Wie das Gehirn hören lernt - Gehörlosigkeit und das bionische Ohr

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Wie das Gehirn hören lernt - Gehörlosigkeit und das bionische Ohr
Übersichtsartikel

   Neuroforum 2015 · 21:22–29                    Andrej Kral · Thomas Lenarz
   DOI 10.1007/s12269-015-0001-9                 Institut für Audioneurotechnologie (VIANNA), Hannover, Deutschland
   © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

                                                 Wie das Gehirn hören
                                                 lernt – Gehörlosigkeit
                                                 und das bionische Ohr

   Einführung                                    60–70 % der gehörlos geborenen Kinder                 trächtigt und warum sind sie so schwer zu
                                                 lernen mit dem Cochlea-Implantat ihre                 überwinden?
   Die Hirnentwicklung ist ein komplexer         Muttersprache auf einem Niveau, das ih-                  Schon Charles Darwin war aufgefal-
   Prozess von progressiven und regressiven      nen später erlaubt, das Telefon zu nut-               len, dass weiße Katzen mit blauen Au-
   Veränderungen, der zu einem funktions-        zen (also ohne Lippenlesen und ohne den               gen häufig gehörlos sind. Ihr Innenohr
   fähigen und adaptablen Gehirn führt. Sie      groben Inhalt im voraus zu kennen), er-               zeigt eine Scheibe-Dysplasie: Die Haarzel-
   erstreckt sich über lange Zeitfenster, die    reichen also ein sog. „offenes Sprachver-             len sind zwar nicht vorhanden (verlieren
   beim Menschen bis in die späten Jahre         ständnis“ [4, 8, 17]. Damit wird die Bedin-           sich vor dem Höranfang), die Stützzellen
   der zweiten Lebensdekade hinreichen.          gung des sog. „verbotenen Experiments“,               und die Hörnervfasern bleiben jedoch er-
   Die Entwicklung kombiniert die Zellge-        in dem bei modifizierter Hörfähigkeit in              halten. An diesem Gehörlosigkeitsmodell
   burt wie auch den programmierten Zell-        unterschiedlichen Altersstufen die Hör-               wurden viele Untersuchungen der letzten
   tod, die Entstehung wie auch die Elimi-       und Sprachentwicklung untersucht wird,                Jahre durchgeführt, da die feline Cochlea
   nierung von Synapsen, Änderungen de-          nicht nur medizinisch relevant, sie wird              mit einem humanen Cochlea-Implantat
   rer molekularer Zusammensetzung, Ver-         sogar integraler Teil einer Therapie mit              versorgt werden kann.
   änderungen der Leitungsgeschwindigkeit        dem Ziel, gehörlosen Kindern zur Spra-
   von Axonen und vieles mehr. Manche            che jenseits der Gebärde zu verhelfen.                Juvenile synaptische Plastizität
   dieser Veränderungen sind durch die Ge-       Durch moderne Technik können wir de-
   netik vorbestimmt, andere sind durch Er-      ren Gehirn mit bildgebenden Verfahren                 Die synaptische Plastizität verändert sich
   fahrung mit geprägt („Nature“ und „Nur-       untersuchen und mit besser kontrollier-               während der postnatalen Entwicklung.
   ture“). Nur eine koordinierte Verzahnung      ten und genaueren tierexperimentellen                 Sowohl die Rezeptoren wie die Ionenka-
   beider Prozesse führt zu einem Gehirn,        Daten vergleichen.                                    näle, die für die synaptische Übertragung
   das optimal funktionsfähig ist.                   Als anfänglich Cochlea-Implantate bei             zuständig sind, unterlaufen entwick-
       Das Gehör entwickelte sich in den letz-   von Geburt gehörlosen Erwachsenen ein-                lungsbedingten Veränderungen. Auch
   ten Jahrzehnten zu einem Modell-Sinnes-       gesetzt wurden, war der Erfolg sehr be-               ihre Verbindung zu dem postsynapti-
   system, an dem Hirnentwicklung und de-        scheiden. Im deutlichen Unterschied zu                schen Verankerungsapparat („postsyn-
   ren Abhängigkeit von Erfahrung unter-         spät Ertaubten konnten diese Patienten                aptic density“) und dessen Zusammen-
   sucht werden kann. Im Unterschied zu          kein Sprachverständnis erlangen, auch                 setzung ändern sich während der Ent-
   anderen Sinnessystemen besteht beim           nicht nach Jahren der Nutzung des Im-                 wicklung. Die juvenilen postsynaptichen
   Gehör die Möglichkeit, auch hochgradi-        plantats. Sie konnten akustische Reize                Rezeptoren und ihre Ionenkanäle bedin-
   ge Gehörlosigkeit bei Menschen mit einer      zwar wahrnehmen, aber diese nicht den                 gen eine längere Öffnungsphase und da-
   Neuroprothese, dem Cochlea-Implantat,         komplexen Analysen unterwerfen, die                   mit ein länger andauerndes postsynapti-
   effektiv zu therapieren. Dafür wird ein mit   für Sprachverständnis unerlässlich sind.              sches Potenzial. Deswegen können sich
   bis zu 24 Elektroden bestückter Träger in     Auch einfachere auditorische Aufgaben                 die postsynaptischen Potenziale leichter
   die scala tympani des Innenohres inseriert    wie das Zählen von akustischen Reizen                 aufsummieren, auch bei nicht exakt syn-
   und von einem hinter dem Ohr platzier-        war beeinträchtigt. Die (sensiblen) Pha-              chronen Eingängen. Die Plastizität der ju-
   ten Prozessor kontaktlos mit Strom und        sen, in denen das Gehirn optimal geeig-               venilen Synapsen ist wegen all dieser Um-
   Steuersignalen ausgestattet (. Abb. 1). Et-   net für den Spracherwerb und für das au-
   wa 350.000 Patienten nutzen ein Cochlea-      ditorische Lernen ist, schließen und sind             Unterstützt von der Deutschen Forschungsge-
   Implantat weltweit; bis August 2020 wird      nicht einfach wieder zu öffnen (sind kri-             meinschaft (Kr 3370 und Exzellenzcluster Hea-
                                                                                                       ring4all). Weitere Details, z. B. akustische Bei-
   der millionste Patient mit einem Cochlea-     tisch).                                               spiele für filling-in Phänomene und Originalpu-
   Implantat versorgt. Etwa 100.000 Kinder           Welche Prozesse werden durch ange-                blikationen sind auf der Webseite http://www.
   weltweit nutzen dieses Gerät schon heute.     borene Gehörlosigkeit im Gehirn beein-                neuroprostheses.com zu finden.

