Wenn das Handy den Bass killt

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Wenn das Handy den Bass killt
Wenn das Handy den Bass killt | norient.com             29 Sep 2021 22:00:48

    Wenn das Handy den Bass killt
    by Philipp Rhensius

    Die meisten Menschen hören heute Musik auf Smartphones
    und Laptops. Das verändere auch die Musikproduktion, sagt
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    der Musikethnologe Wayne Marshall im Interview. Die sich
    ausbreitende Treble Culture sei aber kein Grund zum
    Kulturpessimismus.

    Musik ist immer auch Ausdruck der technologischen Entwicklung: Jedes neue
    Gerät zur Musikproduktion bringt neue Klänge hervor. Die Orchestermusik
    etwa veränderte sich im 18. Jahrhundert grundlegend mit der Erfindung des
    Klaviers, das das wesentlich leisere und weniger dynamische Cembalo
    ablöste. Und ohne die ersten tragbaren Synthesizer und Sampler wären
    Techno, Hip-Hop und House nie entstanden. Auch die Wiedergabetechniken,
    von den ersten Wachswalzen 1888 über Kassetten und CDs bis zu den
    heutigen digitalen Formaten wie MP3, haben enormen Einfluss auf die jeweils
    aktuelle Musik. Heute, 35 Jahre nach der Walkmanrevolution, haben sich die
    Formate und Hörgewohnheiten, die sich etwa in den alltäglichen Mensch-
    Smartphone-Symbiosen zeigen, erneut geändert. Doch das Hören von Musik
    auf Handys geht immer auch mit einem Verlust der Klangqualität einher. Vor
    allem Bässe können die kleinen Lautsprecher nicht wiedergeben. So klingt
    das, was heute auf den Strassen dieser Welt, in den Bussen oder U-Bahnen zu
    hören ist, oft nur wie übersteuerter Lärm. Der US-Musikethnologe Wayne
    Marshall hört trotzdem ganz genau hin.

    [Philipp Rhensius]: Wayne Marshall, Sie bezeichnen die neuen
    Hörgewohnheiten als «Treble Culture», als Kultur der Höhen. Welche Folgen
    hat das?

      [Wayne Marshall]: Die Kultur des mobilen Musikhörens bringt vor allem zwei
      Probleme mit sich. Da wären zum einen die Menschen, die sich von
      Handymusik in der Öffentlichkeit gestört fühlen. Zum anderen geben
      Handys die darauf abgespielte Musik nur sehr unzureichend wieder, denn
      oft sind nur die hohen Frequenzen zu hören.

    [PR]: Hat das auch Auswirkungen auf die Musik selbst, gibt es
    Zusammenhänge zwischen Klangwiedergabegeräten und Musik?

      [WM]: Ein frühes Beispiel ist die Vibratotechnik bei Violinen, also das Auf-
      und Abrollen der Fingerkuppe auf den Saiten, um Variationen in der
      Tonhöhe zu erzeugen. Sie wurde ursprünglich erfunden, um technische
      Defizite der Aufnahme auszugleichen. Ein späteres Beispiel sind
      Musikproduzenten wie Phil Spector oder Berry Gordy vom Motown-Label.
      Sie haben ihre Musik so abgemischt, dass sie besonders gut auf den
      tragbaren Radios klingen, die in den Siebzigern weitverbreitet waren. Heute
      wird Musik von den Soundingenieuren so optimiert, dass sie vor allem auf
      Handys noch verhältnismässig gut klingen.

    [PR]:Kaum hörbar auf Handys ist der Bass. Wie gehen die Produzenten
    damit um?

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      [WM]: Manche Musikproduzenten begegnen dem Problem, indem sie die
      Bassmelodie einfach verdoppeln. So wird der Bass, der auf mobilen Geräten
      kaum hörbar ist, mit einer parallelen Melodie in den mittleren Frequenzen
      unterstützt, wodurch sie auch über das iPhone oder Laptoplautsprecher zu
      hören ist. Es gibt noch ältere Beispiele wie den charakteristischen Offbeat
      im Reggae. Denn ursprünglich spielten die Gitarristen immer nur diesen
      einen Schlag, also das «chke». Als sie dann begannen, den Echoeffekt zu
      verwenden, wurde aus dem einen Schlag das charakteristische «chke,
      chke». Heute spielen die meisten Gitarristen dieses Echo direkt mit, ohne
      Effekt. Es ist interessant, dass ein Musiker heute von einer Maschine
      inspiriert wird.

    [PR]: Steht die Affinität zu hohen Frequenzen nicht im Widerspruch zum
    Trend der aktuellen Clubmusik, immer basslastiger zu werden?

      [WM]: Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass gerade diese basslastige
      Musik besonders oft auf Handys zu hören ist.

    [PR]: Im Dubstep und in den verwandten Clubmusikstilen wie Grime oder
    Trap spielt der Bass eine zentrale Rolle und wird innerhalb der Szenen
    regelrecht mystifiziert, etwa aufgrund der enormen physischen Wirkung, die
    er auf einer grossen Clubanlage entfaltet.

