Vor aller Augen - Reformierte Stadtkirche

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Vor aller Augen - Reformierte Stadtkirche
Vor aller Augen

Die Stadt Wien unterhält ein Programm, das Kunst in den öffentli-
chen Raum bringen soll. „Die Aufgabe der KÖR ist die Belebung des
öffentlichen Raums der Stadt Wien mit permanenten bzw. temporä-
ren künstlerischen Projekten.“ So die Eigendefinition der Initiative
von 2004 der Geschäftsgruppen Kultur, Stadtentwicklung und Woh-
nen, die seit 2007 von einem Fonds betrieben wird. Eine jeweilige
Zäsur im Alltagstrott, im gewohnten Stadtbild und der bequemen
Gleichgültigkeit, die aufmerken lässt und zum Nachdenken anregt.
Jüngste Beispiele sind die Permanentinstallation Themroc (seit 15.
Oktober) von Steinbrener/Dempf & Huber an der dem Donau-
kanal zugewandten Hausfront des Georg-Emmerling Hofes bei der
Station Schwedenplatz zum Thema Wohnungsmarkt. Und die tem-
poräre Installation STREAMERS – a COVID Sculpture von Benoît
Maubrey vor dem Gebäude der Wirtschaftskammer am Bahnhof
Praterstern (von Ende Jänner bis Anfang Mai) als Anregung und
Einladung zum Umgang mit unserer akustischen Umwelt.

                                   Kulturstadträtin Kaup-Hasler zur Eröffnung

     Sehr viel aufregender und brisanter allerdings sind die öffentli-
chen Auftritte des Chinesen Ai Weiwei. Dem im Exil lebende pro-
minentesten Dissidenten Chinas ist die Aufmüpfigkeit schon in die
Kinderschuhe geschoben worden. Sein Vater, ein international an-
erkannter Dichter, ist zum Opfer der Kulturrevolution geworden,
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weshalb Ai Weiwei mit ihm in einem Erdloch aufwachsen und die
Tiefe dessen Demütigung miterleben musste. Die politische Kehrt-
wende unter Deng Xiaoping vollzieht allerdings eine trügerische
Modernisierung der Gesellschaft. Die Wirtschaftsliberalisierung steht
im Gegensatz zum Monopol der Partei und provoziert den Wider-
spruch der Künste und Künstler wie Ai Weiwei. Er geht nach New
York und lässt sich dort von Minimalismus, Konzept- und Raum-
kunst, Performance, Dada und Pop Art anregen.
      Seit seiner Rückkehr nach China, um sich zunächst um seinen
kranken Vater zu kümmern, setzt er sich intensiv mit der uralten
chinesischen Kultur und Kunst auseinander und „übertüncht“ sie
mit den Markenzeichen der Konsumgesellschaft. Er veröffentlicht
Untergrundpublikationen zur chinesischen Avantgarde und macht
gleichzeitig Karriere mit seinem Architektur- und Designstudio, ist
mit einem Schweizer Architekturbüro am Entwurf des National-
stadions für die Olympischen Sommerspiele in Peking 2008 betei-
ligt. Mit seinen gesellschaftskritischen Arbeiten und seinem Blog
reizt er die Zensur, gerät zwei Mal in Haft und sein Name wird im
chinesischen Internet gelöscht. Auf massiven internationalen Druck
hin wird er freigelassen und geht ins Exil, von wo aus er sich wei-
terhin und nicht nur in die chinesischen Verhältnisse einmischt.
                                        Er avanciert zu einem all-
                                   seits unbequemen Menschen-
                                   rechtsaktivisten. Er identifiziert
                                   sich mit den Opfern der Flucht in
                                   Schlauchbooten über das Mit-
                                   telmeer. Eine „Kristallkugel“
                                   auf den zurückgelassenen und
                                   als Lotos- und Seerosenblüte ge-
                                   formten Schwimmwesten auf
                                   Lesbos und das in persönlicher
                                   Pose nachgestellte Foto des to-
                                   ten syrischen Kindes Aylan Kurdi
                                   als Legoarbeit „Nach dem Tod
                                   des Marat“. Während der me-
                                   diale Aufschrei ihm unmoralische
                                   Publicity vorwirft, bedankt sich
                                   der Vater von Aylan persönlich
                                   für das Mahnmal seines Sohnes.
    So wie er bereits vorher den vielen Schulkindern unter den
90.000 Opfern des Erdbebens 2008 in Sichuan ein Denkmal gesetzt
und aus ca. 1.000 in den Trümmern aufgefundenen Schulranzen ei-
ne bedrohliche Schlange geformt hat. Darüber hinaus hat er die
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Namen und Daten der mehr als 5.000 Kinder recherchiert und in
einer bedrückend nüchternen Wandinstallation aufgelistet sowie die
verformten Armierungseisen der betroffenen Mittelschule Beichuan
zu einer Bodeninstallation der krummen Eisenstäbe verteilt unter
dem englischen Titel „Forge“ – zu Deutsch: „Schmiede“, „formen“,
„fälschen“ bzw. „verfälschen“.

