Von der Vielfalt zum Mangel - Wie Anreicherungsallianzen den Boden für Mangelernährung bereiten.
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Titelbild: © FIAN International August 2017 Herausgeberin: FIAN Österreich Schwarzspanierstr. 15/3/1 1090 Wien Tel: 01 2350 239 Fax: 01 2350 239 - 20 Mail: office@fian.at www.fian.at ZVR: 937 480 634 Spendenkonto FIAN Österreich: IBAN: AT73 2011 1294 1590 3600 BIC: GIBAATWWXXX Autorin: Melanie Ossberger Unterstützung durch: Daniel Gusenbauer, Andrea Anna Kalcher Layout: Bernadette Gugerell Illustrationen: solo-ohne.com Mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Für den Inhalt sind allein die Herausgeber verantwortlich. Der Inhalt kann in keiner Weise als Standpunkt der Österreichischen Entwick- lungszusammenarbeit angesehen werden. 2
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis4 Vorwort 5 Infobox 1: Ist genug für alle da?6 1. Von Menschenrechten und Staatenpflichten7 Infobox 2: AkteurInnen und Prozesse der internationalen Ernährungspolitik8 2. Von Mangel, Vielfalt und Anreicherung 9 2.1. Nährstoffe im Körper und in der Nahrung 9 Infobox 3: Die „doppelte Last“ der Mangelernährung im Globalen Süden10 2.2. Prävalenz und Folgen von Mangelernährung11 Exkurs 1: Biodiversität 11 2.3. Arten und Nutzung angereicherter Nahrungsmittel13 Exkurs 2: Frauen und Mangelernährung 13 Infobox 4: Jodanreicherung in Österreich 14 Infobox 5: Produktion von Vitaminen14 Infobox 6: EU-Health Claim ‚adelt‘ ungesunde Lebensmittel 15 3. Von Konzerndominanz und Ernährungspolitik16 3.1. AkteurInnen der Anreicherungsallianzen16 Exkurs 3: Bill und Melinda Gates – die Philanthropen?18 3.2. Das Landwirtschaftsmodell der Anreicherungsallianzen 20 3.2.1. KleinbäuerInnen im Abseits: Konzerne dominieren Wertschöpfungskette 20 Infobox 7: Die Produktivität der KleinbäuerInnen20 Infobox 8: Die grüne Revolution - der Ausbau des agroindustriellen Modelles21 3.2.2. Aneignung von Ressourcen: Anreicherungsallianzen privatisieren Saatgut und Land 22 3.2.3. Exportorientierung: Konzerne diskriminieren lokale Märkte und Bevölkerung 22 3.3. Ziele und Ansätze der Anreicherungsallianzen23 3.3.1. Ausrichtung an Wirtschaftsinteressen: Konzerndominanz unterminiert Recht auf Nahrung 23 3.3.2. Entpolitisierung: Allianzen ignorieren Ursachen für Mangelernährung 25 3.3.3. Betroffene ohne Stimme: Bedürfnisse der zentralen Gruppen bleiben unberücksichtigt 25 Infobox 9: TNC – Finanzkräftige Player aus dem Globalen Norden25 3.3.4. Keine Rechenschaftspflicht: Staatenpflichten und Konzernverantwortung werden ignoriert 26 3.3.5. Befehlsempfänger Süden: Machtasymmetrie wird aufrechterhalten 26 3.3.6. Forschungslücke I: Lokale Vielfalt und Defizite sind ungenügend analysiert 27 Infobox 10: Wie unabhängig ist die Forschung zur Anreicherung von Lebensmitteln?27 3.3.7. Forschungslücke II: Wirksamkeit von Anreicherung bleibt unhinterfragt 28 Exkurs 4: Engagement der Anreicherungsallianzen in Afrika am Beispiel von Kenia28 3.4. Folgen und Defizite des Anreicherungstrends29 3.4.1. Fehlende Nachhaltigkeit: Mangelernährung wird nur kurzfristig gemildert 29 3.4.2. Verdrängung lokaler Lebensmittel: Nährstoffreiche Alternativen werden ersetzt 29 Exkurs 5: Gefährliche Irreführung - Der Milchpulver-Skandal29 3.4.3. Kaum regionale Wertschöpfung: Anreicherungsallianzen favorisieren profitable Märkte 30 Exkurs 6: Ready-To-Use-Therapeutic Food: Hilfsmaßnahme mit Risiko30 3.4.4. Hürde Armut: Angereicherte Lebensmittel erreichen lokale Bevölkerung nicht 31 3.4.5. Ungenügende Umsetzung: Anreicherungs-Vorgaben werden nicht erfüllt 31 3.4.6. Gesundheitliches Risiko I: Mit Nährstoffen angereichert ist nicht gleich gesund 31 3.4.7. Gesundheitliches Risiko II: Gefahren durch Gentechnik sind unabsehbar 32 Exkurs 7: Gesund durch Fertignahrung? 32 3.4.8. Gezielte Meinungsbildung: Definition gesunder Lebensmittel wird verzerrt 33 Exkurs 8: PPP und der ‚Multistakeholder-Ansatz‘: Instrumente für ‚Corporate Capture‘34 4. Von Mangelernährung und dem Recht auf Nahrung 35 4.1. Menschenrechtsvergehen der Anreicherungsallianzen 35 4.2. Menschenrechtsbasierter Kampf gegen Mangelernährung 36 Infobox 11: Agrarökologie – näher an der Natur und an den Menschen36 Netzwerkgrafik 38 Nährstofftabelle 39 Endnoten 40 3
Abkürzungsverzeichnis AGRA Alliance for a Green Revolution in Africa BMGF Bill and Melinda Gates Foundation CEDAW Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women CRC Convention on the Rights of Children CFS Committe on World Food Security CGIAR Consultative Group on International Agricultural Research ETO Extraterritorial Obligations EU Europäische Union FAO Food and Agriculture Organization of the United Nations FFI Food Fortification Initiative FWA Fortify West Africa GAFSP Globale Agriculture and Food Security Program GAIN Global Alliance for Improved Nutrition G8 Gruppe der 8 größten Industrienationen G20 Gruppe der 20 größten Industrienationen GFANRI Global Food and Nutrition Redesign Initiative GRI Global Redesign Initiative ICN2 Second International Conference on Nutrition IFAD International Fund for Agricultural Development IFC International Finance Corporation ILO International Labour Organization NAFSN New Alliance for Food Security and Nutrition NI Nutrition International NRO Nichtregierungsorganisation PPP Public Private Partnerships RUTF Ready to use therapeutic food SCN Standing Committee on Nutrition SDG Sustainable Development Goals SUN Scaling Up Nutrition TNC Transnational Corporation UN United Nations UNICEF United Nations International Children’s Fund USAID United States Agency for International Development WEF World Economic Forum WFP World Food Programme WHO World Health Organization WHA World Health Assembly WSK wirtschaftliche, soziale, kulturelle (Rechte) 4