22 |   Neuroforum 1 · 2015
Wie das Gehirn hören lernt - Gehörlosigkeit und das bionische Ohr
Unsere in vivo Untersuchungen konn-
                                                                                                         ten im Kortex von gehörlosen Katzen, die
                                                                                                         früh mit einem Cochlea-Implantat chro-
                                                                                                         nisch stimuliert wurden und mehr als
                                                                                                         700–1100 Std. effektiver Hörerfahrung
                                                                                                         sammeln konnten, eine zentrale Rei-
                                                                                                         fung und eine kortikale Reorganisation
                                                                                                         zum elektrischen Hören hin nachwei-
                                                                                                         sen (. Abb. 2a) [5, 13]. Zusätzlich zeigte
                                                                                                         sich, dass diese kortikale Reorganisation
                                                                                                         unterschiedliche sensible Phasen aufweist
                                                                                                         (. Abb. 2b und c, vergl. [13–15]). Im Fol-
                                                                                                         genden möchten wir die Mechanismen
                                                                                                         dieser Prozesse analysieren.

                                                                                                         Merkmalsempfindlichkeit

                                                                                                         Eine wesentliche Funktion eines Sinnes-
                                                                                                         systems ist die Extraktion von Merkma-
                                                                                                         len, die für die Unterscheidung biologisch
Abb. 1 8 Schematische Illustration eines eingesetzten Cochlea-Implantats beim Kind (mit freundli-        relevanter Reize notwendig ist. Dafür ist
cher Genehmigung aus Kral und O'Donoghue [8]). Der Einsatz in der rechten unteren Ecke zeigt eine
                                                                                                         die grundsätzliche Funktionsweise gene-
Fotografie eines Cochlea-Implantats, Bild von Cochlear Limited 2014, mit Erlaubnis zur Reproduk-
tion. Der Sprachprozessor („speech processor“) besteht aus Batterien, einem Mikrofon und Elektronik.     tisch vorgeprägt: Auch bei komplett ge-
Er liegt in modernen Geräten hinter dem Ohr. Durch eine Spule werden sowohl Energie als auch die         hörlosen Tieren ist die Hörbahn bis zum
Steuersignale an die unter der Haut liegenden Spule des Implantats („receiver coil“) magnetisch (kon-    auditorischen Kortex angelegt und zeigt
taktfrei) vermittelt. Diese führt dann die Signale an die Elektrodenkontakte („intracochlear electrode   eine rudimentäre Funktionsfähigkeit,
array“) im Ohr. Mit denen werden überlebende Hörnervfasern stimuliert
                                                                                                         bis hin zur rudimentären Merkmalsre-
                                                                                                         präsentation (z. B. von cochleären Ort –
stände höher als beim erwachsenen Tier                spektive [6]: Nicht die Synapse lernt, das         Cochleotopie – oder binauralen Eigen-
(Übersicht in [6]). Das könnte leicht zu              Gehirn lernt. Damit synaptische Ände-              schaften). Die Fähigkeit der Merkmalsex-
der Vorstellung führen, dass die erwähn-              rungen sinnvoll in informationsverarbei-           traktion ist jedoch im Vergleich zu hören-
te sensible Phase für auditives Lernen nur            tende neuronale Netze integriert werden,           den Tieren deutlich reduziert (. Abb. 3;
durch die postnatalen Veränderungen der               müssen diese im Stande sein, sich in ein           Übersicht in [9]). Dies beweist, dass we-
synaptischen Plastizität bedingt ist. Diese           komplexes, informationsverarbeitendes              sentliche Funktionen der Sinnessysteme
Schlussfolgerung wäre aber voreilig: Die              Gefüge einzubinden um das Verhalten                zwar genetisch angelegt sind, die Erfah-
synaptische Plastizität ist auch beim er-             zu kontrollieren.                                  rung aber benötigen. Die Erfahrung er-
wachsenen Tier in vielen Synapsen vor-                    In früher Entwicklung entstehen vie-           möglicht dem Gehirn, die volle Leistungs-
handen, nur ihr Ausmaß ist reduziert.                 le neuronale Schaltkreise unabhängig von           fähigkeit zu erreichen, bzw. die genetisch
Folglich würde die synaptische Plastizi-              der Erfahrung. Im Hörsystem von Säu-               durch die angeborene neuronale Struktur
tät nur eine graduelle Reduktion der An-              gern wird z. B. die Extraktion von inter-          vorgegebene weiter zu verbessern. Sie ver-
passungsfähigkeit erklären. Ein kongeni-              auralen Zeit- und Lautheitsunterschieden           hindert eine Degeneration und durch Er-
tal ertaubter Erwachsener, der mit einen              in der oberen Olive grundsätzlich funk-            fahrung nicht gesteuerte Entwicklungs-
Cochlea-Implantat versorgt wurde, müss-               tional, wenn die Cochlea ihre Funktio-             prozesse, die sich auch „degenerativ“ auf
te dann grundsätzlich ähnliche sprachli-              nalität gewinnt. Die Synapsen des Hirn-            die Funktionalität auswirken können. In
che Kompetenzen erreichen können, wie                 stamms sind bei Höranfang schon vor-               der Entwicklung des „gehörlosen“ au-
ein Kind, das frühzeitig implantiert wor-             handen, zeigen aber bei Gehörlosigkeit             ditorischen Kortex konnten veränderte
den ist – der Erwachsene bräuchte le-                 Veränderungen in ihrer Morphologie                 Entwicklungssequenzen und degenera-
diglich viel mehr Zeit dazu. Dies wider-              und Funktion (Übersicht in [9]). Im au-            tive Veränderungen im Tierexperiment
spricht jedoch den oben erwähnten Daten               ditorischen Kortex entstehen die meisten           nachgewiesen werden [12].
von implantierten kongenital Gehörlosen               Synapsen erst nach der Geburt und lan-                 Um Reize unterscheiden lernen zu
[2, 4, 17]. Es müssen folglich zusätzliche            ge nach dem Höranfang, bei Menschen in             können, ist die Repräsentation der sie
Prozesse an den sensiblen Phasen betei-               den ersten 1–4 Jahren (Übersicht in [9]).          unter-scheidendenden (distinktiver)
ligt sein, die jenseits einzelner Synapsen            Wie hoch ist also der Anteil dieser Syn-           Merkmale unerlässlich. Eine Reduk-
liegen [6].                                           apsen, die sich mit der Hörerfahrung ent-          tion der Merkmalsextraktion im Gehirn
    Wesentlich bei der Betrachtung der                wickeln, und wie viele sind davon unab-            von gehörlos Geborenen verkompliziert
kritischen Phasen ist die systemische Per-            hängig?                                            den Anfang des Lernvorgangs und ist

