Wie die Hagnauer Anno 1880 und 1963 als erste den zugefrorenen Bodensee überschritten

 
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Wie die Hagnauer Anno 1880 und 1963 als erste den
            zugefrorenen Bodensee überschritten
                                Friedrich Meichle, Hagnau
        Badische Heimat 46 (1966), S. 175 - 186 - Reprint 2013

    Hagnau mit seiner Eisprozession nach Münsterlingen am 12. 3. 1963. phot. F. Thorbecke

Inmitten der schönen gärtnerischen Anlagen         Dr. Heinrich Hansjakob, wie er für dieses
bei der Landebrücke von Hagnau am Boden-           Denkmal eine Inschrift verfassen sollte, er aber
see kündet ein wuchtiger Felsblock von der         dem Konstanzer Münsterpfarrer Bru- gier den
kühnen Tat der neun jungen Hagnauer, die im        Auftrag übertrug. Die Inschrift lautet:
Februar 1880 als erste den Marsch über den
                                                   „Als Anno dreißig brach das Eis,
zugefrorenen See wagten. Der Findling war
                                                   Entfloh ich meinem Wassergrab,
bei der Seegefrörne 1830 unter fürchterlichem
                                                   Ruht’ aus am Dorfbach fünfzig Jahr’.
Getöse durch die Kraft des Eises ans Ufer ge-
                                                   Wer jetzt den Ehrenplatz mir gab?
schoben worden. Fünfzig Jahre später wurde
                                                   Lies hier die neun, die Unverzagten,
er als Denkmal auf dem Löwenplatz aufgestellt
                                                   Die heuer übern See sich wagten . . .“
und gelangte nach Überdeckung des Dorfba-
ches an seine heutige Stelle.                      Wie im einzelnen die Überquerung der sieben
                                                   Kilometer breiten Eisfläche verlief, schildert
Im Kapitel „Mein Sakristan“ seiner „Schneebal-
                                                   der folgende Bericht, den in ge-
len“ (3. Reihe) schildert Pfarrer

                                                                                                      175
stochener Schrift ein vierzehnjähriges Schul-     Rupert Ehrlinspiel abgelöst. Beim nächsten
      mädchen nach der Erzählung eines Teilneh-         Halt erklärte dieser, das Eis sei nur einen Zoll
      mer niedergeschrieben hat: Allenthalben liest     stark, doch nach neun Meter käme wieder star-
      man heute vom Überschreiten des Bodensees         kes Eis; denn es habe Duft. Wo Duft war, war
      durch Hagnauer zwischen hier und Altnau im        das Eis tragfähig. Kaum aber hatte er auf den
      Kanton Thurgau, welche einen Tag früher als       Ruf des Kompaßhalters zum Weitermarsch
      alle ändern die Eisfläche überschritten haben     drei Stöße mit seinem Spieß gemacht, als er
      auf der Seebreite, wo vorher kein Mensch zu       einbrach und bis an die Ohren im eiskalten
      wandeln wagte. Daher ist es auch für Nich-        Wasser versank.
      tuferbewohner von Interesse, von dem weiten
                                                        Dank der Hopfenstange konnte ihn der Verbin-
      Weg zu hören, den jene zurücklegten.
                                                        dungsmann festhalten, und nach einer Minute
      Am Samstag, den 7. Februar, brachen die neun      war der Eingebrochene wieder auf dem festen
      um 10 Uhr 25 Minuten trotz der Tränen von         Eis. Hier zog er sich bei 5 Grad Reaumur un-
      Frau und Kindern auf. Der die Spitze Führende     ter Null im dichten Nebel nackt aus. Was die
      zog an einem drei Meter langen Seil eine Hop-     Gefährten ihm an trockenen Kleidern abtreten
      fenstange. Hinter ihm kam der Verbindungs-        konnten, zog er auf dem Eise an. Nun gingen
      mann, die ändern sieben folgten im Abstand        sie 70 Schritte zurück und beratschlagten, was
      von 10 bis 15 Schritten, ausgerüstet mit einem    zu tun sei. Wieder hieß die Losung „Vorwärts!“
      50 Meter langen Seil, mit einem Kompaß und
                                                        Unter Preysings Führung bogen sie 100 Schritt
      einer langen Feiter. Jeder einzelne trug ferner
                                                        auf festes Eis rückwärts und mit derselben Si-
      einen Spieß d. h. Stange mit einem eisernen
                                                        cherung nach Westen aus. Alsbald gelangten
      Haken. Anfänglich begleitete eine Menge Neu-
                                                        sie auf ein 4—5 Zoll starkes Eisfeld, das wie
      gieriger die Wagemutigen. Als sie aber über
                                                        feingeschliffener, getupfter Marmor aussah
      die „Halde“ (Übergang von dem flachen Ufer-
                                                        und da und dort Übergänge von gestauten Eis-
      streifen zum Seekessel) kamen und unter dem
                                                        platten zeigte. Wieder peilten sie mit dem Kom-
      Eis die nachtdunkle Tiefe drohte, verloren sich
                                                        paß ihr Ziel an und kamen, eine halbe Stunde
      die Begleiter rasch. Die neun spießten hurtig
                                                        schleifend, so rasch voran, daß ein Pferd hät-
      weiter, von dichtem Nebel umhüllt. Man konnte
                                                        te traben müssen, um mitzuhalten. Sie legten
      nicht weiter als 50 Schritte sehen. Das Eis war
                                                        eine erneute Pause ein, als die Uhr 12,25 zeig-
      glatt wie geschliffenes Glas, und rabenschwarz
                                                        te. Schon hörten sie vom Schweizerufer die
      lag über 200 Meter tief darunter der Seegrund.
