WÄHLER UND PARTEIEN IM SUPERWAHLJAHR 2021 - China
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/// Corona-Wahlen ohne die Corona-Titanin WÄHLER UND PARTEIEN IM SUPERWAHLJAHR 2021 KARL-RUDOLF KORTE /// Wahlen sind ein verlässlicher Gradmesser des Vertrauens. Welcher Partei, welchem Kandidaten schenken wir persönliches Zutrauen beim Lösen wichtiger Probleme? Das Vertrauensreservoir ist 2021 herausgefordert. Distanz-Demokratie und ihre turtechniken der Demokratie in außer- Auswirkungen gewöhnlicher Weise herausgefordert, Die Distanz-Demokratie provoziert. oft auch überfordert. Informieren, orga- Damit ist nicht der Widerstand einer nisieren, erinnern, kommunizieren, par- stets kleinen Minderheit gegen die Co- tizipieren, mobilisieren, debattieren − rona-Maßnahmen gemeint. Vielmehr all das gilt in der Frühdigitalisierung provoziert uns täglich die überlebens- notwendige Übersetzung demokrati- scher Spielregeln und Praktiken in neue Formate der Distanz und des Abstands. Das gilt besonders im Superwahljahr Die DISTANZ-DEMOKRATIE provoziert 2021, in dem eine strategische politische und überfordert. Kommunikation der Mobilisierung für Parteien und Personen zwingend not- wendig ist. Wir fühlen uns bei den Kul- 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 17
Quelle: picture alliance / SZ Photo | Jens Schicke Wer wird ihr nachfolgen? Nach 16 Jahren als Bundeskanzlerin kandidiert Angela Merkel bei der Bundestagswahl 2021 nicht mehr. unseres Alltags ohnehin schon seit eini- ren, wenn Bewegungen und Begegnun- gen Jahren als neues Betriebssystem un- gen eingeschränkt oder Protestver- serer Gesellschaft. sammlungen coronabedingt verboten Altanaloge Kulturtechniken der De- sind. Um so mehr benötigen wir Über- mokratie sind durch digitale Formate setzungshelfer und Moderatoren, die ergänzt oder auch vollständig in diese das neue Zeichensystem für die Bürger überführt worden. Aber die Distanz- anwendbar machen. Das Kommunikati- Formate galten nie ausschließlich. Das onsrepertoire ist vielfältiger. Immer we- Virus veralltäglicht rasant diese Prakti- niger sind wir Mitglieder des Gemein- ken des Onlinen. Das ist durchaus auch wesens, immer häufiger Follower. Die positiv, denn dank der Digitalisierung neue Grammatik der Politik steckt noch können wir auch politisch weiter agie- in Erprobungsräumen, um die neuen 18 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
IM FOKUS Muster für alle verständlich und nach- sagen. Was sich jedoch zeigt, ist, dass vollziehbarer zu machen. unser politisches System ganz offenbar Und zeitgleich wächst die Sehnsucht mit der pandemischen Disruption zu- nach verlässlicher Autorität, das große rechtkommt. Die Gewaltenteilung Ganze stellvertretend zu ordnen und funktioniert. Die Zustimmung der Be- idealerweise neue Orte des Gemein- völkerung zu den Parteien der Mitte ist wohls zu schaffen. Wer bietet Moral- unverändert hoch – mit nachlassender währungen als Ressourcen des Vertrau- Tendenz bei versuchter politischer Mo- ens in diesem neuen Betriebssystem an? deration von Ungeduld. Die Akzeptanz Wo ist mein Ort, an dem ich wertge- der politischen Führung ist ebenfals schätzt werde, wo ich das Gefühl habe, ausgeprägt hoch. Das spricht ganz of- meinen Platz zu finden? Wo bestehen fenbar für eine belastbare Zukunftsfä- Möglichkeiten, gemeinsame