Was ist ein Hindernis? - Fachliche Aushandlungen im Sachunterricht am Beispiel der Mobilitätsbildung

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Was ist ein Hindernis? - Fachliche Aushandlungen im Sachunterricht am Beispiel der Mobilitätsbildung
ZfG (2021) 14:83–98
https://doi.org/10.1007/s42278-020-00099-z

 FORSCHUNGSBEITRAG
Schwerpunkt

Was ist ein Hindernis? – Fachliche Aushandlungen im
Sachunterricht am Beispiel der Mobilitätsbildung

Nina Skorsetz · Marina Bonanati · Diemut Kucharz

Eingegangen: 1. Juni 2020 / Angenommen: 11. Oktober 2020 / Online publiziert: 25. Januar 2021
© Der/die Autor(en) 2021

Zusammenfassung Anhand eines Transkripts aus dem Sachunterricht an einer in-
klusiven Grundschule wird in diesem Beitrag herausgearbeitet, was Fachlichkeit am
Beispiel der Radfahrausbildung in einer vierten Klasse ausmacht. Für die Video-
graphien im Sachunterricht wurden Schulen ausgewählt, die sich selbst als inklusiv
beschreiben. So beschreiben sie beispielsweise, dass der Anspruch auf sonderpäd-
agogische Förderung erst im Übergang zur weiterführenden Schule festgestellt wird.
Untersucht wird, wie die Teilnehmenden in einer Unterrichtsstunde ihre Vorstellun-
gen zu dem fachlichen Begriff Hindernis aushandeln. Es zeigt sich, dass bei der
Bearbeitung des Themas Vorbeifahren an einem Hindernis im Material kein Rück-
griff auf die begrifflichen Vorstellungen bzw. Konzepte der Kinder vorgesehen ist.
Da die Lernenden dennoch einen Aushandlungsprozess initiieren, in den sie auch
die Lehrkraft einbeziehen, ist eine Auseinandersetzung mit den kindlichen und fach-
lichen Vorstellungen zu beobachten.

Schlüsselwörter Inklusion · Schülervorstellungen · (Prä-)Konzepte ·
Rekonstruktive Unterrichtsforschung · Fachlichkeit · Mobilitätsbildung

Dr. N. Skorsetz () · Dr. M. Bonanati
Fachbereich Erziehungswissenschaften 04, Institut für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe,
Goethe Universität Frankfurt am Main, Theodor-W.-Adorno-Platz 6, 60629 Frankfurt, Deutschland
E-Mail: skorsetz@em.uni-frankfurt.de
Dr. M. Bonanati
E-Mail: bonanati@em.uni-frankfurt.de
Prof. Dr. D. Kucharz
Fachbereich Erziehungswissenschaften 04, Institut für Pädagogik der Elementar- und Primarstufe,
Professur für Grundschulpädagogik mit dem Schwerpunkt Sachunterricht, Goethe Universität
Frankfurt am Main, Theodor-W.-Adorno-Platz 6, 60629 Frankfurt, Deutschland
E-Mail: kucharz@em.uni-frankfurt.de

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What is an obstacle?—Specialist negotiations in social studies lessons
using the example of mobility education

Abstract In Germany, children usually participate in a cycling training in the
fourth class. Based on a transcript from a social and science studies lesson in an
inclusive school on the topic of driving past an obstacle we analyzed how the
participants negotiate their ideas on the technical term obstacle. The analysis showed
that the question of what an obstacle is was not intended by the teaching materials
to refer to the children’s conceptual ideas or concepts. We observed that the learners
nevertheless initiate a negotiation process about their own and professional concepts
in which they also involve the teacher.

Keywords Inclusion · (Pre-)concepts · Reconstructive classroom research ·
Professionalism · Mobility education

1 Einleitung

Mobilität ist eine wichtige Voraussetzung für die soziale Teilhabe aller Menschen.
Barrierefreie Mobilität ist vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonven-
tion (vgl. UN-BRK 2006) für eine inklusive Gesellschaft evident, aber noch längst
nicht erreicht. Auch für Kinder spielt Mobilität für ihre soziale Teilhabe eine bedeu-
tende Rolle, verstärkt durch veränderte Freizeit- und Bewegungsmöglichkeiten (z. B.
Günther und Degener 2009). Deshalb ist Mobilitätsbildung ein Bestandteil grundle-
gender Bildung und findet traditioneller Weise im Sachunterricht der Grundschule
statt.
   Anhand der Mobilitätsbildung soll exemplarisch deutlich werden, wie Fachlich-
keit im Sachunterricht im Spannungsfeld zwischen lebensweltlichen Erfahrungen
und fachlichen, abstrakten Begriffen konstruiert wird. Vor dem Hintergrund eines
übergeordneten Inklusionsanspruchs wird zudem die Frage nach der Teilhabe der
Kinder an diesem Konstruktionsprozess relevant.
   Im Rahmen der folgenden Darstellung erfolgt neben der Betrachtung der aktu-
ellen fachdidaktischen Diskussions- und Forschungslage zur Verkehrserziehung im
Rahmen einer umfassenden Mobilitätsbildung zunächst eine Auseinandersetzung
mit Fachlichkeit im inklusiven Sachunterricht.
   Für die anschließende Analyse dienen Ausschnitte aus Videographien einer Sach-
unterrichtstunde als Datengrundlage, die in einer heterogenen Lerngruppe an einer
Grundschule mit inklusivem Selbstverständnis im Rahmen der Verkehrserziehung
erhoben wurden. Auf der Mikroebene wird durch detaillierte Interaktionsanalysen
rekonstruiert, wie die Teilnehmenden in dieser Unterrichtsstunde ihre Vorstellun-
gen zu einem fachlichen Begriff aushandeln. Die Ergebnisse dieser Rekonstruktion
werden schließlich vor dem Hintergrund der fachdidaktischen Diskussion reflektiert.