                                                                                                                              Neuroforum 1 · 2015   | 23
Wie das Gehirn hören lernt - Gehörlosigkeit und das bionische Ohr
Zusammenfassung · Abstract

   aus unserer Sicht mit ein Grund für das          Neuroforum 2015 · 21:22–29 DOI 10.1007/s12269-015-0001-9
   Schließen von sensiblen Phasen für audi-         © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
   tives Lernen.
                                                    A. Kral · T. Lenarz

   Deprivationseffekte in                           Wie das Gehirn hören lernt – Gehörlosigkeit
   der kortikalen Säule                             und das bionische Ohr
                                                    Zusammenfassung
   Kortikale Interaktionen zeigen deutlich          In der Geschichte der Neurowissenschaft bie-      Vielzahl von Veränderungen in auditiven und
   mehr Abhängigkeit von der Erfahrung als          tet das Hören die einmalige Gelegenheit, die      nicht-auditiven Funktionen. Diese passen das
   die allgemeine Verschaltung des afferen-         menschliche Hirnentwicklung mit und oh-           Gehirn an den Zustand der Gehörlosigkeit
   ten Hörsystems. Einerseits ist zwar die ge-      ne sensorische Reize zu untersuchen. Dies         optimal an, reduzieren aber den späteren Er-
   nerelle Funktion der kortikalen Säule im         ist durch eine Neuroprothese, das Cochlea-        folg der prothetischen Therapie des Hörens
                                                    Implantat, möglich. Das Implantat kann das        und schließen sensible Entwicklungsphasen.
   primären auditorischen Kortex gehörlo-
                                                    nicht funktionierende Innenohr ersetzen. In       Solche kritische Phasen sind nicht nur die Fol-
   ser Tiere erhalten, zeigt aber eine signifi-     den letzten Jahren wurden so die Grundla-         ge einer reduzierten synaptischen Plastizität,
   kante Desynchronisation der evozierten           gen vom Lernen, sensiblen Entwicklungspha-        sondern auch eine Folge von Veränderungen
   Aktivität und eine Dysfunktion der tiefen        sen und cross-modaler Reorganisation paral-       der integrativen Funktionen des Hörens und
   Schichten V und VI (. Abb. 3; [12, 13]).         lel bei Menschen und im Tiermodell mit hoch       der höheren kognitiven Funktionen.
   Da diese Schichten die Ausgangsschich-           konsistenten Ergebnissen untersucht. Da-
                                                    durch lernten wir, dass das gehörlose Gehirn      Schlüsselwörter
   ten des auditorischen Kortex repräsen-           nach der Geburt eine komplexe Anpassung           Entwicklung · Plastizität · Deprivation ·
   tieren, wurde vermutet, dass eine Kon-           an die Gehörlosigkeit durchläuft, mit einer       Gehörlosigkeit · Cochlea-Implantat
   sequenz die Reduktion der Funktion von
   thalamokortikalen Schleifen ist – was eine
   Verbindung zum Kurzzeitgedächtnis ha-            How the brain learns to listen: deafness and the bionic ear
   ben könnte. Zusätzlich empfangen die-            Abstract
   se Schichten modulatorische efferente            For the first time in the history of neurosci-    ganize the brain optimally to cope with deaf-
   Eingänge von höheren kortikalen Area-            ence, hearing allows to systematically inves-     ness, but they negatively interfere with a lat-
   len, die dann den primären auditorischen         tigate brain development with and without         er prosthetic therapy of hearing. They even-
                                                    sensory experience in humans. This is giv-        tually close the sensitive developmental pe-
   Kortex in der Funktion modulieren. Die
                                                    en by the clinical success of the cochlear im-    riods. The critical nature of sensitive periods
   Gehörlosigkeit würde folglich diese Funk-        plant, a neuroprosthesis that can replace the     is not only a consequence of a developmen-
   tion beeinträchtigen. Tatsächlich konnte         non-functional inner ear. In recent years audi-   tally-reduced synaptic plasticity. It is due to
   eine Reduktion solcher Feedback-Projek-          tory neuroscience investigated the neuronal       the consequences of changes in central inte-
   tionen anatomisch bei gehörlosen Tieren          mechanisms of learning, sensitive develop-        grative functions and cognitive adaptations
   nachgewiesen werden [1].                         mental periods and cross-modal reorganiza-        to deafness.
                                                    tion in parallel in humans and animal models,
      Beim Fehlen der Hörerfahrung ist                                                                Keywords
                                                    with highly consistent outcomes. We learned
   der Entwicklungsprozess von funktiona-           that the brain undergoes a complex adapta-        Development · Plasticity · Deprivation ·
   len Synapsen im Kortex dramatisch be-            tion to deafness, both within and outside of      Deafness · Cochlearimplant
   einflusst (. Abb. 4), sowohl in der Ent-         the auditory system. These adaptations reor-
   stehung als auch in der späteren Abbau-
   phase („Pruning“, [6]). Das beweist, dass
   die Etablierung von kortikalen Schalt-         torischen Objekten, also komplexeren                im größeren neuronalen Netz im Kor-
   kreisen durch Erfahrung stark geprägt ist      neuronalen Repräsentationen, die Sub-               tex stattfindet, wahrscheinlich im Ver-
   und schon die Veränderungen von nicht          jekte einer Vordergrund/Hintergrund –               bund mehrerer kortikaler Felder. Unse-
   funktionalen Synapsen in funktionsfähi-        Unterscheidung sein können: Habe ich                re Wahrnehmung ist im Allgemeinen
   ge z. T. durch den sensorischen Eingang        ein Miauen einer Katze gehört, das Rau-             auf Objekte fokussiert. Häufig sind wir
   bedingt ist.                                   schen eines Wasserfalls, das Geräusch               uns nicht bewusst, welche Merkmale der
                                                  einer Glasflasche, die auf den Boden fiel?          Objekte zu deren Unterscheidung heran-
   „Bottom-Up“ und „Top-Down“                     Solche Objekte werden durch wiederhol-              gezogen werden (distinktiv sind). Wel-
   bei Gehörlosigkeit                             te aktive Erfahrung im Gehirn aus senso-            ches Merkmal distinktiv ist, kann situ-
                                                  rischen Merkmalen synthetisiert und ba-             ationsabhängig sein, d. h. es hängt auch
   Informationen werden im Gehirn auf             sieren auf den individuellen Erfahrungen            davon ab, welche die anderen Objekte in
   unterschiedlichen Verarbeitungsstufen          und Bedürfnissen des Subjekts, sind kon-            der gegebenen Situation von dem gegebe-
   analysiert und gespeichert. Einerseits sind    text- und handlungsbezogen.                         nen zu unterscheiden sind. Um das zu er-
   auditorische Merkmale der Reize wie Fre-           Bis heute wissen wir nicht, wie und wo          möglichen, müssen Merkmalsrepräsen-
   quenz oder räumliche Position in topolo-       auditorische Objekte im Gehirn reprä-               tationen und Objektrepräsentationen in
   gischen Karten abgespeichert. Weiterhin        sentiert sind; wir nehmen an, dass dies             ständiger Interaktion stehen, sodass sich
   arbeitet das Gehirn aber auch mit audi-        in einer distribuierten Repräsentation              die Objektwahrnehmung und die Merk-

