Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz

Die Seite wird erstellt Volker Lenz
 
WEITER LESEN
Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz
Untervazer Burgenverein Untervaz

       Texte zur Dorfgeschichte
            von Untervaz

                                                   1959

                    Das Segantini Museum in St. Moritz

Email: dorfgeschichte@burgenverein-untervaz.ch. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter
http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz
-2-

1959   Das Segantini Museum in St. Moritz                                Hugo Wetzel
       Terra Grischuna - Heft Nr. 5. 1959. Seite 354-356.

       Noch nicht 42 Jahre alt starb Kunstmaler Giovanni Segantini. Es war am 28.
       September 1899, auf dem Schafberg ob Pontresina. In diesem Alter beginnt für
       einen Künstler die eigentliche schöpferische Schaffensperiode. Er aber hatte
       bereits Arbeiten vollendet, die als klassische Kunst in die Geschichte der
       Malerei eingingen. Diese Tatsache zeichnet Segantini als einen
       Hervorragenden, einen wirklich Berufenen. Trotz seines frühen Todes ist seine
       Bedeutung in der Kunstgeschichte für immer verankert.
       Geboren in Arco, dem damaligen Südtirol, vollzog sich sein Aufstieg in
       Graubünden, im Oberhalbstein, Engadin und Bergell.
Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz
-3-

Nach seinem Tode machte sich in St. Moritz, wo er viele Freunde hatte, recht
bald das Bedürfnis geltend, das Andenken an den Meister zu verewigen. Er war
im Engadin hochgeachtet als Künstler wie als Mensch. Das Echo seines frühen
Todes war in der Schweiz, in Italien, Deutschland, Österreich, Holland und
Frankreich recht gross. Seine Anerkennung in der Kunstwelt hatte bereits
europäisches Ausmass angenommen. Man ahnte in ihm das Kommen eines
Koryphäen, der die Fähigkeiten in sich trug, gleich einem Rembrandt auf die
höchste Stufe zu steigen im Reiche der Malkunst. In St. Moritz bildete sich ein
Initiativkomitee mit den Herren Dr. Oskar Bernhard, Dr. P. R. Berry,
Gemeindepräsident Christian Gartmann, Hotelier Hans Badrutt und Rudolf
Nater, Direktor der St. Moritzer Bank. Ihr Ziel war der Kauf des Triptychons
und der Bau eines Segantini-Museums.

Die drei Bilder des Triptychons «Werden», «Sein», «Vergehen» waren die
einzigen Werke, welche der Künstler seiner Familie hinterliess. Es existierte
ein Vertrag, nach welchem dem Mailänder Kunsthändler Grubicy ein hälftiger
Anteil an den Bildern zustand. Die drei Werke kamen nun zunächst nach
Mailand. Grubicy veranstaltete damit Ausstellungen, weit herum in Europa.
Begeisterte Kritik fanden sie überall und der Name Segantini wurde noch
berühmter. Im Jahre 1906 wurde das Bild «Sein» an den Fürsten Wagram
verkauft für 160'000 Franken. Mit diesem Gelde wurde mit der Familie
Segantini in Maloja eine endgültige Abmachung getroffen, wonach die zwei
restlichen Bilder alleiniges Eigentum von Grubicy wurden. Nun trat das St.
Moritzer Komitee in Aktıon Es brachte es fertig, dass für dıe Summe von
300'000 Franken die zwei Bilder «Werden» und «Vergehen» wieder nach St.
Moritz kamen. Auch das an den Fürsten verkaufte Bild konnte
zurückgewonnen werden. Alle drei Werke waren nun wieder in St. Moritz.

Das Komitee gelangte in der Folge an die Bundesbehörde in Bern mit dem
Ersuchen um finanzielle Hilfe in der Angelegenheit. Der Bund empfahl das
Gesuch der Gottfried Keller-Stiftung, welche auch ihre Hilfe zusagte unter der
Bedingung, dass sie Eigentümerin der drei Bilder sei und die Hälfte der
Kaufsumme in St. Moritz aufgebracht werde. Der Plan gelang. Die Kosten des
Museumsbaues wurden Grubicy überbunden. Alle Beteiligten wurden
schliesslich einig und am 28. September 1908, am 9. Todestag von Segantini
fand die feierliche Einweihung des Segantini-Museums statt.
-4-

Giovanni Segantini: «Vergehen» Triptychon im Segantini-Museum in St.
Moritz. Die Reproduktion gibt nur unvollkommen die ergreifende Schönheit
und tiefe Trauer des Gemäldes wieder. Cliché Kunstverein St. Gallen

Nikolaus Hartmann, der für den Bau beauftragte Architekt erstellte ein
Gebäude, das seinem Künstlernamen heute noch alle Ehre macht. An der
Strasse nach Champfér am Westende von St. Moritz-Dorf, stellte er das
Museum hinein in eine Waldöffnung. Es ist ein Rundbau mit Kuppel, ein
Mausoleum, das immer eine Zierde des Weltkurortes sein wird. Der Besuch
durch Kurgäste ist in jeder Saison ansehnlich.

Beim äusseren Treppenaufgang zum Museum steht eine imposante
Marmorskulptur des Bildhauers Leonardi Bistolfi. Eine jungfräuliche Gestalt
windet sich aus dem Stein ans Licht: «La bellezza liberata dalla materia». Eine
sublime Bildhauerarbeit.
-5-

Den Sockel der Skulptur zieren Reliefe mit Motiven aus Segantinis Bildern.
Das Kunstwerk war als Grabmal von Segantini gedacht. Es passt jedoch weit
besser als Herold des Museums. Beim Museumseingang befindet sich ein
Kuppelraum. Hier hat die Segantini-Büste von Trubetzkoy Aufstellung
gefunden, eine Künstlerarbeit, die den zähen Willen des Dargestellten zu seiner
Kunst und zur Überwindung der Lebensschwierigkeiten überzeugend zum
Ausdruck bringt.