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Abb. 1 Das doppelte didakti-
sche Dreieck des Sachunterrichts
(nach Thomas 2015; Pech 2009)

2 Fachliches und begriffliches Lernen im Sachunterricht

2.1 Das Schulfach Sachunterricht und seine Fachlichkeit

Sachunterricht hat die Aufgabe und das Ziel, Kinder bei der Welterkundung, bei der
Erschließung ihrer Lebenswelt zu unterstützen. Das geschieht, indem Phänomene,
Sachverhalte und die kindlichen Fragen an ihre Welt aufgegriffen werden (Köhn-
lein 2015). Damit besteht die besondere Herausforderung des Faches darin, sich in
dem Spannungsfeld zwischen den beteiligten Fachwissenschaften, den gesellschaft-
lichen Forderungen und dem Kind als Lernendem zu verorten (Thomas 2015). Diese
Bezugsgrößen lassen sich nach Pech (2009) in ihrem Verhältnis zueinander als dop-
peltes didaktisches Dreieck darstellen (s. Abb. 1). Insofern wird die Frage nach
der Fachlichkeit im Sachunterricht weniger von den Bezugswissenschaften als vom
Thema ausgehend und seiner Verortung in diesem Spannungsfeld bestimmt.
   Der Bildungsgehalt dieser so gewonnenen Themen bzw. Gegenstände des Sach-
unterrichts ergibt sich also nicht aus der Logik einzelner Fachdisziplinen, sondern
die verschiedenen Fachperspektiven werden herangezogen, um diese Fragen, Phäno-
mene etc. vielperspektivisch zu klären. Dabei bedient man sich einerseits der fach-
typischen Methoden1 als auch der Inhaltsaspekte, die fachspezifisch geklärt werden
können. Bei der Klärung geht es um eine Versachlichung und Weiterentwicklung
der kindlichen Vorstellungen von der Welt (Kahlert 2009).

2.2 Fachlichkeit in der inklusiven Unterrichtsforschung

Inklusiver Fachunterricht gilt in Deutschland als noch wenig beforscht (Hackbarth
und Martens 2018). Dieses Forschungsdesiderat wird auch für den inklusiven Sach-
unterricht konstatiert (Pech et al. 2018, 2019). Vereinzelt liegen frühe empirische

1   auch Denk-, Arbeits- und Handlungsweisen genannt (GDSU 2013).

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Studien vor (Seitz 2005; Schomaker 2007), dennoch hat sich bislang trotz steigen-
der Publikationen keine systematische inklusive Sachunterrichtsforschung etabliert
(Pech et al. 2018). Hier stellt sich die Frage, ob es überhaupt einer spezifischen
inklusiven Didaktik für den Sachunterricht bedarf (Kucharz 2015; Pech und Rau-
terberg 2016), oder ob die Konzeption der Vielperspektivität als anschlussfähig für
Inklusion betrachtet werden kann (s. a. Hinz 2011; Simon 2017), da sie vielfältige
Zugänge für heterogene Lerngruppen bietet (GDSU 2013), die auch für inklusive
Settings geeignet sind. Bereits in den 1980er-Jahren forderte Feuser (2018 [1984])
für den integrativen Unterricht das Lernen am gemeinsamen Gegenstand, für das
Formen des differenzierten Unterrichts zur Anwendung kommen, der die individu-
ellen Lernvoraussetzungen der heterogenen Kindergruppe berücksichtigt (Kucharz
2015).

2.3 Konzepte und Bedeutung von Fachbegriffen

Im fachdidaktischen Diskurs – vor allem im Bereich der Naturwissenschaften und
des Sachunterrichts (Adamina et al. 2018) – wird die Bedeutsamkeit von Schü-
ler*innenvorstellungen und deren Weiterentwicklung diskutiert. Mit Vorstellungen
sind ganz allgemein „unterschiedlich ausgeprägte Bewusstseinsinhalte“ (Möller
2018, S. 35) von Lernenden gemeint, die sich nicht nur auf fachliche Inhalte,
sondern auch auf Erfahrungen und Erlebnisse beziehen können. Vorstellungen wer-
den sowohl zu konkret Anschaulichem, wie Phänomenen, als auch zu abstrakten
Konstrukten und Begriffen entwickelt. Werden diese Vorstellungen im Unterricht
genutzt, spricht Möller (ebd.) von Vorwissen oder Präkonzepten, die im Rahmen
des Lernprozesses weiterentwickelt werden sollen. Präkonzepte repräsentieren da-
mit eine Art fachliche Ausgangslage, die meist eher lebensweltlich konturiert ist
und auf die die Lernenden rekurrieren, wenn sie mit weiteren Wissensinhalten
oder Phänomenen konfrontiert werden, und enthüllen somit, warum Kinder z. B. in
einer bestimmten Weise argumentieren. Dabei können diese Vorstellungen bereits
theorieähnlich strukturiert sein oder aus unzusammenhängenden Wissensbeständen
bestehen (Adamina et al. 2018). Es hat sich gezeigt, dass Vorstellungen nur schwer
veränderbar sind und ein radikaler Konzeptwechsel durch Unterricht kaum möglich
ist (ebd.). Möller (1999) konnte auch zeigen, dass Unterricht, der nicht auf das
Vorwissen der Kinder eingeht, nur so genanntes träges Wissen hervorbringt, das
nicht dazu beiträgt Schüler*innenvorstellungen weiterzuentwickeln.
   Im aktuellen Forschungsdiskurs wird der Begriff Schüler*innenvorstellungen eher
dann genutzt, wenn Vorwissen und Erfahrungen rekonstruiert werden sollen. Im
naturwissenschaftlichen Bereich2 der Conceptual Change Forschung wird davon
gesprochen, unwissenschaftliche Präkonzepte durch Unterricht oder andere Inter-
ventionen in eher wissenschaftlich belastbare Postkonzepte weiter zu entwickeln
(vgl. Möller 2018). Für den Bereich des Phänomens Schwimmen und Sinken und
andere Beispiele wurden hier bereits Stufenmodelle der Vorstellungsveränderungen
entwickelt (Jonen et al. 2003). Die Präkonzepte sollen von der Lehrkraft zu Beginn

2 Auch im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich bringen Lernende bereits Vorstellungen mit – siehe
dazu beispielsweise die Untersuchung von Baar und Maier (2012) zu Präkonzepten zu dem Begriff Familie.