                                                        Eisenbahn fahren und die Leute drüben rufen.
      Von Zeit zu Zeit wurde haltgemacht, der Kom-
                                                        Voll Freude stießen sie weiter vor, stets das Eis
      paß, welcher von Anselm Meichle geführt wur-
                                                        auf seine Stärke abtastend. Im Nebel tauchte
      de, in der Richtung der gegenüberliegenden
                                                        ein Mann auf. Als sie auf ihn zuhielten, trafen
      Schweizer Ortschaft Altnau angeschlagen.
                                                        sie plötzlich auf ein Hindernis. Wasser stand in
      Das Kommando hieß „Weiter gerade aus!“,
                                                        einem etwa 20 Meter breiten Kanal zwischen
      und wenn es das Eis erlaubte, „Etwas links!“
                                                        den Eisflächen und wehrte den Weitermarsch.
      So ging es 400—500 Meter vorwärts. Bald
                                                        Sie gingen dem Kanal in Richtung Romans-
      wurde die Richtung wieder nachgeprüft. Als
                                                        horn entlang und suchten einen Übergang.
      sie etwa ein Drittel der Seebreite zurückge-
                                                        Vergeblich. Schließlich kehrten sie an die Aus-
      legt hatten, wurde der spitzeführende Andreas
                                                        gangsstelle
      Preysing von

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zurück. Dort, wo sie die Gestalt im Nebel er-
blickt hatten, versuchte Anselm Meichie auf
der Leiter über eine dünn vereiste Stelle zu
gelangen, und beinahe hatte er das feste Eis
erreicht, als er mit der Leiter durchbrach. Diese
richtete sich mit dem Durchnässten im Wasser
zu halber Höhe auf, aber rasch hatten ihn die
ändern auf das feste Eis zurückgezogen; weil
er seine Handschuhe verloren hatte, kroch er
nochmals ins Wasser, fischte sie heraus und
kletterte auf der Leiter zurück.
An einer anderen Stelle versuchte Ferdinand
Model einen Übergang zu finden. Er war schon
auf festem Eis und rief: „Kameraden, der Sieg
ist unser!“, da brach er ein und wurde von den
Nächststehenden gerettet. Beide kleideten
sich auf dem Eise aus und zogen die trockenen
Sachen an, welche die Kameraden entbehren
konnten. Fast eine Stunde lang schritten sie
dem Kanal entlang, ohne ein Ende zu finden.
Inzwischen war eine Menge Neugieriger vom
Schweizerufer an den Rand des Kanals herzu-
gekommen. Diese schoben, als alle Versuche          Denkstein des Seeüberganges 1880
der Überquerung gescheitert waren, eine Gon-
del auf dem Eis heran und setzten die neun
Eisgänger über. Bald betraten sie Schweizer-        an. Dieser verlief ohne jeden Unfall, nur hatten
boden, sie wurden nach Altnau geleitet, gast-       sie wieder gegen den heimtückischen Nebel
lich aufgenommen und aufs beste bewirtet.           zu kämpfen.
Das ganze Unternehmen hatte sechs Stun-             Um einhalb zwei Uhr nachmittags trafen sie
den gedauert. Den in Sorge schwebenden              glücklich und wohlbehalten, begrüßt von einer
Angehörigen meldete ein Telegramm, das von          großen Menge, in ihrem Heimatdorf ein. Im
Meersburg durch einen Boten nach Hagnau             nahen Wirtshaus von Johann Zeller (dem heu-
gebracht wurde, die geglückte Überquerung           tigen „Seegarten“), wurde ein großes Freuden-
des Sees und zeigte ihre Rückkehr für den fol-      fest gefeiert. Aber schon um drei Uhr kam die
genden Tag an.                                      Trauerkunde, daß Georg Ainsers achtjähriger
                                                    Bub 200 Meter von der Schiffslände entfernt
Diese war erheblich leichter, da während der
                                                    eingebrochen und ertrunken sei.
Nacht viele der offenen Stellen sich geschlos-
sen hatten. Begleitet von acht Altnauer und         Die Namen der „Neun Unverzagten“, die auf
zwei Kesswiler Bürgern, traten die Hagnauer         dem Denkstein am Hagnauer Dorfeingang ver-
Eisläufer um 3/4 elf Uhr den Rückmarsch mit         zeichnet sind, heißen: Stephan Dimmeler, Ru-
den gleichen Sicherungen und auf der glei-          pert und Stephan Ehrlin- spiel, Polikarp Frei-
chen Bahn wie tags zuvor                            heit, Johann Gyger, Anselm Meichie, Ferdin-
                                                    and Model, Andreas und Gebhard Preysing.