Vorwort Was wir essen ist ebenso wichtig wie die Frage, komplexen Ursachen von Mangelernährung, die die- wieviel wir essen. Rund zwei Milliarden Menschen, selben sind wie jene von Armut und Hunger, werden mehrheitlich Frauen und Mädchen, leiden weltweit ignoriert: an Mangelernährung – ihren Körpern fehlen überwie- gend Vitamine und Spurenelemente. Im Globalen Sü- • fehlender Zugang zu angemessener, vielfältiger den führt das zu erhöh- Ernährung (insbesondere gesunde Lebensmittel ter Kindersterblichkeit, wie Obst, Gemüse, Vollkorn) durch mangelnden Rund zwei Milliarden Menschen, mehrheitlich Geburtsrisiken, Blind- Zugang zu bzw. mangelnde Kontrolle über Land, Frauen und Mädchen, heit, Muskelschwäche, Saatgut, Wasser; leiden weltweit an Lethargie, etc. Bei Kin- Mangelernährung. dern können irreversible • Diskriminierung von Frauen: ungleicher Zugang physische und kognitive zu Ressourcen, Verletzung ihrer reproduktiven, Defizite auftreten. Die Hauptursache für Mangeler- wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte; nährung ist die am weitesten verbreitete Menschen- rechtsverletzung weltweit: der eingeschränkte Zugang • Vernachlässigung von Kinderrechten: ein- zu angemessener Nahrung für die am meisten margi- geschränkter Zugang zu nährstoffreicher Nah- nalisierten Bevölkerungsgruppen – KleinbäuerInnen, rung und Gesundheitseinrichtungen für Kinder FischerInnen, HirtInnen, SlumbewohnerInnen, Land- aller Altersstufen (pränatal bis jugendlich); arbeiterInnen, Indigene, Landlose und insbesondere Frauen. Dabei wäre es einfach, dem auf einseitiger • keine adäquaten Lebens- und Wohnbedingungen Ernährung beruhenden Nährstoffmangel vorzubeu- (Wasser, Sanitäreinrichtungen, Unterkunft); gen: Natürliche, ausgewogene Ernährung ist für die Deckung des menschlichen Nährstoffbedarfes voll- • kaum Zugang zu öffentlichen Einrichtungen im kommen ausreichend. Die Natur birgt die dafür nötige Bereich Bildung, Gesundheit, Lebensmittelsicher- Vielfalt – dort, wo sie nicht durch die aktuelle Agrar- heit, etc.; und Ernährungspolitik, die Menschen weltweit an der Ausübung des Rechts auf Nahrung hindert, zerstört • Arbeitslosigkeit oder Einkommen, die lediglich wird. prekäres Überleben ermöglichen; fehlendes sozi- ales Netz zur Absicherung; Seit einigen Jahren gehen Regierungen unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Mangelernährung um- • fehlende Unterstützung für alternative lokale Pro- strittene Allianzen mit transnationalen Konzernen ein, duktions- und Vermarktungssysteme von Lebens- die die künstliche Anreicherung von Nahrungsmitteln mitteln, die KleinbäuerInnen zugute kommen und mit Nährstoffen vorantreiben – Gentechnik inklusive. sie von Weltmarktpreisen und Großkonzernen Bei diesen so genannten „Anreicherungsallianzen“1, unabhängig machen; die von UN-Institutionen, Forschungseinrichtungen und Stiftungen unterstützt • stattdessen Dominanz und Forcierung nicht- Die Hauptursache für werden, geht es mehr um nachhaltiger Produktions- und Vermarktungs- Mangelernährung: Profitmaximierung denn systeme, die auf dem agroindustriellen Modell eingeschränkter Zugang zu Mangelminimierung. Die basieren (inkl. Folgen wie: Verlust von Biodiversi- angemessener Nahrung. Stimmen der von Mangel- tät und Nahrungsmittelvielfalt, Boden- und Was- ernährung Betroffenen, serverschmutzung, Klimawandel, Unterlaufen deren Recht auf Nahrung verletzt wird, und die im von ArbeitnehmerInnenrechten, Verdrängung von Zentrum politischer Interventionen stehen sollten, KleinbäuerInnen); werden nicht gehört. Menschenrechtsstandards wer- den unterlaufen und wirksame lokale Alternativen zur • vermehrter Machtmissbrauch von Konzernen Bekämpfung von Mangelernährung ignoriert. Statt- und fehlende Regelwerke zu deren Regulierung; dessen wird der Versuch unternommen, die Thematik Straffreiheit jener, die für Menschenrechtsverge- zu entpolitisieren und auf eine technische Lösung – ein hen verantwortlich sind; Mehr an künstlichen Nährstoffen – zu reduzieren. Die 5
• unzureichende Kennzeichnung von Lebensmit- Im Rahmen der multilateralen Entwicklungs- teln, Bewerbung von ungesunden Lebensmitteln. zusammenarbeit, für die das Bundesministerium für Finanzen verantwortlich zeichnet, leistete Österreich Die genannten Anreicherungsallianzen sind mit- 2015 Zahlungen in der Höhe von 500 Mio. Euro2 verantwortlich für viele dieser Menschenrechts- an Weltbank-Gruppe, UN und ihre Teilorganisatio- vergehen. Zudem höhlen sie demokratische Prozesse nen WPF (Welternährungsprogramm), FAO (Organi- aus, indem sie sich zunehmend die Definitionsmacht sation für Ernährung und Landwirtschaft), UNICEF über ‚gesunde Ernährung‘ sichern. Über die Verein- (Kinderhilfswerk), IFAD (Internationaler Fond für nahmung öffentlicher politischer Prozesse beeinflus- landwirtschaftliche Entwicklung), WHO (Weltgesund- sen sie die globale Gesundheits- und Agrarpolitik in heitsorganisation), regionale Entwicklungsbanken ihrem Interesse oft langfristig. Damit fällt die Entschei- und EU – die größte EZA-Geberin weltweit. Auch das dungshoheit zunehmend an AkteurInnen, die keinerlei Forschungsnetzwerk CGIAR erhält Gelder aus Öster- Mandat dafür besitzen. Ihr simplifizierender Zugang reich. Die überstaatlichen Zusammenschlüsse und zu Nahrung reduziert das Recht auf Nahrung auf das Organisationen verwalten die Gelder und schütten ‚Recht auf Kalorien‘. Zudem bergen die von ihnen sie über thematische Programme an Länder des Glo- beworbenen und auf den Markt gebrachten Produk- balen Südens aus. Über nationale VertreterInnen ist te wie angereicherte Lebensmittel, gentechnisch ver- Österreich in diversen Gremien, die die politische Aus- ändertes Saatgut und Fertignahrung gesundheitliche richtung und Schwerpunktsetzung dieser Institutionen Risiken. Die betroffenen Menschen werden zu Konsu- mitbestimmen, beteiligt. mentInnen oder BittstellerInnen degradiert, die kaum Entscheidungsmacht haben. Neben der Frage wieviel Beispielsweise koordiniert das Völkerrechtsbüro und was wir essen ist also auch die Frage, wer be- des Außenministeriums die österreichische Vertretung stimmt, was wir essen, von großer Bedeutung. beim Menschenrechtsrat in Genf. Die Abteilung B/7 des Bundesministerium für Gesundheit und Frauen ist FIAN setzt sich für eine Abkehr von der besteh- zuständig für die Koordination der internationalen Ge- enden Agrar- und Ernährungspolitik ein: Wirksame sundheitspolitik und WHO- und UNICEF-Agenden. Lösungen im Kampf gegen Mangelernährung müssen Die Abteilung Internationale Agrar- und Handelspoli- sich mit bestehenden Machtasymmetrien und Vertei- tik des Lebensministeriums ist für die Agenden der in lungsgerechtigkeit auseinandersetzen, die strukturel- Rom angesiedelten FAO zuständig. Diese und weitere len Ursachen für Hunger, Armut und Mangelernäh- AkteurInnen – bspw. die jeweiligen VertreterInnen der rung im Blick haben, sie müssen einen ganzheitlichen österreichischen Regierung in Rom und Genf – sind Ansatz verfolgen, Menschenrechte als Basis jeglicher aufgerufen, ihren Einfluß im Sinne der Menschen- Interventionen und die betroffenen marginalisierten rechte geltend zu machen. Wir sehen das Dossier als