Wachstum und Produktivität 2035 - Innovations- und Produktivitätslücken auf Ebene der Bundesländer - Bertelsmann Stiftung

 
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Wachstum und Produktivität 2035 - Innovations- und Produktivitätslücken auf Ebene der Bundesländer - Bertelsmann Stiftung
Produktivität für Inklusives Wachstum | 03

      Wachstum und
    Produktivität 2035
Innovations- und Produktivitätslücken
    auf Ebene der Bundesländer
Wachstum und Produktivität 2035 - Innovations- und Produktivitätslücken auf Ebene der Bundesländer - Bertelsmann Stiftung
Wachstum und Produktivität 2035 - Innovations- und Produktivitätslücken auf Ebene der Bundesländer - Bertelsmann Stiftung
Wachstum und
      Produktivität 2035
 Innovations- und Produktivitätslücken
     auf Ebene der Bundesländer

        ifo Zentrum für Makroökonomik und Befragungen
                  ifo Institut, Niederlassung Dresden

                               Autoren
        Niels Gillmann (ifo Institut, Niederlassung Dresden)
Robert Lehmann (ifo Zentrum für Makroökonomik und Befragungen)
      Jannik A. Nauerth (ifo Institut, Niederlassung Dresden)
               Dominic Ponattu (Bertelsmann Stiftung)
       Joachim Ragnitz (ifo Institut, Niederlassung Dresden)
       Julia Sonnenburg (ifo Institut, Niederlassung Dresden)
        Michael Weber (ifo Institut, Niederlassung Dresden)

              Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung

                          Juni 2019
Wachstum und Produktivität 2035

    Abstract

    In der vorliegenden Studie wird die wirtschaftliche Ent-    werden sich die Unterschiede beim Lebensstandard und
    wicklung der deutschen Bundesländer vor dem Hinter-         bei der Arbeitsproduktivität zwischen den Bundeslän-
    grund zu erwartender Trends, etwa im Hinblick auf die       dern weiter verstärken. Auch die Schere zwischen Ost-
    Produktivitäts- und Demografieentwicklung, bis ins          deutschland und Westdeutschland insgesamt dürfte sich
    Jahr 2035 projiziert. Ausgehend von einem Basisszenario,    entweder nur geringfügig oder gar nicht weiter schlie-
    werden vier Alternativen modelliert, in denen bestimmte     ßen. Zwar wird es im hier untersuchten Zeitraum nicht
    Zielvorstellungen für den Lebensstandard (Bruttoinlands-    zu einem Zurückfallen der ostdeutschen Bundesländer
    produkt je Einwohner) und die Arbeitsproduktivität          insgesamt kommen; für einige Länder (Mecklenburg-
    (Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen) vorgegeben         Vorpommern, Sachsen-Anhalt) ist dieses Risiko jedoch
    werden. Diese dienen dazu, mögliche wirtschaftspoli-        durchaus gegeben.
    tische Schlussfolgerungen abzuleiten.
                                                                Der wesentliche Grund für die zukünftige Abschwächung
    Im Basisszenario wird das Wirtschaftswachstum (Poten-       des Wirtschaftswachstums sind die sich verschärfenden
    zialwachstum) im Projektionszeitraum im Vergleich zur       demografischen Rahmenbedingungen sowie ein Produk-
    jüngeren Vergangenheit spürbar abnehmen: Das Wachs-         tivitätswachstum, das zumindest aus heutiger Sicht den
    tum des realen BIP wird demnach auf rund 0,6 Prozent        Rückgang der Erwerbsquote nicht auffangen kann. Die
    im Jahr 2035 fallen und sich somit gegenüber dem heu-       ausschließliche Modellierung der demografischen Größen
    tigen Stand mehr als halbieren. Auch der Lebensstandard     in Alternativszenario 1 offenbart, dass der Wachstums-
    und die Arbeitsproduktivität werden zukünftig langsamer     beitrag des Faktors Arbeit in fast allen Bundesländern im
    wachsen als bisher. Wesentlicher Treiber dabei ist der      Projektionszeitraum negativ ausfällt. Dies bremst beson-
    sich verstärkende demografische Wandel, der dazu führt,     ders das Wirtschaftswachstum in den ostdeutschen Bun-
    dass diese Entwicklungen besonders zum Ende des Pro-        desländern sowie in Rheinland-Pfalz und dem Saarland.
    jektionszeitraums immer deutlicher zutage treten.
                                                                Sofern das Ziel weiterhin darin besteht, die vollstän-
    Besonders stark dürften strukturschwache Bundesländer       dige Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen
    wie Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland oder Sach-         Ost- und Westdeutschland zu erreichen, verdeutlichen
    sen-Anhalt betroffen sein. Aufgrund der schwierigen         Alternativszenario 2 (Angleichung Lebensstandard) und
    demografischen Rahmenbedingungen dürfte das Wirt-           Alternativszenario 3 (Angleichung Arbeitsproduktivität),
    schaftswachstum in diesen drei Bundesländern zum Ende       dass eine Konvergenz der ostdeutschen Flächenländer
    des Projektionszeitraums hin sogar negativ ausfallen.       an das Niveau der strukturschwachen westdeutschen
    Dem gegenüber stehen strukturstarke Bundesländer wie        Bundesländer im Projektionszeitraum bis 2035 nur bei
    Baden-Württemberg, Bayern oder die Stadtstaaten Berlin      einem unrealistisch hohen Wachstum der Totalen Fak-
    und Hamburg; diese vier Bundesländer dürften in den         torproduktivität (TFP) erreichbar wäre und deswegen
    kommenden 20 Jahren wohl das höchste Wirtschafts-           als eher unwahrscheinlich einzuschätzen ist. Selbst
    wachstum (von rund 1,1 % im Durchschnitt) aufweisen.        wenn vom Ziel der Ost-West-Konvergenz abgesehen
    Bei steigender Bevölkerungszahl in diesen Bundesländern     wird und die Aufrechterhaltung vergangener Zuwachs-
    spiegelt sich dies jedoch nicht in gleicher Weise auch in   raten des Lebensstandards angestrebt wird, zeigt sich,
    der Zunahme des Lebensstandards wider. Alles in allem       dass besonders die strukturschwachen Bundesländer