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teils trieb er sie den See hinauf, so daß er vom
                                                       Eise befreit schien. Am 19. Februar konnten
                                                       die Dampfschiffe zwar mit Mühe Meersburg
                                                       erreichen. Am 20. 2. fuhr das bayrische und
                                                       württembergische Dampfboot, die seit dem 4.
                                                       Februar im Konstanzer Hafen lagen, in ihren
                                                       Heimathafen zurück. Vom 21. ab wurden die
                                                       Fahrten auf dem Obersee wieder fahrplanmä-
                                                       ßig ausgeführt.
                                                       50 Jahre früher hielt die Seegefrörne bei an-
                                                       dauernder Windstille und hohen Kältegraden
                                                       wochenlang an, so daß das Eis eine zuver-
      Bodensee-Übergang, die I. Gruppe                 lässige Tragfähigkeit erlangte. Auch damals
                                                       waren zwei Hagnauer die ersten, welche über
                                                       das Eis nach Altnau gingen, Sie wurden mit
      Dass nach diesem geglückten Gang über das
                                                       Denkmünze und Zeugnis für ihren Mut geehrt.
      Eis der schöne Brauch der Eisprozession nicht
                                                       Der eine von ihnen, und zwar der erste, der
      wieder erneuert und das Bildnis des hl. Johan-
                                                       drüben ankam, war Johann Wegis, genannt
      nes Evangelista in der Hagnauer Kirche von
                                                       Prinz Hanne, dessen Reckentum Hansjakob
      niemand abgeholt wurde, liegt nicht, wie es
                                                       bewundernd schildert.
      Hansjakob beklagt, daran, dass er in Verges-
      senheit geriet, sondern daß der Obersee nicht    Beinahe hätte der alte Volksglaube recht be-
      so fest zugefroren war, dass die Eisprozessi-    halten, daß alle fünfzig Jahre der Bodensee
      on ohne Gefahr für die zahlreichen Teilnehmer    zugefriert. Denn der Polarwinter von 1929 ließ
      hätte unternommen werden können. Denn            weite Buchten und Uferstreifen im Eis erstar-
      schon am nächsten Tag, dem 9. Februar, wur-      ren. Der Untersee, dessen mittlere Tiefe nur
      de bei hellem Sonnenschein das Eis hin- und      28 Meter beträgt, war ganz zugefroren, aber
      hergetrieben, daß es ganze Kanäle gab. Die       heftige Winde verhinderten, daß sich das Eis-
      gestern anekommenen Schweizer getrauten          fenster über dem Überlinger See und dem
      sich nicht mehr über das Eis an ihr heimatli-    Obersee schloß.
      ches Ufer. Sie marschierten nach Meersburg,
                                                       So vergingen seit der letzten Gfrörne 83 Jahre,
      gingen von da übers Eis nach Staad, wander-
                                                       bis das große Eis wieder kam. Schon in den
      ten nach Konstanz und erreichten mit der Ei-
                                                       letzten Dezembertagen 1962 hatte eine unun-
      senbahn ihren Heimatort.
                                                       terbrochene Kälte die Straßen vereist und Fuß-
      Von Hagnau wagte sich niemand mehr wei-          gängern wie Kraftfahrern das Leben schwer
      ter hinaus aufs Eis. Dagegen sah man um die      gemacht. Mitte Januar wurden auf dem Un-
      Mittagsstunde, wie ein Mann auf Schlittschu-     tersee Übergänge zwisehen der Mettnau und
      hen in größter Eile aus Richtung Güttingen       der Höri sowie zwischen der Insel Reichenau
      auf den Landungssteg von Schloß Kirchberg        und Allensbach abgesteckt. Zehn Tage später
      zufuhr, plötzlich einbrach und verschwand.       schloß sich die Eisdecke im westlichen Teil des
      Es war unmöglich, ihm Hilfe zu bringen. Eine     Überlinger Sees. Nach erneutem Temperatur-
      Woche blieb das Wetter und die Eisfläche fast    rückgang auf -11 Grad C verstärkte sich das
      immer gleich. Dann kam ein starker Nordwest-     Eis und dehnte sich weiter aus, so dass die
      wind, häufte die Eisplatten teils am Ufer auf,   Wasservögel, auf wenige offene Wasserstel-

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len zusammengedrängt, in große Not gerieten.
Am 1. Februar wurde der Schiffsverkehr zwi-
schen Überlingen und Dingelsdorf eingestellt.
Am gleichen Tag überschritten drei Burschen
zum ersten Male den Überlinger See auf die-
ser Strecke.