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einer Unterrichtseinheit erhoben werden, um daran im Unterricht anzuknüpfen, de-
ren Grenzen ggf. deutlich zu machen und so eine Weiterentwicklung anzubahnen.
Wenn dies sprachlich geschieht, spielen außer den kognitiven auch die verbalen
Fähigkeiten der Kinder eine Rolle, um die eigenen Vorstellungen z. B. zu einem
Fachbegriff zum Ausdruck bringen zu können (Gropengießer 2001).

2.4 Fachliches Lernen in der Mobilitätsbildung

Dass Mobilität für Kinder und für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung eine
große Bedeutung für ihre gesellschaftliche Teilhabe hat, wurde bereits in der Einlei-
tung ausgeführt. Im Sinne einer Unfallprävention vor allem seit den 1970er-Jahren
stand das Erlernen von Verkehrsregeln und Verhaltensweisen im Fokus (Spitta 2015).
Die Mobilitätsbildung im vielperspektivischen Sachunterricht geht über Verkehrs-
erziehung hinaus. Ziele der „Mobilitätsbildung in einer urbanisierten Welt“ (Kaiser
2016, S. 189) sind „eine selbstständige, reflektierte, umwelt- und verantwortungsbe-
wusste Wahl der benutzten Verkehrsmittel zu treffen sowie, in Bezug auf Mobilität
im Kontext der Bildung für nachhaltige Entwicklung, an gesellschaftlichen Problem-
lösungen im eigenen Wohn- und Schulumfeld mitzuwirken“ (GDSU 2013, S. 74;
s. auch Schneider 2018; KMK 2012).
   In dem hier analysierten Sachunterricht wird allerdings Verkehrserziehung im
engeren Sinne realisiert, indem die Kinder auf die anstehende Fahrradprüfung vor-
bereitet werden. Die Fahrradprüfung ist das gemeinsame Ziel im inklusiven Sachun-
terricht und ist fachlich vom gesellschaftlichen Interesse an der Verkehrstüchtigkeit
der Kinder dominiert. Bei diesem Gegenstand wird aus gesellschaftlicher Perspek-
tive nicht in Frage gestellt, ob er für alle Kinder relevant ist. Es gibt kaum konkrete
Anregungen, wie Lehrkräfte – entsprechend unterschiedlicher Voraussetzungen –
Verkehrserziehung didaktisch aufbereiten können. Auf der Medienseite der Ver-
kehrswacht finden sich dazu folgende Äußerungen:
   „Die ,Verkehrserziehung für Menschen mit einer Behinderung‘ gibt es nicht.
Unterschiedliche Mobilitätsbeeinträchtigungen erfordern unterschiedliche Förder-
schwerpunkte. Im Ansatz unterscheidet sich Verkehrserziehung für Heranwachsende
mit einem Handicap aber kaum von der allgemeinen schulischen Mobilitätsbildung.
Die Radfahrausbildung ist auch dort etabliert. Wir empfehlen, jedes Kind, soweit
dies möglich ist, an der Ausbildung und an der Lernkontrolle teilnehmen zu lassen.
Bei der Beurteilung sind die individuellen Voraussetzungen der Schüler zu berück-
sichtigen“ (Verkehrswacht o.J.).
   Aus- und Fortbildungsangebote für Lehrkräfte in diesem Bereich sind selten, so
dass sich eine vielperspektivische Sicht auf das Thema im Sinne einer Mobilitäts-
bildung nur schwer durchsetzen kann (Spitta 2015). In Bezug auf die bundesweit
durchgeführte Radfahrausbildung im vierten Schuljahr konstatiert Schneider (2018),
dass der Fokus häufig nicht auf Mobilitätsbildung, sondern nur auf dem Erlernen
von Verkehrs- und Sicherheitsregeln sowie dem richtigen Umgang mit dem Fahrrad
liege, und häufig außerschulische Lernangebote von Polizei und Verkehrswacht ge-
nutzt würden, die eher aus Einweisungsprogrammen mit reiner Vermittlungsabsicht
bestünden. Auch Funk et al. (2013), die Experteninterviews und eine Fragebogen-
befragung bei Fach- und Lehrkräften in Kindergarten und Grundschule (n = 1920)