4
Wachstum und Produktivität 2035

Probleme haben werden, ihren Lebensstandard genauso           Kernbotschaften der Projektion
schnell anzuheben wie in der Vergangenheit (Alter-
nativszenario 4). Dies gilt für Ostdeutschland und für        1. Das jährliche Wirtschaftswachstum (Potenzialwachs-
Westdeutschland in gleicher Weise. Aber auch den struk-          tum) in Deutschland und der Zuwachs beim Lebens-
turstärkeren Bundesländern wird es schwerfallen, dieses          standard werden sich laut Projektion bis 2035 in etwa
Ziel zu erreichen – mit der Folge, dass man sich, ceteris        halbieren. Im Jahr 2035 dürfte die Wachstumsrate des
paribus, in Deutschland mit dem Gedanken schwäche-               preisbereinigten BIP nur noch bei rund 0,6 Prozent
ren Wirtschaftswachstums in der Zukunft wird abfinden            liegen.
müssen.
                                                              2. Besonders in strukturschwachen Regionen in Ost-
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind auf den ersten Blick ent-      deutschland (Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-
mutigend, sollten jedoch zum Anlass genommen werden,             Anhalt) besteht erhebliche Gefahr, dass hier sogar
wirtschaftspolitisch gegenzusteuern. Ein Patentrezept            das Wirtschaftswachstum negativ ausfällt. Aber auch
für ein höheres Wirtschaftswachstum gibt es allerdings           einige westdeutsche Bundesländer (z. B. das Saarland)
nicht; vielmehr wird es sich um ein Bündel unterschied-          sind dieser Gefahr ausgesetzt.
licher Ansätze handeln müssen. Ein Weg läge darin, die
Wachstumsfaktoren Arbeit und Kapital zu stärken – etwa        3. Der negative Einfluss des demografischen Wandels
durch eine höhere Erwerbs- und Investitionsquote. Aller-         wird sich in den nächsten 20 Jahren erheblich ver-
dings ist eine Steigerung der Erwerbsquote nicht unbe-           stärken und das Wirtschaftswachstum bremsen. Der
grenzt möglich, und auch die privaten Investitionen las-         zusätzliche technische Fortschritt dürfte nicht ausrei-
sen sich durch die Wirtschaftspolitik nicht uneingeschränkt      chen, um den historischen Anstieg beim Lebensstan-
positiv beeinflussen. Aussichtsreicher wäre hingegen eine        dard auch im Projektionszeitraum zu wiederholen.
gezielte Fachkräftezuwanderung, die die zu erwartenden
Tendenzen einer abnehmenden Zahl von Arbeitskräften           4. Den ostdeutschen Bundesländern im Speziellen dürfte
kompensieren könnte.                                             es erheblich schwerfallen, die historischen Zuwächse
                                                                 beim Lebensstandard auch in den kommenden zwei
Notwendig sind indes vor allem Maßnahmen, die auf eine           Dekaden aufrechtzuerhalten. Aber auch wirtschafts-
Steigerung der Arbeitsproduktivität abzielen. Ein mög-           starke Bundesländer wie Bayern müssen deutliche
licher Weg besteht darin, die Qualität der eingesetzten          Anstrengungen unternehmen, um im Projektionszeit-
Arbeitskräfte zu erhöhen, also zum Beispiel vermehrt             raum den historischen Anstieg des Lebensstandards
in (Weiter-)Bildung zu investieren. Zusätzlich müsste            beibehalten zu können.
der technologische Fortschritt beschleunigt werden, was
sich technisch in einer Erhöhung der TFP niederschlagen       5. Die Konvergenz des Bruttoinlandsprodukts je Einwoh-
würde. Hier ist vor allem an eine Stärkung der Innova-           ner zwischen Ost- und Westdeutschland dürfte bis
tionskraft zu denken, die deshalb eine deutlich höhere           2035 nur geringfügig voranschreiten.
politische Priorität erhalten sollte als bisher. Dies gilt
gerade auch für strukturschwache Regionen, die auch           6. Sollte es das Ziel sein, dass die ostdeutschen Bundes-
laut dieser Studie künftig in erheblichem Maße Produk-           länder bis 2035 den Lebensstandard der struktur-
tivitäts- und Innovationsbedarfe aufweisen werden.               schwachen westdeutschen Bundesländer erreichen,
                                                                 bedarf es erheblicher Anstrengungen, um die nega-
                                                                 tiven Effekte des demografischen Wandels für mehr
                                                                 technologische Innovationen zu kompensieren. Einige
                                                                 ostdeutsche Bundesländer müssten einen Anstieg des
                                                                 technischen Fortschritts erreichen, der doppelt so
                                                                 groß ist wie im wahrscheinlichsten Szenario. Dies ist
                                                                 auch unter Hinzunahme der historischen Entwicklung
                                                                 als nicht realistisch einzuschätzen.

                                                                                                                           5
Wachstum und Produktivität 2035

    Abstract

    This study projects economic growth paths of German           will continue to increase. The gap between East Germany
    federal states (“Länder”) up to 2035 against the back-        and West Germany as a whole is also likely to close either
    ground of likely future developments, such as those in        just marginally or not at all. Although the East German
    productivity growth and demographic trends. Starting          Länder as a whole will not fall behind in the period exa-
    with a baseline scenario, the study develops four alterna-    mined here, this risk does exist for some Länder (Meck-
    tive scenarios, which set specific objectives for the stan-   lenburg-Western Pomerania and Saxony-Anhalt).
    dard of living (gross domestic product (GDP) per inhabi-
    tant) and for future labor productivity (GDP per employed     The main reasons for the future slowdown in economic
    person). However, these objectives are set to derive pos-     growth are the worsening demographic conditions and
    sible conclusions for today’s economic policy.                weak productivity growth, which (all else equal) cannot
                                                                  compensate for the decline in the participation rate.
    In the baseline scenario, economic growth in the projec-      The modelling of the demographic variables in alternative
    tion period will decline noticeably compared to the recent    scenario 1 reveals that the growth contribution of labor is
    past: Real GDP growth (potential growth rate) will fall to    negative in almost all federal states during the projection
    around 0.6 percent in 2035, more than halving compared        period. This slows down economic growth in the eastern
    with the current level. The standard of living and labor      German states in particular, as well as in the states of
    productivity will also grow more slowly in the future.        Rhineland-Palatinate and Saarland.
    The main driver here is demographic change, which will
    become increasingly apparent at the end of the projection     The study also investigates the implications of the objec-
    period.                                                       tive being complete convergence between East Germany
                                                                  and West Germany. Alternative scenarios 2 (equal living
    According to the projections, the structurally weak           standards) and 3 (equal labor productivity) suggest that
    states of Mecklenburg-Western Pomerania, Saarland             convergence of the East German territorial states to the
    and Saxony-Anhalt are likely to be particularly hard hit.     level of the structurally weak West German federal states
    Due to the difficult demographic framework conditions,        in the projection period up to 2035 would only be achie-
    economic growth in these three federal states is likely       vable with unrealistically high growth in total factor
    to be even negative at the end of the projection period.      productivity (TFP) and can therefore be regarded as
    On the other hand, there are structurally strong federal      rather unlikely. Even if the goal of East-West conver-
    states such as Baden-Württemberg, Bavaria or the city         gence is abandoned and the aim is to maintain past
    states of Berlin and Hamburg; these four federal states       growth rates in living standards, it becomes apparent
    are likely to show the highest economic growth in the         that the structurally weak states in particular will have
    next 20 years (of around 1.1 % on average). However, with     problems growing their living standards as quickly as
    an increasing population in these states, these relatively    in the past (Alternative Scenario 4). This applies equally
    strong growth rates do not translate into an increase in      to East Germany and West Germany. But it will also be
    living standards. Overall, the differences in living stan-    difficult for the structurally stronger federal states to
    dards and labor productivity between the federal states       achieve this goal - with the result that, all else equal,
                                                                  Germany will have to come to terms with the idea of
                                                                  weaker economic growth in the future.

6
Wachstum und Produktivität 2035

At first glance, the results of this work are discouraging,   Key messages of the analysis
but the findings should be taken as an opportunity to
consider measures of economic policy. Clearly, there is no    1. Annual economic growth (the potential growth rate) in
magic formula for higher economic growth; rather, it will        Germany and the increase in the standard of living will
have to be a bundle of different approaches. But one way         be roughly halved by 2035. In 2035, the price-adjusted
would be to strengthen the growth factors of labor and           GDP is likely to grow by just about 0.6 percent.
capital, for example by increasing the participation and
investment rates. However, increases in the employment        2. Especially in structurally weak regions in eastern Ger-
rate are not possible to an unlimited extent and private         many (Mecklenburg-Western Pomerania and Saxony-
investment cannot be affected by economic policy alone.          Anhalt) there is a considerable danger that economic
A more promising option would be targeted immigration            growth rates will even be negative. But also some West
of skilled workers, which could compensate for the               German states (e. g., Saarland) are exposed to this dan-
expected trend towards a declining labor force.                  ger.

What is needed above all, however, are measures aimed         3. The negative influence of demographic change will
at increasing labor productivity. One possible way is to         increase considerably over the next 20 years and lead
increase the quality of the labor employed, for example          to slower economic growth. Additional technical pro-
by investing more in (further) education and upskilling.         gress will probably not be sufficient to repeat the his-
In addition, technological progress would have to be             torical rise in living standards in the projection period.
accelerated, which would materialize in increased TFP.
Here, one should above all think of strengthening efforts     4. The eastern German states in particular will find it
towards more innovation, which should therefore be               very difficult to maintain the historical increases in
given a much higher political priority. This is especially       living standards over the next two decades. But even
true for structurally weak regions, which, according to          economically strong federal states such as Bavaria
this study, will feature considerable needs for more pro-        will have to make considerable efforts to maintain the
ductivity and innovation in the future.                          historical rise in living standards during the projection
                                                                 period.

                                                              5. The convergence of GDP per inhabitant in eastern
                                                                 Germany is likely to progress only slightly until 2035.

                                                              6. If the goal is for the eastern German states to reach
                                                                 the standard of living of the structurally weak western
                                                                 German Länder by 2035, considerable efforts for more
                                                                 technological progress will be required to compensate
                                                                 for the negative effects of demographic change. Some
                                                                 eastern German Länder would have to achieve an
                                                                 increase in technical progress that is twice as great as
                                                                 in the most likely scenario. This cannot be regarded
                                                                 as realistic, even if past developments are taken into
                                                                 account.