Am 5. Februar kam auch auf dem Obersee der
Schiffsverkehr zum Stillstand. Nur die beiden
Fähren zwischen Konstanz— Meersburg und
Friedrichshafen—Romanshorn setzten, wenn
auch mühsam und unter Behinderungen, ihre
Fahrten fort.                                      Die Seeüberschreitung, erste Gruppe
Um die Mittagsstunde des 6. Februar 1963
verbreitete sich die Nachricht, daß zwei Grup-
                                                  vier abmarschieren sah, packte mich die größ-
pen von jungen Hagnauern über das Eis das
                                                 te Lust mitzumachen. Ich eilte nach Hause,
Schweizer Ufer erreicht hatten. Wie sich der
                                                 steckte den Personalausweis ein, packte die
nicht ungefährliche Übergang im einzelnen
                                                 Schlittschuhe und betrat auf ihnen beim „Ad-
vollzog, darüber lassen wir am besten einen
                                                 ler“ das Eis. Die Sicht reichte etwa einen hal-
Teilnehmer von jeder Gruppe zu Wort kom-
                                                 ben Kilometer weit. Ich konnte die vier gerade
men:
                                                 noch im Dunst erkennen, hielt auf sie zu und
Hermann Urnauer, 32 Jahre alt, Vater von zwei    holte sie bald ein. Ein anderer Hagnauer, Josef
Kindern, Enkel der oben angeführten Berichte-    Ritter (17 Jahre), stieß noch zu uns. Er war al-
rin der Überquerung 1880, erzählt:               lein vor den ändern auf den See gegangen und
In den letzten Tagen, als durch die anhaltende   etwa drei Kilometer auf dem Eis vorgedrungen.
Kälte das Eis auf dem See sich immer mehr        Da er im Nebel die Orientierung verloren hatte,
ausdehnte, besprachen Klaus Winder (22 Jah-      kehrte er um und schloß sich uns an. Ich fand
re), Berthold Arnold (25 Jahre) und die Brüder   einen Haubentaucher, der erschöpft auf dem
Konrad (24 Jahre) und Manfred Maier (17 Jah-     Eise saß, hob ihn auf und brachte ihn zu einer
re) den Plan, über das Eis an das schweize-      offenen Wasserstelle am Ufer zurück, wo dicht
rische Ufer zu gehen. Am Mittwoch, dem 6.        beisammen noch viele Wasservögel schwam-
Februar 1963, gegen 9 Uhr 30, versammelten       men, die von den Uferbewohnern mit Küchen-
sie sich beim neuen Bootshafen am Ostaus-        abfällen gefüttert wurden. Schlittschuhfahrend
gang des Unterdorfes, ausgerüstet mit einem      holte ich meine Kameraden schnell wieder ein.
Davoser Schlitten, einem 40 Meter langen Seil,   Je weiter wir vordrangen, um so dicker wur-
einer ca. 14 Meter langen Leiter, einem Paar     de der Nebel. Langsam tasteten wir uns vor.
Skier, einem Kompaß, einem Fernglas, einer       Manfred Maier übernahm die Spitze. Er hatte
Trompete, einer Leuchtpistole, etwas Schnaps     das geringste Körpergewicht und die Skier an-
zum Einreiben und mit einem Matchsack, der       geschnallt, welche das Gewicht gleichmäßig
Unterwäsche für einen Mann enthielt. Um 9        auf dem dünnen Eis verteilten. Im Abstand von
Uhr 45 brachen sie auf.                          8—10 Schritten folgten im weiten Bogen, jeder
Ich hatte soeben meinen zweijährigen Bub zur     das Seil haltend, Win-
Kinderschule gebracht. Als ich die

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Fernglas das Ufer zu erkennen. Freudig mar-
                                                          schierten wir darauf zu, aber der Nebel nahm
                                                          immer mehr zu. Beim Näherkommen sahen
                                                          wir, daß es ein Schwarm „Tucherle“, d. h. Bel-
                                                          chen, waren, die sich in einer „Wunne“, d. h.
                                                          in einer Wasserlache, tummelten. Eine neue
                                                          Sorge überkam uns.
                                                          Der Duft des Eises ließ nach, es wurde tief-
                                                          schwarz. Wir nahmen an, daß es frisches Eis
                                                          sei. In einem Abstand von ca. 150 Meter zogen
                                                          wir an der rund 200 Meter langen Wasserstelle
                                                          entlang. Ich fuhr auf 100 Meter heran und be-
        Die erste Gruppe in Marschordnung hei der         kam einen heillosen Respekt davor. Im weiten
        Seeüberschreitung                                 Bogen umgingen wir sie und schlugen wieder
                                                          die bisherige Richtung — Kompaßkurs 210
      der, ich, Konrad Maier mit dem Schlitten,           — ein. Keiner sprach ein Wort. Da hörten wir
      Berthold Arnold und Josef Ritter, der die Leiter    plötzlich in der unheimlichen Stille die Eisen-
      auf dem Eise zog.                                   bahn fahren. Das gab uns neuen Auftrieb. Die
                                                          Eisfläche wurde rauher und daher schwieriger
      Wir hatten etwa zwei Drittel des rund sieben        zum Gehen und Schlittschuhfahren. Durch
      Kilometer langen Weges zurückgelegt, als die        den dichten Nebelvorhang bohrten sich unsere
      Lage kritisch wurde. Das Eis federte beim Ge-       Blicke, aber wir konnten vom Schweizer Ufer
      hen stark und krachte dabei. Wir blieben ste-       nichts erkennen. Angespannt marschierten wir
      hen und schauten einander mehr angstvoll als        weiter. Da — es war gegen einhalb zwölf Uhr
      mutig an. Wir konnten nicht zusammentreten,         — entdeckten wir dunkle, senkrechte Striche in
      um zu beraten, was zu tun sei. In dem Duft, der     der weißgrauen Wand. Wir hielten darauf zu,
      wie dünner Schnee auf dem Eise lag, zeich-          blieben fünf Minuten lang stehen, horchten und
      neten sich unsere Tritte und die Spuren der         spähten, aber die Striche bewegten sich nicht.