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durchführten, fanden heraus, dass die Verkehrserziehung zwar kein Randthema dar-
stelle, der Schwerpunkt aber – im Gegensatz zu der geforderten umfänglichen Mo-
bilitätsbildung – auf der Sicherheitserziehung und spielerischen Übungen zur Ver-
kehrsvorbereitung liege.
    Günther und Degener (2009) konnten in ihrer Befragung bei rund 1000 Ver-
kehrserziehungs-Dienststellen und Schulen zeigen, dass diese zwar durch häufigeres
Fahrradfahren im Straßenverkehr praxisnäher geworden sei, jedoch noch immer kon-
krete Handlungsdispositionen wie Anfahren etc. im Vordergrund stünden.
    Abschließend lässt sich konstatieren, dass die Mobilitätsbildung im Allgemeinen
sowie die Radfahrausbildung im Speziellen kaum eine Rolle in der Sachunterrichts-
forschung spielen (Schneider 2018). Fachliches Lernen bezieht sich in den wenigen
vorliegenden empirischen Studien immer auf die Vermittlung von spezifischem Wis-
sen, wie z. B. der Straßenverkehrsordnung (StVO), sowie praktischem Können, wie
Fahrradfahren (ebd., S. 22).
    Auch im vorliegenden Beispiel stehen diese Inhalte im Vordergrund. Als fachli-
cher Bezug steht in dem Unterricht ein Arbeitsheft der Verkehrswacht im Zentrum.
Die Analysen zeigen, dass für die Kinder darüber hinaus begriffliche Klärungen
von Bedeutung sind: Der Begriff Hindernis taucht in dem von uns untersuchten
Sachunterricht im Rahmen der Radfahrausbildung auf und wird für die Kinder zu
einem zu verhandelnden Gegenstand. Er rekurriert als Fachbegriff auf den Kontext
des Straßenverkehrs und wird in dem zu bearbeitenden Heft offenbar als bekannt
vorausgesetzt. In der StVO wird unter § 6 Vorbeifahren folgendes definiert: „Wer an
einer Fahrbahnverengung, einem Hindernis auf der Fahrbahn oder einem haltenden
Fahrzeug links vorbeifahren will, muss entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren
lassen. Satz 1 gilt nicht, wenn der Vorrang durch Verkehrszeichen anders geregelt
ist. Muss ausgeschert werden, ist auf den nachfolgenden Verkehr zu achten und
das Ausscheren sowie das Wiedereinordnen – wie beim Überholen – anzukündi-
gen“ (StVO § 6). Eine genauere Erläuterung, was ein Hindernis im Straßenverkehr
darstellt, findet sich hier nicht. Im Wörterbuch der deutschen Sprache werden drei
Bedeutungen aufgeführt (DWDS o.J.):
1. hindernder Umstand, Sachverhalt; Hemmnis, Schwierigkeit
2. etwas, was das direkte Erreichen eines Ziels, das Weiterkommen be- oder verhin-
   dert
3. auf einer (Renn-)Strecke aufgebaute Vorrichtung, die beispielsweise von Sport-
   ler*innen oder Pferden überwunden werden muss
   Es zeigt sich also, dass der Begriff unterschiedliche, auch metaphorische Bedeu-
tungen haben kann. Der Straßenverkehrsordnung liegt vermutlich die zweite Bedeu-
tung zugrunde. Es ist anzunehmen, dass die Vorstellungen der Kinder zum Begriff
Hindernis eher lebensweltorientiert und von ihren konkreten Erfahrungen geleitet
sind.

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3 Methodische Überlegungen

Mit der übergreifenden Frage danach, was im Sachunterricht wie zum Gegenstand
gemacht wird, fokussieren wir fachlich-inhaltliche Aushandlungen. Bräuer et al.
(2018) verorten unterschiedliche Forschungsansätze, die sich für Fachlichkeit in-
teressieren, entlang einer Topologie zweier Dimensionen. Dimension eins bezieht
sich auf die Vorstellung von Fachlichkeit und Dimension zwei auf die Normen
der Qualität fachlicher Vermittlungs- und Aneignungsprozesse; beide bewegen sich
zwischen Setzen und Rekonstruktion. Im Sinne dieser Topologie betrachten wir
fachliche Aushandlungen im Unterricht auf Dimension eins zwischen dem Setzen
von Fachlichkeit als substanzieller Vorstellung und der Rekonstruktion von Fach-
lichkeit im Sinne einer sozialen Konstruktion. Dies bedeutet, dass wir zum einen
– unter Bezugnahme auf eine interaktionstheoretische Perspektive – rekonstruieren,
wie Lehrperson und Schüler*innen in der sozialen Situation Unterricht fachliche
Aushandlungen hervorbringen. Zum anderen werden Ansätze der fachdidaktischen
Diskussion den Analysen gegenübergestellt, so dass ein erweiterter Blick auf Fach-
lichkeit möglich wird.
   Zentrales methodisches Verfahren zur Analyse von Unterrichtstranskripten ist die
Interaktionsanalyse im Sinne der interpretativen Unterrichtsforschung (Breidenstein
2002). Fachlich-inhaltliche Interaktionen werden in einem ersten Schritt identifiziert,
indem die Unterrichtsvideos segmentiert und die didaktische Gestaltung des Lernset-
tings zusammengefasst wird. Anschließend erfolgt die detaillierte Sequenzanalyse
(in Anlehnung an die Analysemaximen nach Krummheuer und Naujok 1999). Inter-
aktionsanalysen zielen „[...] auf eine empirische Analyse von Interaktionsprozessen
im Sinne eines von mehreren anwesenden Personen in wechselseitiger Abhängigkeit
erzeugten Prozesse[es]“ (Krummheuer und Brandt 2001, S. 14; Herv. i. O). Aus die-
sem Wechselprozess aufeinander bezogener Rede- und Handlungszüge ergibt sich
die thematische Entwicklung der Interaktion inklusive Bedeutungsaushandlungen
(Krummheuer 2012).
   Für die hier analysierte Szene wurden Sachunterrichtsstunden einer vierten Klas-
se an einer Grundschule im Rhein-Main-Gebiet videografiert. Neben Aufnahmen
aus zwei Totalen wurden feststehende Kameras vor jeden Gruppentisch in der Klas-
se positioniert, so dass die Interaktionen der Schüler*innen dokumentiert werden
konnten. Durch Audiorekorder auf den Gruppentischen sowie einem Mikrofon für
die Lehrperson konnten alle Gespräche festgehalten werden.
   Analyseleitend für die nachfolgend präsentierten Szenen sind die Fragen: Wie
handeln die Teilnehmenden in einer Unterrichtsstunde im Rahmen der Radfahraus-
bildung aus, was Hindernisse sein können? Welche Bedeutung haben für diesen
Ko-Konstruktionsprozess die Vorstellungen der Schüler*innen, die Äußerungen der
Lehrerin sowie die verwendeten Materialien?

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4 Ergebnisse der Interaktionsanalyse – Was können Hindernisse sein?