                                                                                                                              7
Wachstum und Produktivität 2035

Inhalt

1       Einleitung                                      9   4       Projektion der Produktivitäts- und
                                                                    Innovationslücken                               29
2       Begrifflichkeiten und methodische                   4.1     Annahmen und Szenarien                          29
        Grundlagen                                     11   4.1.1   Basisszenario                                   29
2.1     Zusammenhang zwischen Lebensstandard,               4.1.2   Alternativszenarien                             34
        Arbeitsproduktivität und Produktivitätslücke   11   4.2     Projektionsrechnungen im Basisszenario          35
2.2     Wirtschaftswachstum, Growth Accounting und          4.2.1   Ergebnisse für Deutschland                      35
        Innovationslücke                               12   4.2.2   Ergebnisse für Westdeutschland und
2.2.1   Theoretische Grundlagen des Growth                          Ostdeutschland                                  37
        Accounting                                     12   4.2.3   Ergebnisse für die Bundesländer                 37
2.2.2   Probleme des Growth Accounting                 15   4.3     Alternativszenarien und Diskussion              40
                                                            4.3.1   Alternativszenario 1: Demografischer Einfluss   40
3       Kennziffern für die Bundesländer               17   4.3.2   Alternativszenario 2: Konvergenz des
3.1     Lebensstandard und Arbeitsproduktivität        17           ostdeutschen Lebensstandards                    42
3.2     Produktivitätslücke                            19   4.3.3   Alternativszenario 3: Konvergenz der
3.3     Wirtschaftswachstum                            21           ostdeutschen Arbeitsproduktivität               45
3.4     Wachstumszerlegung                             22   4.3.4   Alternativszenario 4: Wiederholung der
3.4.1   Wachstumsbeiträge in Westdeutschland und                    historischen Zuwächse                           47
        Ostdeutschland                                 22
3.4.2   Wachstumsbeiträge für die Bundesländer         24   5       Fazit und Schlussfolgerungen                    52
3.5     Demografie                                     25
                                                            6       Anhang                                          54
                                                                    Tabellen                                        54
                                                                    Abbildungen                                     56

                                                            7       Literatur und Datenquellen                      65

                                                            8       Verzeichnisse                                   66
                                                                    Abkürzungen                                     66
                                                                    Tabellen                                        67
                                                                    Abbildungen                                     67

                                                                    Impressum                                       71

8
Wachstum und Produktivität 2035

1 Einleitung

Auf lange Sicht sei das Wachstum der Produktivität „fast        (z. B. Grömling, 2017). Diese Ergebnisse beziehen sich
alles“, so der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman.        allerdings nur auf Deutschland insgesamt. Da zwischen
Diese Schlussfolgerung basiert auf der Erkenntnis wachs-        den Bundesländern starke Unterschiede bestehen, ist eine
tumstheoretischer Modelle, dass der Lebensstandard lang-        Betrachtung auf der Ebene der Bundesländer sinnvoll.
fristig nur dann steigen könne, wenn die Produktivität
wachse (Solow, 1956). Temporär können zwar die Stärkung         Vor diesem Hintergrund analysiert die vorliegende Studie
der Erwerbsquote (Faktor Arbeit) oder auch höhere Inves-        das bundeslandspezifische Wirtschaftswachstum und
titionen (Faktor Kapital) Impulse für mehr Wirtschafts-         zerlegt dieses in die Faktoren Arbeit, Kapital und techno-
wachstum geben, doch wird hierdurch nicht der langfristige      logischer Fortschritt. Neben einer Bestandsaufnahme der
Wachstumspfad („steady-state-Wachstum“) beeinflusst.            bisherigen und aktuellen Wachstumstreiber in Deutschland
Bei gegebener Bevölkerung kann allein ein stärkeres Pro-        zeigt die Studie die möglichen Konsequenzen der aktuel-
duktivitätswachstum den langfristigen Wachstumstrend            len Produktivitäts- und Demografietrends für das BIP
erhöhen. Doch das Produktivitätswachstum in Deutschland         je Einwohner, also den Lebensstandard der Bevölkerung,
hat sich stark verlangsamt: Wuchs die sogenannte Totale         auf. Dabei wird in einer durch Annahmen plausibilisierten
Faktorproduktivität (TFP) in den 1960er-Jahren noch um          Vorausschau bis 2035 untersucht, welche Zunahme der
rund 2,5 Prozent, so liegt dieser Wert heute nur noch bei       Arbeitsproduktivität erforderlich ist, um eine vorgegebene
rund einem Prozent (Europäische Kommission 2018). Auch          Zielgröße beim Zuwachs des Lebensstandards zu errei-
der Anstieg der Arbeitsproduktivität – die Wertschöpfung je     chen – und so letztlich die wachstumshemmenden Fakto-
Erwerbstätigen – verlangsamte sich im gleichen Zeitraum         ren des demografischen Wandels aufzufangen. Zusätzlich
in erheblichem Maße.                                            wird gezeigt, wie viel (zusätzlicher) Innovationsbedarf
                                                                die Bundesländer in Zukunft decken müssten, um die zur
Ein abnehmendes Produktivitätswachstum ist in vielen            Steigerung des Lebensstandards benötigte Zunahme der
entwickelten Volkswirtschaften zu beobachten. Doch gerade       gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität zu erreichen.
in Deutschland müssen aufgrund des demografischen Wan-          Diese Produktivitäts- und Innovationslücken legen somit
dels künftig weniger Erwerbstätige durchschnittlich immer       dar, welche aus heutiger Sicht zu erwartenden „Zielgrö-
mehr erwirtschaften, die Produktivität muss entsprechend        ßen“ im Produktivitäts- und Innovationswachstum es zu
überproportional steigen: Die Geburtenrate in Deutschland       erreichen gilt. Die Studie leistet dabei auf Basis aktueller
liegt seit Mitte der 1970er-Jahre stabil bei rund 1,5 Kindern   Daten und einer Analyse auf Ebene der Bundesländer einen
je Frau. Durch diesen anhaltend niedrigen Wert bei gleich-      wesentlichen Beitrag für die öffentliche Diskussion.
zeitig höherer Lebenserwartung veränderte sich die Bevöl-
kerungsstruktur in Deutschland deutlich (vgl. Ragnitz, 2018).   Grundsätzlich weist die Literatur zwei Ansätze zur Projek-
Da in den kommenden Jahren zunehmend die geburtenstar-          tion der künftigen Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen
ken Jahrgänge der 1950er- und 1960er-Jahre – die Baby-          Arbeitsproduktivität aus. Die erste Methode beruht auf einer
boomer – das Rentenalter erreichen, wird in naher Zukunft       direkten Vorausschätzung der Produktivitätsentwicklung,
vor allem das Verhältnis der erwerbsfähigen Bevölkerung         basierend auf historischen Daten. Eine solche Abschätzung
zur Gesamtbevölkerung sinken. Erste Studien weisen darauf       erfolgt meist für alle Bundesländer und teilweise sogar auf
hin, dass zukünftig ein deutlich stärkeres Produktivitäts-      sektoraler Ebene. Der Fokus liegt hierbei jedoch auf der
wachstum notwendig sein wird, um das bisherige Wachs-           ökonometrischen Umsetzung der Schätzung; dementspre-
tum des Lebensstandards (ausgedrückt als preisbereinigtes       chend wird teilweise eine rein statistische Modellierung
Bruttoinlandsprodukt je Einwohner) aufrechtzuerhalten           vorgenommen, die ohne zusätzliche ökonomische Argu-