24 |   Neuroforum 1 · 2015
Wie das Gehirn hören lernt - Gehörlosigkeit und das bionische Ohr
Abb. 2 8 a Resultate von kortikalen Kartierungsexperimenten, bei denen kortikale Feldpotenziale an der Oberfläche des Fel-
des A1 mit hoher räumlicher Auflösung registriert wurden. „No implantation“ bezeichnet einen Datensatz von einem gehör-
losen Tier, welches keinerlei Hörerfahrung hatte. X-Y Koordinaten entsprechen der Position der Ableitung in rostrocaudaler
(X) und dorsomedialer (Y) Richtung. Amplitude (Z-Achse) ist die Amplitude der ersten positiven Komponente des Feldpoten-
zials (Pa). Auch ein gehörloses Tier zeigt im primären auditorischen Kortex Antworten auf elektrische Stimulation des Hör-
nervs, was die grundlegende Funktionalität des Hörsystems ohne Hörerfahrung beweist. „Implantation age ~3 mo.“ bezeich-
net die Gruppe der gehörlosen Tiere, die mit ca. 3 Monaten ein Cochlea-Implantat bekommen haben und 2-5 Monate lang
stimuliert und trainiert wurden. Diese Tiere zeigten mit steigender Stimulationsdauer eine langsame Expansion des aktiven
Areals und eine Vergrößerung der Amplituden der Feldpotenziale. Bei Tieren, die spät implantiert wurden („Implantation age
6 mo.“) haben sich zwar die Feldpotenziale durch die Stimulation verändert, aber die Expansion des aktiven Areals war gerin-
ger. Bild mit freundlicher Genehmigung aus Kral und Sharma [9]. b, c Als Beispiel quantitative Analyse der Antworten mit Ver-
gleichen zwischen dem stimulierten und nichtstimulierten Ohr am Kortex ipsilateral zum implantierten Ohr, mit freundlicher
Genehmigung aus Kral et al. [15], mit Erlaubnis zur Reproduktion. Gezeigt sind Amplitudenvergleiche (b) und Latenzverglei-
che (c). Einseitig hörende (grüne Farbe) und einseitig implantierte gehörlose Tiere (rötliche Farbe) zeigen sowohl in Latenzen
als auch in Amplituden eine Verschiebung zum hörenden Ohr (kürzere Latenzen, größere Amplituden) und auch eine Abhän-
gigkeit vom Alter, bei dem das einseitige Hören einsetzte. Bei später Versorgung (6 Monate) zeigten sich nur geringe Verände-
rungen zu gehörlosen Tieren ((rote Rechtecke)

malswahrnehmung gegenseitig beein-                   tionen in die bottom-up Informations-                 der kortikalen Felder. Wir erkennen erst
flussen. Interessanterweise sind kortika-            verarbeitung einzugliedern. Im Falle vom              den Wald, dann die Bäume; den Baum
le Areale asymmetrisch miteinander ver-              Feld A1 bedeutet es, den kortikalen Ein-              (das Objekt, wofür wahrscheinlich höhe-
bunden, sodass man von „feedforward“                 gang (bottom-up) mit dem top-down                     re Areale verantwortlich sind), bevor wir
und „feedback“ Mustern sprechen kann                 Eingang von höheren kortikalen Arealen                die Details der Farbe der Blätter des Bau-
– bei funktionalen Interaktionen dann                zu verbinden. Dies erfolgt im Schaltkreis             mes betrachten (wofür frühe Areale ver-
von „bottom-up“ und „top-down“ Inter-                der kortikalen Säule.                                 antwortlich sind); wir erkennen erst die
aktionen. Nimmt man nun eine hierar-                    Im Verhalten beziehen sich top-down                Gesamtsituation der visuellen Szene und
chische Struktur der Repräsentationen                Effekte z. B. auf die Fähigkeit, kontextbe-           erst dann ihre Details, eingegliedert in die
als gegeben, kommt es zu Interaktionen               dingt die Verarbeitungsweise im Kortex                Gesamtsituation [3].
in bottom-up Form (von Merkmal zum                   zu modulieren [7]. Eine solche Modula-                    Die Fußspuren der Existenz von sen-
Objekt) und top-down Form (von Ob-                   tion findet zusätzlich durch Aufmerksam-              sorischen Objekten und von top-down
jekt zum Merkmal). Ein wesentlicher Be-              keitsprozesse statt. Die Verarbeitung der             Effekten findet man bei sogenannten
standteil kortikaler Netzwerke ist die Fä-           afferenten Reize erfolgt dort in der um-              „filling-in“ (oder Kontinuitätsillusions-)
higkeit, sogenannte top-down Informa-                gekehrten Reihenfolge der Hierarchie                  Phänomenen, wie z. B. wenn ein Objekt