Bevölkerungsgruppen als SchlüsselakteurInnen ver- Debattenbeitrag, der die Notwendigkeit unterstreicht, stehen. Werte wie Würde, Gleichheit, Nachhaltigkeit die aktuelle Politik zu überdenken und gemäß den sind Grundprinzipien, die nicht durch Profitinteressen Menschenrechten auszurichten. unterlaufen werden dürfen. Melanie Oßberger Studienautorin & Projektleiterin bei FIAN Österreich Das vorliegende Dossier analysiert die Anreich- erungsallianzen vor diesem Hintergrund, stellt sie auf Infobox 1: Ist genug für alle da? den Prüfstein des Rechts auf Nahrung. Es handelt sich um Teil I einer mehrteiligen Dossierreihe zum The- Nach Schätzungen der Welternährungsorgani- ma Mangelernährung, die im Rahmen des von der sation FAO haben 795 Millionen Menschen re- österreichischen Entwicklungszusammenarbeit geför- gelmäßig nicht genug zu essen. Sie sind chronisch derten Projektes ‚Menschenrechte ins Ernährungssys- unterernährt und hungern. Im Gegensatz dazu ste- hen Rekordernten in der Landwirtschaft, die laut tem‘ erstellt wird. Zielgruppe des Dossiers sind neben FAO ausreichen würden, um die Weltbevölkerung zivilgesellschaftlichen Organisationen aus dem Bereich zu ernähren.3 2014 betrug die Weltgetreideproduk- Menschenrechtsarbeit, Entwicklungspolitik und Um- tion rund 2,5 Milliarden Tonnen. Davon wurden weltschutz vor allem EntscheidungsträgerInnen aus allerdings nur 43 Prozent des verwendeten Ge- treides direkt als Lebensmittel genutzt. 36 Prozent Politik und Verwaltung. Es ist als Information für jene wurde als Tierfutter verwendet und der Rest zu österreichischen AkteurInnen, die internationale (sie- Treibstoff oder anderen Industrieprodukten verar- he: Infobox 2) und nationale Prozesse der Ernährungs- beitet.4 Hohe Produktionsraten allein bekämpfen und Agrarpolitik mitgestalten, gedacht. den Hunger also nicht. 6
1. Von Menschenrechten und Staatenpflichten Welche rechtlichen Grundlagen das Recht auf Nahrung definieren Das Recht auf Nahrung ist in der Allgemeinen Er- Im Zusammenhang mit Mangelernährung ist ins- klärung der Menschenrechte (Artikel 25)6 verankert besondere die vierte Säule von Bedeutung: und wie alle Menschenrechte ein angeborenes, indi- • Angemessenheit9: bezieht sich auf Qualität, Un- viduelles und unveräußerliches Menschenrecht. D.h. schädlichkeit und kulturelle Angemessenheit der frei von Hunger zu sein ist ein Menschenrecht. Jeder Lebensmittel um die „individuellen Ernährungs- Mensch ist damit ein/e RechteinhaberIn. Seit 1976 ist bedürfnisse zu befriedigen“. Damit ist gemeint, der auf UN-Ebene entstandene Internationale Pakt über „dass Ernährung insgesamt eine Mischung von wirtschaftliche, Nährstoffen für Wachstum, Entwicklung und Er- „Das Recht auf angemessene Nahrung soziale und kul- haltung von Körper und Geist sowie körperliche ist dann erfüllt, wenn jeder Mann, turelle Rechte Tätigkeiten umfasst, die den physiologischen Be- jede Frau und jedes Kind, allein und in (Sozialpakt)7 völ- dürfnissen des Menschen in allen Lebensphasen Gemeinschaft mit anderen, jederzeit kerrechtlich in gerecht wird (...). Innerhalb einer bestimmten physisch und wirtschaftlich Zugang Kraft und macht Kultur oder für den Verbraucher akzeptabel be- zu angemessener Nahrung oder den das Recht auf deutet, dass so weit wie möglich auch mit Nah- Mitteln zu ihrer Erlangung haben.“5 Nahrung für die rungsmitteln und Nahrungsaufnahme verbundene 160 Staaten, die Wertvorstellungen, die mit der Ernährung nichts den Sozialpakt gegenwärtig ratifiziert haben, zu einem zu tun haben, und die Besorgnisse informierter verbindlichen Menschenrecht. 1978 ratifizierte Öster- Verbraucher hinsichtlich der Art der Lebensmit- reich den Sozialpakt. Der Ausschuss für wirtschaft- tel, zu denen Zugang besteht, berücksichtigt wer- liche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Rechte) den müssen.“10 veröffentlichte 1999 einen Rechtskommentar8, der das Recht auf Nahrung konkretisierte und die diesbezüg- 2004 wurde mit den ‚Freiwilligen Leitlinien zur lichen Pflichten der Mitgliedsstaaten festlegte. Staaten Unterstützung der schrittweisen Verwirklichung des sind die Pflichtenträger. Rechts auf Nahrung im Kontext nationaler Ernäh- rungssicherung‘ der FAO das Recht auf Nahrung im Insbesondere wird auf vier Säulen hingewiesen, die Völkerrecht gestärkt. Die Leitlinien „zielen darauf ab, das Recht auf Nahrung definieren: die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln in einer Men- ge und Qualität zu garantieren, die ausreicht, um die • Zugang zu Nahrung: physischer Zugang (im Sinn Ernährungsbedürfnisse des Einzelnen zu befriedigen, von Erreichbarkeit/ Barrierefreiheit vor allem für sowie physischen und wirtschaftlichen Zugang für je- gefährdete Gruppen) und wirtschaftlicher Zu- den, einschließlich der gefährdeten Gruppen der Be- gang (finanzielle Mittel für den Erwerb von Le- völkerung, zu angemessener Ernährung ohne gesund- bensmitteln); heitsbedenkliche Stoffe und für die jeweilige Kultur akzeptabel oder die Mittel für ihren Erwerb zu garan- • Verfügbarkeit: Möglichkeit, selbst Lebensmittel tieren“11. Die Leitlinien für das Recht auf Nahrung zu produzieren bzw. das Bestehen funktionieren- stellen den ersten zwischenstaatlichen Versuch einer der Märkte für jene, die nicht selbst produzieren; Interpretation des Rechts auf Nahrung dar und bein- halten Handlungsanweisungen für Nationalstaaten im • Nachhaltigkeit: Erhaltung von Ressourcen, um Hinblick auf die Erfüllung ihrer menschenrechtlichen das Recht auf Nahrung auch für weitere Gene- Pflichten. Der Staat ist also verpflichtet das Recht auf rationen gewährleisten zu können, und Nicht- Nahrung zu Gefährdung weiterer Menschenrechte durch die • respektieren, d.h. niemanden daran zu hindern, Umsetzung des Rechts auf Nahrung. dieses Recht auszuüben; • schützen, d.h. zu garantieren, dass auch sonst niemand die Bevölkerung daran hindert, dieses Recht auszuüben (bspw. Konzerne, die Land be- 7