                                                                                                                               9
Wachstum und Produktivität 2035

mente auskommen muss. Der zweite Ansatz beruht dem-            mik zu halten. Aber auch Bayern und Baden-Württemberg
gegenüber auf einer Projektion der gesamtwirtschaftlichen      werden in diesem Zusammenhang ihre Anstrengungen für
Arbeitsproduktivität auf Basis ökonomischer Wirkungs-          mehr Innovation stark erhöhen müssen. Auch das Wachs-
modelle. Im Fokus steht dabei im Wesentlichen die Defi-        tum der Arbeitsproduktivität müsste kräftig steigen: Hier
nition der Annahmen für die Projektion. Da man in diesem       läge das für den Erhalt des Wachstums der letzten Jahre
Fall für jede in die Modellierung eingehende Variable eine     erforderliche Zielniveau des Wachstums der Arbeitsproduk-
Annahme zu deren zeitlichem Verlauf benötigt, sind disag-      tivität um etwa 50 Prozent bis 60 Prozent höher als derzeit
gregierte Schätzungen für Bundesländer oder gar Branchen       zu erwarten.
eher selten. Die Fülle notwendiger Informationen macht es
überdies kompliziert, wenn nicht gar unmöglich, eine Pro-      Die Studie lässt ebenfalls erste Rückschlüsse auf die – aus
jektion der Arbeitsproduktivität für alle Bundesländer auch    heutiger Sicht absehbaren – Aussichten auf eine Angleichung
auf sektoraler Ebene durchzuführen.                            der Lebensstandards zwischen ostdeutschen und westdeut-
                                                               schen Bundesländern zu. Die Ergebnisse legen nahe, dass
Die vorliegende Studie beschäftigt sich deshalb mit einer      sich bei einer Fortschreibung des aktuellen Wachstumspfa-
langfristigen Projektion der gesamtwirtschaftlichen Arbeits-   des kaum eine nennenswerte Angleichung ergeben dürfte.
produktivität und des Lebensstandards sowie der poten-         Für eine Konvergenz der Lebensstandards zwischen den
ziell daraus resultierenden Produktivitätslücke. Sie erwei-    ostdeutschen und den strukturschwachen westdeutschen
tert insoweit die bestehende Projektion für Deutschland        Bundesländern müsste das BIP-Wachstum beispielsweise
von Grömling (2017) um die einzelnen Bundesländer, trifft      in Brandenburg um durchschnittlich 1,8 Prozent bis 2035
aber im Detail teilweise abweichende Annahmen. Aufgrund        wachsen – die wahrscheinlichste Variante (im Basisszena-
der zunehmenden Komplexität wird eine Projektion auf           rio) geht hingegen von einem durchschnittlichen Wachs-
sektoraler Ebene jedoch nicht vorgenommen. Der wesentli-       tum von rund einem halben Prozent bis 2035 aus. In Meck-
che Unterschied zu anderen Studien, etwa des Deutschland       lenburg-Vorpommern läge der Bedarf bei rund 1,9 Prozent
Report 2045 der Prognos AG (2018), liegt dabei in einer        für das durchschnittliche BIP-Wachstum, während das
genaueren Modellierung der demografischen Entwicklung          Basisszenario gar von einer leichten Schrumpfung des
und den sich daraus ergebenden regionalen Unterschieden        realen BIP ausgeht. Die für eine Konvergenz notwendigen
im Wirtschaftswachstum.                                        Wachstumsraten, wie auch die für mehr Produktivitäts-
                                                               wachstum, dürften nach heutigem Stand wohl kaum zu
Die zentralen Ergebnisse der Studie zeigen auf, dass künftig   erreichen sein.
ein stärkerer wachstumspolitischer Handlungsbedarf beste-
hen dürfte. So deutet das wahrscheinlichste Szenario auf       Der Aufbau der Studie ist wie folgt: Kapitel 2 definiert wich-
eine Halbierung des Potenzialwachstums des realen BIP auf      tige Kenngrößen wie Produktivitätslücke und Innovations-
rund 0,6 Prozent im Jahr 2035 hin. Im Durchschnitt würde       lücke und gibt eine theoretische Grundlage zur Zusammen-
das Potenzialwachstum demnach in den nächsten 20 Jah-          setzung des Wirtschaftswachstums. Kapitel 3 illustriert die
ren nur noch um etwa 0,7 Prozent pro Jahr wachsen. Die         historische Entwicklung der für die Fortschreibung benutz-
Projektion macht dabei starke regionale Unterschiede deut-     ten Kennziffern. Kapitel 4 beschreibt die Annahmen und
lich: Während das BIP in Baden-Württemberg und Bayern          Ergebnisse der verschiedenen Szenarien. Schließlich wird
mit durchschnittlich rund einem Prozent pro Jahr bis 2035      in Kapitel 5 ein Fazit gezogen.
wachsen dürfte, wird in Sachsen-Anhalt und im Saarland
sogar mit einer jahresdurchschnittlichen Schrumpfung der
Wirtschaft zu rechnen sein. Die Projektion macht dabei die
teils erheblichen Bedarfe für mehr Innovation und Produk-
tivitätswachstum in der Zukunft deutlich. Demnach müsste
Gesamtdeutschland – ceteris paribus – das Wachstum der
TFP (den technischen Fortschritt) in etwa verdoppeln, um
bis zum Jahr 2035 die Zunahme des Lebensstandards auf-
rechtzuerhalten. Die Herausforderung wird regional sehr
unterschiedlicher Natur sein: Für Thüringen etwa läge das
Zielniveau des durchschnittlichen TFP-Wachstums im Ver-
gleich zu der aus historischer Sicht beobachteten Entwick-
lung mehr als doppelt so hoch, um die Einkommensdyna-

10
Wachstum und Produktivität 2035

2 Begrifflichkeiten und methodische
       Grundlagen

Zunächst ist es für das weitere Verständnis und den inhalt-            ihre Arbeitsleistung erbringen (Auspendler). Diese beiden
lichen Aufbau des vorliegenden Forschungsberichts ent-                 Umstände müssen daher bei der Interpretation des Lebens-
scheidend, wesentliche Begrifflichkeiten einzuführen und               standards berücksichtigt werden.
die methodischen Grundlagen kurz zu beschreiben. Diese
Studie ist an Grömling (2017) angelehnt, dessen Methodik               Die Entwicklung des materiellen Wohlstands der Bevölke-
wir replizieren und auf die deutschen Bundesländer über-               rung hängt zum einen davon ab, wie sich das Wirtschafts-
tragen. Im ersten Schritt werden die sogenannte Produk-                wachstum, gemessen als prozentuale Veränderung des
tivitätslücke und deren beide Komponenten, bestehend                   realen BIP, künftig entwickeln wird. Zum anderen spielen
aus dem gesamtwirtschaftlichen Lebensstandard und der                  demografische Faktoren eine entscheidende Rolle. Sofern
gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität, eingeführt.               sich in der Zukunft die demografischen Rahmenbedingun-
Im zweiten Schritt werden die methodischen Grundlagen                  gen einer Volkswirtschaft verschärfen (z. B. durch einen
der Wachstumszerlegung präsentiert und die „Innovations-               Rückgang der erwerbsfähigen Personen im Alter zwischen
lücke“ definiert.                                                      15 und 67 Jahren) und nicht durch Veränderungen der
                                                                       Erwerbsquote, gemessen als Summe der Erwerbstätigen
                                                                       und Erwerbslosen an der erwerbsfähigen Bevölkerung, aus-
2.1 Zusammenhang zwischen Lebens-                                      geglichen werden können, muss die gesamtwirtschaftliche
                                                                       Produktivität des Faktors Arbeit, gemessen als reales Brut-
       standard, Arbeitsproduktivität und
                                                                       toinlandsprodukt je Erwerbstätigen (BIP je ET), entspre-
       Produktivitätslücke                                             chend stark steigen, um den aktuellen Lebensstandard in
                                                                       der Zukunft entweder zu halten oder gar weiter ansteigen
                                                                       zu lassen.
Der Lebensstandard einer Volkswirtschaft gibt Auskunft
über den durchschnittlichen materiellen Wohlstand der                  Formal lässt sich der Zusammenhang zwischen Lebens-
Bevölkerung. Ein zentraler Indikator zur Messung dieses                standard und gesamtwirtschaftlicher Arbeitsproduktivität
Lebensstandards ist das Einkommen je Einwohner, gemein-                wie folgt zeigen. Das preisbereinigte BIP je EW sei definiert
hin approximiert durch das reale Bruttoinlandsprodukt                  als Y/N, mit Y als Maß der gesamtwirtschaftlichen Leistung
je Einwohner (BIP je EW).1 Jedoch birgt die Approximation              (in Euro des Vorjahres gemessen) und N der Gesamtheit
des bundeslandspezifischen Lebensstandards durch das                   der Bevölkerung einer Volkswirtschaft. Darauf aufbauend
reale BIP je EW das Problem der unterschiedlichen Mess-                kann durch mathematische Erweiterung mit der Zahl der
konzepte für beide Größen. Während das BIP am Arbeitsort               Erwerbstätigen der gesamtwirtschaftliche Lebensstandard
gemessen wird, basieren die Einwohner auf dem Wohnort-                 in Form der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität
konzept. Demnach berücksichtigt das BIP auch jene Wirt-                Y/L dargestellt werden:
schaftsleistung eines Bundeslandes, die durch Einpendler
erbracht wird. Die Zahl der Einwohner hingegen umfasst                                        Y = Y x L = Y x L.
                                                                                              N N L L N
alle Personen, die außerhalb des betrachteten Bundeslandes