     Mit dem wachen Blick für die Signale der Katastrophen, die auf
Missstände und anhaltende Krisen wie den Klimawandel verweisen,
„zeichnet“ er Ikonen der Kunstgeschichte nach. „Ohne Titel (nach
van Gogh)“ setzt in Reaktion auf die Heuschreckenplage 2019 in
Ostafrika und die massiven Ernteausfälle den „Sämann“ in Lego-
steine als verpixelte Spielerei in doppelte Ambivalenz. Den Arm
mit Stinkefinger in mehreren Variationen und als fotografischen
Blick vor politischen Institutionen und touristischen Hotspots im zi-
vilen Ungehorsam wie das „Laufband von Assange“, das ihm Ju-
lien Assange bei einem Interviewbesuch in der ecuadorianischen
Botschaft in London geschenkt hat, als Readymade und Mahnmal
für Informations- und Meinungsfreiheit. Ineinander verschweißte
Fahrradskulpturen als Sinnzeichen der chinesischen Unfreiheit.
Wie auch die in Marmor veredelten Skulpturen der allgegenwärtigen
Überwachungskameras für den längst über China hinausgehen-
den Überwachungswahn.
     Die von Dieter Buchhart und Elsy Lahner kuratierte Ausstel-
lung „Ai Weiwei. In Search of Humanity“ in der ALBERTINA
modern präsentiert (bis Anfang September) auf überzeugende
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Weise einen vielseitigen Künstler, der vordergründig wie tiefsinnig
anspricht und die Augen öffnet, wo man schon nicht mehr hin-
schauen möchte. Dabei besticht die kreative Verbindung alter und
überkommener chinesischer Kunst und Kultur mit dem Blick auf die

abendländischen Kunstwerke und die geradezu ikonischen Werke
der Modern Art. In der wiederholten Spielerei mit den Abermillionen
Kinderzimmer füllenden Legosteinen oder in den Rätseln der
„Schaufel mit Pelz“ und dem „Schuhkreis“ (1986). Wie in den Mao-
Porträts auf billigem Wellblech à la Andy Warhol.

     Die jüngste Ausstellung im Leopoldmuseum widmet sich ei-
nem Künstler, der weniger in der Öffentlichkeit vertreten ist, aber
gerade dafürsteht, Verborgenes vor aller Augen geführt zu haben.
Mit „Alfred Kubin. Bekenntnisse einer gequälten Seele“ hat
der Direktor Hans-Peter Wipplinger in Zusammenarbeit mit Au-
gust Ruhs höchstselbst eine Vorstellung des düsteren Œuvres des
von seinen Ängsten und Träumen getriebenen aus Nordböhmen
stammenden und im Salzburgischen aufgewachsenen und vor-
nehmlich in schwarz-weißen Grautönen malenden Zeichners über-
nommen. Die phantasiereichen und phantastischen wie bedrücken-
den zumeist mit der Feder ausgeführten Tuschezeichnungen und
Aquarelle schaffen einen Kosmos an Alpträumen, Ängsten und Visi-
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onen, die angesichts der gegenwärtigen Schreckensereignisse des
Krieges, der Pandemie und der Umweltkatastrophen beinahe pro-
phetisch wirken. Wenn sie nicht als Widerspiegelung der Erfahrun-
gen in seinem eigenen Leben erkannt werden. Zusammenbruch der
Monarchie, Spanische Grippe und zwei Weltkriege gehören dazu wie
sein von einigen Traumata gezeichnetes persönliches Schicksal.
     Allerdings sind seine Werke mehr als eine Verarbeitung von
Träumen. Er lehnt die Traumdeutung von Sigmund Freud ab, weil
ihn dessen Bilder nicht überzeugen konnten. Dagegen lagen ihm die
Archetypen des C. G. Jung erkennbar näher.

Hans-Peter Wipplinger stellt seine Auswahl vor

      „Die Ausstellung intendiert, die Kunst der Kubin’schen Traum-
welten, die allzu oft in düstere Sphären vordringt, in ihrem Bezug
zum Unbewussten zu erfassen…eine Synthese, in der das Unheimli-
che der pessimistischen Weltkonstruktionen immer wieder mit Hu-
mor, Ironie und Übertreibung versehen ist.“ (H.-P. Wipplinger) Die
bildliche Erfassung in düsteren Strichen und verzerrten Gestalten
öffnet Abgründe, die man wie Alpträume beim Aufwachen abschüt-
teln möchte und doch nicht loslassen kann. Vielleicht auch nicht
sollte, wie der in Kubins Zeichnungen festgehaltene Schrecken nur
abgeschüttelt werden kann, wenn ich mich dem stelle. So gesehen
können die Bilder, in Ruhe und mit ehrlichem Eingeständnis der
persönlichen Betroffenheit betrachtet, eine gewisse Reinigung und
Loslösung anbieten.
      Dabei verliert sich die Ausstellung nicht im düsteren Kosmos
von Alfred Kubin. (Es gibt nur wenige Werke, bei denen er auch zur
Farbe gegriffen hat.) Beispiele älterer und zeitgenössischer Künstler
zeigen vergleichbare Themenwahl und ähnliche Ausdrucksformen.
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Wohl nicht zufällig auch zumeist monochrom ausgeführt. Am be-
kanntesten Francisco de Goya (1746-1828). Auffällige Ähnlichkei-
ten bei Félician Rops (1833-1898) und Fernand Khnopff (1858-
1921). Nicht zu vergessen Edvard Munch (1863-1944) in seinen
emotionalen Ausbrüchen und Max Klinger (1857-1920), dessen
Radierungen für Kubin „ein Erweckungserlebnis“ waren als er sie im
Münchner Kupferstichkabinett kennenlernte.

Thomas Theodor Heine, Teufel, 1904     Alfred Kubin, Der Tod als Tänzer, 1922

     Die Ausstellung präsentiert 162 Werke von Alfred Kubin, von
denen 65 aus der Sammlung des Leopoldmuseums selbst stammen,
und werden durch gut 80 weitere aus hochrangigen Privatsamm-
lungen und Museen ergänzt.

                               Text und Fotos Johannes Langhoff
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