4.1 Zum Kontext der Szene

Das Transkript dokumentiert die Handlungen von vier Jungen (Edgar, Piet, Ge-
rald, Sujan)3 an einem Gruppentisch in einer Sachunterrichtsstunde in einem vierten
Schuljahr. Die Klasse beschäftigt sich seit ca. zwei Wochen mit der Radfahrausbil-
dung, an deren Ende nach einem Vierteljahr Vorbereitungszeit die Radfahrprüfung
stehen soll. Im Zentrum steht von der Verkehrswacht zur Verfügung gestelltes Ar-
beitsmaterial zur Verkehrserziehung (Verkehrswacht 2019).
   In einem schon in vorhergehenden Stunden genutzten DINA 4 Arbeitsheft (ebd.,
S. 26) sollen zwei Seiten bearbeitet werden. Auf der linken Seite sind oben zwei
Aufgabenstellungen formuliert: 1. Was können Hindernisse sein? Zähle auf! 2. Wel-
che Verkehrsschilder zeigen dir Hindernisse an? Die freien Flächen darunter fordern
dazu auf, schriftlich zu antworten. Des Weiteren sollen von den Kindern Figuren
zu den zu befolgenden Schritten ausgeschnitten und in der richtigen Reihenfolge
aufgeklebt werden. Auf der Rückseite des Arbeitsheftes sind zahlreiche Verkehrs-
schilder abgebildet, auf die die Schüler*innen zur Beantwortung der zweiten Frage
zurückgreifen.
   Die als Stationenarbeit angelegte Beschäftigung mit dem Vorbeifahren an einem
Hindernis gliedert sich in lehrergelenkte Phasen und selbstständige Gruppenarbeits-
phasen zur eigenständigen Erarbeitung der Aufgaben im Arbeitsheft. Die detaillier-
te Sequenzanalyse von vier Szenen aus dem Verlauf der Gruppenarbeit zeigt, wie
die Schüler Piet, Gerald und Edgar die Frage aushandeln, was Hindernisse sein
können. Die Aushandlungen der Jungen pendeln dabei zwischen individuellen Le-
bensweltbezügen (Beispiele 1, 3, 4) und den Vorgaben des Arbeitsmaterials durch
Aufgabenstellungen und Abbildungen (Beispiele 2, 4).

Szene 1: Können Steine ein Hindernis sein? (Min. 23:00–23:28)

01   Ge:    dis viel leichter
02   Ed:    steine können (.)
03   Pi:    ja.
04   Ed:    ((blickt vom Heft auf zu Piet)) hindernisse s- st-steine
05   Pi:    nein,
06   Ge:    doch ((antwortet ohne von seiner Schneidearbeit aufzusehen,))
07   Ed:    ((schaut zu Gerald und beginnt dann ins Heft zu schreiben))
08   Pi:    ja ja (.) je:in ((Piet wackelt mit dem Kopf und
09          schneidet während er spricht)) [so lala. aber wie mans meint]
10   Ed                                    [((schaut kurz zu Piet und
11          schreibt dann weiter in sein Heft))]
12   Ge:    ja wenn man aufm berg is sind ja [steine] auch n hindernis

3 Die Namen der Jungen wurden pseudonymisiert. Die in dieser Szene vornehmlich nonverbalen Handlun-
gen von Sujan werden dann in das Transkript aufgenommen, wenn sie auf die anderen Jungen ausgerichtet
sind. Er arbeitet in einem anderen Arbeitsheft.

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13     Pi:                                      [ja] dann ja, aber ich meine
14             jetz wenn man so auf einer straße ist (.) bei der karibik

   Die Äußerung des Schülers Edgar in Zeile 2 und 4 bildet eine Antwort auf die im
Arbeitsheft formulierte Frage, was ein Hindernis sein kann. Die Frage setzt damit
schüler*innenseitig eine Vorstellung von Hindernis voraus und fordert eher einen
theoretisch-kognitiven Zugang, indem Hindernisse aufgezählt werden sollen. Schü-
ler*innenerfahrungen und -vorstellungen von Hindernissen sollen nicht ausgehandelt
werden.
   Edgars Beitrag (Z. 4) initiiert eine Aushandlung zwischen Piet und Gerald. Piet
widerspricht Edgar („nein“), woraufhin Gerald sich mit „doch“ einbringt und somit
Edgars Einschätzung zustimmt. Edgar reagiert nonverbal, indem er zu ihm schaut,
dann aber (weiter) schreibt. Mit seinem nächsten Beitrag bestätigt Piet zunächst „ja,
ja“, relativiert dann aber durch drei Formulierungen („jein“, „so lala“ und „wie mans
meint“), die weder Zustimmung noch Verneinung ausdrücken und seine Position
somit vage bleibt. Gerald formuliert nun ein Argument (Z. 12), womit er sein „doch“
unterstreicht. Er konstruiert eine Situation an einem bestimmten Ort („aufm Berg“),
an dem Steine ein Hindernis seien. Piet setzt einen anderen Ort dagegen (Z. 14)
„auf so einer Straße“ „bei der Karibik“, womit er den Kontext Verkehr aktiviert und
deutlich macht, dass es kontextabhängig ist, ob ein Stein ein Hindernis darstellt.
   In diesem Abschnitt bilden subjektive Lebensweltbezüge und Vorstellungen der
Schüler die Grundlage für ihre Aushandlung. Die Aushandlungen sind lebenswelt-
lich orientiert, da dieses Beispiel4 für ein Hindernis der Vorstellung der Schüler
davon entspringt, was sie auf einem Weg behindern könnte.