1   Üblicherweise wird der Lebensstandard in laufenden Preisen, also   Mit dieser Erweiterung entspricht der gesamtwirtschaftliche
    nominalen Werten, ausgedrückt. Im Folgenden werden aber die ver-   Lebensstandard dem Produkt aus gesamtwirtschaftlicher
    ketteten Volumenangaben je Einwohner betrachtet, um insbesondere
    in der Wachstumsbetrachtung die Veränderung des realen Lebens-
                                                                       Arbeitsproduktivität und dem Anteil der Erwerbstätigen an
    standards abbilden zu können.                                      der gesamten Bevölkerung (L/N). Sofern also diese Quote aus

                                                                                                                                     11
Wachstum und Produktivität 2035

demografischen Gründen sinkt, muss die Arbeitsproduktivi-                   jenes Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Arbeitspro-
tät entsprechend stark steigen, um zumindest das aktuelle                   duktivität an, das erforderlich ist, um dieses Ziel zu errei-
Niveau des Lebensstandards zu halten.                                       chen. Bei einer zukünftigen Belastung der Volkswirtschaft
                                                                            durch negative demografische Umstände scheint das Wort
Anschaulicher wird dieser Zusammenhang, wenn die Glei-                      Lücke angemessen zu sein. Jedoch ist es etwas irreführend
chung nach der Arbeitsproduktivität umgestellt und inter-                   bei einer Ex-post-Betrachtung, da die Lücke auch negative
pretiert wird:                                                              Werte annehmen kann. Aus Konsistenz- und Vergleichbar-
                                                                            keitsgründen zu Grömling (2017) wird jedoch im Folgenden
                                 Y = Y x N.                                 immer die Bezeichnung „Produktivitätslücke“ verwendet,
                                 L N L                                      wenn die Differenz der Wachstumsraten aus gesamtwirt-
                                                                            schaftlicher Arbeitsproduktivität und Lebensstandard ana-
Hieraus ergibt sich rechnerisch das notwendige Niveau                       lysiert wird.
der Arbeitsproduktivität – unter gegebenen demografischen
Bedingungen – zur Erreichung eines Zielniveaus beim                         Da dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum eine Schlüs-
Lebensstandard.                                                             selrolle für die Sicherung zukünftigen Wohlstands bzw.
                                                                            Lebensstandards zukommt, werden im folgenden Kapitel
In der Regel lassen sich Relationen von Niveaugrößen etwas                  die (theoretischen) Bestimmungsfaktoren wirtschaftlicher
schwieriger interpretieren als Veränderungsraten. Daher                     Expansion näher erläutert. Zudem wird der Zusammenhang
kann durch Logarithmieren und Ableiten über die Zeit2 die                   zwischen Produktivitäts- und Innovationslücke veranschau-
Formel für die Arbeitsproduktivität approximativ in Wachs-                  licht.
tumsraten (bspw. Ŷ) umformuliert werden:

                       (Ŷ – L̂) = (Ŷ – N̂) + (N̂ – L̂).                     2.2 Wirtschaftswachstum, Growth
                                                                                     Accounting und Innovationslücke
Demnach entspricht die Wachstumsrate der gesamtwirt-
schaftlichen Arbeitsproduktivität (Ŷ – L̂) der Summe aus
Wachstumsrate des Lebensstandards (Ŷ – N̂) und Verän-                       Das Wachstum einer Volkswirtschaft lässt sich, basierend
derung der Quote aus Bevölkerung und Erwerbstätigkeit                       auf theoretischen Überlegungen, aufspalten in die Ver-
(N̂ – L̂). Letztgenannter Term wird auch als demografische                  änderungsraten der Faktoren Arbeit, Kapital und Stand
Anpassungslast bezeichnet (vgl. Grömling 2017, S. 14).                      des technischen Wissens. Auf Basis wachstumstheore-
Wird bspw. angenommen, dass die Bevölkerung in einem                        tischer Überlegungen kann eine Wachstumsgleichung
bestimmten Zeitraum um 1 Prozent schrumpft, die Zahl der                    abgeleitet werden, mit deren Hilfe potenzielle Wachstum-
Erwerbstätigen aber um insgesamt 5 Prozent zurückgeht,                      streiber identifiziert werden können („Growth Accoun-
beträgt der demografische Anpassungsfaktor 4 Prozent.                       ting“). Zunächst wird die zugrunde liegende Theorie kurz
Die Produktivität müsste folglich um exakt diese 4 Prozent                  beschrieben. Im Anschluss daran wird der Zusammenhang
steigen, um den Lebensstandard zumindest aufrechtzuer-                      zwischen der im vorhergehenden Kapital abgeleiteten Pro-
halten.                                                                     duktivitätslücke und der sogenannten Innovationslücke
                                                                            dargestellt. Den Abschluss bildet eine kurze Benennung der
Diesen notwendigen Produktivitätsanstieg bezeichnen wir                     Probleme des in diesem Bericht verwendeten Ansatzes.
im Folgenden als Produktivitätslücke (PL). Rechnerisch
ergibt sie sich aus der Differenz aus der Wachstumsrate                     2.2.1 Theoretische Grundlagen des Growth Accounting
der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität und der
Wachstumsrate des Lebensstandards:                                          Als Ausgangspunkt für das Growth Accounting dient eine
                                                                            einfache Produktionsfunktion, die die gesamtwirtschaft-
                         PL = (Ŷ – L̂) – (Ŷ – N̂).                          liche Produktion bzw. die gesamtwirtschaftlichen Produk-
                                                                            tionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft abbildet. In der
Sofern das zukünftige Wachstum des Lebensstandards auf                      neoklassischen Wachstumstheorie, die im Folgenden als
eine Zielgröße normiert ist, gibt die Produktivitätslücke                   Grundlage dient (vgl. Solow, 1956, 1957), werden traditi-
                                                                            onell drei Wachstumsfaktoren unterschieden: Arbeit (L),

2    Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird hier und im Folgenden auf die
                                                                            Kapital (K) und das technische Wissen einer Volkswirtschaft
     Angabe der Zeitindizes verzichtet.                                     (A), auch Totale Faktorproduktivität (TFP) genannt. Dabei