Einschät- higkeit unserer Demokratie. Die Coro- zungen von Problemen und Priorisie- na-Politik hat paradigmatische Züge im rungen wahrzunehmen? Was tun Par- Kontext einer begrenzten Ausnahmesi- teien im Bundestagswahljahr, um diese tuation. Die Zentralität der Entschei- Fragen zu beantworten? dungen zu Beginn der Pandemie, die Auch Meinungsbildung ist in der Dis- monothematische Zuspitzung als Total- tanz sehr schwer. Willensbildung geht reduktion von Komplexität, das Aus- oft einher mit Group-Thinking. Die Lo- maß des angeordneten Lockdowns für gik des Sozialen, die interpersonale Kom- alle Lebensbereiche sowie die Ein- munikation, das Erlebnis der Begegnung schränkungen elementarer Freiheits- formt Meinungen. Auch das fehlt uns im rechte waren vorbildlos neu und grund- Moment, so dass wir umso mehr mit uns legend. Keine Krise seit 1949 hat jemals selbst beschäftigt sind. Orientierungsno- zuvor zeitgleich alle Bürger betroffen. maden garantieren aber keine verlässli- che Stimmabgabe bei Wahlen, die im Ergebnis in der Regel seit Jahrzehnten die politische Mitte in Deutschland stärkten und ausdifferenzierten. Zudem geizen Das politische System erscheint auch die Formate von Videokonferenzen syste- in der Pandemie ZUKUNFTSFÄHIG. matisch mit Resonanz. Selten ist man so allein, wie beim Vortragen in das Dunkel des Nichts. Zukunftsfähigkeit des neuen Betriebssystems Die Zukunftsfähigkeit des politi- Prägt sich in diesen Konturen des Neu- schen Systems entscheidet sich aller- en, mit diesem veränderten Betriebssys- dings am Grad der Resilienz. Lassen wir tem des Politischen, in einer digitalen resilienzbildende Ressourcen in der Kri- Eiligkeitsgesellschaft eine Zukunft aus? se zu, um das Unwahrscheinliche zu Kehren wir nach der Pandemie zur Nä- managen? Wir benötigen ganz offen- he-Demokratie zurück? Ist das Bundes- sichtlich die Dramaturgie von positivem tagswahljahr dafür ein Kipppunkt? Das Risikowissen und Krisenprävention. Zu kann man zum jetzigen Zeitpunkt nicht den Bausteinen von unterschiedlicher 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 19
IM FOKUS Qualität gehören Prozesse des Selbstler- mit Gewalt erzwingen, dass Gesundheit nens und der Fehlerfreundlichkeit, die den höchsten Stellenwert im Handeln Kraft der Dezentralität und Vielfalt, epi- der Bürger erreicht. Gleichzeitig wächst stemische Ressourcen, entscheidungsfä- die Erkenntnis, dass klare Regeln, die hig zu bleiben, zuversichtliches Erwar- nicht nur kommuniziert werden, son- tungsmanagement und Krisenlotsen- dern auch von den Parlamenten erstrit- schaft des politischen Personals. Diese ten sind, Freiheit schaffen. Nur diese Bausteine navigieren eine Demokratie Voraussetzung sichert die Akzeptanz durch viele Krisen von unterschiedlicher der Corona-Politik. Regeln zu regeln, Qualität und Herausforderung. Die Co- gehört zum Fundament des Optimis- rona-Krise informiert uns über realisier- mus, politisch die Krise zu meistern. Die te Risiken. Ein zukünftig risikoloser Zuversicht, nicht die Angstmache, stabi- Umgang mit neuen Herausforderungen lisiert kuratiertes Regieren. resultiert daraus sicher nicht. Aber die Bewältigung von Krisen, welche die Strukturen der Resilienz klug nutzen, ist aussichtsreich unter den Bedingungen einer Ordnung der Freiheit. Die Resili- Mit KURATIERTEM