anspruchen); allen voran transnationale Konzerne – Menschen- • gewährleisten, d.h. Maßnahmen zur Sicherung rechtsvergehen begehen, nicht als rein nationale dieses Rechts zu ergreifen, wenn das Recht auf Aufgabe verstanden wer- Nahrung für die Bevölkerung nicht gegeben ist. den, wie dies traditionel- Staaten müssen ihre lerweise im Völkerrecht Menschenrechtspflichten auch gegenüber Menschen Menschen haben verankerte Rechte und Staaten der Fall ist. Auch der in anderen Ländern festgelegte Pflichten. Bei Konzernen spricht man von Gedanke der Universa- wahrnehmen. deren menschenrechtlicher Verantwortung. Sie haben lität, der die Menschen- sich im Rahmen von Regelwerken wie UNGP (UN rechte trägt, steht im Widerspruch dazu. Vielmehr Guiding Principles on Business and Human Rights) muss das Recht auf Nahrung im Kontext ‚extraterri- zur Einhaltung von Menschenrechten und Umwelt- torialer’ Staatenpflichten gesehen werden, d.h. Staaten standards verpflichtet oder folgen den zehn Prinzipi- müssen ihre Menschenrechtspflichten auch gegenüber en des Global Compacts12. Diese Vereinbarungen sind Menschen in anderen Ländern wahrnehmen. Auskunft aber unverbindlich und werden oft verletzt (siehe: In- über Möglichkeiten zur konkreten Umsetzung bieten fobox 9). Die Hauptverantwortung für die Umsetzung u.a. die Maastrichter Prinzipien14, die zusammenfas- der Menschenrechte tragen die Staaten. Insbesondere sen, welche extraterritorialen Pflichten Staaten unter sind sie im Rahmen ihrer Schutzpflicht dafür verant- bestehendem internationalem Recht haben. FIAN setzt wortlich, dass sie die Einhaltung der Menschenrechte sich dafür ein, dass das Recht auf angemessene Nah- durch die Konzerne einfordern, überprüfen und die rung von Regierungen weltweit als verbindliches Men- Nicht-Einhaltung sanktionieren. Auch die ‚Voluntary schenrecht weiter anerkannt und umgesetzt wird. Guidelines on the Responsible Governance of Tenure of Land, Fisheries and Forests in the Context of Natio- Die Bedeutung von Konventionen, die sich mit ein- nal Food Security‘ benennen die staatlichen Pflichten zelnen oder mehreren Menschenrechten oder mit den im Hinblick auf die menschenrechtliche Verantwor- Rechten von bestimmten Gruppen auseinander setzen, tung des Staates als “to ensure that businesses are not ist für die Umsetzung von Menschenrechten zentral. involved in abuse of human rights”13. Insbesondere die UN-Konvention zur Beseitigung al- ler Formen von Diskriminierung gegen Frauen (Con- Das Recht auf Nahrung zu respektieren, schützen vention on Elimination of all forms of Discrimination und gewährleisten darf im Kontext einer globalisier- against Women, CEDAW)15 sowie die UN-Konvention ten Welt, in der international vernetzte AkteurInnen – zum Schutz von Kindern (Convention on the Rights of Infobox 2: AkteurInnen und Prozesse der internationalen Ernährungspolitik Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization of the United Nations, FAO)18 sowie das Welternährungsprogramm (World Food Programme, WFP)19 sind zwei in Rom angesiedelte Teilorganisationen der UN mit dem Ziel die globale Ernährungssituation zu verbessern. Der Welternährungsrat (Committe on World Food Security, CFS)20 ist ein bei der FAO angesiedeltes, zwischenstaatli- ches und inklusives Forum, das ein kohärentes Vorgehen der diversen AkteurInnen aus den Bereichen Ernährung und Landwirtschaft forciert. Es ist das international entscheidende Forum, um globale Ernährungssicherheit zu erreichen und eine der wenigen Plattformen, die zivilgesellschaftlichen Organisationen – und insbesondere auch Gruppen, die von Hunger und Mangelernährung betroffen sind – die Möglichkeit bietet, politische Prozesse maß- geblich mitzugestalten. Weitere UN-Organisationen, die im Kampf gegen Mangelernährung und Hunger eine Rolle spielen, sind das Kin- derhilfswerk (UNICEF)21 und die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation, WHO)22. Das Ent- scheidungsgremium der WHO, die World Health Assembly (WHA), hat sechs Gesundheitsziele formuliert, um Mangelernährung zu bekämpfen.23 Die Generalversammlung der UN hat die ‚Decade on Action on Nutriton‘24 ausgerufen, die von 2016 bis 2025 dauert und den Rahmen für Bemühungen um eine Verbesserung der Welter- nährungssituation bietet. Bei der International Conference on Nutrition (ICN2)25, die 2014 stattfand, wurden ge- meinsame Ziele im Bereich Ernährung definiert, die von der Staatengemeinschaft unter Koordinierung von WHO und FAO umgesetzt werden sollen. Aktueller Bezugsrahmen für den Kampf gegen Mangelernährung, Hunger und Armut sind die Sustainable Development Goals (SDG). Neben weiteren ist insbesondere SDG2, das die Beseitigung von Hunger und allen Formen von Mangelernährung fordert, für die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung relevant.26 8
Children, CRC)16 sind hier zu nennen (siehe: Exkurs 2). ger und Mangelernährung betroffenen Menschen – ob Verletzungen des Rechts auf Nahrung stehen im Ge- Kind, Frau oder Mann – in den Mittelpunkt. Es/er/sie gensatz zu den genannten Konventionen, Richtlinien ist RechteinhaberIn des Rechts auf Nahrung und wird und Verträgen und be- als aktives Subjekt verstanden. hindern die Umsetzung Die Betroffenen von weiterer Menschenrech- FIAN setzt sich sowohl für die Ermächtigung ge- Menschenrechtsvergehen sehen sich meist mit te. Denn wer hungert fährdeter Gruppen als auch für verbesserte Maßnah- Diskriminierungen auf bzw. durch Mangeler- men zur Überprüfung staatlichen Handelns zur Er- mehreren Ebenen konfrontiert nährung körperlich und höhung staatlicher Rechenschaftspflichten ein. Auch und verfügen über kaum oder kognitiv eingeschränkt wenn sich die Interpretation des Rechts auf angemes- keine Stimme. ist, dem wird neben dem sene Nahrung weiterentwickelt hat, Fragen zu Macht Recht auf Gesundheit und Einfluss innerhalb der Ernährungs- und Agrarpo- meist auch das Recht auf Bildung, Arbeit, Familie und litik und die Auseinandersetzung mit tieferliegenden Selbstbestimmung – allesamt Menschenrechte, die im Ursachen werden in der von Staaten, Konzernen und Sozialpakt verankert sind – verwehrt. Ihr Recht auf UN-Institutionen geprägten internationalen Debatte Partizipation in Entscheidungsprozessen, die ihr Leben weitgehend ausgespart. Auch die soziale, kulturelle betreffen, wird ignoriert.17 und spirituelle Dimension der Ernährung wird nicht berücksichtigt. Ernährung wird meist noch immer im FIAN versteht sich als internationale Menschen- engen Sinn von Nahrungsaufnahme, das Recht auf rechtsorganisation im Einsatz für das Recht auf Nah- Nahrung als der Anspruch, frei von Hunger zu sein, rung. Wir wählen für unsere Arbeit den menschen- verstanden. Das Recht auf angemessene Nahrung rechtsbasierten Ansatz. Der Fokus liegt dabei auf der ist aber mehr: es geht um Würde, kulturelle und in- Rechtsposition und den Ansprüchen der besonders dividuelle Identitäten sowie Respekt vor Vielfalt und Benachteiligten sowie dem Bemühen, eine staatliche dem Leben an sich. Vor diesem Hintergrund und