                                                                                                                                 Neuroforum 1 · 2015   | 25
Übersichtsartikel

                                                                                                                  ein top-down Einfluss nicht stattfinden.
                                                                                                                  Nach einer Theorie ändert sich während
                                                                                                                  der postnatalen Entwicklung die Ver-
                                                                                                                  arbeitung von Informationen von einen
                                                                                                                  bottom-up getriebenen Prozess in einen
                                                                                                                  kombinierten bottom-up und top-down
                                                                                                                  Prozess [7]. Gehörlosigkeit wird mit die-
                                                                                                                  sem Prozess stark interferieren, da sie die
                                                                                                                  Entwicklung von höheren kognitiven Re-
                                                                                                                  präsentationen verhindert.
                                                                                                                      Das neurophysiologische Substrat
                                                                                                                  eines top-down Einflusses sind Projektio-
                                                                                                                  nen, die von höheren sensorischen Area-
                                                                                                                  len in die hierarchisch untergeordneten
                                                                                                                  Areale zielen. Hierbei ist zu beachten, dass
                                                                                                                  die hierarchische Anordnung von kortika-
                                                                                                                  len Arealen faktisch eher einer funktiona-
                                                                                                                  len Einheit vieler Areale entspricht. Den-
                                                                                                                  noch ist eine hierarchische Betrachtung
                                                                                                                  wegen der unterschiedlichen Funktio-
                                                                                                                  nen dieser Areale sinnvoll. Die Projektio-
                                                                                                                  nen, die von sekundären in die primären
                                                                                                                  sensorischen Areale gerichtet sind, sind
                                                                                                                  schichtspezifisch und zielen hauptsäch-
                                                                                                                  lich in Schicht I/II und die infragranulären
                                                                                                                  Schichten V und VI (. Abb. 2). Die infra-
                                                                                                                  granulären Schichten projizieren dann in
                                                                                                                  die supragranuläre und granuläre Schicht
                                                                                                                  (Schichten II, III und IV) und wirken dort
   Abb. 3 8 Auditorische Sensitivität im auditorischen Kortex (primäres Feld A1) im Erwachsenenalter
   untersucht mit elektrischer Stimulation des Hörnervs und elektrophysiologischen Untersuchungen oder            modulierend (nicht „treibend“ wie der
   mit histologischen Analysen mit retrograden Tracern. a Die Anzahl der kortikalen Neurone, die im best-         Thalamus). Der Einfluss dieser Schichten
   aktivierten Bereich des primären auditorischen Kortex nicht auf die Stimulation mit einem Cochlea-Im-          könnte eine wesentliche Rolle bei der Ver-
   plantat antworten, ist bei Gehörlosigkeit erhöht. b Die Feuerrate der Neurone, die auf die Reizung ant-        mittlung der top-down Information spie-
   worten, ist bei gehörlosen Tieren signifikant reduziert. c: Der Dynamikbereich der Antworten ist bei ge-
                                                                                                                  len (sog. kognitive Modulation, [7]).
   hörlosen Tieren auf nur wenige dB reduziert. d : Die Konvergenz/Divergenz der Projektion von Thalamus
   in den Kortex war bei gehörlosen Tieren erhöht, d.h. die Cochleotopie war „verwaschen“. e: Die kortika-            Ein wesentlicher Effekt der Gehörlo-
   len Antworten zeigten in einigen Parametern geringere Schwelle bei gehörlosen Tieren, wobei die Erre-          sigkeit im primären auditorischen Kortex
   gungsschwelle der Hirnstammantworten nicht unterschiedlich zu hörenden Tieren war. Dies zeigt eine             liegt in den infragranulären Schichten, die
   zentrale Hypersensitivität bei Gehörlosigkeit. f: Auch Merkmale, die im zentralen auditorischen System         eine geringere synaptische Aktivität auf-
   aus dem Höreingang extrahiert werden, waren betroffen: Die kortikale Empfindlichkeit auf interaura-
                                                                                                                  weisen [10]. Infragranuläre Aktivität ist bei
   le Zeitdifferenzen („interaural time differences“, ITDs), die von der oberen Olive im Kortex „vererbt“ wird,
   war bei Gehörlosigkeit deutlich reduziert. Diese Daten belegen eine reduzierte Empfindlichkeit des ge-         hörenden Tieren zum ersten Mal zwischen
   hörlosen Hörsystems auf Merkmale der auditiven Reize wie Intensität, Position der Erregung in der              dem 2. und 3. Lebensmonat zu beobach-
   Cochlea und Position der Schallquelle in Raum. Abbildung modifiziert mit freundlicher Genehmigung              ten, wobei diese strukturiert erst im 3. Le-
   aus Barone et al. [1] und Kral und Sharma [9]                                                                  bensmonat auftritt. Ihr Ausmaß verstärkt
                                                                                                                  sich bis ins Erwachsenenalter (. Abb. 4;
   von einem anderen zeitlich oder räum-                  geblich beteiligt sind [7]. Top-down Ver-               [12]). Bei Gehörlosigkeit kann man infra-
   lich teilweise überdeckt ist. Wenn man im              arbeitung wird auch beim gezielten Ler-                 granuläre Aktivität um den 2.–3. Lebens-
   Sprachsignal ein einzelnes Phonem durch                nen, fokussiert auf bestimmte sensorische               monat beobachten, danach schwindet sie
   Rauschen ersetzt, ist es normalhörenden                Reize, eingesetzt. Lernen beim Erwachse-                jedoch (ibid.). Frühe chronische elektri-
   Probanden gar nicht möglich, die Posi-                 nen wird auf diese Weise gesteuert.                     sche Reizung bei gehörlosen Tieren konn-
   tion des ersetzten Phonems zu identifizie-                 Beim Neugeborenen ist dies alles je-                te diese Aktivität erhalten, bzw. entstehen
   ren („phonemic restoration effect“). Statt             doch nicht möglich: Kinder müssen erst                  lassen [13]. Die deutliche Reduktion der
   dessen füllen die Probanden die „Lücken“               die Repräsentationen auf hohen hierar-                  infragranulären Aktivität durch das Feh-
   sinnvoll, ohne sich dabei des Effekts be-              chischen Ebenen (die sensorischen Ob-                   len von Hörerfahrung ließ uns vermuten,
   wusst zu sein. Es gibt eine ganze Vielzahl             jekte) konstruieren. Sie müssen erst ler-               dass einerseits die Grundlage für Kurtzeit-
   von weiteren dokumentierten Phänome-                   nen, was eine Katze ist, was ein „Miau“                 gedächtnis-relevante Schaltkreise durch
   nen, bei denen top-down Einflüsse maß-                 ist, was ein Wasserfall. Bei ihnen kann                 Gehörlosigkeit beeinträchtigt ist, anderer-