      [WM]: Vielen Szeneanhängern geht es vor allem um das körperliche Erleben
      von Bass, also das, was mobile Geräte überhaupt nicht gewährleisten
      können. Gemäss dem britischen Autor und Hyperdub-Label-Gründer Steve
      Goodman, der auch als Kode9 bekannt ist, ist das Gefühl, wenn der Bass
      den ganzen Körper erfasst und zum Vibrieren bringt, ein geradezu
      philosophisches Erlebnis. Den Verlust der Wahrnehmung, der mit der Treble
      Culture einhergeht, kritisiert Goodman vehement. Er fragt sich, welche
      sozialen und politischen Konsequenzen es haben könnte, wenn die Leute ihr
      körperliches Bedürfnis nach Bass nicht mehr ausleben können.

    [PR]: Der deutsche Soundingenieur Robert Henke alias Monolake kritisiert
    vor allem die Verflachung des Klangbilds, die das MP3-Format mit sich
    bringt, indem bestimmte Frequenzen einfach herausgelöscht werden.
    Andererseits hat unser Gehör quasi eine Autokorrekturfunktion und ist in der
    Lage, fehlende Frequenzen auszugleichen.

      [WM]: Nicht nur das. Das Ohr hat auch eine natürliche Filterfunktion, durch
      die bereits einige Frequenzen verschwinden. Thomas Edison, der Erfinder
      des Phonografen, hielt deshalb seinen geöffneten Mund in den
      Schalltrichter, wenn er Musik hörte. Er war überzeugt, dass die Rezeption
      des Klangs auf diese Weise viel besser sei, als wenn sie durch die kleinen
      Knochen im Gehörgang erfolgt.

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    [PR]: Eigentlich ist das menschliche Gehör gar nicht in der Lage, die
    fehlenden Frequenzen auf MP3s zu hören, denn sie sind nach bestimmten
    psychoakustischen Tricks, etwa dem «auditory masking», konzipiert. Was
    steckt dahinter?

      [WM]: Beim «auditory masking» wird jeder Klang, der geringfügig lauter ist
      als ein anderer, mit derselben Frequenz einfach überdeckt, um bei der
      Datenmenge zu sparen. Ein anderer Trick ist die «spatialization». Besonders
      hohe oder tiefe Frequenzen sind im Gegensatz zu den mittleren Frequenzen
      für Menschen nicht lokalisierbar. Bei der Erstellung von MP3s wird zum
      Beispiel alles über 16 000 Hertz entfernt, da ein Erwachsener ohnehin nicht
      hören könnte, was darüber liegt. In gewissem Sinn übernimmt das MP3 also
      eine Art Filterfunktion, die das menschliche Gehör ohnehin hat.

    [PR]: Kode9 oder Monolake betonen dagegen immer wieder, wie wichtig es
    ihnen ist, möglichst alle Frequenzanteile wiedergeben zu können. Besonders
    für Stile wie Dubstep, Trap oder auch Techno und House sind MP3s sehr
    ungeeignet.

      [WM]: Die meisten Künstler aus diesem Bereich würden argumentieren,
      dass man diese Frequenzen zwar nicht hört, aber fühlt. Es gibt aber auch
      Hörstudien, in denen die Hörer von MP3s eigentlich nichts vermissen.

    [PR]: Trotz aller Kritik an der Treble Culture enthält sie auch positive,
    womöglich sogar politisch progressive Aspekte. Denn selbst wenn viele das
    Abspielen von Musik in der Öffentlichkeit als Störung empfinden, ist es doch
    immer auch eine Aneignung des öffentlichen Raums.

      [WM]: Ja, und es ist eine Möglichkeit, den von Überwachung und Kontrolle
      kolonisierten öffentlichen Raum zu besetzen. Viele junge Leute machen das
      ja weniger auf konfrontative als auf eine passiv-aggressive Weise. Nicht um
      die Öffentlichkeit zu erobern, sondern um sie erst zu erzeugen. Es ist eine
      Einforderung des Rechts, ihr Leben auch öffentlich zu leben.

    Dieses Interview ist erschienen in der Musikbeilage der Wochenzeitung WoZ Nr.
    43/2014 vom 23.10.2014, redaktionell betreut von Thomas Burkhalter und
    Benedikt Sartorius. Den Aufsatz über Treble Culture von Wayne Marshall gibt
    es als PDF zum Download hier.

    → Published on October 23, 2014

    → Last updated on May 29, 2019

    Philipp Rhensius is an editor for Norient, writer, musician, sound artist, sociologist &
    musicologist, and curator from Berlin. His work investigates the connections
    between the micro- and macro-political and is driven by the idea that «feeling the
    chains» is the moment when emancipation begins. His music and sound art

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    projects (Kl.ne, aphtc, Alienationst) merge sonic fiction with sardonic poetry and
    visceral sound. His texts are published in i.e. Taz, Spex, FAZ, Neue Zürcher Zeitung,
    WOZ and several book volumes. He runs the music label Arcane Patterns and hosts
    a monthly podcast on Noods Radio.

    → Topics

               Digitization
               Perception
               Technology
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