auf Rechenschaftspflicht gegenüber diesen Gruppen einzu- Grundlage der genannten menschenrechtlichen Rah- fordern. Die Betroffenen von Menschenrechtsvergehen menbedingungen analysiert das vorliegende Dossier sehen sich meist mit Diskriminierungen auf mehreren den Trend zu künstlicher Anreicherung von Lebens- Ebenen konfrontiert und verfügen über kaum oder mitteln und die Allianzen zwischen Regierungen und keine Stimme im Hinblick auf die Einforderung ihrer Konzerne, die diese regieren. Rechte. Das Recht auf Nahrung rückt den von Hun- 2. Von Mangel, Vielfalt und Anreicherung Wie einseitige Ernährung Mangelernährung verursacht 2.1. Nährstoffe im Körper und in der Nahrung Von Unterernährung oder Hunger spricht man, belle im Anhang). Viele von ihnen können nicht selbst wenn zu wenig Nahrung zur Verfügung steht (siehe: gebildet werden, sondern müssen mit der Nahrung zu- Infobox 1). Unter Mangelernährung versteht man hin- geführt werden. gegen Ernährung, die nicht vollwertig ist, d.h. es fehlen einzelne Nährstoffe27. Oft steht ausreichend Nahrung Die Ernährungslehre ist bekanntermaßen ein Feld, zur Verfügung um satt zu werden, die Zusammenset- das sich durch diverse Meinungen auszeichnet. Eine zung der Ernährung ist aber einseitig. Meist meint man der wenigen Annahmen, die alle ExpertInnen unter- einen Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen, wenn schreiben, ist jene, dass ausgewogene, natürliche Er- man von Mangelernährung spricht. Diese nehmen nährung die Grundlage für gesundheitliches Wohlbe- im Körper viele wichtige Funktionen wahr. Sie bauen finden ist. Und dass Obst und insbesondere Gemüse Muskeln auf, sorgen dafür, dass das Blut zirkuliert, der eine besondere Rolle im Speiseplan zukommen sollte. Energiehaushalt ausgeglichen ist, das Herz gut arbeitet Die offiziellen Empfehlungen der WHO für ernäh- und man sich fit und gesund fühlt (siehe: Nährstoffta- rungsphysiologisch ausgewogene Produkte28 verwei- 9
sen auf die Wichtigkeit von vielfältiger Ernährung und Freihandelsabkommen, der Dominanz von Agrar- und geben Richtwerte für die Zusammensetzung vor. Die Lebensmittelkonzernen und deren Marketingkampa- Ernährungspyramide, die von vielen Ländern als Ori- gnen (siehe: Exkurs 7) zu tun. entierung und Basis ihrer Ernährungsempfehlungen verwendet wird – u.a. von Österreich29, basiert auf die- Das Phänomen der reduzierten Pflanzen- und Nah- sen international anerkannten Ernährungsstandards. rungsvielfalt steht weiters in direktem Zusammenhang mit der Verbreitung des agroindustriellen Modelles In vielen Haushalten ist der Speiseplan allerdings und ist weltweit seit dem Einsetzen der ‚grünen Revo- wenig vielfältig. Fast Food und Fertignahrung sind vor lution‘ zu beobachten (siehe: Exkurs 1). Heute bilden allem im Globalen Norden – vermehrt aber auch im nur zehn Pflanzenarten Globalen Süden (siehe: Infobox 3 und Exkurs 7) weit und acht Tierarten die Grundsätzlich gilt, dass bei verbreitet. Das bringt ein Zuviel an Zucker und Fett Basis für die gesamte einer vollwertigen Ernährung und ein Zuwenig an wertvollen Nährstoffen. Damit Welternährung.30 So ausreichend Nährstoffe in wird das Recht auf Nahrung auch hier im Globalen werden aktuell rund herkömmlichen Lebensmitteln Norden untergraben: Denn die Verdrängung gesunder, 80 Prozent der Er- enthalten sind, und zwar in natürlicher Kost führt zu Übergewicht und Diabetes, nährung im Globalen einer für den menschlichen die als Mangel- bzw. Fehlernährung gelten. Mangel Süden über die drei Körper gewohnten Kombination und Menge. trotz Sortimentsfülle und voller Supermarktregale. Die Hauptnahrungsmittel Mangelernährung im Globalen Süden gründet sich Reis, Weizen und Mais hingegen vor allem auf den mangelnden Zugang zu di- abgedeckt.31 Insgesamt versifizierter, nährstoffreicher Ernährung für die arme decken sie die Hälfte des weltweiten Energiebedarfes. und marginalisierte Bevölkerung. Es handelt sich um protein- und stärkehaltige Lebens- mittel (Eiweiß und Kohlenhydrate), d.h. sie liefern Auffallend ist, dass viele Lebensmittel, die bspw. Energie und füllen den Magen, enthalten aber wenig in Afrika traditionell auf dem Speiseplan standen und Mineralstoffe und Vitamine.32 Gerade diese fehlen auf über viele Nährstoffe verfügen, kaum mehr Verwen- dem Speiseplan. dung finden (siehe: Kapitel 3.4.2). Das hat u.a. mit Infobox 3: Die „doppelte Last“ der Mangelernährung im Globalen Süden Mangelernährung in jeder Form stellt eine ernstzunehmende Bedrohung für die Gesundheit der Betroffenen dar. In vielen Ländern gesellen sich zu den ‚klassischen‘ Folgen der Mangelernährung zunehmend auch chronische Erkran- kungen des Herzens oder Diabetes hinzu. Die WHO betont, wie stark diese beiden vermeintlich widersprüchlichen Phänomene miteinander verflochten sind: so deutet die Forschung darauf hin, dass Unter- bzw. Mangelernährung in frühen Lebensjahren (und sogar im Uterus) die Anfälligkeit für Übergewicht und damit verbundene chronische Erkrankungen im Erwachsenenalter erhöht.33 Besonders Schwellenländer sehen sich mit der ‚doppelten Last‘ kon- frontiert: So weisen bspw. in Indonesien 12 Prozent der Kinder Symptome von Übergewicht auf; zugleich sind 12 Prozent der Kinder zu leicht für ihre Größe. In Thailand stiegen zwischen 2006-2012 sowohl die Anteile an Kin- dern mit Übergewicht als auch mit Wachstumsdefiziten an.34 Als wichtige Ursache für das zunehmende Auftreten von Übergewicht gilt – neben dem Mangel an körperlicher Aktivität – die wachsende Verfügbarkeit von industriell hergestellten, verarbeiteten Lebensmitteln und speziell Junk-Food. Oft werden diese von transnationalen Nah- rungsmittelkonzernen auf problematische Weise gezielt in Schwellenländern vermarktet (siehe: Exkurs 7). Auch wenn der Bauch voll ist, kann der Körper Zusammenstellung seiner Ernährung spürt, ist die Lö- geschwächt und unterversorgt sein. Abseits des Kalo- sung doch einfach: denn grundsätzlich gilt, dass bei rienzählens wird also schnell klar, dass nicht nur die einer vollwertigen Ernährung ausreichend Nährstoffe Quantität der verfügbaren Lebensmittel eine Rolle in herkömmlichen Lebensmitteln enthalten sind, und spielt, sondern auch die Qualität der Nahrung und zwar in einer für den menschlichen Körper gewohnten deren Zusammensetzung. Wissen um Nährstoffreich- Kombination und Menge.36 Entscheidend ist der Zu- tum sowie Kenntnisse zu Lagerung und Zubereitung gang zur natürlichen Vielfalt an hochwertigen, nähr- von Lebensmitteln befördern gesunde Ernährung. Und stoffreichen Nahrungsmitteln, die wiederum auf der auch wenn man angesichts der vielen Wechselwirkun- Vielfalt der Natur beruht (siehe: Exkurs 1). gen zwischen den Nährstoffen35 Überforderung bei der 10
