Weiter aufeinander achtgeben

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INTERVIEW

„Weiter aufeinander
    achtgeben“
      Über Schutzmaßnahmen, besonnenes Verhalten und mehr europäische
                       Souveränität in der Pandemie

JENS SPAHN
Geboren 1980 in Ahaus-Ottenstein,      gegeben hätte. Also, alles richtig ge-
seit 2002 Mitglied der CDU/CSU-        macht?
Bundestagsfraktion, 2005 bis 2009
Mitglied des Gesundheitsausschusses    Jens Spahn: Niemand kann alles richtig
des Deutschen Bundestages, seit        machen in so einer Situation. Deutsch-
2018 Bundesminister für Gesundheit.    land ist bisher im internationalen Ver-
                                       gleich sehr gut durch die Pandemie ge-
Zwei Studien renommierter For-         kommen. Das hat mehrere Gründe: Wir
schungseinrichtungen aus den USA       hatten das Glück, nicht als Erste voll ge-
und Großbritannien kommen zu dem       troffen zu werden. So konnten wir uns auf
Ergebnis, dass es ohne den radikalen   die Epidemie ein Stück weit vorbereiten.
Lockdown allein in elf europäischen    Wir haben ein gutes Gesundheitssystem,
Staaten – darunter Deutschland, Ita-   ausreichend Intensivbetten und viele La-
lien, Großbritannien und Spanien –     bore zur Auswertung der Tests. Wir ha-
rund drei Millionen Corona-Tote mehr   ben entschlossen gehandelt, als es darum

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Foto: © picture-alliance / Kay Nietfeld

ging, Intensivbetten frei zu räumen, mehr               kungen erlebt. So ist es uns gemeinsam
Tests möglich zu machen und das öffent-                 gelungen, die Infektionszahlen deutlich
liche Leben zum Schutz der Gesundheit                   zu senken. Die konkrete Gefahr einer In-
unserer Bevölkerung runterzufahren. Die                 fektion im eigenen direkten Umfeld geht
große Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-                 damit zurück. Aber der Eindruck, das Vi-
ger hat den Ernst der Situation erkannt                 rus ist weg, trügt. So ist es eben nicht. Das
und wollte mithelfen. Viele haben ihr Ver-              sehen wir an den massiven Ausbrüchen,
halten schon an die Pandemie angepasst                  die jetzt mit ganz unterschiedlichen Ur-
und sind zum Beispiel zuhause geblieben,                sachen aus einzelnen Regionen bekannt
bevor Maßnahmen in Kraft waren.                         werden. Wir müssen es dem Virus weiter
                                                        möglichst schwer machen. Bilder von
Die Corona-Einschränkungen sind in                      dicht gedrängten Menschen am Strand,
den letzten Tagen in einer zum Teil                     im Park oder auf Demonstrationen ma-
atemberaubenden Geschwindigkeit                         chen mich besorgt. Wir haben gemeinsam
aufgehoben worden. Machen Sie sich                      viel erreicht. Jetzt haben wir es durch un-
Sorgen, dass die Bevölkerung zu leicht-                 ser Verhalten selbst in der Hand, ob wir
fertig werden könnte?                                   den schwierigsten Teil der Pandemie
                                                        wirklich hinter uns haben. Wichtig ist,
Jens Spahn: Ich erlebe die große Mehr-                  dass wir weiter aufeinander achtgeben.
heit der Bevölkerung als sehr besonnen
während der Pandemie. Wir alle haben                    Seit Mitte Juni sind die Grenzen
schwierige Wochen mit starken Beschrän-                 zwischen Deutschland und seinen