In den unteren Museumsräumen sind Reproduktionen von Gemälden
Segantinis ausgestellt und hängen dort Zeichnungen des Meisters und
Radierungen seine Söhne Gottardo und Mario. Alles sehr gelungene Arbeiten.

Im oberen Hauptausstellungsraum grüssen den Besucher die drei Hauptwerke
des Meisters, das berühmte Triptychon. Schon die Ausmasse der Bilder wirken
überwältigend. Sie haben das vierfache Ausmass eines normalen
Grossgemäldes. Die Werke waren für die Weltausstellung 1900 in Paris
gedacht. Der hohen Kosten wegen kam der Plan nicht zustande. Deren Inhalt
resümiert sich in das, was Segantini zum Plan des Triptychons selber schrieb:
«Ich suche nach den Akkorden einer Alpensymphonie, die aus Tönen und
Farben zusammengesetzt alle die verschiedenen Harmonien der hohen Berge in
sich fasst und sie zu einem Vollkommenen vereinigt. Ich glaube, dass jene
Kunst eine unvollkommene ist, die nur Einzelheiten der Schönheit darstellt,
nicht aber die ganze harmonische lebendige Schönheit, die die Natur belebt.
Darum habe ich gedacht, ein grosses Werk zu schaffen, gleichsam eine
Synthese, in das ich jenes ganz starke Gefühl der Harmonie des Hochgebirges
hineinzulegen vermöchte. Ich habe das Oberengadin zum Vorwurf gewählt,
weil ich es am genauesten studiert habe und weil es von allen Gegenden, die
ich kenne, am reichsten an Schönheit und Abwechslung ist.» - In restlosen
technischen und gedanklichen Vollendungen hat hier Segantini seinen Plan
weit übertroffen. Wie eine Beethoven-Symphonie singt und klingt es
überwältigend aus diesen Gemälden. Der Beschauer schliesst berauscht die
Augen vor solchem Können.

Ein Wort zum Bilde «Vergehen». Hat man es je erlebt, dass ein Maler sein
eigenes Todesschicksal malte? Segantini gelang es, denn sein Fall war absolut
ähnlich dem Inhalt dieses Gemäldes.
-6-

        Er starb auf einsamer Bergeshöhe von 2700 Metern. Bei «Vergehen» wird aus
        kleiner, hochgelegener Berghütte ein Toter herausgezogen. Drei Frauen stehen
        trauernd vor der Hütte. Ein pferdbespannter Flachschlitten wartet auf die
        Aufnahme der Leiche, um sie zu Tale zu führen. Das Ergreifende vollzieht sich
        in einer gewaltig schönen Winterlandschaft. Es ist eisig kalt in dem
        halbschattigen Vordergrund. Über dem ganzen Gemäldehintergrund liegt von
        der Morgensonne übergossen ein imposanter Winter-Bergwall, darüber eine
        seltsame Wolke, auf der die Seele des Verstorbenen zum Himmel ziehen mag.
        «Harmonie des Todes» nannte Segantini das Bild. In Harmonie mit Gott und
        den Menschen in einer harmonischen Welt zu sterben, dies ist schönstes
        Abschiednehmen. Nicht in Verzweiflung, nein, in Schönheit stirbt der
        Bergmensch, so sagt es Segantini. So starb auch er.

        Ein weiteres Grossgemälde «Die beiden Mütter» (feine Kopie von Gottardo
        Segantini), schliesst sich dem Triptychon an. Das Original ist in Mailand. Diese
        Arbeit verkörpert in ihrer Konzeption ebenfalls einen Höhenflug. Es erzählt
        von der Würde der Mutterschaft bei Mensch und Tier, ist ein erhabenes
        Volksbild, wie «Ave Maria», «Heimkehr», «Trübe Stunde», «Die leere
        Wiege». Aus der Brianzazeit sind vorhanden «Frühmesse», «Einsegnung der
        Schafe», ein ausdrucksvolles Selbstporträt u.a.m. Im Museum lässt sich die
        Wandlung des Segantinischen Malstiles verfolgen von seiner frühen
        Ateliertechnik bis hinauf zu seiner sonnigen, hellen divisionistischen Malweise
        in Graubünden, die zu seiner Berühmtheit nicht wenig beitrug.

        Das Segantinimuseum in St. Moritz gilt dem Maler, dessen Tat die
        künstlerische Eroberung der Alpenwelt war. Ein Stück Erde, an das die Kunst
        bislang nur von ferne rührte, wurde durch ihn in den Mittelpunkt der Kunstwelt
        gerückt. Es war Bündner Erde. Er schuf durch sein Genie eine Welt der
        Harmonie, wo Mensch, Tier und Berg zu einer imposanten Einheit sich
        verschmelzen. lm Segantini-Museum spricht grosse Gedankenkunst zu uns,
        und der Besucher grüsst darin den Freund des Hochgebirges und seiner Bauern
        und seiner Tiere, den Verherrlicher der Mutterwürde, den begeisterten
        Bewunderer landschaftlicher Einmaligkeiten in Graubünden.

Internet-Bearbeitung: K. J.                                           Version 11/2013
                                     --------
Sie können auch lesen