Regieren sollte enzerfahrungen bilden eine Art Anti- in Deutschland das Verhalten in der körper als Risikowissen aus und stärken Pandemie gesteuert werden. das politische Immunsystem. In Deutschland herrschten Kontakt- beschränkungen, nur in wenigen Aus- nahmefällen Ausgangssperren. In den Begrifflichkeiten transportiert sich das Verständnis von sogenanntem „kura- Superwahljahr 2021 tiertem Regieren“: kein umfassendes Für das Superwahljahr 2021 stellen sich Verbots- und Regulierungsregime, son- naheliegende Mobilisierungsherausfor- dern eine Steuerung zwischen marktein- derungen. Im Moment können wir da- schränkender Regulierung (durchaus von ausgehen, im September eine ge- mit Verboten und Marktausschlüssen / impfte Republik wählend zu erleben. Schließungen etc.) und weichem Pater- Die infizierten Blicke haben wir uns kei- nalismus, der appellativ formen soll. So neswegs dann bereits abgewöhnt, den- etablierte sich Solidarität als eine Art zi- noch spielen Perspektiven eine größere vilgesellschaftlicher Selbstkontrolle, an Rolle als vertane Chancen. Rückbli- welche die Kanzlerin in ihrer legendären ckend werden sich Wähler fragen, war- Fernsehansprache besonders appelliert um die Politik nicht ausreichend für den hatte. Pandemiefall vorbereitet war. Können Konformes Verhalten wird in der Schuldige ausfindig gemacht werden? Gesellschaft und durch die Politik prä- Zukunftsmobilisierend spielen hinge- miert, abweichendes Verhalten sanktio- gen eher die Themen eine Rolle, die die niert. Kuratiertes Regieren zielt auf eine strategische Vorsorge in das Zentrum Verhaltenssteuerung, im Fall von Coro- rücken und damit das Primat des Politi- na durchaus auch auf kollektive Morali- schen. Kluge Strategen stärken alles, tät. Denn der Rechtsstaat kann nicht was zum Vorsorgestaat gehören sollte. 20 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
Was soll über eine agile und kriti- Erkenntnisse der Forschung sche Infrastruktur hinaus an Daseins- Die Pandemie stellt auch die Forschung vorsorge im existenziellen Bereich erhal- vor neue Herausforderungen. Uns fehlen ten bzw. aufgebaut werden? Die Parteien angesichts der Ausnahmezeiten die Ver- müssen hierauf konkrete Sicherheitsbot- gleichsmaßstäbe. Wie wirkt sich die still- schaften geben, die sich über traditio- gestellte Zeit aus? Welche neuen Formate nelle Glaubenssätze hinwegsetzen. der Mobilisierung verstärken die eigene Denn die Konturen des Neuen haben Anhängerschaft? Auch die Erkenntnissu- trotz mehrheitlich am Status quo orien- che muss mit dem Unwahrscheinlichen tierter älterer Wählerschichten diesmal rechnen. Denn Umgangsroutinen sind eine realistische Chance. Wir haben uns trügerisch. Festhalten am Bewährten ist seit dem ersten Lockdown nicht nur an in diesen Zeiten ein sicherer Weg zum fundamentale Transformationen ge- Scheitern. Drei Besonderheiten lassen wöhnt, sondern auch erfahren, dass of- sich für die Bundestagswahl wie nachfol- fenbar alles potenziell geht, was wir bis- gend vorsichtig formulieren. lang für nicht möglich gehalten haben. Das gilt für die Schließung von Grenzen, Wahlentscheidende Pandemie über Schuldenbremsen bis hin zur Prä- Die erste Bedeutung: Die Dominanz die- senzkultur in Firmen. Wer insofern Ver- ser komplexen pandemischen Lebens- änderungen predigt, die auf inklusive