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Interview

Nachbarländern wieder geöffnet. Was           Ausbrüchen gekommen ist. Bund und
empfehlen Sie den Deutschen für ihre          Länder haben oft gemeinsame Beschlüsse
Reisepläne in diesem Sommer? Was              gefasst, beispielsweise zu den Reiserege-
geht, was geht nicht?                         lungen, die dann von sechzehn Landes-
                                              regierungen umgesetzt werden. Das ist
Jens Spahn: Die Entwicklung der Infek-        effektiv. Gleichzeitig hat die Corona-
tions zahlen in fast allen europäischen       Epidemie gezeigt, dass es Dinge gibt, die
Staaten erlaubt es, auch den Reiseverkehr     am besten einheitlich angepackt werden,
in Europa wieder zuzulassen. Darauf ha-       etwa die Corona-Teststrategie oder die
ben viele Menschen gewartet und freuen        zentrale Beschaffung von Schutzausrüs-
sich jetzt auf ihren Sommerurlaub. Natür-     tung. Da braucht der Bund neue Kompe-
lich gilt die AHA-Formel auch im Urlaub:      tenzen.
Abstand halten, Hygiene beachten, All-
tagsmaske tragen. Außerdem sollte man         In diesen Tagen ist die offizielle Coro-
sich vor der Abreise über die Bestimmun-      na-Warn-App des Bundes an den Start
gen im Urlaubsland informieren. Es gibt       gegangen. Was erwarten Sie sich von
in diesem Jahr viele Möglichkeiten, Ur-       dieser App? Was ist die Konsequenz,
laub und Freizeit gut zu verbringen. Man      wenn sich nicht genügend Leute betei-
kann wieder ins Ausland fahren, muss es       ligen?
aber nicht. Deutschland bietet viele Mög-
lichkeiten für einen schönen Urlaub. Egal     Jens Spahn: Jede Nutzerin und jeder
wo: Ausgelassene Partys mit sehr vielen       Nutzer machen einen Unterschied und er-
Menschen wären verantwortungslos.             schweren es dem Virus, sich wieder stark
                                              auszubreiten. Die App ist kein Allheilmit-
Am Anfang der Pandemie hat der Bund           tel, sondern ein weiteres wichtiges Werk-
die Gegenmaßnahmen stark koordi-              zeug, um die Infektionszahlen niedrig zu
niert, mittlerweile scheint jedes Bun-        halten. Deswegen ist sie gerade in dieser
desland seinen eigenen Weg zu gehen.          Zeit wichtig, in der die Bürgerinnen und
Hat sich der Föderalismus in der Pan-         Bürger wieder mehr unterwegs sind, rei-
demie bewährt oder gibt es Verbesse-          sen und vielen Menschen begegnen. Die
rungsbedarf?                                  App hilft, Kontakte im Umfeld von infi-
                                              zierten Personen schnell zu informieren
Jens Spahn: Dass die Länder zum Teil          und zum Testen einzuladen. Wenn da-
unterschiedliche Ansätze haben, finde ich      durch mehr getestet wird, ist das umso
nachvollziehbar. Schließlich haben wir die    besser.
größten Einschränkungen unseres Alltags
und unserer Freiheiten seit Bestehen der      In anderen Ländern, etwa in Frank-
Bundesrepublik erlebt. Der Föderalismus       reich, sind Corona-Warn-Apps schon
hat sich bewährt. Die Länder können auf       länger verfügbar. Warum hat es in
ihre regionalen Besonderheiten viel geziel-   Deutschland so lange gedauert?
ter reagieren, als es der Bund kann. Das
haben wir gerade in den letzten Wochen        Jens Spahn: Die deutsche App war
erlebt, in denen es zu lokal begrenzten       ein komplexes Projekt, an das wir beim

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„Weiter aufeinander achtgeben“, Jens Spahn