      Schnee- und Schlittschuhe deutlich ab. Um die       Neugierig rückten wir weiter; nach zehn Minu-
      Festigkeit des Eises zu prüfen, hüpfte Man-         ten erkannten wir in diesen dunklen Schatten
      fred Maier, der die ganze Strecke die Spitze        Pappeln, die in langer Reihe das Ufer säum-
      innehatte, mit den Skiern von Zeit zu Zeit in die   ten.
      Höhe. Zum Glück hielt das Eis immer. So auch
      diesmal. Frohgemut zog er weiter, und wir folg-     Das Eis wurde holpriger, breite Platten waren
      ten ihm mit neuer Zuversicht.                       aufeinander geschichtet. Wir erklärten uns das
                                                          so, daß der Ostwind, der vor mehreren Tagen
      Um 11 Uhr vernahmen wir das Läuten einer            wehte, das Eis zerschlagen und plattenweis
      Glocke. Dem Klang nach konnten wir nicht            zusammengeschoben hatte. Zwischen den
      mehr allzu weit vom Schweizer Ufer entfernt         Pappeln entdeckten wir auch ein Haus. Weit
      sein. Aber wir konnten nicht feststellen, ob die    und breit war kein Mensch zu sehen. Jetzt
      Glockentöne aus Altnau oder Güttingen her-          konnten wir uns nicht mehr halten. Jubelnd
      überdrangen. Nach kurzer Zeit entdeckten wir        stürmten wir auf das nahe Ufer zu. Ein Hund
      auf dem Eis durch den milchig-grauen Dunst          schlug an. Dann erschien ein Mann und zwei
      einen dunklen Schatten. Konrad Maier glaub-         Frauen. Als sie uns erblickten, verschlug es ih-
      te, mit dem                                         nen die

180
Sprache. Wir sagten, daß wir von Hagnau kä-       Eis nur mühsam vorankam, fuhr dann über
men. Sie wollten es nicht fassen, daß man am      die Grenze, Kreuzlingen, Münsterlingen nach
zweiten Tag, nachdem sich das Eis geschlos-       Altnau, wo er um 13 Uhr eintraf. Beim Zöllner
sen, über den See kommen konnte.                  erkundigte er sich, ob die Hagnauer Eisgän-
                                                  ger schon angekommen seien. Er wußte von
Es war fünf vor zwölf Uhr, als uns die Wirts-
                                                  nichts. Darauf fuhr er an den Strand bei dem
leute „Zum Schiff“ in Güttingen in ihre warme
                                                  Altnauer Bootshafen. Er kam gerade recht,
Stube führten. Gastfreundlich boten sie uns ihr
                                                  um die zweite Gruppe Hagnauer zu begrüßen,
Mittagessen an. Es war ein prima Gulasch mit
                                                  welche, nach einem Einbruch im Eis aufgehal-
Kartoffelstock, der uns vorzüglich schmeckte.
                                                  ten, eben im Nebel auftauchten und Schweizer
Zuerst aber ging ich ans Telefon. In zwei Mi-
                                                  Boden betraten. Von einem Gendarm erfuhr er,
nuten hatte ich die Verbindung mit Hagnau.
                                                  daß schon eine Gruppe Hagnauer in Güttingen
Als sich mein Vater meldete, teilte ich ihm
                                                  angekommen sei und daß Herr Raggenbass
unsere glückliche Ankunft in Güttingen mit.