Exkurs 1: Biodiversität Rund 30 Millionen Pflanzenarten existieren laut ExpertInnen auf der Erde, nicht einmal zwei Millionen davon sind wissenschaftlich erfasst. Und nur 5.000 bis 30.000 Arten werden vom Menschen genutzt. Diese Vielfalt zu erhalten ist Ziel einiger internationaler Übereinkommen.37 Der Vormarsch des industriellen Landwirtschaftsmodelles hat massiv dazu beigetragen, dass die Vielfalt stark reduziert wurde. So wurden vor der so genannten ‚Grünen Revo- lution‘ (siehe: Infobox 8) in der traditionellen Landwirtschaft weltweit etwa 75.000 Reissorten angebaut. 2008 waren es nur noch 50. Allein in Indien waren rund 30.000 Arten in Verwendung, von denen heute nur mehr zehn eine Rolle für die Ernährung spielen.38 Diversität ist für die Menschheit die Grundlage für gesunde, ausgewogene Ernährung – und damit unser aller Gesundheit. Für die Milliarden KleinbäuerInnen weltweit – rund 2,5 Milliarden Menschen weltweit leben vorwiegend von der Landwirtschaft39 – ist die Diversität der Natur ihre Existenzgrund- lage. Je größer die Vielfalt der Pflanzen und Tierarten desto größer ist auch die Absicherung gegenüber Missernten und Schädlingsanfälligkeit. Der Saatgut-Pool muss durch die Kreuzung ‚neuer‘ Sorten immer wieder aufgefrischt werden, das erhöht die Anpassungs- und Überlebenschancen der Pflanzen und mit ihnen der künftigen Generatio- nen.40 Der Erhalt und die Förderung der Biodiversität stellen darüber hinaus die beste Prävention gegen Naturkatastro- phen dar. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ist dem Risiko ausgesetzt, zumindest von einer Naturkatastro- phe betroffen zu sein. Traditionelle kulturelle Ökosysteme wie Agrarforstwirtschaft oder Terrassenanbau spielen eine wichtige Rolle bei der Linderung extremer Wetterphänomene. Der Schutz natürlicher Ökosysteme trägt außer- dem dazu bei, der Desertifikation und Bodendegration entgegen zu wirken. Auch bei Tsunamis, Flächenbränden, Hurrikanes oder Erdbeben übt die natürliche Artenvielfalt stabilisierende Wirkungen aus41. Besondere Beachtung verdient die Rolle, die Frauen beim Erhalt der Biodiversität einnehmen. Vor allem Frauen in indigenen Gemein- schaften betonen, dass die Artenvielfalt die Existenzgrundlage ihrer Gruppen darstelle. Aus Wildpflanzen haben sie über Jahrhunderte die Vielfalt der Nutzpflanzen entwickelt. Als Sammlerinnen von Feuerholz, natürlichen Heil- mitteln, Nahrungsmitteln oder Baumaterial und als Bewirtschafterinnen von Agrarflächen gelten Frauen als das wichtigste Bindeglied zwischen Ernährung und dem Erhalt der Biodiversität42. 2.2. Prävalenz und Folgen von Mangelernährung Mangelernährte sind von Blindheit, Herzkreislauf- in diesem generationsübergreifenden Kreislauf aus Ar- störungen, Muskelschwäche, Einschränkungen in der mut und niedrigem Bildungsstand gefangen sind, sind kognitiven und physischen Entwicklung und weiteren besonders von Mangelernährung betroffen. Kleinste Leiden (siehe: Nährstofftabelle im Anhang) betroffen. Veränderungen in der Verfügbarkeit von Nahrung las- Insgesamt fühlen sich mangelernährte Menschen ge- sen sie zudem von Mangelernährten zu Hungernden schwächt und sind anfälliger für Krankheiten.43 Durch werden. Das ist insbesondere bei Kindern eine große die Einschränkung ihres Rechts auf Nahrung wird Gefahr. auch ihr Menschenrecht auf Gesundheit verletzt.44 Und da es für an Mangelernährung leidende Menschen auf- Hunger und Mangelernährung sind das Resultat grund des eingeschränkten Leistungsvermögen schwie- von Marginalisierung und Diskriminierung auf mehre- rig ist, einer fordernden Tätigkeit oder (Aus-)Bildung ren Ebenen: sozial, politisch, nachzugehen, sind auch weitere Menschenrechte wie wirtschaftlich und geogra- Hunger und Mangelernährung das Recht auf Bildung und Arbeit vermehrt in Gefahr, fisch. Die besonders betrof- sind das Resultat von was wiederum die Armut fördert. Damit setzt sich ein fenen Gruppen haben kaum Marginalisierung und Kreislauf in Gang, der schwer zu durchbrechen ist. Möglichkeiten, Einfluss auf Diskriminierung auf Politikentscheidungen zu mehreren Ebenen. Insbesondere Frauen – sie sind überdurchschnitt- nehmen, werden im Alltags- lich oft von Menschenrechtsverletzungen betroffen leben ausgegrenzt, wirtschaftlich benachteiligt und in – werden aufgrund fehlender Bildungsperspektiven Gebiete abgedrängt, in denen es besonders schwierig und Verdienstmöglichkeiten in die Abhängigkeit von ist zu überleben. Mangelernährte finden sich vor allem Ehemännern und Dorfgemeinschaften manövriert unter den KleinbäuerInnen und HirtInnen, Indigenen, und diskriminierenden Traditionen (siehe: Exkurs 2) SlumbewohnerInnen und Landlosen. Also besonders ausgesetzt. Die Missachtung ihres Rechts auf Nah- jene ländlichen Bevölkerungsgruppen, die nicht aus- rung wirkt sich auch auf ihre Kinder aus, die meist reichend Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Land, schon mangelernährt zur Welt kommen. All jene, die Wasser und Saatgut haben, um eigene hochwertige 11
Nahrung anzubauen. Und jene urbane Bevölkerung, Frauen sind während der Schwangerschaft und die aufgrund von Arbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen Stillzeit besonders von Nährstoffmangel betroffen, oder mangelhafter sozialer Absicherung über zu wenig denn der gesteigerte Energiebedarf kann oft nicht finanzielle Mittel verfügt, um diese Nahrungsmittel zu durch ein Mehr an qualitativen Lebensmitteln ausge- kaufen. Insbesondere betroffen sind Frauen und Mäd- glichen werden. Das erhöht wiederum die gesundheit- chen. Sie sind auch Armut und Hunger in besonderem lichen Risiken: Mangelernährung fördert Anämie. Der Maße ausgesetzt (siehe: Exkurs 2) – dies stellt einen reduzierte Hämoglobinwert führt zu vermehrten Blu- klaren Bruch mit CEDAW und der UN-Kinderrechts- tungen bei der Geburt – das bringt Komplikationen für konvention (CRC) dar. Mutter und Kind mit sich und erhöht die Sterberaten bei Geburten.49 Ein Zusammenhang, der vor allem in Die Zahlen zu Mangelernährung sind vage, die Be- Ländern mit hohen Aids-Raten eine große Rolle spielt, troffenen oft nicht als solche erkennbar. Trotz Man- ist jener, dass mangelernährte HIV-positive Mütter das gelernährung ‚funktionieren‘ sie. Die FAO geht aber Virus öfter an die