12
Wachstum und Produktivität 2035

gilt der folgende allgemeine funktionale Zusammenhang          Somit entspricht die Wachstumsrate der gesamtwirtschaft-
zwischen gesamtwirtschaftlicher Produktion (Y), gemessen       lichen Produktion (Ŷ) der Summe aus Wachstum des tech-
als preisbereinigtes BIP, und den Wachstumsfaktoren:           nischen Wissens bzw. dem technischen Fortschritt (Â) und
                                                               den Wachstumsbeiträgen der Faktoren Arbeit (a L̂) bzw.
                         Y = f (L, K, A).                      Kapital [(1–a) K̂]. Im Folgenden werden die einzelnen Grö-
                                                               ßen näher beschrieben und die dahinter liegenden Konzepte
Ein Ziel der vorliegenden Untersuchung ist die Vergleich-      erläutert.
barkeit der Ergebnisse für die Bundesländer mit jenen für
Gesamtdeutschland aus Grömling (2017). Daher wird im           Produktion (Y): Als Maß für die gesamtwirtschaftliche Pro-
Folgenden die Methodik aus Grömling (2017) adaptiert und       duktion kommt das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt
auf die Bundesländer übertragen. Es wird angenommen,           zur Anwendung (vgl. Arbeitskreis VGR der Länder, 2018c).
dass die gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion einer
Cobb-Douglas-Produktionsfunktion mit folgender Form            Arbeit (L): Der Produktionsfaktor Arbeit kann auf zwei
entspricht:                                                    Wegen abgebildet werden und umschließt alle Produktions-
                                                               möglichkeiten, die auf einen wachsenden oder auch sinken-
                    Y = f(L, K, A) = ALaK1–a.                  den Arbeitseinsatz durch die Bevölkerung zurückzuführen
                                                               sind. Einerseits lässt sich der Arbeitseinsatz definieren über
Demnach wird der gesamtwirtschaftliche Output produ-           die Anzahl der im Produktionsprozess eingesetzten Köpfe,
ziert mit den Faktoren Arbeit (L), Kapital (K) und Stand des   d. h. die Zahl der Erwerbstätigen oder das Erwerbspersonen-
technischen Wissens (A). Die Variablen a und 1–a werden        potenzial (alle Personen zwischen 15 Jahren und dem
gemeinhin als Produktionselastizitäten des Faktors Arbeit      gesetzlichen Renteneintrittsalter), welches der gesamten
bzw. des Faktors Kapital bezeichnet. Sie geben an, wie stark   Volkswirtschaft theoretisch zur Verfügung steht. Ein sin-
die Gesamtproduktion steigt, wenn der jeweilige Faktor um      kendes Erwerbspersonenpotenzial in Folge des demogra-
1 Prozent erhöht wird. Zudem wird unterstellt, dass sich die   fischen Wandels würde demnach die Produktionsmöglich-
Volkswirtschaft im Gleichgewicht befindet und vollkom-         keiten einer Volkswirtschaft einschränken. Andererseits
mene Konkurrenz herrscht. Dies wird ausgedrückt durch          kann der Faktor Arbeit mittels des Arbeitsvolumens,
sogenannte konstante Skalenerträge, d. h. die Produktions-     d. h. der Anzahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden,
elastizitäten summieren sich zu eins. Aus ökonomischer         abgebildet werden. Hierbei werden bspw. strukturelle
Sicht entspricht dies der folgenden Überlegung: Wenn beide     Verschiebungen auf dem Arbeitsmarkt explizit berücksich-
Produktionsfaktoren um den gleichen Faktor λ erhöht wer-       tigt. Aus der schieren Anzahl der Köpfe lässt sich bspw. die
den, führt dies auch im gleichen Maße zu einer Steigerung      verstärkte Nutzung von Teilzeit nicht abbilden. Aus diesen
der gesamten Produktionsmenge [f(λL, λK, A) = λY]. Zuletzt     Gründen wird im Folgenden der Faktor Arbeit durch das
gilt noch, dass die Substitutionselastizität zwischen Arbeit   Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen, welches im Rahmen
und Kapital immer konstant dem Wert eins entspricht,           der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Länder
d. h.: Ändert sich das relative Preisverhältnis von Kapital    veröffentlicht wird (vgl. Arbeitskreis VGR der Länder,
zu Arbeit um 1 Prozent, dann ändert sich ebenfalls das         2018c), approximiert.
Einsatzverhältnis der beiden Faktoren um 1 Prozent; die
gesamtwirtschaftliche Produktion bleibt dabei unverändert.     Kapital (K): Für den Produktionsfaktor Kapital wird im
                                                               Folgenden das preisbereinigte Bruttoanlagevermögen am
Auf Basis dieser Produktionsfunktion können nunmehr            Jahresende aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnun-
die Wachstumsbeiträge der Faktoren ermittelt werden.           gen der Länder herangezogen (vgl. Arbeitskreis VGR der
Zunächst wird die Produktionsfunktion in logarithmischer       Länder, 2018a). Dabei umfasst das Bruttoanlagevermögen
Form dargestellt:                                              die Ausrüstungen (z. B. Maschinen, Fahrzeuge), Bauten
                                                               und das geistige Eigentum (z. B. Ausgaben für Forschung
                In Y = In A + a In L + (1–a)In K.              und Entwicklung, Urheberrechte). Für eine detailliertere
                                                               Beschreibung sei an dieser Stelle auf Schmalwasser und
Wird dieser Ausdruck über die Zeit abgeleitet, ergibt sich     Weber (2012) verwiesen.
approximativ eine Darstellung in Wachstumsraten:
                                                               Totale Faktorproduktivität (A): Der Stand des technischen
                     Ŷ = Â + a L̂ + (1–a) K̂.                 Wissens bzw. die TFP sollen technologische Neuerungen
                                                               bzw. Technologieschübe für die gesamtwirtschaftliche

                                                                                                                           13
Wachstum und Produktivität 2035

Produktion oder Effizienzsteigerungen beim Faktorein-           der Lohnquote die Arbeitseinkommen der Selbstständigen
satz auffangen. Sogenannte General Purpose Technologien         nicht berücksichtigt; dies führt insofern zu Inkonsistenzen,
(GPT) werden gemeinhin dafür verantwortlich gemacht,            als dass bei den Erwerbstätigen und deren Arbeitsvolumen
langfristige Wachstumswellen zu initiieren (vgl. Grömling,      die Selbstständigen explizit Berücksichtigung finden (vgl.
2017). Unter technologischem Fortschritt werden bspw.           Grömling, 2017). Zweitens kann statt des Volkseinkommens
Produktinnovationen, Prozessinnovationen oder auch die          die Bruttowertschöpfung (BWS) als Bezugsgröße herange-
politischen bzw. institutionellen Rahmenbedingungen             zogen werden. Die BWS hat den Vorteil, dass die Abschrei-
zugeordnet. Gemeinhin gilt der technische Fortschritt als       bungen der Firmen enthalten sind, welche explizit als Kapi-
der wesentliche Treiber für das Wachstum der gesamtwirt-        talnutzungskosten zu interpretieren sind (vgl. SVR, 2014).
schaftlichen Produktion.                                        Aus diesen beiden Gründen wird im Folgenden die berei-
                                                                nigte Lohnquote oder Arbeitseinkommensquote (AEQ,
Grömling (2017) bezeichnet den zur Gewährleistung eines         Quotient aus Arbeitseinkommen und Bruttowertschöpfung)
bestimmten Wohlstandszuwachses erforderlichen Wachs-            herangezogen. Hierfür wurden in einem vorgelagerten
tumsbeitrag der TFP als sogenannte Innovationslücke             Schritt die Arbeitseinkommen der Selbstständigen nach
(IL = Â). Er argumentiert hierfür, dass das Produktivitäts-    Grömling (2017) berechnet. Es wird unterstellt, dass die
wachstum (Ŷ – L̂) durch den Wachstumsbeitrag der TFP und        Selbstständigen genau das durchschnittliche Arbeitneh-
von der Veränderung der Kapitalintensität ( K̂ – L̂) bestimmt   merentgelt je Arbeitnehmer verdienen. Dieser Durchschnitts-
wird:                                                           wert wurde im Anschluss mit der Zahl der Selbstständigen
                                                                multipliziert, um das Arbeitseinkommen dieser Gruppe
                   (Ŷ – L̂) = Â + (1–a) ( K̂ – L̂).            zu errechnen. Als letzter Schritt wurde die Summe aus
                                                                Arbeitnehmerentgelten und Arbeitseinkommen der Selbst-
Das Produktivitätswachstum wurde in Kapitel 2.1 bereits         ständigen gebildet und als Anteil an der BWS dargestellt
über die Produktivitätslücke wie folgt definiert:               (AEQ). Die zugrunde liegenden Daten werden ebenfalls vom
                                                                Arbeitskreis VGR der Länder (2018b, 2018c) zur Verfügung
                      (Ŷ – L̂) = PL + (Ŷ – N̂).                 gestellt.