                                                  im „Schiff“ bei ihnen weile. So kam er zu uns
Inzwischen verständigte Schiffswirt Egloff die
                                                  mit der Freudenbotschaft, daß auch die ändern
Behörde. Als erster erschien der Reporter der
                                                  Eisläufer ihr Ziel erreicht hatten.
in Zürich erscheinenden Tageszeitung „Blick“,
der über Zürich durch Funk verständigt, von       Gegen 14 Uhr wollten wir zu ihnen im VW-
Romanshorn im Auto hergefahren war. Er be-        Bus fahren, da ging die Tür auf, und herein
grüßte uns mit der Frage: „Seid Ihr die Wahn-     trat das 13jährige Bürschlein Gusti Knoblauch
sinnigen, die über das Eis gekommen sind?“        mit dem Gruß „Tag miteinand!“ Auf die Frage
Er spendete uns drei Flaschen Wein, und nun       „Wo kommst denn du her?“ meinte er trocken:
hub ein Fragen und Erzählen an über unser         „Über den See wie Ihr auch.“ Als er von der
Abenteuer. Dann besprachen wir die Rück-          Schule nach Haus gekommen war, schlich er
kehr, sie sollte um 13 Uhr 45 beginnen und        sich heimlich weg, folgte unsern Spuren und
auf der alten Strecke uns heimführen. Aber der    erreichte in zwei Stunden die Wirtschaft „Zum
Wirt kündigte die Ankunft eines Behördenver-      Schiff“.
treters an. Der kam bald. Es war Herr Statt-
                                                  Im Bus nahmen wir ihn mit nach Altnau und
halter (Landrat) Raggenbass aus Kreuzlingen
                                                  beglückwünschten in der „Krone“ unweit des
und der Ortspolizist in Zivil. Er begrüßte uns
                                                  Hafens unsere Konkurrenten.
freundlich, erkundigte sich nach dem Verlauf
unseres Marsches und anerkannte unsern Mut        Wie es ihnen erging, erzählt Albert Berger, 40
und erklärte nach Aufnahme unserer Persona-       Jahre alt, Vater eines Kindes:
lien, er könne es nicht verantworten, daß wir
                                                  Am Mittwoch, den 2. 2., begab ich midi um 8
über das Eis zurückkehrten, weil die Uferge-
                                                  Uhr an das nahe Ufer beim neuen Bootsha-
meinden bei einem Unfall haftpflichtig seien.
                                                  fen und traf mehrere Kameraden. Wir bespra-
Während dieser Unterhaltung, die sehr freund-     chen den Plan, den Marsch über das Eis in die
lich verlief, erschien zu unserer Überraschung    Schweiz zu wagen. Rasch wurden wir einig und
der Stellvertreter des Hagnauer Bürgermei-        holten zu Hause Kleider, Wäsche und was wir
sters Hermann Ehrlinspiel. Er war um 10 Uhr       für notwendig hielten. Inzwischen hatten zwei
30 mit zwei Begleitern in seinem VW-Bus           ein kleines Kunststoffboot herbeigeschafft.
zur Fähre nach Meersburg gefahren, muß-           Aus vier Schlitten und mehreren Brettern, die
te aber bis 12 Uhr warten, da sie durch das       wir längs und quer auf die Schlitten nagelten,
                                                  bauten wir ein Unterlager für das Boot.

                                                                                                   181
Hinein packten wir ein Paar Wasserskier, fünf       Auf dem Eis fanden wir vereinzelt Belchen,
      Paar Schneeschuhe, einen kleinen Pickel,            Möwen und Haubentaucher. Sie waren festge-
      mehrere Seile von insgesamt ca. 200 Meter,          froren und schon tot. Eine Möwe lebte noch.
      dazu die mitgebrachten Kleider und Wäsche.          Wir wickelten sie in einen Anorak und legten
      Auch eine Leiter mit 28 Sprossen (ca. 10 Meter      sie ins Boot. Es wurde etwas heller, und ganz
      lang) hatten wir herbeigeschafft und darunter       schwach zeigte sich durch den Nebel die Son-
      einige Dachlatten als Kufen genagelt. Etliche       ne in unserer Marschrichtung. Also waren wir
      hatten ein „Butele“ Schnaps eingesteckt, nicht      sicher, den rechten Weg eingeschlagen zu
      zum innern Gebrauch, sondern um sich damit          haben. Von der Gruppe, die vor uns aufgebro-
      einzureiben,, wenn wir mit dem Wasser Be-           chen war, fanden wir nirgends eine Spur, ob-
      kanntschaft machen würden. Der benachbarte          gleich wir oft Ausschau hielten. Wenn das Eis
      Fischer Winder überließ uns seinen Kompaß           schwankte, beschleunigten wir unsere Schrit-
      und stellte für unsere Marschrichtung den Kurs      te. Wir glitten und schlitterten rasch über das
      210 fest.                                           Eis hin, um so das harte Aufsetzen unserer
                                                          Schuhe beim Gehen zu vermeiden. Trotzdem
      Die Aufstellung der Teilnehmer zeigt das Pho-
                                                          trat Oskar Ehrlinspiel mit einem Fuß durch die
      tobild.
                                                          dünne Eisdecke und sank bis zur Wade ein.