Szene 2: Kann eine Kurve ein Hindernis sein (I)? (Min. 24:46–24:53)

80     Ed:      ähm ist auch eine kurve ((hält mit links die Seiten
81              zwischen S. 26 und der Rückseite und biegt diese so, dass
82              er S. 26 sehen kann)) ein hindernis? ((schaut zur Lehrerin))
83     Le:      ne:in
84     Su:      ((murmelt sehr leise etwas unverständliches und schaut dabei
85              weiter auf sein Heft5,))
86     Ed:      ((schaut von Lehrkraft auf sein Arbeitsheft))
87     Le:      die musst du fahren ((Piet meldet sich mit der rechten Hand,
88              Lehrerin schaut zu ihm.))
89     Ed:      ((schaut nachdenklich auf sein Heft))

  Da Edgar zur Rückseite des Arbeitsheftes mit den Verkehrsschildern blättert, ist
anzunehmen, dass das dort abgebildete Schild Kurve Auslöser für seine Frage ist,
ob auch eine Kurve ein Hindernis sei (Z. 80/82). Die Konjunktion „auch“ verweist

4   Weitere Beispiele sind: tote Tiere auf der Fahrbahn, Bäume, Hundekot.
5 Zwischenzeitlich arbeitet er, nach einer Besprechung mit der Lehrerin, ebenfalls in dem Arbeitsheft. Im
Verlauf der folgenden Szenen ist er damit beschäftigt, die Figuren auszuschneiden.

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darauf, dass bereits (innerhalb der Gruppe validierte) Hindernisse gefunden wurden.
Außerdem zeigt es an, dass mehrere Lösungen oder eine vollständige Liste gesucht
werden, und reagiert damit auf die Aufforderung „zähle auf“. Hinter Edgars Frage,
ob eine Kurve auch ein Hindernis sei, könnte seine Vorstellung stehen, das Hindernis
all das beschreibt, was ein normales Weiterfahren behindert. Mit dem Bezug auf die
Übersicht der Verkehrsschilder, der an mehreren Gruppentischen zu beobachten ist,
vermischen die Schüler*innen die Fragen eins und zwei im Arbeitsheft miteinander.
    Der Schüler nutzt die Anwesenheit der Lehrerin (Le) in der Nähe des Gruppenti-
sches, um seine Frage an sie zu adressieren. Damit positioniert er sie als Wissensträ-
gerin und als notwendiges Korrektiv, um die Liste der Hindernisse abzusichern. Die
Lehrerin nimmt diese Positionierung an, indem sie die Frage verneint (Z. 83). Auf
das für die Transkription unverständliche Murmeln des Schülers Sujan an dieser Stel-
le (Z. 84) erfolgt keine Reaktion. In Zeile 87 ergänzt die Lehrerin ihre Verneinung
mit einer Begründung: „die (gemeint ist die Kurve) musst du fahren“, warum sie eine
Kurve nicht als Hindernis definiert. Ihre Begründung verweist auf ein Verständnis,
dass das Weiterkommen mit dem Fahrrad durch ein Hindernis beeinträchtigt würde.
Durch ein Hindernis wird die Normalvorstellung vom Weg verändert. Eine Kurve
bildet nach Aussage der Lehrerin keine Irritation dieser, sondern ist Teil der Fahrbahn
und muss auf dem Normalweg bewältigt werden. Diese Begründung verweist auch
darauf, dass Schilder zu einem bestimmten Verhalten aufrufen. Die Handlungsnorm
bei einer Kurve formuliert die Lehrerin so: du musst fahren. Die Vorstellung des
Schülers von Hindernis oder die besondere Vorsicht, zu der das Achtung-Zeichen
aufruft und die den Schüler*innen bewusst zu sein scheint, thematisiert sie nicht.
    Wie ihr Zusatz von dem Schüler verstanden wird, bleibt zunächst offen, da die
Lehrerin sich unmittelbar dem nächsten Schüler zuwendet und Edgar nicht mehr
verbal reagiert (Z. 89; in Szene 4 wird die Frage erneut aufgeworfen.). Er wird als
nachdenklich beschrieben. Auch durch die Aufzählungslogik entsteht der Eindruck,
dass das, was als Hindernis gilt, nicht zur Diskussion gestellt, sondern die Definition
von Hindernis vorausgesetzt wird. Der Kontext bleibt im Vergleich zur ersten Szene
ausgeblendet.
    Nachfolgend (ohne Transkript) wiederholt sich das obenstehende Interaktions-
muster (im Sinne eines Frage-Antwort-Spiels): Die Lehrerin veri- oder falsifiziert für
zwei Beispiele (einseitig verengte Fahrbahn; Radverkehr) die Kategorisierung nicht
eindeutig, betont aber die Bedeutung der Verkehrsschilder und zu welchem Handeln
das Schild aufruft. So verweist sie beispielsweise auf eine besondere Aufmerksam-
keit, die in der Situation gefordert ist. Es wird u. a. deutlich, dass Warnschilder auf
Gefahren hindeuten, die beispielsweise durch ein Hindernis verursacht werden kön-
nen. Und: auch eine spezifische Straßenführung kann dazu aufrufen, sich ähnlich
zu verhalten, wie es ein Hindernis verlangt („sodass du einen bo:gen darum machen
musst“), wie sie es im späteren Plenumsgespräch anführt.

Szene 3: Kann ein Baum ein Hindernis sein? (Min. 27:59–28:15)

48   Ge:    ((Ge blickt auf zur Le)) ist ein baum ein hindernis?
49          weil [wenn man aufm gehweh]
50   Le:         [ein umgefallener] baum kann auch ein hindernis sein

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Was ist ein Hindernis? – Fachliche Aushandlungen im Sachunterricht am Beispiel der...   93

51            wenn er vom sturm umgefallen ist ((läuft zu Tisch 5))
52   Ge:      ((Ge schaut nach unten und klebt weiter)) guck. bäume sind
53            ein hindernis

