Wenn der Schwan wieder Pfeife raucht

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Wenn der Schwan wieder Pfeife raucht
Wenn der Schwan wieder Pfeife raucht | norient.com                      11 Oct 2021 10:21:46

    Wenn der Schwan wieder
    Pfeife raucht
    by Theresa Beyer

    Am 26. und 27. August fand in der Tonhalle Zürich die dritte
    «Stubete am See» statt. Unter den 40 Konzerten der 27
    Ensembles sagten besonders die 13 Premieren viel über den
    aktuellen Umgang mit Volksmusik aus. Auch wenn die
    Innovationen und Zugänge vielfältig sind, darf noch mehr
    ausgereizt werden.

    Vor romantischer Bergkulisse bläst ein junger Geissenhirt kraftvoll ins
    Alphorn, eine Frau in grün-roter Tracht singt aus voller Kehle und ein
    verliebtes Paar hebt zum Tanze an. Dieses volksmusikalische Idyll aus dem
    späten 19. Jahrhundert schmückt die Decke des grossen Saals in der Tonhalle.
    Bis zum Umbau 1936 wurde bei Trachtenfesten – im Trocadéro an der Stelle
    des heutigen Kongresshauses und im Pavillon am See – ausgelassen zu
    Volks- und Salonmusik getanzt.

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    Heute erscheint es im ersten Moment fremd, wenn Ländlermelodien und
    Jodelklänge durch die Hochkultur-Hallen schwirren. Die Stubete am See, das
    Festival für Neue Schweizer Volksmusik, begegnet diesem Zusammenprall
    mit Lebendigkeit: Da wird auf vier Bühnen in allen möglichen Besetzungen
    musiziert, im Foyer getanzt, in Moderationen munter parliert. Die Besucher
    und Besucherinnen wechseln ungezwungen von Saal zu Saal und so mancher
    Tonhalle-Abonnent beginnt im Dreivierteltakt zu schunkeln.

    Fühlen sich aber auch eingefleischte Volksmusik-Fans in diesem Ambiente
    wohl? «Da würde ich nie hineingehen, die Stimmung ist so vergeistigt», sagt
    Verena Bösch aus Wolfhausen, die mit ihrem Mann am Sonntag zum Tanzen
    aufs Bauschänzli gekommen ist. Auf der Festival-Aussenbühne treffen sich
    verschiedene Musikerinnen und Musiker zum spontanen Zusammenspiel. Die
    Böschs finden dabei eine Stimmung wieder, welche sie mittlerweile auf vielen
    ländlichen Stubeten vermissen: «Hier dürfen wir einfach tanzen und werden
    nicht zurechtgewiesen.»

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    Experimentelle Zugänge
    Das von Tonhalle-Klarinettist Florian Walser (künstlerische Leitung) und
    Johannes Schmid-Kunz (administrative Leitung) organisierte Festival spiegelt
    den aktuellen Entwicklungsstand der Szene wider. Um Innovationen
    anzukurbeln, vergibt die Stubete am See Kompositionsaufträge, fördert den
    Nachwuchs und fordert von Ensembles, die schon 2008 und 2010 vertreten
    waren, neuen Stoff in Form von Premieren.

    Auch wenn die Szene überschaubar ist, zeigt sich ihre Musik vielfältig. Den
    jungen Kontrabassisten Pirmin Huber aus Obermarch, der derzeit an der
    Musikhochschule Luzern mit Schwerpunkt Volksmusik studiert, entdeckt
    man in verschiedenen Formationen, mit Zugängen zur Volksmusik von
    intuitiv bis intellektuell: in der eher bodenständigen Stegreif GmbH, im
    Ländlerorchester (dem Hausorchester der Stubete am See) und im Marcel-
    Oetiker-Trio. Das Ensemble um den virtuosen Schwyzerörgeler Oetiker
    bedient sich bei der Premiere «Zeitgenössische Ländlermusik» einer
    Kompositionstechnik des Jubilars John Cage. Die drei Musiker blicken nicht
    auf Noten, sondern haben Stoppuhren und ein Raster mit stilistischen
    Anweisungen vor sich, das die Dauer der musikalischen Ereignisse bis auf die
    Sekunde festlegt. Es entsteht eine rhythmisch komplexe, jazzige
    «Komprovisation» voller Be- und Entschleunigungen. Zwischendurch
    sprudeln Ländlermelodien hervor, die aber wenige Takte später schon
    verfremdet, vom Schlagzeug (Christian Zünd) aufgespalten oder von Oetiker
    ironisch gebrochen werden.