Das Zusammenfügen beider Formeln zeigt nun, wie die             In Tabelle 1 sind die durchschnittlichen Arbeitseinkom-
beschriebene Produktivitätslücke gemäß theoretischer            mensquoten für die Bundesländer im Zeitraum 1996 bis
Überlegungen geschlossen werden kann:                           2017 zusammengefasst. Da im vorliegenden Gutachten
                                                                konstante Skalenerträge unterstellt sind, zeigt Tabelle 1
                  pl = â + (1–a)(K̂–L̂) – (Ŷ–N̂),              zusätzlich die durchschnittlichen Kapitalquoten (1–a). Die
                                                                durchschnittlichen AEQ variieren deutlich zwischen den
                 pl = il + (1–a) (K̂–L̂) – (Ŷ–N̂).              Bundesländern. Maßgeblich für diese Länderunterschiede
                                                                sind zwei wesentliche Gründe. Erstens unterscheiden sich
Bei gegebenem Kapital- und Arbeitseinsatz (K̂–L̂) und einer     die einzelnen Bundesländer in ihrer Wirtschaftsstruktur.
zuvor definierten Zielgröße des Wachstums des Lebens-           Während Baden-Württemberg und Bayern den höchsten
standards (Ŷ–N̂) beschreibt die Innovationslücke jenen          Industrialisierungsgrad aufweisen, gilt die Wirtschaft von
notwendigen Wachstumsbeitrag der TFP, um diese Ziel-            Berlin als eher dienstleistungsorientiert. Infolge dieser
größe zu erreichen. Bei der Ex-post-Betrachtung ist diese       Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur unterscheidet sich
Bezeichnung jedoch abermals unglücklich gewählt, wird           auch die empirisch gemessene Arbeitseinkommensquote
aber aus Konsistenzgründen beibehalten.                         zwischen den Ländern. Und zweitens unterscheiden sich
                                                                die Länder auch in ihren Faktorpreisverhältnissen, also der
Produktionselastizität des Faktors Arbeit (a): Unter der        Relation aus Löhnen und Kapitalnutzungskosten, was wie-
Annahme der Cobb-Douglas-Produktionsfunktion und                derum zu regional divergierenden Faktoreinsatzrelationen
vollkommener Konkurrenz entspricht die Produktions-             auch in einem Sektor führen kann, was ebenfalls Einfluss
elastizität des Faktors Arbeit der gesamtwirtschaftlichen       auf die regionale Arbeitseinkommensquote hat.
Lohnquote (Quotient aus Arbeitnehmerentgelten im Inland
und dem Volkseinkommen), die unmittelbar der amtlichen          In Hamburg machen die Arbeitseinkommen lediglich
Statistik entnommen werden kann. Gegen die Verwendung           56 Prozent der gesamten Einkommen aus, während dieser
der Lohnquote bei empirischen Schätzungen sprechen hin-         Anteil in Thüringen bei fast 67 Prozent liegt. Spiegelbild-
gegen zwei wesentliche Argumente. Erstens werden bei            lich hierzu verhalten sich natürlich die Kapitalquoten, die

14
Wachstum und Produktivität 2035

   TABELLE 1: Durchschnittliche Arbeitseinkommens-
                                                                                Totale Faktorproduktivität und
   und Kapitalquoten in den Jahren 1996–2017
                                                                                Arbeitsproduktivität
                                   Arbeitseinkommens-            Kapitalquote
                                       quote (in %)                 (in %)      In der vorliegenden Studie werden verschiedene Maße
   Baden-Württemberg                         63,5                     36,5      für die Produktivität verwendet. Eine der genannten
                                                                                Größen ist die sogenannte Totale Faktorproduktivität
   Bayern                                    63,2                     36,8
                                                                                (TFP). Vereinfacht gesprochen beschreibt dieses Produk-
   Berlin                                    66,1                     33,9
                                                                                tivitätsmaß die Effizienz des Zusammenspiels der Fakto-
   Brandenburg                               63,5                     36,5      ren Arbeit und Kapital: Eine höhere TFP bedeutet letzt-
   Bremen                                    60,9                     39,1      lich, dass mit der gleichen Einsatzmenge an Arbeit und
                                                                                Kapitel mehr erwirtschaftet werden kann. Daher wird
   Hamburg                                   55,7                     44,3
                                                                                die TFP gemeinhin auch als Maß für den technischen
   Hessen                                    61,6                     38,4
                                                                                Fortschritt gesehen. Sie kann allerdings nicht direkt
   Mecklenburg-Vorpommern                    65,2                     34,8      beobachtet werden, sondern ergibt sich bei der Zerle-
   Niedersachsen                             61,6                     38,4      gung des BIP-Wachstums in die Wachstumsbeiträge der
                                                                                einzelnen Produktionsfaktoren und aus dem Residuum,
   Nordrhein-Westfalen                       63,0                     37,0
                                                                                das nicht durch die Faktoren Arbeit und Kapital erklärt
   Rheinland-Pfalz                           63,2                     36,8
                                                                                werden kann.
   Saarland                                  65,8                     34,2

   Sachsen                                   65,7                     34,3      Die Arbeitsproduktivität wird ebenfalls als Maß für die
   Sachsen-Anhalt                            62,6                     37,4
                                                                                Produktivität genannt. Sie setzt den Output zum Arbeits-
                                                                                einsatz ins Verhältnis und stellt somit explizit auf die
   Schleswig-Holstein                        61,8                     38,2
                                                                                gesamtwirtschaftliche Produktivität des Faktors Arbeit
   Thüringen                                 66,9                     33,1      ab. Sie kann dabei als Arbeitsleistung je Erwerbstätigen
   Deutschland                               62,9                     37,1      oder auch je geleisteter Arbeitsstunde erfasst werden.
                                                                                Die Arbeitsproduktivität ist dabei nicht von anderen Grö-
   Quelle: Arbeitskreis VGR der Länder; Berechnungen des ifo Instituts.
                                                                                ßen isoliert zu betrachten. Sie kann etwa erhöht werden,
                                                                                wenn der Kapitaleinsatz je Erwerbstätigen erhöht wird
                                                                                (Anstieg der Kapitalintensität). Ebenso würde eine Erhö-
zwischen mehr als 44 Prozent und 33 Prozent schwanken.                          hung des Wachstums der zuvor genannten TFP das statis-
Jedoch ist festzuhalten, dass beide Quoten im Zeitverlauf                       tisch gemessene Wachstum der Arbeitsproduktivität stei-
recht stabil sind.                                                              gern. Auch Maßnahmen zur Verbesserung der Ausbildung
                                                                                und Befähigung von Arbeitnehmern können sich positiv auf
2.2.2 Probleme des Growth Accounting                                            das Wachstum der Arbeitsproduktivität auswirken. Das
                                                                                Verhältnis der Lohn- und Produktivitätsentwicklung kann
Die offensichtlichste Schwäche des hier gewählten Ansatzes                      auch für die Wettbewerbspolitik von Bedeutung sein:
ist die Berechnung der TFP als residuale Größe bzw. der                         Steigen etwa die Löhne stärker als die Arbeitsprodukti-
Diskrepanz zwischen beobachtetem Wirtschaftswachs-                              vität, so sinken die Lohnkosten je Produkteinheit und die
tum und jenem Wachstum, welches sich durch die beiden                           Wettbewerbsfähigkeit würde sich verringern. Daraus wird
Faktoren Arbeit und Kapital ergeben hätte. Maßgeblichen                         oftmals geschlossen, dass sich die Lohnentwicklung am
Einfluss auf den unerklärten Rest hat die Gestalt der ver-                      Wachstum der Arbeitsproduktivität orientieren sollte.
wendeten Produktionsfunktion. Im vorliegenden Fall wird
Neutralität des technischen Fortschritts unterstellt. Jedoch
kann der technische Fortschritt auch als arbeits- oder kapi-
talsparend (bzw. -vermehrend) modelliert werden.