26 |   Neuroforum 1 · 2015
Abb. 4 8 Funktionale Entwicklung des auditorischen Kortex mit und ohne Hörerfahrung. a Stromquellendichteanalysen von
Feldpotenzialen können synaptische Prozesse um die Messelektrode bestimmen. Vor dem 10. Lebenstag, wenn Hörschwellen
unter 100 dB SPL fallen, konnten trotz vorhandener auditorisch (elektrisch) evozierten Hirnstammantworten nur geringe kor-
tikale Antworten mit langen Latenzen ab Tag 8 nach Geburt gemessen werden. Diese nahmen mit dem Alter bei hörenden
Tieren zu, deren Latenz verkürzte sich. Die evozierten Amplituden erreichten ein Maximum zwischen der 4. und 6. Woche, da-
nach folgte ein Abfall auf das Erwachsenenalter um den 3. Lebensmonat. Auch das Muster der Aktivität veränderte sich, die
Aktivität nahm besonders spät in den tiefen Schichten V und VI zu. Bei gehörlosen Tieren war dieser Prozess deutlich anders:
Die Zunahme der Erregbarkeit war verlangsamt und die Abnahme war verstärkt. b Mittelwerte von Peak-Amplituden der
Stromquellendichten bei einzelnen Tieren im Vergleich; im Erwachsenenalter zeigen die Markierungen einen Mittelwert von
jeweils 4 Tieren. Pfeil (1) zeigt die verzögerte funktionale Synaptogenese, Pfeil (2) auf die Reduktion der evozierten Aktivität im
Erwachsenenalter. Abbildung nach Kral und Sharma [9] Abbildung mit freundlicher Genehmigung aus Kral und Sharma [9])