umstände entscheidet ganz sicher den Transformationen als enkeltaugliche Ausgang der Bundestagswahl. Wir wis- Modernisierung unserer Gesellschaft sen allerdings nicht, in welcher Rich- zielen, wird bei der Bundestagswahl tung, denn die Auswahl der Kandidaten mehr Zuhörer haben als noch 2017. Wer wird bestimmt vom Auftritt der Krisen- sich dabei besonders um politische Ver- lotsen. Niemals wäre Olaf Scholz so früh lassenheit im ländlichen Raum küm- von der SPD zum Kanzlerkandidaten ge- mert, wird auf Resonanz stoßen und kürt worden, wenn er nicht als Bundesfi- gleichzeitig Vorsorge gegen politischen nanzminister eine so sichtbar dominante Extremismus betreiben. Rolle als Krisenmakler gespielt hätte. Krisengewinner könnten die Mög- Ohne das Virus wäre vermutlich auch lichkeitsmacher mit konkreter Zuver- Armin Laschet nicht Parteivorsitzender sicht sein. Entschlossene Krisenlotsen geworden. Das Virus prägt die Themen sind immer auch Hermeneuten der Wut, und fächert den Parteienwettbewerb auf. gerade in Zeiten, in denen Wutvorräte Ohne das Virus hätte vermutlich auch auf den Straßen und in den sozialen Me- die AfD einen Hauch von bürgerlichem dien offensiv abgebaut werden. Politiker, Rückhalt bei einigen Wählern behalten. die übersetzen, moderieren und Zukunft erzählen, profitieren. Idealweise geben sie der Rettung eine Richtung für demo- kratisch legitimierte Politik. Ihr Politik- management folgt dabei dem Modus des Die Corona-Krise wird WAHLENT- kuratierten Regierens, als Muster von SCHEIDEND sein. Resilienz. Wer von den Parteien und Kanzlerkandidaten findet die Tonalität und den Plot für diese große Erzählung? 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 21
IM FOKUS Damit Krisenmanagement funktio- weile zwei Signalereignisse diese über niert, sind Entscheidungsträger nicht nur Monate stabil hohen Zustimmungswer- auf ihre Entscheidungskompetenz ange- te der Bürger zur Corona-Politik einge- wiesen, sondern auch auf die Bürger. Sie trübt: Dazu zählen das desaströse Er- brauchen Vertrauen in die Funktionsträ- wartungsmanagement beim Impfstart ger und deren Risiko- und Lösungskom- sowie der plötzliche Austausch von petenz. Bürger müssen sich sowohl an Zahlen – aus dem monatelang gepredig- die Einschränkungen als auch an die Ap- ten Inzidenzwert von 50 wurde plötz- pelle halten. Erstaunlich war insofern, lich eine 35. So bröckelten Zustim- dass eine diffuse, jahrelang anhaltende mungswerte zum Corona-Management Politikverdrossenheit unter den Bedin- der Regierungen. Dennoch kann man gungen der Corona-Politik wie weggefegt zum jetzigen Zeitpunkt davon ausge- wirkte. Nie zuvor war die Staatsgläubig- hen, dass fast alle coronabedingten Ein- keit so hoch und das akzeptierte Ver- schränkungen bis September 2021 auf- ständnis für die massiven Einschränkun- gehoben sein werden, was den Protest gen von Freiheiten so breit. Massive Ein- einmal mehr minimiert. schränkungen bürgerlicher Freiheiten (Gewerbefreiheit, Reisefreiheit, Ver- Historische Konstellation sammlungsfreiheit, Glaubensfreiheit) Eine zweite Besonderheit neben der Pan- wurden widerspruchslos mehrheitlich demie gilt der historischen Konstellati- hingenommen. Das Corona-Virus hat on. Niemals zuvor fanden Bundestags- dem Staat nicht nur mehr Regelungs- wahlen ohne den Titelverteidiger statt, macht