstritten, weil er langfristig das Recht auf Nah-
 Versorgung des Körpers nicht
                                    setzt wurde. Es wird              rung untergräbt (siehe: Exkurs 6). Der Großteil der
           ausreicht.
                                    der Eindruck vermit-              Bevölkerung im Globalen Süden kommt über ange-
                                    telt, dass natürliche,            reicherte Grundnahrungsmittel mit künstlichen Nähr-
    ausgewogene Ernährung für die optimale Versorgung                 stoffen in Berührung. Dazu kommen Fertigprodukte,
    des Körpers nicht ausreicht. Flächendeckende Anrei-               die nicht unter die Definition von ‚angereicherten Le-
    cherung, die alle KonsumentInnen betrifft, gibt es im             bensmitteln’ fallen, aufgrund ihrer vielen künstlichen
    Globalen Norden vergleichsweise wenig. Ein Beispiel               Zusatzstoffe und ihren gesundheitlichen Folgen aber

                                                                                                                                   13
ähnlich kritisch hinsichtlich ihrer menschenrechtlichen        werden beigemengt. Über 20 afrikanische Staa-
Kompatibilität gesehen werden müssen. Sie werden               ten sehen die Anreicherung von Weizenmehl ver-
aktuell gezielt in Schwellenländern vermarktet (siehe:         pflichtend vor. Viele davon schreiben auch eine
Exkurs 7).                                                     verpflichtende Anreicherung von Maismehl vor.
                                                               Dazu kommen mit Vitamin A angereicherte Pflan-
                                                               zenöle, wie sie z.B. in Indien und Westafrika ein-
                                                               gesetzt werden.59
     Infobox 4: Jodanreicherung in
     Österreich                                             • Nahrungsergänzungsmittel/Supplementierung:
     Österreich galt als Jodmangelland aufgrund von
                                                              es handelt sich um Lebensmittel, die für eine
     jodarmen Böden und geringem Fischverzehr. Das            spezifische Gruppe zu einem spezifischen Zweck
     Aufkommen von Schilddrüsenerkrankungen, ins-             entwickelt wurden. Während Nahrungsergän-
     besondere Kropferkrankungen, war hoch. Seit              zungsmittel in Pillen- oder Pulverform angeboten
     1963 wird dem Salz in Österreich deswegen Jod
                                                              werden, handelt es sich bei Functional Food um
     beigemengt.55 Die Kropferkrankungen gingen
     durch den vermehrten Jodkonsum zwar nach-                ‚normale‘ Lebensmittel, die um Nährstoffe erwei-
     haltig zurück, kritische Studien bringen aber Auto-      tert wurden. Vor allem im Globalen Norden ist
     immunerkrankungen der Schilddrüse bis hin zum            dies eine finanzstarke Branche, die u.a. nährstoff-
     Schilddrüsenkrebs mit der Jodierung in Verbind-
                                                              reiche Müsliriegel und Energy Drinks umfasst. Im
     ung.56 Grundsätzlich wird die Salzjodierug von
     vielen ExpertInnen als Erfolgsgeschichte für die         Globalen Süden sind sie bisher vor allem als the-
     Anreicherung von Lebensmitteln angeführt. Das            rapeutische Lebensmittel ‚RUTF‘ im Einsatz.
     deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung wie
     auch die WHO empfehlen die Anreicherung von
                                                            • Biofortifikation: Eine Pflanze wird im Zuge der
     Speisesalz mit Jod um dem relativ hohen Risiko
     eines Jodmangels vorzubeugen.57                          Züchtung mit spezifischen Nährstoffen angerei-
                                                              chert, um die Erntefrüchte mit bestimmten Eigen-
                                                              schaften auszustatten
                                                              – oft mit Hilfe von          ExpertInnen warnen
                                                              Gentechnik. Der mit        aber davor, ausgewogene,
     Infobox 5: Produktion von                                Vitamin A angerei-           natürliche Ernährung
     Vitaminen                                                cherte ‚Golden Rice’,      durch  künstliche Nahrung
                                                                                                 zu ersetzen.
                                                              der als besonders
     ‚Die Zeit‘ berichtete, dass in den Fabriken der als
     ‚Medikamentenmetropole‘ bekannten Stadt Shi-             nährstoffreich bewor-
     jiazhuang in China tausende ArbeiterInnen unter          ben wurde, ist ein Beispiel dafür. Costa Rica und
     unwürdigen Bedingungen Vitamine und nährstoff-           Papua Neuguinea setzen seit längerem auf die
     reiche Zusätze produzieren, die vor allem für den
                                                              Anreicherung von Reis. Burundi, Ägypten, Indi-
     europäischen Markt gedacht sind. Beispielsweise
     wird dort Ascorbinsäure, also synthetisches Vita-        en, Indonesien und Bangladesch stehen vor der
     min C, hergestellt. Für den Herstellungsprozess ist      Umsetzung.60 Die Bioaddition ist ein relativ neues
     die Verwendung von Nickel und anderen Metallen           Verfahren, bei dem Tiere zusätzlich mit Nährstof-
     nötig, die Luft und Abwasser verschmutzen und
                                                              fen gefüttert werden, um so angereicherte Tier-
     Rachen und Lunge der ArbeiterInnen schädigen.
     Die ArbeiterInnen gehen das Gesundheitsrisiko für        produkte zu erhalten. Beispiel dafür ist das ‚for-
     ausbeuterische Minimallöhne und exzessive Über-          tified egg‘.61
     stunden ein.58
                                                               Zivilgesellschaftliche Organisationen und Exper-
                                                           tInnen sind sich einig, dass die Anreicherung von Nah-
                                                           rungsmitteln unter bestimmten Voraussetzungen sinn-
    Die technischen Verfahren zur Anreicherung sind je     voll sein kann. Wenn es beispielsweise darum geht, in
nach Verwendungszweck unterschiedlich. Grundsätz-          Krisensituationen die Menschen durch RUTF vor dem
lich unterscheidet man folgende Methoden:                  Verhungern oder akuter Mangelernährung zu bewah-
                                                           ren oder wenn ein spezifisches Defizit, von dem eine
  • Beimengung von Nährstoffen zu Grundnahrungs-           bestimmte Gruppe betroffen ist, kompensiert werden
    mitteln (Weizen, Öl, Mais, Salz), meist in Pulver-     soll (Beispiel Schwangere). ExpertInnen warnen aber
    form: Beispiele sind die Iodisierung von Salz oder     davor, ausgewogene, natürliche Ernährung durch
    die in vielen Ländern übliche Anreicherung von         künstliche Nahrung zu ersetzen. Man schätzt, dass
    Weizenmehl durch Folsäure, um das Risiko von           unsere Lebensmittel etwa 10.000 verschiedene Nähr-
    Geburtsfehlern zu minimieren. Auch Vitamine            stoffe mit Einfluss auf das Wohlbefinden enthalten und

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