                                                                                                                                      Neuroforum 1 · 2015   | 27
Übersichtsartikel

   seits die kongenitale auditorische Depri-      tion zugeordnet werden [16]. Diese Daten       Lesen vielleicht die wichtigste: Angeboren
   vation zu einer Entkopplung der frühen         belegen also, dass die cross-modale Re-        gehörlose 18-Jährige zeigen im Vergleich
   Areale von kognitiven top-down Einflüs-        organisation bei Gehörlosigkeit eine hohe      zu altersgleichen Hörenden im Mittel eine
   sen führt [7, 12, 13].                         Spezifizität für das betroffene Areal zeigt.   Verzögerung der Lesefähigkeit von mehr
       Eine solche Entkopplung der primären           Die cross-modale Reorganisation            als 7–8 Jahren (Übersicht in [8]).
   auditorischen Areale von den höheren           kann ein weiterer Grund für die Schlie-            Die angeborene Hörstörung, die jedes
   Arealen führt zur Unfähigkeit einer kogni-     ßung der sensiblen Phasen sein, weil sie       1000. Neugeborene betrifft, ist zusam-
   tiven Modulation der frühen sensorischen       neuronale Ressourcen des Hörsystems            men mit angeborenen Herzfehlern und
   Aktivität. Ein Abfall der synaptischen Plas-   umwidmet. Diese experimentellen Daten          der Trisomie 21 die häufigste angebore-
   tizität mit steigendem Alter führt gleich-     belegen aber auch, dass die cross-moda-        ne Störung. Der Erfolg der Therapie von
   zeitig zu einer Reduktion der (ungesteu-       le Reorganisation des Gehirns bei sensori-     Hörschäden ist kritisch abhängig vom Al-
   erten) bottom-up Plastizität. Im Komplex       scher Deprivation spezifischer ist als frü-    ter [4, 17], die Therapie der Hörstörung
   entsteht so ein kortikales Areal, welches      her angenommen.                                sollte innerhalb der ersten 3,5 Jahre, op-
   nicht genug Plastizität besitzt, um höhere                                                    timal aber innerhalb des ersten Lebens-
   Repräsentationen auszubilden, und kei-         Kognitive Konsequenzen                         jahres erfolgen. Die möglichen therapeu-
   ne top-down Modulation besitzt, um kor-                                                       tischen Maßnahmen beinhalten vor al-
   tikale Plastizität kognitiv zu steuern. Die    Die umfangreichen Veränderungen, die           lem die Versorgung mit Hörgeräten und
   Fähigkeit gezielt zu lernen wird dadurch       kongenitale Gehörlosigkeit im Kortex           neuroprothetischer Therapie mit Coch-
   stark vermindert. Wir denken, dass dar-        mit sich bringt, hat Folgen nicht nur für      lea-Implantaten. Für die wenigen Pa-
   in ein weiterer Grund für die finale Schlie-   sensorische Funktionen. Der sensorische        tienten, bei denen ein Cochlea-Implan-
   ßung von sensiblen Phasen liegt [6].           Kortex dient der Kognition als Tor für         tat nicht eingesetzt werden kann, sind die
                                                  sensorische Informationen. Der auditori-       Hirnstammimplantate eine mögliche Al-
   Cross-modale Reorganisation                    sche Kortex hat aber auch die Funktion         ternative. Unterstützung bei der kogniti-
   bei Gehörlosigkeit                             als eine Art Tafel mit hoher zeitlicher Auf-   ven und sprachlichen Entwicklung nach
                                                  lösung, die die Kognition als „Schreib-        der Kompensation der Hörstörung ist we-
   Hirnareale, die in frühen Phasen der post-     brett“ nutzen kann (Übersicht in [6]).         gen der oben erwähnten kognitiven Fol-
   natalen Entwicklung nicht genutzt wer-         Eine Reduktion des top-down Zugrif-            gen sensorischer Deprivation unerlässlich.
   den, werden zum Teil neuen Funktio-            fes auf diese Tafel, verbunden mit seiner
   nen zugeführt. Falls die neue Funktion         abnormalen Funktionalität, könnte folg-        Die Zukunft
   mit einem anderen Sinnessystem zusam-          lich zeitliche Verarbeitung im Allgemei-
   menhängt, sprechen wir von cross-moda-         nen beeinträchtigen. Defizite im visuellen     Hören über ein Implantat ermöglicht
   ler Plastizität.                               Sequenzlernen bei kongenital Gehörlosen        zwar die Kommunikation, ersetzt aber
       Viele Neurowissenschaftler nehmen          bestätigen diese Hypothese. Das Hörsys-        das Innenohr nicht vollständig. Das Hö-
   an, dass kein Teil des Gehirns langfris-       tem hat weiterhin wichtige Funktionen          ren in komplexen Umgebungen mit vie-
   tig ohne Funktion bleibt. Diese Annahme        bei der Aufmerksamkeitssteuerung – es          len Schallquellen, die Wahrnehmung von
   ist jedoch falsch. Bei Gehörlosigkeit kön-     kann z. B. den Aufmerksamkeitsschwer-          Musik und einiges mehr bleiben offene
   nen umfangreiche degenerative Verän-           punkt auch jenseits des Blickfeldes ver-       Forschungsthemen, um die erfolgreichste
   derungen im auditorischen Hirnstamm            lagern und warnt auch vor unsichtbaren         Neuroprothese weiter zu verbessern. Die
   und Mittelhirn beobachtet werden, die          Schallquellen. Ein Ausfall des Hörsinns        Zukunft muss vor allem die interindivi-
   auf ein Fehlen adäquater Eingänge schlie-      führt zur Reduktion der Konzentrations-        duellen Unterschiede im Erfolg der Ver-
   ßen lässt. Obwohl supranormale visuel-         fähigkeit auf einen Sachverhalt oder Ort       sorgung aufklären: Etwa 30 % der frühzei-
   le Fähigkeiten bei Gehörlosen lange be-        im Raum („sustained attention“) und ver-       tig implantierten Kinder ohne zusätzliche
   kannt sind, konnte im primären audi-           lagert die (visuelle) Aufmerksamkeit in        Behinderung erreichen die erwarteten
   torischen Kortex (Feld A1) keine visuelle      die Peripherie des Gesichtsfeldes, um so-      Sprachergebnisse nicht; die Gründe dafür
   Reorganisation neurophysiologisch [11],        zusagen die Umgebung auf Gefahren „ab-         sind unklar. Die Aufklärung der Schlüs-
   anatomisch [1] und behavioral [16] nach-       zuscannen“. Das reduziert beim Kind die        selfaktoren dieser Variabilität ist der Auf-
   gewiesen werden. Dies war jedoch für das       Zeitspanne der gemeinsamen Aufmerk-            trag unserer Forschung in der Zukunft.
   sekundäre Areal DZ anders: Hier konn-          samkeit mit der Mutter auf den gleichen
   ten anatomisch eine visuelle und somato-       Gegenstand („joint attention“) und beein-
                                                                                                 Korrespondenzadresse
   sensorische Reorganisation nachgewiesen        flusst dadurch lernbasierte Entwicklungs-
   werden [1]. Auch konnte mit behaviora-         prozesse. Viele weitere kognitive Verän-                      A. Kral
   len Experimenten bewiesen werden, dass         derungen konnten als Folge der angebo-                        Institut für
   dieses Areal für eine supranormale visuel-     renen Gehörlosigkeit identifiziert werden,                    Audioneurotechnologie
                                                                                                                (VIANNA)
   le Bewegungsdetektion verantwortlich ist       die mit den hier vorgestellten neuronalen                     Feodor-Lynen-Str. 35
   [16]. Dem sekundären Areal PAF konnten         Befunden im Einklang stehen. Vom klini-                       30625 Hannover
   visuelle Aufgaben bei räumlicher Lokalisa-     scher Relevanz ist die Konsequenz für das                     kral.andrej@mh-hannover.de