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    Balztänze in Jodelsprache

    Ganz andere experimentelle Extreme loten die Komponistin und Zeichnerin
    Charlotte Hug und der Volksmusik-Erneuerer Noldi Alder in ihrer Premiere
    «näbis Neus» aus. Auf der Bühne im kleinen Tonhalle-Saal hängen zwei «Son-
    Icons», die berühmten Klangzeichnungen der Zürcherin. Um die flatternden
    Transparente entwickelt sich eine dramaturgisch durchgestaltete Balztanz-
    Improvisation. Spielt Alder auf dem Hackbrett und mit der Violine ein
    rasantes Tonbingo, trumpft Hug mit achtstimmigen Bratschen-Klängen auf.
    Dann folgen Seufzer, suchende Juchzer, winselige Hilferufe und verzerrte
    Urschreie. Stimmliche Kopulationen, die im Spannungsfeld zwischen Trieb
    und Vereinsamung aus dem Naturjodel ein neues Klangerlebnis kreieren. Erst
    am Ende findet sich ein Hauch von Melodie, der aber im Atem des
    liebenden/kämpfenden Duos erlischt. Wie auch bei anderen Premieren der
    «Stubete am See» hat die aufregende Aufführung mit dem gesetzten
    Zeitrahmen ihre Mühen: 50 Minuten mit Innovation zu füllen ist schwierig. Da
    sind Effektreihungen und Wiederholungen als Fugenmaterial kaum zu
    vermeiden.

    Klassik trifft Volksmusik

    Wie bei den letzten Alpentöne-Festivals in Altdorf zieht sich die Begegnung
    von Klassik und Volksmusik durch beide Festivaltage. Dabei ist die
    Volksmusik nicht nur Muse, sondern sie wird als eigenständiges Material in
    verdichtete Kompositionen eingebettet. Die Komponisten und Arrangeure
    bedienen sich einer Stilpalette von Filmmusik bis Musical, Folk, und Jazz, sie
    nähern sich traditionellem Material selbstbewusst wie einst Ástor Piazzolla
    oder derzeit Marc O‘Connor. Doch die ausführenden Kammerorchester

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    (Camerata Schweiz, Thurgauer Kammerorchester und Zuger Sinfonietta)
    hätten mehr Mut beweisen müssen, sich vom gewohnten Schönklang ab- und
    den schroffen und tänzerischen Elementen zuzuwenden.

    Groovige Spielfreude findet das zehnköpfige Ländlerorchester in Markus
    Flückigers neunsätzigem Schloffätanz, einem von Pro Helvetia finanzierten
    Kompositionsauftrag. Zwischen den Spannungsbögen der vorantreibenden
    Ländler-Umdeutungen sind besonders die Ruhepole im Stile amerikanischer
    Minimal Music und die jazzige Piano-Stimme (Patricia Ulrich) aufregend. Eine
    wilde Kaskade von Ideen, die mit stehenden Ovationen belohnt wird.

    Durchweg kurzweilig wirkt Fabian Müllers Hanneli-Concerto vor allem
    deswegen, weil der Cellist der Helvetic Fiddlers den verschiedenen
    «Dialekten» der Volksmusik feinfühlig nachzuspüren weiss und sie zu einem
    organischen, schwungvollen Ganzen vereint. Den programmmusikalischen
    Rahmen bildet eine Reise der Ethnologin Hanni Christen (1899–1976) durch
    die Schweiz.

    Rücken frei für Wagnisse

    Die diesjährige Stubete am See hat gezeigt, dass Volksmusik besonders dann
    glaubwürdig erneuert wird, wenn eine tiefgründige Beschäftigung und
    Identifikation mit den Musiktraditionen dahintersteckt. Ein wahrer Schatz
    sind die Balladen, der sich die Helvetic Fiddlers und die Thuner Sängerin
    Kristina Fuchs annehmen und mit neukomponierten Melodien zum Leben
    erwecken. In den wiederangeeigneten Texten geht es nicht um Patriotismus,

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    sondern um einfache Geschichten: sie handeln von einer emanzipierten
    Müllerin oder einem Bauern, welcher lieber die arme als die reiche Frau
    heiratet.