im Katastrophenfall gegeben, son- sieht man von 1949 einmal ab. Bundes- dern katapultierte ihn auch zum rheto- kanzlerin Merkel verzichtete auf eine er- risch-emotionalen Krisengewinner. His- neute Kandidatur und gab den Partei- torisch zeigt sich: Der Grad an Staatszen- triertheit und Staatsvertrauen nimmt in Deutschland zu, wenn Krisenszenarien die öffentliche Meinung dominieren. Davon profitieren auch viele Spit- Die Bundestagswahl im September zenpolitiker. Krisen adeln über Nacht 2021 findet OHNE Titelverteidiger die Demokratie und die Spitzenpoliti- statt. ker. Bürger erwarten dann die ent- schlossene Umsetzung des Primats der Politik, möglichst als heroische Chefsa- che des Krisenmanagers. Die Bürger sehnen sich in solchen Konstellationen nach einem starken Staat und erwarten vorsitz ab. Sie hat jetzt die realistische dann die entschlossene Umsetzung des Chance, würdevoll bedeutungslos zu Primats der Politik. Die Sehnsucht nach werden. Sowas gehört im politischen Etatismus (man könnte den Begriff et- Geschäft zur allergrößten Herausforde- was bösartig als „vorauseilende Unter- rung. Der Merkel-Bonus, als ein Plus für würfigkeit“ übersetzen) breitet sich be- die Corona-Titanin der Union, katapul- sonders dann aus, wenn Verlustängste tierte die Union ab April 2020 zu neuen dominieren. Sicher haben auch mittler- Höchstwerten bei der Sonntagsumfrage. 22 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
Je mehr deutlich wird, dass Merkel nach Veränderung, nach Wenden, nach 2021 auf keinem Wahlzettel stehen wird, Neuanfang. 2021 ist dies bislang nicht steigen die Chancen der Mitbewerber, messbar. 16 Jahre Merkel mit drei Gro- vor allem der Grünen und der SPD. Alle ßen Koalitionen führen keinswegs zum drei Parteien stehen nebeneinander auf überwölbenden und eindeutigen der Startlinie, um für Programm und Wunsch nach neuen Formaten der Personen zu werben. Kommende TV- Macht, nach einem neuen Führungs- Trielle dokumentieren im Format die In- und Kooperationsstil, nach neuen Mög- novation 2021: eine Bundestagswahl lichkeiten des guten Regierens. Noch ohne Verteidigerin. Die Koalitionsvari- herrscht Wirklichkeitsgehorsam. Noch anten lauten deshalb aus Sicht des Früh- prägt die Erinnerung an staub-trockene jahrs 2021: Schwarz-Grün als mögliche Krisenpolitik als letzte Variante einer Fortsetzung der Großen Koalition (als sogenannten Alternativlosigkeit. Bündnis der beiden größten Bundestags- Die Option, wie 1998, zwei Opposi- fraktionen); Schwarz-Grün-Gelb als Ja- tionsparteien in die Regierungsverant- maika revival; Grün-Rot-Gelb als grüne wortung zu katapulieren, erscheint ab- Ampel (in dieser Formation ein Solitär). wegig. Zwar existiert messbar auch ein Eine Corona-Prämie wird am Wahl- Überdruss an der Alltäglichkeit des tag nur zu verteilen sein, wenn die Pan- wegmoderierenden Pragmatismus, dem demie überwunden scheint. Falls nicht, unterargumentierenden Regieren und könnte eine All-over-Koalition (ohne der stets situativen postheroischen Em- AfD) als Notregierung erforderlich wer- pörungsverweigerung. Doch die Sehn- den – ein sehr unwahrscheinliches Sze- sucht nach der großen empathischen nario. Das politische Ende von Angela Erzählung, dem Lotsen der schonenden Merkel markiert auch eine kulturelle Zä- Transformation, ist noch nicht so ausge- sur