28 |   Neuroforum 1 · 2015
Prof. Dr.med. Thomas Lenarz. ist durch zahlreiche           2. Busby PA, Tong YC, Clark GM (1992) Psychophysi-          10. Kral A, Hartmann R, Tillein J, Heid S, Klinke R (2000)
Beiträge zur Hörforschung, insbesondere auf dem                cal studies using a multiple-electrode cochlear im-          Congenital auditory deprivation reduces synaptic
Gebiet der auditorischen Implantate und der                    plant in patients who were deafened early in life.           activity within the auditory cortex in a layer-speci-
Audiologie ausgezeichnet, deren Großteil an der                Audiology 31(2):95–111                                       fic manner. Cereb Cortex 10(7):714–726
Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), Klinik für         3. Hochstein S, Ahissar M (2002) View from the top:         11. Kral A, Schroder JH, Klinke R, Engel AK (2003) Ab-
Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, erarbeitet wurde,            hierarchies and reverse hierarchies in the visual            sence of cross-modal reorganization in the prima-
die er seit 1993 leitet und zu einer Institution von           system. Neuron 36:791–804                                    ry auditory cortex of congenitally deaf cats. Exp
Weltrang führte. Er ist durch wichtige Forschungen          4. Illg A, von der Haar-Heise S, Goldring JE, Lesins-           Brain Res 153(4):605–613
auf dem Gebiet der Cochlea-Implantate, des                     ki-Schiedat A, Battmer RD, Lenarz T (1999) Speech        12. Kral A, Tillein J, Heid S, Hartmann R, Klinke R (2005)
Neugeborenen-Hörscreenings, der implantierbaren                perception results for children implanted with the           Postnatal cortical development in congenital audi-
Hörgeräte, der Biomaterialien für medizinische                 CLARION cochlear implant at the medical univer-              tory deprivation. Cereb Cortex 15:552–562
Implantate und der Audiobionik bekannt.                        sity of hannover. Ann Otol Rhinol Laryngol Suppl         13. Kral A, Tillein J, Heid S, Klinke R, Hartmann R (2006)
Zukunftsweisende Arbeiten entstanden auch auf                  177:93–98                                                    Cochlear implants: cortical plasticity in congenital
dem Gebiet der elektroakustischen Stimulation,              5. Klinke R, Kral A, Heid S, Tillein J, Hartmann R (1999)       deprivation. Prog Brain Res 157:283–313
des Local Drug Delivery in der Cochlea sowie                   Recruitment of the auditory cortex in congenitally       14. Kral A, Heid S, Hubka P, Tillein J (2013a) Unilateral
zentral auditorischer Prothesen. Lenarz baute das              deaf cats by long- term cochlear electrostimulati-           hearing during development: hemispheric specifi-
Cochlea-Implantat- Programm in Hannover zu dem                 on. Science 285(5434):1729–1733                              city in plastic reorganizations. Front Syst Neurosci
weltweit führenden Zentrum aus. 2003 wurde das              6. Kral A (2013) Auditory critical periods: a review            7:93
Deutsche Hörzentrum Hannover zur integrierten                  from system’s perspective. Neuroscience 247:117–         15. Kral A, Hubka P, Heid S, Tillein J (2013b) Single-si-
Versorgung von Patienten mit Schwerhörigkeiten und             133                                                          ded deafness leads to unilateral aural preference
für die klinische Forschung gegründet. 2009 eröffnete       7. Kral A, Eggermont JJ (2007) What’s to lose and               within an early sensitive period. Brain 136:180–
er das Verbundinstitut für Audioneurotechnologie               what’s to learn: development under auditory de-              193
und Nano-Biomaterialien Hannover (VIANNA).                     privation, cochlear implants and limits of cortical      16. Lomber SG, Meredith MA, Kral A (2010) Cross-mo-
Er ist Sprecher des Sonderforschungsbereiches                  plasticity. BrainRes Rev 56(1):259–269                       dal plasticity in specific auditory cortices under-
599 „Biomedizintechnik“ und stellvertretender               8. Kral A, O’Donoghue GM (2010) Profound deafness               lies visual compensations in the deaf. Nat Neurosci
Sprecher des Exzellenzclusters „Hearing4all“.                  in childhood. N Engl J Med 363(15):1438–1450                 13(11):1421–1427
Thomas Lenarz hat mehr als 400 wissenschaftliche            9. Kral A, Sharma A (2012) Developmental neuroplas-         17. Niparko JK, Tobey EA, Thal DJ, Eisenberg LS, Wang
Publikationen verfasst und mehrere Millionen Euro              ticity after cochlear implantation. Trends Neurosci          NY, Quittner AL et al (2010) Spoken language de-
für Projekte eingeworben. Seine Aktivitäten wurden             35(2):111–122                                                velopment in children following cochlear implan-
durch Preise und zahlreiche Präsidentenämter                                                                                tation. JAMA 303(15):1498–1506
in verschiedenen Gesellschaften gewürdigt.

Prof. Dr. Andrej Kral. studierte Allgemeinmedizin
an der Comenius Universität, Bratislava (Promotion
summa cum laude 1993, Approbation als Arzt
1993, PhD in pathologischer Physiologie 1998). Er
arbeitete am Institut für pathologische Physiologie,
Comenius Universität (1992–1995, Prof. I. Hulin)
und am Mathematischen Institut der Akademie der
Wissenschaften (Prof. V. Majernik). Sein Fachgebiet
waren künstliche neuronale Netzwerke. 1995
wechselte er zum Institut für sensorische Physiologie
und Neurophysiologie (J.W.Goethe – Universität,
Frankfurt am Main, Direktor: Prof. R. Klinke),
um auf dem Gebiet der Neurophysiologie von
Cochlea-Implantaten und auditorischen Plastizität

                                                                                        Hier steht eine Anzeige.
zu arbeiten. Er habilitierte im Fach Physiologie
(J.W.Goethe – Universität) 2002. 2004 folgte er einem
Ruf auf die C3– Professor für Neurophysiologie,
Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf (Institut für
Neurophysiologie). 2009 folgte er dem Ruf auf die
W3-Professur für auditorische Neurophysiologie an die
Medizinische Hochschule Hannover. Er ist Direktor für
Forschung der HNO-Klinik der MHH (DUO-Konzept),
Direktor des Instituts für Audioneurotechnologie
(VIANNA) und der Abteilung für experimentelle
                                                                                        1 Springer
Otologie der HNO-Klinik. Seit 2004 ist er „adjunct
professor of neuroscience and cognition“ an der
Universität Texas, Dallas, USA. Seine Interessensgebiete
sind Neurophysiologie von Gehörlosigkeit,
Cochlea-Implantate, auditorische Entwicklung,
neuronale Plastizität und neuroprothetische
Stimulation des Gehirns. Seine wissenschaftlichen
Veröffentlichungen erschienen unter anderen in
New Engl J Med, Science, Nat Neuroscience, Trends
Neurosci, Brain, J Neurosci und Cereb Cortex.

Literatur
 1. Barone P, Lacassagne L, Kral A (2013) Reorganizati-
    on of the connectivity of cortical field DZ in conge-
    nitally deaf cat. PLoS ONE 8(4):e60093

                                                                                                                                                     Neuroforum 1 · 2015         | 29
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