    Wie die Ensembles mit dem überlieferten «Rohmaterial» umgehen und wie
    prägend die Personalstile sind, lässt sich anhand der Bürgenstock-Polka
    verfolgen, dem diesjährigen Pflichtstück. Über das beste Arrangement
    stimmt das Publikum im Netz ab. Dabei ist neben der Innovations- und
    Variationsfreude schlicht und einfach die Sympathie für die Musiker wichtig.
    So muss man ihn einfach mögen, den wunderbar brummeligen Marco Zappa
    aus dem Tessin mit dem kabarettistischen Sendungsbewusstsein
    italienischer Cantautori.

    Auch das Selbstverständnis und musikalische Temperament der
    Unterengadiner Musikerfamilie Janett alias Ils Fränzlis da Tschlin erwärmt
    nicht nur jede Beiz, sondern sogar den grossen Tonhalle-Saal. Wenn dazu
    noch der Organist Rudolf Lutz an der mächtigen Kleuker-Steinmeyer-Orgel
    abrockt und sie mal Leierkasten, mal Hammond-Orgel sein lässt, macht
    Volksmusik einfach Spass: Sowohl Berührungsängste wie Reglementierungen
    sind gefallen. Jetzt kann noch mehr gewagt werden.

    Nachwuchs in der Neuen Volksmusik
    Rumpus (Christian Simmen: Trompete, Flügelhorn; Fränggi Gehrig:
    Akkordeon, Arrangements; Thomas Stalder: E-Bass; Christoph Gautschi:
    Perkussion) aus dem Kanton Uri mixt Schweizer Volksmusik mit kubanischen,
    balkanischen und jazzigen Klängen.

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    [Theresa Beyer]: Woher kommt euer Bezug zur Schweizer Volksmusik?

      [Fränggi Gehrig]: Volksmusik habe ich von klein auf gehört. Mein Vater
      spielte Akkordeon und Klavier und wenn wir gemeinsam wandern gingen,
      wurde immer viel gesungen.

      [Christoph Gautschi]: Mein Bezug ist ein ganz anderer. So wie wohl jeder
      Schlagzeuger habe ich mit Rock angefangen, dann habe ich Jazz studiert
      und elektronische Musik gemacht. Erst als ich länger in Kuba war und mich
      die dortige Folklore so faszinierte, begann ich mich auch für meine eigene
      traditionelle Musik zu interessieren. Das Echte, das Lebensfreudige, die
      Kraft der Volksmusik – das musste ich erst finden.

    [TB]: Was gab es da rhythmisch für Entdeckungen?

      [CG]: Rhythmisch finde ich die Schweizer Volksmusik nicht sehr spannend,
      da hat die kubanische Rhythmik viel mehr zu bieten. Daher kommt wohl
      auch mein Anreiz, das miteinander zu kombinieren.

    [TB]: Fränggi, wie integrierst du die verschiedenen Einflüsse?

      [FG]: Da wir nicht einfach irgendwelche Stilrichtungen kopieren wollen,
      schreibe ich oft nur ein Lead sheet. Alles andere entsteht dann im
      Zusammenspiel. Ganz aus dem Bauch heraus mixt es sich so zu einem
      Rumpus-Arrangement.

    [TB]: Könnt ihr euch mit der Szene der Neuen Volksmusik identifizieren?

      [FG]: Auf jeden Fall, uns gefällt die Mentalität. Zwar machen wir
      konzertante Musik, aber trotzdem sind wir alle vier nicht die klassischen
      Notenfresser, die stundenlang die gleiche Stelle üben.

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      [CG]: Einfach spielen und probieren. Mir spricht das alles sehr aus dem
      Herzen.

    → Published on August 31, 2012

    → Last updated on October 08, 2020

    Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des
    Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von
    Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen,
    experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in
    Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-
    Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur.

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