Kinder im Uterus weiter geben als davon aus, dass weltweit ca. zwei Milliarden Men- ausgewogen und ausreichend ernährte Frauen. Auch schen mangeler- ein beschleunigter Ausbruch der Krankheit konnte bei nährt sind.45 Rund Kindern mangelernährter, aidskranker Frauen festge- Insbesondere betroffen sind 800 Millionen Men- stellt werden.50 Frauen und Mädchen. Sie sind schen hungern (sie- auch Armut und Hunger in he: Infobox 1). Das Insgesamt kann festgehalten werden, dass mangel- besonderem Maße ausgesetzt. Recht auf Nahrung ernährte Frauen mangelernährte Kinder bekommen. ist damit das am Mitunter neigen sie später auch zu Übergewicht und meisten verletzte Menschenrecht. Die verlässlichsten Fettleibigkeit, wie neueste Angaben gibt es in Bezug auf mangelernährte Kinder. Studien zeigen (siehe: Info- Der Kampf für Frauenrechte und Denn hier lässt sich laut ExpertInnen ein konkreter box 3). Und auch der Vater gerechtere Verteilung und trauriger Zusammenhang herstellen. Im Jahr 2015 kann die Folgen von Man- von Macht, Ressourcen starben lt. UNICEF 5,9 Millionen Kinder unter fünf gelernährung an das Kind und Arbeit muss ein Jahren. Fast die Hälfte der Todesfälle ist auf Mangeler- weitergeben, wenn er zum Kernanliegen im Kampf nährung zurückzuführen – die geschwächten Körper Zeitpunkt der Befruchtung gegen Mangelernährung der Kinder haben zu wenig Abwehrmechanismen, um darunter leidet.51 Die Ge- sein. sich gegen an sich nicht tödliche Krankheiten wie Lun- sundheit der Kinder hängt genentzündung, Durchfall oder Malaria zu wehren.46 also stark von der Gesundheit der Eltern – und insbe- sondere der Mutter – ab. So wichtig diese Feststellung Man geht weiters davon aus, dass 160 Millionen ist und so wichtig deren Berücksichtigung im Kampf Kinder unter fünf Jahren im Globalen Süden bzw. je- gegen Mangelernährung, so vehement muss der damit des vierte Kind weltweit von ‚Stunting‘ betroffen sind. in Zusammenhang stehenden Aushöhlung von Frau- Dabei handelt es sich um eine zu geringe Körpergrö- enrechten entgegen getreten werden. ße im Vergleich zu gesunden AltersgenossInnen. 80 Prozent der Kinder, die darunter leiden, finden sich in Der Hinweis auf die Bedeutung von Frauen im den 36 ärmsten Ländern der Welt.47 Mangelernährung Kampf gegen Mangelernährung darf nicht als Plädoy- kann schon das ungeborene Kind beeinträchtigen: er für die Erhaltung von geschlechtsspezifischen Rol- Jodmangel kann beispielsweise zu irreversiblen kogni- len oder den schmalen Fokus auf Maßnahmen nur für tiven und physischen Beeinträchtigungen des Babys Schwangere und Mütter missverstanden werden. Auch führen. Rund 20 Millionen Neugeborene sind jährlich nicht als Argument dafür, Frauen im Globalen Süden davon betroffen. Vitamin A-Defizit, von dem ca. 140 neben all ihren Verantwortungen noch eine weitere Millionen Kinder im Globalen Süden betroffen sind, aufzubürden. Es darf aber als Anerkennung der bedeu- ist die häufigste Ursache von Blindheit. Am weitesten tenden Rolle verstanden werden, die Frauen im Kampf verbreitet ist der Eisenmangel, der zu allgemeiner Ab- gegen Mangelernährung spielen können und schon geschlagenheit führt. Rund 40 Prozent aller Kinder im jetzt spielen (siehe: Exkurs 2). Der Kampf für Frauen- Globalen Süden sind davon betroffen.48 rechte und gerechtere Verteilung von Macht, Ressour- cen und Arbeit muss ein Kernanliegen im Kampf gegen Mangelernährung sein. 12
Exkurs 2: Frauen und Mangelernährung Frauen und Mädchen sind überproportional von Mangelernährung betroffen. Die patriarchalen Strukturen füh- ren dazu, dass Ressourcen, Einkommen und Bildungschancen sowie Entscheidungsmacht (innerhalb der Familie, Gesellschaft und Politik) ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt sind. Das widerspricht der UN-Frauen- rechtskonvention CEDAW und untergräbt das Recht auf Nahrung. Frauen tragen im Globalen Süden rund 60 - 80 Prozent der Nahrungsmittelproduktion52 und sind zusätzlich meist für Haushalt, Kindererziehung und die Pflege der Älteren verantwortlich. Der erhöhte Energiebedarf, der sich aus diesem anstrengenden Alltag ableitet, wird nicht durch ein Mehr an Energielieferanten und Nährstoffen ausgeglichen. Im Gegenteil: In vielen Kulturen stehen die Frauen in der Familienhierarchie ganz unten, d.h. sie essen als letzte und bekommen die kleinsten Portionen. Das steht im krassen Widerspruch zu der Rolle, die sie im Kampf gegen Mangelernährung spielen. Sie leisten nicht nur körperlichen Einsatz, indem sie die Nahrung für die Familie produzieren und zubereiten, viele Frauen erleich- tern die prekäre Ernährungssituation in ihren Haushalten durch ihr Wissen um Lagerung, kulinarische Vielfalt, Nährstoffreichtum und schonende Zubereitungsarten lokaler Pflanzen. Bisher bestellen Frauen mehrheitlich Land, das (ihren) Männern gehört. Denn Frauen verfügen geschätzt über nur zehn Prozent der Anbauflächen weltweit – für die sie kaum offizielle Landtitel besitzen. Bei Enteignungen trifft es sie als erste. Zusätzlich werden sie meist mit dem am wenigsten fruchtbaren Land abgespeist.53 Mehr Zugang zu Ressourcen und somit stärkere ökonomische Unabhängigkeit von (ihren Ehe-)Männern ist ein wirksamer Hebel für die Durchsetzung der reproduktiven Rechte von Frauen. Bildungs- und Einkommenschancen sind Schlüsselfaktoren, die Frauen in die Lage versetzen, selbst zu bestimmen, wie sie ihr Leben führen möchten. Die Stärkung der Frau im Kampf gegen Mangelernährung darf nicht darauf abzielen, sie einzig in ihrer Rolle als Mutter und Versorgerin zu begreifen. Relevante Zusammenhänge zwischen der Ermächtigung von Frauen und der Gesundheit ihrer Kinder dürfen aber auch nicht außer Acht gelassen werden. Neben anderen Studien bestätigen eine statistische Auswertung der Entwicklung in Brasilien sowie eine Gesundheitsumfrage aus Kenya die Zusam- menhänge zwischen dem Bildungsgrad der Mutter und dem Ernährungsstatus der Kinder.54 Während diese Zusammenhänge hinlänglich bekannt sind, bleibt die Stärkung von Frauenrechten seit Jahrzehnten hinter den Lippenbekenntnissen zurück. Die Anreicherungsallianzen, die sich offiziell dem Kampf gegen Mangel- ernährung annehmen, nehmen Frauen vor allem in jener Rolle wahr, die Potential für Profitmaximierung aufweist: als um ihre Kinder besorgte Konsumentinnen. Mit Nährstoffen angereicherte Baby-Nahrung wird als Lösungsweg aufgedrängt, wie in der Vergangenheit das Milchpulver, dessen Einsatz nach der Aufdeckung des Nestlé-Skandals 1974 nicht mehr aktiv beworben werden darf – ein Verbot, das nicht immer eingehalten wird (siehe: Exkurs 5). Ziel des neuerlichen Engagements der Konzerne ist es abermals, eine Abhängigkeit der Mütter von den Unternehmen zu erzeugen. 