Neben der formalen Struktur der Produktionsfunktion ist
ein weiteres wesentliches Problem des einfachen Growth
Accounting die Vernachlässigung weiterer potenzieller
Produktionsfaktoren. In der einfachen Produktionsfunk-

                                                                                                                                             15
Wachstum und Produktivität 2035

tion werden das gesamte Arbeitsvolumen und der gesamte
Kapitalstock abgebildet. Dem liegt die Annahme zugrunde,
dass alle Bestandteile des Faktors Arbeit bzw. des Faktors
Kapital mit der gleichen, durchschnittlichen Produktivität
agieren. Jedoch wird bspw. in neueren wachstumstheore-
tischen Ansätzen dem Humankapital eine entscheidende
Rolle für das Wachstum einer Volkswirtschaft beigemes-
sen. Dies ließe sich theoretisch berücksichtigen, indem der
Faktor Arbeit nach niedrig, mittel und hoch qualifizierten
Personen aufgespalten wird. Gleiches gilt für den Faktor
Kapital, der bspw. nach Kapital der Informations- und
Kommunikationstechnologie (IKT) bzw. Nicht-IKT-Kapi-
tal getrennt werden könnte. Darüber hinaus werden die
Wirkungen immaterieller Güter wie bspw. Lizenzen oder
Umweltkapital diskutiert (vgl. Grömling, 2017). Eine solche
Vorgehensweise würde es jedoch erforderlich machen, die
Produktionselastizitäten der einzelnen Faktoren explizit
zu schätzen, was mit Hilfe der Angaben aus der VGR nicht
möglich ist. Zudem müssten für Projektionsrechnungen
auch Annahmen über die künftigen Veränderungen in der
Struktur des Faktoreinsatzes getroffen werden, was mit
hohen Unsicherheiten verbunden wäre.

Die hier gewählte Vorgehensweise berücksichtigt Verände-
rungen in der Zusammensetzung der jeweiligen Aggregate
zumindest indirekt, da sich derartige Veränderungen auch
in den empirisch abgeleiteten Produktionselastizitäten nie-
derschlagen. Für die Zukunft wird hingegen implizit von
einer unveränderten strukturellen Zusammensetzung der
Aggregate Arbeit und Kapital ausgegangen. Zwar handelt
es sich bei dem in dieser Studie angewandten Verfahren
um einen eher einfachen Ansatz. Jedoch lässt dieser Ansatz
grundlegende Aussagen über die Zusammensetzung des
Wachstums bzw. den Bundesländervergleich zu und ist
obendrein sehr transparent und nachvollziehbar für poten-
zielle Anwender.

16
Wachstum und Produktivität 2035

3 Kennziffern für die Bundesländer

Im folgenden Abschnitt werden die in Kapitel 2 vorgestell-                                    3.1 Lebensstandard und Arbeitsproduktivität
ten Kennziffern für den Zeitraum 1991 bis 2017, sofern
verfügbar, dargestellt. Zunächst zeigen wir die Entwick-                                      Die deutschen Bundesländer sind geprägt von einer höchst
lung des Lebensstandards, der gesamtwirtschaftlichen                                          heterogenen Ausprägung der Lebensstandards. Anhand
Arbeitsproduktivität und die daraus resultierende Produk-                                     dieses Indikators ist das Flächenland Bayern jenes mit dem
tivitätslücke. Im Anschluss daran wird das beobachtete,                                       höchsten BIP je Einwohner (vgl. Abbildung 1).3 Im Jahr 2017
bundeslandspezifische Wirtschaftswachstum in die drei                                         lag der bayerische Lebensstandard um mehr als 16 Prozent
Komponenten Arbeit, Kapital und TFP zerlegt und deren
Wachstumsbeiträge diskutiert. Der Abschnitt schließt mit                                      3   Abstrahiert man von den Flächenländern, sind die Stadtstaaten
der Vorstellung zentraler demografischer Kennziffern, die                                         Hamburg und Bremen jene Bundesländer mit dem höchsten Lebens-
                                                                                                  standard. Jedoch sind deren Zahlen durch die erhebliche Zahl an
u. a. für die Projektionsrechnungen von zentraler Bedeutung                                       Pendlern nach oben verzerrt, sodass die Stadtstaaten in der folgenden
sind.                                                                                             Betrachtung größtenteils ausgeblendet werden.

  ABBILDUNG 1: Niveau des Lebensstandards im Vergleich
  Preisbereinigtes Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, Deutschland = 100

   140

   120

   100

    80

    60

    40
         1991       1993         1995         1997        1999         2001            2003       2005      2007      2009      2011        2013     2015      2017

        Bayern          Baden-Württemberg          Hessen             Ostdeutschland
  Quelle: Arbeitskreis VGR der Länder; Berechnungen des ifo Instituts.

                                                                                                                                                                      17
Wachstum und Produktivität 2035

über dem gesamtdeutschen Durchschnitt. Es ist zudem zu                                       Bei der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität ist der
beobachten, dass der Lebensstandard in Bayern seit 1991                                      Angleichungsstand der ostdeutschen Flächenländer mit
relativ zum Bundesdurchschnitt in etwa auf dem gleichen                                      rund 80 Prozent des deutschen Durchschnitts stärker aus-
Niveau verharrt. Nach dem Bundesland Hamburg folgt                                           geprägt als beim BIP je EW (vgl. Abbildung 2).4 Im Gegen-
Baden-Württemberg mit einem Niveau des preisbereinig-                                        satz zum Lebensstandard ist bei der Arbeitsproduktivität
ten BIP je EW im Jahr 2017, welches annähernd 15 Prozent                                     Ostdeutschlands hingegen ein anhaltender Angleichungs-
über dem deutschen Durchschnitt lag. Auch für Baden-                                         trend festzustellen. Bei der gesamtwirtschaftlichen Arbeits-
Württemberg ist seit 1991 ein recht stabiles Niveau, bezogen                                 produktivität ist Hessen der Spitzenreiter unter den Flä-
auf den gesamtdeutschen Durchschnitt, zu konstatieren.                                       chenländern, mit einem Wert, der 2017 um mehr als 10 Pro-
Auf dem dritten Platz unter den Flächenländern folgt Hes-                                    zent über dem deutschen Durchschnitt lag. Dies verwun-
sen mit einem realen BIP je EW, das mehr als 13 Prozent                                      dert kaum, da Hessen durch eine starke Präsenz überdurch-
höher ausfiel als in Deutschland insgesamt. Jedoch hat sich                                  schnittlich produktiver Wirtschaftsbereiche wie Unterneh-
das relative Niveau von Hessen seit der Wiedervereinigung                                    mens-, Finanz- und Versicherungsdienstleister gekenn-
trendmäßig verschlechtert und der Rückgang im Zuge                                           zeichnet ist (vgl. Felbermayr et al., 2018). Dahinter folgen
der Wirtschafts- und Finanzkrise nochmals beschleunigt.                                      die Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern, welche
Markant ist zudem die Entwicklung Ostdeutschlands (hier:                                     insbesondere einen hohen Industrialisierungsgrad ihrer
Summe der ostdeutschen Flächenländer ohne Berlin) im                                         Wirtschaft aufweisen.
Zeitraum 1991 bis 2017. Während die ersten Jahre nach der
Wiedervereinigung durch einen erheblichen Aufholprozess                                      Zwar sind die einzelnen deutschen Bundesländer charakte-
gekennzeichnet waren, ist der Angleichungsprozess beim                                       risiert durch einen sehr synchronen und ähnlichen Verlauf
realen BIP je EW seit jeher nur marginal vorangeschritten                                    ihrer Zuwachsraten beim realen BIP. Jedoch verlaufen die
oder gar zum Erliegen gekommen (vgl. Ragnitz, 2015, 2016).                                   Zahl der Erwerbstätigen sowie jene der Einwohner teilweise
Demnach kann auch fast 30 Jahre nach der Wiedervereini-                                      deutlich auseinander. Dieser Umstand hat unmittelbaren
gung unter Maßgabe des BIP je EW nicht von der ‚Anglei-
chung der Lebensverhältnisse‘ gesprochen werden. Im Jahr                                     4   Für die Produktivitätslücke ist die Betrachtung der gesamtwirtschaft-
                                                                                                 lichen Arbeitsproduktivität je Erwerbtätigen entscheidend. Bei der
2017 lag der Lebensstandard Ostdeutschlands um rund                                              Wachstumszerlegung bzw. bei den Projektionsrechnungen wird
29 Prozent unter dem Niveau von Deutschland insgesamt.                                           hingegen auf die Stundenproduktivität abgestellt.

     ABBILDUNG 2: Gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität im Vergleich
     Preisbereinigtes Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen, Deutschland = 100

     140

     120

     100

      80

      60

      40
           1991        1993         1995        1997         1999        2001         2003       2005     2007      2009       2011      2013      2015       2017

           Bayern          Baden-Württemberg          Hessen             Ostdeutschland
     Quelle: Arbeitskreis VGR der Länder; Berechnungen des ifo Instituts.

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