für sehr viele Wähler. Mit ihr geht ein prägt, dass ein „Weiter-So“ mit anderem verlässlicher Vertrauensanker für den Personal vollkommen ausgeschlossen Stoff des Politischen verloren. Wem brin- wäre. Als besonders Merkel-enkeltaug- gen Wähler diesen Vertrauensvorschuss lich erweist sich der Kandidat der SPD. zukünftig entgegen? Neue Koalitionen Scholz steht, ebenso wie die Kanzlerin, wiederum bilden nicht nur Stimmungen für die gesellschaftspolitische, progres- ab, sondern prägen auch neue. Sie setzen sive Mitte. Er hat in Hamburg bewiesen, in der Regel gemeinsame neue Ideen und wie moderne Urbanität sozialverträg- eine neue gesellschaftliche Dynamik vo- lich mehrheitsfähig bleibt. Als Typus raus. Das gilt sowohl konzeptionell, per- prägt er auch das Ruheregiment, mit sonell als auch intellektuell. Wichtig vornehmer Unangreifbarkeit, Solidität bleibt auch, dass sie sich mit Spürgefühl anbahnen und nicht nur eine Folge von rechnerischen Mehrheiten sind. Historischer Vergleich Die Tendenz der Wähler nach einer Eine dritte Besonderheit liegt ebenso im wirklichen WENDE ist eher gering. historischen Vergleich der Wahlen. Am Ende der Adenauerzeit existierte wie nach 16 Jahren Kohl ein starker Wunsch 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 23
IM FOKUS und Risikounlust. Wer sich für die Fort- keine Festlegung vorab. Sie vertrauen setzung der Merkel-Politik stark macht, der klugen Machtteilung, wenn es nicht findet mit Scholz einen sehr mächtigen nur um Ehrentitel geht, sondern um Aspiranten. Wenn Wähler weiterhin auf konkrete Ressorts. Letztlich werden die das Bekannte und eher nicht auf das Un- Grünen immer nach der Kanzlerschaft bekannte setzen, könnte Scholz den Vi- greifen, wenn es sich mit welchen Koali- zekanzler-Bonus voll einbringen. tionspartnern auch immer (außer der Die Grünen leben vom Zulauf aus AfD) rechnerisch lohnt. Eine allzu mehreren Richtungen. Sie sind multiko- selbstsicher agierende Union könnte am alitionsfähig – sichtbar in Regierungs- Ende, trotz größter Fraktion im Bundes- verantwortung und in der Opposition tag, in der Opposition landen. zugleich. Sie kratzen an der seit Corona Der liberale Wählerblock steht auch hegemonialen Dominanz der Union. Sie für die FDP zur Verfügung, gleichwohl verkörpern das Kompetenzzentrum für auf niedrigerem Niveau als bei den Grü- Umwelt- und Klimapolitik, ein Thema, nen. Moderne Autonomie, moralischer welches bürgerliche Wähler sehr be- Ernst, bürgerliche Solidität und gemein- schäftigt. Das Virus hat gezeigt, dass nicht wir, sondern die Natur uns im Griff hat. Ein schonender Umgang mit Ressourcen in der stillgestellten Zeit hat bürgerliche Wähler zusätzlich mit grü- Die GRÜNEN können vor allem im nen Ideen versöhnt. Von der Corona- bürgerlichen Wählerblock punkten. Prämie profitieren die Grünen, weil sie auch mit ihrer professionellen Doppel- spitze im Bund einen gewachsenen Be- darf nach normativer Orientierung be- friedigen. Sie setzen mit ihrer eigenen Moralwährung voll auf die schonende wohlorientierter Kaufmannsgeist finden und gemeinsame Transformation der sich auch bei der FDP. Grüne und gelbe Gesellschaft. Der Kommunikations- Liberale haben viele Schnittmengen. Sie und Führungsstil begeistert bürgerliche spielten nur früher an ganz unterschied- Kreise, die sich mit Realitätsdemut gei- lichen Stellen auf den Schulhöfen nie zu- ßeln. Hier hat nicht die neo-dirigistische sammen. Sie trennen Milieus und Auf- Entschiedenheitsprosa Aussicht auf Ge- tritte, weniger die Fragen der Liberalität. hör, sondern eher Machtpoesie als Mo- Aber im Dilemmamanagement zwi- deration von Ambivalenzen. 