   Nun integriert Gerald sich in die Suche nach einer richtigen Lösung (Z. 48).
Er stellt seine Frage ähnlich wie Edgar, ergänzt dann aber eine Begründung: „weil
[wenn man aufm gehweh]“. Während Edgar zuvor den Namen des Verkehrsschilds
nennt und damit auf formale Regelungen der StVO rekurriert, verweist Geralds For-
mulierung auf eine spezifische Situation (auf dem Gehweg). Seine Begründung wird
jedoch von der Lehrerin unterbrochen. Sie bestätigt, dass ein Baum ein Hindernis
sein kann – unter der Bedingung, dass er umgefallen ist. Als Ursache dafür, dass der
Baum nicht mehr an seiner ursprünglichen Position steht (an der er kein Hindernis
sein würde), führt sie einen Sturm an. In diesem Beispiel bildet die Kontextualisie-
rung – die spezifische Position des Baumes – die notwendige Voraussetzung dafür,
dass ein Objekt ein Hindernis darstellt.
   Gerald widmet sich wieder seiner bisherigen Klebeaufgabe und adressiert dann
vermutlich Edgar. Er macht ihn mit dem Imperativ „guck“ darauf aufmerksam,
dass seine Idee korrekt ist, indem er wiederholt „bäume sind ein hindernis“. Die
Kontextualisierung fällt bei dieser verallgemeinernden (Verwendung des Plurals in
Z. 47) Wiederholung weg. Dabei hatte Gerald aus einer lebensweltlichen Perspektive
argumentiert, dass Bäume auf dem Gehweg ein Hindernis sein können, was auch
für stehende Bäume gelten kann. Seine Erfahrungen sind durch seine sich bisher auf
den Gehweg beschränkende Mobilität geprägt. Die Lehrerin dagegen argumentiert
aus der Perspektive eines Verkehrsteilnehmers auf der Straße, also im Auto oder
auf dem Fahrrad, aus der lediglich umgefallene Bäume ein Hindernis darstellen. Es
wird deutlich, dass mit der Erweiterung der Mobilität durch die Radfahrprüfung eine
Erweiterung der Perspektiven gefordert ist (vom Gehweg auf die Straße), die den
Teilnehmenden hier nicht präsent zu sein scheint.

Szene 4: Kann eine Kurve ein Hindernis sein (II) (Min. 29:04–30:06)
   Beispiel 4 zeigt, wie die Jungen das Beispiel Kurve erneut verhandeln, nachdem
die Lehrerin Edgars Nachfrage in Beispiel 2 verneint hatte. Nun bringt Piet die
Kurve erneut in das Gespräch ein.

71            ((...))((Piet und Edgar betrachten jeweils die Seite mit den
72            Verkehrsschildern, Edgar schaut sich nachdenklich um))
73   Pi:      ((schaut nachdenklich nach vorn)) doch ne kurve kann auch
74            n hindernis sein ((Edgar und Piet schauen sich an))
75   Ge:      [hä warum?]
76   Ed:      [ich hab gefragt] kann nicht sein
77   Pi:      doch weil wenn man zu schnell ist und dann fliegt ((streckt
78            seinen Arm gerade nach vorne)) man aus der kurve heraus
79   Ed:      frag doch ((Edgar deutet mit der flachen Hand zur Lehrerin,
80            Piet klappt sein Heft zu, steht auf)) das ist keine
81   Pi:      doch ((Piet läuft zur Lehrerin, Edgar schaut zu Piet und zur
82            Lehrerin)) frau s können ähm (kurven) hindernisse

                                                                                        K
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83          sein wenn man zu schnell ist?
84   Le:    es geht darum an ein hindernis an der straßenkreuzung (zum
85          beispiel) du darfst hindernis du darfst hindernis nicht als
86          gefahrenstelle allgemein verstehen Piet ((Piet läuft wieder
87          ins Bild und setzt sich))
88   Ed:    hmmmm ((Edgar hebt nachdenklich den Stift an den Mund))
89   Pi:    achso ((Piet spielt an den Fingern)) dann geht’s wohl nicht

    Piet leitet seinen Beitrag mit „doch“ ein und scheint Edgar damit widersprechen
zu wollen. Parallel fragt Gerald nach einer Begründung (Z. 75) und Edgar führt an,
dass dies nicht sein könne, da er gefragt habe (Z. 76). In Piets Argumentation in Zei-
le 77/78 wird deutlich, dass für ihn die Bedeutung Hindernis mit Gefahr verbunden
ist, wenn „man zu schnell“ ist. Implizit wird deutlich, dass eine Kurve – ähnlich wie
(andere) Hindernisse – ein verändertes Verhalten von den Radfahrer*innen verlangt.
Er begleitet seine Argumentation gestisch. Damit zeigt er an, was passiert, wenn
man als Fahrradfahrer die Kurve nicht bekommt und verweist auf subjektives kör-
perliches Erleben in dieser Situation. Edgars Logik ist eine andere – er verweist Piet
auf die Lehrerin. Sie scheint für ihn die Instanz zu sein, die eine eindeutige Zuord-
nung einer bestimmten Verkehrssituation zur Kategorie Hindernis absichern kann.
Obwohl Piet sich sicher zu sein scheint („doch“), läuft er zur Lehrerin und fragt sie.
Mit ihrer Antwort bezieht sie sich auf die Vorstellung des Jungen und verweist auf
die im Kontext der Verkehrserziehung wichtige Unterscheidung, „hindernis nicht
als gefahrenstelle allgemein“ zu verstehen. Sie erweitert somit auch das verwendete
Begriffsinventar. Der Erläuterung der Lehrerin scheint Piet nun nichts mehr entge-
genzusetzen zu haben („achso dann geht’s wohl nicht“). Es wird aber nicht deutlich,
ob Piet mit der Erläuterung der Lehrerin, dass Hindernisse nicht Gefahrenstellen
allgemein seien, seine bisherige Vorstellung von Hindernis revidiert bzw. präzisiert.
Seine Antwort „dann geht’s wohl nicht“ (Z. 89) scheint sich eher auf den nun nicht
mehr möglichen Eintrag ins Arbeitsheft zu beziehen. Unklar bleibt auch, wie die
Erläuterung der Lehrerin bei Gerald und Edgar deren Vorstellung von Hindernis
beeinflusst hat.