Datenschutz, bei der Datensicherheit, der            Kitas können alle getestet werden, wenn
Anwenderfreundlichkeit und der Energie-              zuvor ein COVID-19-Fall aufgetreten ist.
effizienz sehr hohe Ansprüche gestellt ha-           Auch können alle Kontaktpersonen von
ben. Das brauchte seine Zeit. Wir haben              Infizierten getestet werden. Diese Test-
die fertige App umfangreich getestet, um             strategie dient dazu, Infektionsketten
sicherzustellen, dass sie in allen Alltags-          möglichst frühzeitig zu durchbrechen
situationen gut funktioniert. Der Auf-               und die Epidemie weiter einzudämmen.
wand hat sich gelohnt. Die Rückmeldun-
gen sind sehr positiv und viele unserer              Wann rechnen Sie mit der Entwick-
europäischen Freunde schauen sich nun                lung eines Impfstoffes gegen COVID-19
genau an, was wir da gemacht haben.                  und wie soll die Versorgung in Europa
                                                     sichergestellt werden?
Eine einheitliche europäische Warn-
App wird angestrebt. Wann wird sie                   Jens Spahn: Wir bündeln jetzt unsere
kommen, und welche Vorteile kann sie                 Kräfte in Europa. Wir haben uns mit
bieten?                                              Frankreich, Italien und den Niederlanden
                                                     zu einer Impfallianz zusammengeschlos-
Jens Spahn: Unser Ziel ist eine App, die             sen, um mögliche Impfstoffe für alle Mit-
in möglichst vielen europäischen Staa-               gliedsstaaten der Europäischen Union zu
ten funktioniert. Deshalb arbeiten wir an            sichern. Dazu sind wir mit mehreren Un-
einer europäischen Schnittstelle. Eine               ternehmen, die an aussichtsreichen Impf-
grenzüberschreitende App wird helfen,                stoffen forschen, im Gespräch. Mit einem
die Bürgerinnen und Bürger auch nach                 Hersteller gibt es bereits einen Vertrag
gefährlichen Kontakten im Ausland zu                 über mindestens 300 Millionen Impf-
warnen und so die Pandemie weiter einzu-             dosen für die ganze EU. Damit Impfstoffe
dämmen.                                              sehr zügig in diesem oder im nächsten
                                                     Jahr in großer Menge verfügbar sind,
Die Testkapazitäten sind in den letzten              müssen die Produktionskapazitäten schon
Monaten massiv erhöht worden. Wel-                   jetzt vertraglich gesichert werden.
che Rolle können Massentests bei der
Eindämmung der Pandemie spielen?                     Sollte ein Impfstoff zur Verfügung
                                                     stehen, muss die Verteilung organi-
Jens Spahn: Seit Mitte Mai können von                siert werden. Bei einer Bevölkerungs-
den Krankenkassen die Laborkosten für                zahl von rund 83 Millionen allein in
Tests übernommen werden, die ohne vor-               Deutschland keine leichte Aufgabe.
herige Krankheitssymptome durchgeführt               Gibt es bereits einen Impfplan, und
werden. So kann in Krankenhäusern und                welche Kriterien gibt es? Wer wird zu-
Pflegeheimen nun präventiv getestet wer-              erst, wer zuletzt geimpft?
den. Solche Reihentests sollen möglichst
früh aufdecken, ob es in einer Einrichtung           Jens Spahn: Ich habe die Impfkommis-
bislang unentdeckte Infizierte gibt, die              sion beim Robert Koch-Institut gebeten,
weitere Bewohner, Patienten oder Mitar-              zu empfehlen, welche Gruppen zuerst ge-
beiter anstecken können. In Schulen und              impft werden sollen. Dazu werden sicher

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„Weiter aufeinander achtgeben“, Jens Spahn

die Risikogruppen und das medizinische        schen Ratspräsidentschaft sprechen. Aber
Personal gehören.                             die Wahrheit ist auch: Jede Krise ist an-
                                              ders. Wir werden immer flexibel auf eine
Was müssen Deutschland und Europa             solche Situation reagieren müssen.
tun, um auf eine zweite Welle oder eine
neuartige Pandemie in einigen Jahren          Was haben Sie in der Pandemie am
möglichst gut vorbereitet zu sein?            meisten vermisst, was ist Ihnen per-
                                              sönlich am schwersten gefallen? Und
Jens Spahn: Auf die erste Welle des Coro-     welche allgemeinen Einsichten für den
navirus war kein Land der Welt ausrei-        Gesundheitsbereich können Sie bis
chend vorbereitet. Wir haben daraus ge-       jetzt aus den Erfahrungen mit der Pan-
lernt und etwa begonnen, die heimische        demie ziehen?
Produktion von Masken zu fördern. Zu-
dem legen wir eine nationale Reserve für      Jens Spahn: Ich habe oft gedacht: Ich
Schutzausrüstung an. Für uns Europäer         würde gerne mal wieder Freunde und Fa-
ist mehr Souveränität gerade in wichtigen     milie umarmen. Die persönlichen Kon-
Bereichen wie der Gesundheitsversorgung       takte haben mir sehr gefehlt. Was ich sehr
unverzichtbar. Deshalb wollen wir sicher-     positiv erlebt habe: In Deutschland steckt
stellen, dass kritische Arzneimittel, Impf-   unglaublich viel Potenzial. Viele Bürge-
stoffe und Medizinprodukte in Europa          rinnen und Bürger sind stolz darauf, was
produziert werden können. Gleichzeitig        wir gemeinsam geschafft haben. Es gibt
müssen wir unsere Reaktionsfähigkeit          ein neues Gemeinschaftsgefühl, eine gro-
stärken. Das europäische Robert Koch-         ße Hilfsbereitschaft, Flexibilität und Krea-
Institut, das Europäische Zentrum für die     tivität. Wir haben ein neues Wir-Gefühl
Prävention und die Kontrolle von Krank-       entwickelt, und ich hoffe sehr, dass wir es
heiten, benötigt mehr Mittel, mehr Infor-     uns erhalten.
mation und mehr Durchschlagskraft.
Über diese Punkte werde ich mit meinen        Die Fragen stellte Ralf Thomas Baus
europäischen Kollegen während der deut-       am 16. Juni 2020.

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