      Um 10 Uhr 30 zogen wir los. Wir kamen gut
                                                          Ungefähr nach jedem Kilometer machten wir
      voran. Das Eis knirschte und federte unter dem
                                                          eine kleine Pause, in der Kress mit dem Kom-
      Gewicht der Schlitten und des Bootes. Locke-
                                                          paß unsere Richtung nachprüfte und die Stär-
      rer Schnee bedeckte einen Zentimeter das
                                                          ke des Eises maß. Mit dem Pickel schlug er
      Eis und erleichterte uns das Gehen. Die Sicht
                                                          ein Loch hinein und stellte sie mit dem Finger
      reichte etwa 100—200 Meter. Kress führte den
                                                          fest. Sie schwankte zwischen 2,5—3,5 Zenti-
      Kompaß und gab den Kurs an. Der Spitzenrei-
                                                          metern. Immer wieder stießen wir auf Eiswälle,
      ter Stärk fuhr mit dem Fahrrad oft 100 Meter
                                                          die 2—3 Meter breit, ein Meter hoch und etwa
      voraus. Franz Müller schob die Leiter an einer
                                                          20—30 Meter lang waren. Bei der schlechten
      hol- menartig festgenagelten Latte auf dem Eis
                                                          Sicht glaubten wir, daß es sich um einen Land-
      vor sich her, bald aber band er sie an das Fahr-
                                                          streifen handle. In der Nähe glänzten diese Er-
      rad, was weniger Mühe kostete.
                                                          hebungen, die von Eisstauungen herrührten,
      Wir waren etwa 1500 Meter vom Ufer entfernt,        wie Kristall. Sie waren uns ein Beweis, daß hier
      als wir hinter uns einen Schatten erblickten. Wir   das Eis eine große Sicherheit bot. Wenn wir
      warteten sein Kommen ab. Es war Fischhänd-          sie erblickten, riefen wir einander zu: „Packeis“
      ler Precht (35 J.) auf Schlittschuhen. Er zog ei-   und eilten freudig darauf los.
      nen Schlitten, der mit zehn Flaschen Hagnauer
                                                          Um 11 Uhr 45 kamen wir an eine schwache
      Wein beladen war, hinter sich her. Da er ganz
                                                          Stelle. Das merkte man immer daran, wenn
      erschöpft war, ließen wir ihn samt Schlitten in
                                                          das Eis unter den Füßen nachgab. Um nicht
      un- serm Boot Platz nehmen. Stellenweise war
                                                          einzubrechen, riefen die Kameraden vorn:
      das Eis uneben und huppelig. Das kam davon,
                                                          „Schneller, schneller!“ Plötzlich spürte ich an
      daß sich Eisplatten übereinander geschoben
                                                          meinem Seil einen starken Ruck, ich blickte
      hatten. Nach etwa 500 Meter stieg Precht aus
                                                          zurück. Das Boot war mit dem Unterlager ein-
      dem Boot und Heinz Ganser nahm darin Platz.
                                                          gebrochen und schwamm im Wasser. Die vier,
      Wir waren bei guter Stimmung und vergnüg-           die es schoben, hatten sich mit nassen Füßen
      ten uns mit dem Singen von Marschliedern.           hineingerettet. Nun

182
überlegten wir, wie wir es wieder auf das Eis
zurückbringen könnten. Der Spitzenreiter mit
der Leiter wurde herbeigerufen. Wir schoben
die Leiter quer vor das Boot; über sie stiegen
die Insassen einer nach dem ändern aus und
stellten sich seitlich vom Boote auf, nachdem
jeder zur besseren Gewichtsverteilung Skier
angeschnallt hatte. Mit zwei Seilen versuchten
sie auf den Ruf „Hoh ruck!“ das Boot auf das
Eis zu ziehen. Aber es gelang nicht; denn je-
desmal brach das Eis und vergrößerte die Öff-
nung. Schließlich kletterte Precht über die Lei-
ter ins Boot und schnitt mit dem Taschenmes-         Bodensee-Übergang, die II. Gruppe bei der
ser die Stricke durch, die es mit dem Unterla-       Vorbereitung
ger verbanden. Drei Schlitten und die Bretter
hob er ins Boot, trat auf die Leiter und wuchtete
das Boot mit dem Bug darauf. Mit vereinten          schafter winkte uns und wies uns an, die westli-
Kräften gelang es, wobei ein möglichst großer       che Richtung parallel zum Ufer einzuschlagen.
Abstand gewahrt werden mußte, das Boot auf          Flott marschierten wir, immer das Boot ziehend
das Eis zu schaffen. Auf einem in der Nähe be-      und schiebend, etwa einen Kilometer in der
findlichen niederen Packeisstreifen bauten wir      angegebenen Richtung und bogen dann nach
Unterlager und Boot wieder zusammen. Den            Süden direkt auf den kleinen Hafen von Altnau
vierten Schlitten sowie die Leiter mußten wir       zu. Zu unserer größten Überraschung erblick-
zurücklassen, da es uns zu gefährlich schien,       ten wir einen kleinen Bus am Ufer. Unmittelbar
sie zu bergen. Dies Mißgeschick hatte uns           bei der Mole winkte ein Mann. Da wußte ich,
eine Stunde Zeit gekostet.                          daß es Hermann Ehrlinspiel war; denn vor un-
                                                    serm Aufbruch hatten wir von seiner geplanten
Bevor wir weiterzogen, hielten wir in südlicher     Fahrt gehört.