5 Schlussfolgerungen

Zunächst fassen wir zusammen, welche Bedeutung die Vorstellungen der Schü-
ler*innen, die Äußerungen der Lehrkraft und das Material für den Ko-Konstrukti-
onsprozess haben:
   In Bezug auf das von Thomas (2015) und Pech (2009) (Abschn. 2.1) aufgezeigte
Spannungsfeld des Faches Sachunterricht, verdeutlichen die Analysen, dass sich die
fachlichen Aushandlungen zwischen den gesellschaftlichen Forderungen und den le-
bensweltlichen Bezügen der Kinder bewegen. In den Szenenabschnitten zeigt sich,
wie die Kinder aus ihrer lebensweltlichen Erfahrung heraus, bestehend aus (kör-
perlichem) Erleben („aus der Kurve fliegen“), aber auch aus Informationen, die sie
eventuell auf anderen Wegen erfahren haben („bei der Karibik“), die unterschied-
lichen Bedeutungen ko-konstruieren. Neben den Vorstellungen bzw. Präkonzepten

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Was ist ein Hindernis? – Fachliche Aushandlungen im Sachunterricht am Beispiel der...   95

zum Begriff Hindernis sind für diesen Prozess auch das Arbeitsmaterial und die
Äußerungen der Lehrerin relevant.
   Die Aufgabenstellung greift die Konzepte, die die Kinder von einem Hindernis ha-
ben, nicht auf, sondern setzt die für den Straßenverkehr relevante Bedeutung voraus.
Die Jungen beginnen selbstständig einen Aushandlungsprozess über den Begriff
bzw. die von ihnen vermuteten Bedeutungen. Die Abbildungen im Arbeitsmaterial
sowie die zweite Fragestellung führen dazu, dass bestimmte Beispiele diskutiert und
Begründungen angeführt werden. Die Lehrerin bietet den Jungen eine „Rückversi-
cherung“ und bringt weitere Bedeutungsaspekte ein. In der Auseinandersetzung zur
Frage danach, ob eine Kurve im Sinne der hier erfragten Bedeutung ein Hindernis
sei, wird sichtbar, wie sich die Kinder an ihren eigenen Vorstellungen, an denen der
anderen Kinder sowie an der von der StVO gesetzten und von der Lehrkraft vertrete-
nen Vorstellung abarbeiten. Im Sinne der Conceptual Change Forschung werden die
Präkonzepte der Kinder in dieser Auseinandersetzung auf den Prüfstand gestellt und
verunsichert. Inwieweit sich in diesen Sequenzen bereits eine Veränderung in Rich-
tung fachlich belastbarer Vorstellungen vollzieht, kann nicht eindeutig beantwortet
werden.
   Die Analyse zeigt, dass die Kinder ganz im Sinne der Sachunterrichtsdidaktik ihre
Vorstellungen zum Fachbegriff Hindernis verhandelten, obwohl dies weder vom Un-
terrichtsmaterial noch von der Lehrkraft zunächst vorgesehen war. Auf diese Weise
werden Lernprozesse angebahnt, im oben zitierten Sinne einer Weiterentwicklung
der Schülervorstellungen, statt lediglich träges Wissen aufzubauen (Abschn. 2.3).

6 Ausblick

Die hier vorgestellten Analysen geben Hinweise auf eine Verortung der Fachlichkeit
im inklusiven Sachunterricht, beziehen sich aber bisher nur auf einen Gruppentisch
und einen kurzen Zeitabschnitt. In einem nächsten Schritt sollen die Aushandlungs-
prozesse an anderen Gruppentischen zu dieser Frage rekonstruktiv interaktionsana-
lytisch ausgewertet werden. Kontrastierende Analysen in Bezug auf die Wirkmäch-
tigkeit des Arbeitsheftes können zeigen, wie sich die Aushandlung zum Begriff
Hindernis zwischen einer Fokussierung auf die fachliche Auseinandersetzung und
der korrekten Lösung der Aufgabe bewegen.
   Bezüglich der Teilhabe aller kann sich folgende Analyse anschließen: An dem hier
analysierten Gruppentisch sitzt ein vierter Junge (Sujan), der zu diesem Zeitpunkt
erst seit einer Woche in der Klasse war. Es ist (fast) keine wechselseitige Interaktion
der Jungen zu beobachten. Über sein Konzept zum Begriff Hindernis erfahren wir
hier nichts, obwohl er über ein solches sicher auch verfügt, es aber in der ihm
noch fremden Sprache Deutsch nicht mitteilt. Hier können Szenen im weiteren
Unterrichtsverlauf in den Blick genommen werden, wenn er zunehmend mit seinen
Mitschüler*innen interagiert.
   Insgesamt zeigt die Analyse im Rahmen der Radfahrausbildung in einer heteroge-
nen Lerngruppe, dass die Radfahrprüfung und auch die vorbereitenden Übungsma-
terialien nicht zieldifferent angelegt sind, weil alle gleichermaßen auf diese Prüfung
vorbereitet werden. Die analysierte Szene macht jedoch deutlich, wie unterschiedlich

                                                                                        K
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die Wege zu dieser Zielerreichung sein können, obwohl ein differenziertes Vorgehen
und eine Verhandlung relevanter Vorstellungen nicht vorgesehen war. Nichtsdesto-
trotz bleibt die Frage, wie Schüler*innen Mobilität ermöglicht werden kann, die
nicht mit dem undifferenzierten Material arbeiten können/die sich nicht mithilfe des
Materials auf die Radfahrprüfung vorbereiten können. Dieser Aspekt einer ko-kon-
struktiven Verhandlung des Gegenstands im Sachunterricht unter Berücksichtigung
der unterschiedlichen Vorstellungen und Beteiligungsmöglichkeiten der Kinder so-
wie der Fachlichkeit der Auseinandersetzung könnte in der weiteren Forschung noch
stärker in den Blick genommen werden.
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