20 Prozent schen Freiheit und Gesundheit, setzt der Wählerschaft sind damit abholbar. sich die FDP, anders als die Grünen, Das grüne Verständnis von hybriden deutlicher für die Freiheit in der Abwä- gesellschaftlichen Bündnissen wird ver- gung ein. Grundsätzlich agiert die FDP mutlich auch eine Festlegung auf nur in der Corona-Politik aus der Defensive. einen Kanzlerkandidaten verhindern. Denn staatsbeseelte Wähler, die darauf Unsere Neugierde wird bis zuletzt blei- setzen, dass der Staat sie persönlich und ben, wie sich das Tandem bei einer mög- finanziell schützt und rettet, kann eine lichen Koalitionsverhandlung am Ende Partei, die mehr auf individuelle Freiheit einigt. Wähler der Grünen brauchen setzt, nur schwer einsammeln. 24 POLITISCHE STUDIEN // 497/2021
Die Linke wird dann profitieren, sein wird, bleibt spekulativ. Mit seiner wenn die Post-Corona-Zeit zu größeren Reservemacht steht er mehr denn jemals sozialen Verwerfungen führen könnte, zuvor als Möglichkeitsmacher bereit, was allerdings Berlin mit hohem finan- sollte sich eine blockierte Regierungsbil- ziellen Aufwand versucht zu verhindern. dung abzeichnen. Mit Corona-Kreativi- Grundsätzlich hat politisch linkes Den- tät und ohne die Corona-Titanin wird er ken in der Pandemie Zulauf: Staat statt dann Auswege finden müssen. /// Markt klingt dabei wie eine resilienzer- möglichende Perspektive. Fazit Das Superwahljahr folgt einer außerall- täglichen Logik. Es bleibt eigenartig ein- zigartig. Die Grundstimmung changiert zwischen einem Enthusiasmus des Posi- tiven und der Wehmut des Vorsichtigen: sorgenvoll zufrieden oder zufrieden im /// P ROF. DR. KARL-RUDOLF KORTE Unbehagen? Das stellt Wahl-, Parteien- ist Professor für Politikwissenschaft an der und Regierungsforschung vor besondere Universität Duisburg-Essen und Direktor der Herausforderungen. Die gewählten Par- NRW School of Governance. teien folgen im Setting des Bundestages vermutlich erneut einem polarisierten Pluralismus. Die Radikalisierung im Par- teienspektrum bleibt der AfD vorbehal- ten, die lösungsorientiert zur Corona- Politik wenig beizutragen hat. Die politi- sche Mitte wird sich weiterhin ausdiffe- renzieren, aber nicht kleiner, sondern eher größer werden. Ob der Bundesprä- sident erneut der zentrale Kanzlerma- cher einer neuen Regierungsformation Aktuelle Publikationen des Autors zum Superwahljahr 2021: Florack, Martin / Korte, Karl-Rudolf / Schwanholz, Julia (Hrsg.): Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Frankfurt / New York 2021. Korte, Karl-Rudolf: Wahlen in Deutschland, Bonn, 10. Aufl., 2021. Korte, Karl-Rudolf / Scobel, Gert / Yildiz, Taylan (Hrsg.): Heuristiken des politischen Entscheidens, Berlin 2021. Korte, Karl-Rudolf / Florack, Martin (Hrsg.): Handbuch Regierungsforschung, Wiesbaden, 2. Aufl., 2021. Korte, Karl-Rudolf: Gesichter der Macht. Über die Gestaltungspotenziale der Bundespräsidenten, Frankfurt / New York 2019. 497/2021 // POLITISCHE STUDIEN 25
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