2.3. Arten und Nutzung angereicherter Nahrungsmittel Functional Food, RUTF (Ready to use food), Sport- aus vielen europäischen Ländern ist der Jodzusatz im nahrung, Nutraceutica, Nahrungsergänzungsmittel... Speisesalz. (siehe: Infobox 4) hinter den zahlreichen Bezeichnungen verbirgt sich ein Konzept: Lebensmittel mit ‚Gesundheitsnutzen‘ für Im Globalen Süden finden sich ebenfalls teure die Menschen auszustatten, sie mit Nährstoffen anzu- Nahrungsergänzungsmittel oder ‚functional food’ wie reichern. Im Globalen Norden reicht die Palette von Müsli- und Sportriegel – sie sind aber exklusiv einer mit Vitaminen angereicherten Säften über probiotische reichen Elite vorbehalten. Arme Bevölkerungsgruppen, Joghurts und Müsli die Zielgruppen von Hilfsmaßnahmen durch UNICEF Es wird der Eindruck vermittelt, mit Wellnessverspre- und WFP sind, werden vor allem über therapeutische dass natürliche, ausgewogene chen bis hin zu Brot, Nahrung erreicht. Der Einsatz in Nicht-Krisenzeiten Ernährung für die optimale dem Omega 3 zuge- ist umstritten, weil er langfristig das Recht auf Nah- Versorgung des Körpers nicht setzt wurde. Es wird rung untergräbt (siehe: Exkurs 6). Der Großteil der ausreicht. der Eindruck vermit- Bevölkerung im Globalen Süden kommt über ange- telt, dass natürliche, reicherte Grundnahrungsmittel mit künstlichen Nähr- ausgewogene Ernährung für die optimale Versorgung stoffen in Berührung. Dazu kommen Fertigprodukte, des Körpers nicht ausreicht. Flächendeckende Anrei- die nicht unter die Definition von ‚angereicherten Le- cherung, die alle KonsumentInnen betrifft, gibt es im bensmitteln’ fallen, aufgrund ihrer vielen künstlichen Globalen Norden vergleichsweise wenig. Ein Beispiel Zusatzstoffe und ihren gesundheitlichen Folgen aber 13
ähnlich kritisch hinsichtlich ihrer menschenrechtlichen werden beigemengt. Über 20 afrikanische Staa- Kompatibilität gesehen werden müssen. Sie werden ten sehen die Anreicherung von Weizenmehl ver- aktuell gezielt in Schwellenländern vermarktet (siehe: pflichtend vor. Viele davon schreiben auch eine Exkurs 7). verpflichtende Anreicherung von Maismehl vor. Dazu kommen mit Vitamin A angereicherte Pflan- zenöle, wie sie z.B. in Indien und Westafrika ein- gesetzt werden.59 Infobox 4: Jodanreicherung in Österreich • Nahrungsergänzungsmittel/Supplementierung: Österreich galt als Jodmangelland aufgrund von es handelt sich um Lebensmittel, die für eine jodarmen Böden und geringem Fischverzehr. Das spezifische Gruppe zu einem spezifischen Zweck Aufkommen von Schilddrüsenerkrankungen, ins- entwickelt wurden. Während Nahrungsergän- besondere Kropferkrankungen, war hoch. Seit zungsmittel in Pillen- oder Pulverform angeboten 1963 wird dem Salz in Österreich deswegen Jod werden, handelt es sich bei Functional Food um beigemengt.55 Die Kropferkrankungen gingen durch den vermehrten Jodkonsum zwar nach- ‚normale‘ Lebensmittel, die um Nährstoffe erwei- haltig zurück, kritische Studien bringen aber Auto- tert wurden. Vor allem im Globalen Norden ist immunerkrankungen der Schilddrüse bis hin zum dies eine finanzstarke Branche, die u.a. nährstoff- Schilddrüsenkrebs mit der Jodierung in Verbind- reiche Müsliriegel und Energy Drinks umfasst. Im ung.56 Grundsätzlich wird die Salzjodierug von vielen ExpertInnen als Erfolgsgeschichte für die Globalen Süden sind sie bisher vor allem als the- Anreicherung von Lebensmitteln angeführt. Das rapeutische Lebensmittel ‚RUTF‘ im Einsatz. deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung wie auch die WHO empfehlen die Anreicherung von • Biofortifikation: Eine Pflanze wird im Zuge der Speisesalz mit Jod um dem relativ hohen Risiko eines Jodmangels vorzubeugen.57 Züchtung mit spezifischen Nährstoffen angerei- chert, um die Erntefrüchte mit bestimmten Eigen- schaften auszustatten – oft mit Hilfe von ExpertInnen warnen Gentechnik. Der mit aber davor, ausgewogene, Infobox 5: Produktion von Vitamin A angerei- natürliche Ernährung Vitaminen cherte ‚Golden Rice’, durch künstliche Nahrung zu ersetzen. der als besonders ‚Die Zeit‘ berichtete, dass in den Fabriken der als ‚Medikamentenmetropole‘ bekannten Stadt Shi- nährstoffreich bewor- jiazhuang in China tausende ArbeiterInnen unter ben wurde, ist ein Beispiel dafür. Costa Rica und unwürdigen Bedingungen Vitamine und nährstoff- Papua Neuguinea setzen seit längerem auf die reiche Zusätze produzieren, die vor allem für den Anreicherung von Reis. Burundi, Ägypten, Indi- europäischen Markt gedacht sind. Beispielsweise wird dort Ascorbinsäure, also synthetisches Vita- en, Indonesien und Bangladesch stehen vor der min C, hergestellt. Für den Herstellungsprozess ist Umsetzung.60 Die Bioaddition ist ein relativ neues die Verwendung von Nickel und anderen Metallen Verfahren, bei dem Tiere zusätzlich mit Nährstof- nötig, die Luft und Abwasser verschmutzen und fen gefüttert werden, um so angereicherte Tier- Rachen und Lunge der ArbeiterInnen schädigen. Die ArbeiterInnen gehen das Gesundheitsrisiko für produkte zu erhalten. Beispiel dafür ist das ‚for- ausbeuterische Minimallöhne und exzessive Über- tified egg‘.61 stunden ein.58 Zivilgesellschaftliche Organisationen und Exper- tInnen sind sich einig, dass die Anreicherung von Nah- rungsmitteln unter bestimmten Voraussetzungen sinn- Die technischen Verfahren zur Anreicherung sind je voll sein kann. Wenn es beispielsweise darum geht, in nach Verwendungszweck unterschiedlich. Grundsätz- Krisensituationen die Menschen durch RUTF vor dem lich unterscheidet man folgende Methoden: Verhungern oder akuter Mangelernährung zu bewah- ren oder wenn ein spezifisches Defizit, von dem eine • Beimengung von Nährstoffen zu Grundnahrungs- bestimmte Gruppe betroffen ist, kompensiert werden mitteln (Weizen, Öl, Mais, Salz), meist in Pulver- soll (Beispiel Schwangere). ExpertInnen warnen aber form: Beispiele sind die Iodisierung von Salz oder davor, ausgewogene, natürliche Ernährung durch die in vielen Ländern übliche Anreicherung von künstliche Nahrung zu ersetzen. Man schätzt, dass Weizenmehl durch Folsäure, um das Risiko von unsere Lebensmittel etwa 10.000 verschiedene Nähr- Geburtsfehlern zu minimieren. Auch Vitamine stoffe mit Einfluss auf das Wohlbefinden enthalten und 14
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