Richtung Ausschau. Durch die diesige Wand
gewahrten wir ganz schwach in regelmäßigen          Um 13 Uhr 15 betraten wir den festen Boden
Abständen senkrechte Schatten, die wir als          der Schweiz, freudig begrüßt von unserm Vi-
eine Pappelreihe ausmachten, welche dem             zebürgermeister und seinen zwei Begleitern.
Uferweg entlanglief. Etwas näher bemerkten          Wir gingen in den nahen Gasthof „Zur Krone“
wir zwei größere und eine kleinere Gestalt. Un-     und trafen mehrere Schweizer, die aufs äu-
sere gedämpfte Stimmung verwandelte sich in         ßerste verwundert waren. Die zehn Flaschen
Lreude. Walter Stärk fuhr mit dem Fahrrad auf       Wein hatten wir mitgebracht und stießen nun
sie zu. Es waren zwei Männer mit einem Hund.        frohbewegt auf das über- standene Abenteuer
Sie mochten etwa 300 Meter vom Ufer entfernt        an. Unsern Angehörigen meldeten wir sogleich
sein.                                               telefonisch unsere glückliche Ankunft.

Er grüßte sie, sagte ihnen, daß wir von Hagnau      Alsbald kamen Herr Bezirksstatthalter Rag-
kämen, und fragte nach dem Weg nach Altnau          genbass, Herr Gemeindeammann Roth und
und der Beschaffenheit des Eises. Sie waren         sein Polizist und drückten uns die Hände. Wir
erstaunt und eilten sogleich mit der Neuigkeit      überreichten ihnen sowie dem Kronenwirt je
ins Dorf. Unser Kund-                               eine Flasche Wein, auf deren Etikett wir unse-
                                                    re Namen geschrieben hat-

                                                                                                       183
Den eingerahmten Stahlstich händigte er uns
                                                        aber nicht aus, weil die Schuljugend von Alt-
                                                        nau ihn nach Hagnau in den nächsten Tagen
                                                        bringen solle. Das geschah auch, wie der Ver-
                                                        merk unter obiger Widmung beweist: „Das Bild
                                                        wurde heute von 60 Schülern und drei Lehrern
                                                        der Sekundarschule Altnau über das Eis nach
                                                        Hagnau zurückgebracht.
                                                        Hagnau, den 9. Februar 1963
                                                        			                     Hans Reich
                                                        			                     Sibylle von Hold
                                                        			                     Suzi Schmid“
                                                        In unserm Namen bedankte sich Walter Kress
                                                        für den freundlichen Empfang und wies auf die
                                                        guten nachbarlichen Beziehungen zwischen
                                                        den beiden Ufergemeinden hin. Dann servierte
                                                        man uns ein kräftiges Essen, das Herr Statt-
                                                        halter Raggenbass bestellt hatte und das uns
                                                        vortrefflich mundete. Um 14 Uhr 30 erschien,
      Die zweite Gruppe vor dem Gasthaus „Zur Krone“    von Hermann Ehrlinspiel im Bus herbeigeholt,
      in Altnau                                         die erste Gruppe, die eine Dreiviertelstunde
                                                        mit weniger Gepäck vor uns gestartet war, aber
                                                        zwei Kilometer nach Osten abgekommen, kurz
      ten. In seiner Ansprache erinnerte uns der        vor 12 Uhr Güttingen erreicht hatte. Es war ein
      Altnauer Bürgermeister daran, daß im Schul-       freudiges Wiedersehen und ein lebhafter Aus-
      haus seit 1830 genau vom gleichen Tag ein         tausch der Erlebnisse.
      Christusbild aufbewahrt sei. Er hatte es mitge-   Plötzlich rief einer, zum Fenster gewandt: „Da-
      bracht und las uns die Widmung vor. Sie lautet:   hinten kommen noch mehr!“ Tatsächlich kam,
      „Am 6. Februar 1830 gingen die Hagnauer           wie der „Blick“-Reporter S:gi Maurer schreibt,
      Schulkinder, 100 an der Zahl, nach Altnau und     „im hellen Dunst die deutsche Invasion über
      brachten das Bild des Heilandes mit über die      das Schwabenmeer“. Mit Windeseile hatte
      Eisfläche mit der Bitte, das Bild möchte die      sich die Freudenbotschaft von der glückli-
      Schule zu Altnau als ein Angedenken dieser        chen Seeüberquerung in Hagnau verbreitet.
      seltenen Begebenheit aufbewahren, bis der         Nun begann eine Wanderung über das Eis zu
      Bodensee einst wieder überfrieren wird, wo un-    Fuß, mit Fahrrädern und Schlittschuhen. Drei
      sere Nachkommen von den Nachbarn Altnaus          Radfahrer, Leitern hinter sich herziehend, er-
      dasselbe wieder über den See holen werden.        öffneten den aufgelockerten Zug. Meist waren
                                                        es Jugendliche und Schüler, die den gut sicht-
      Hagnau, den 6. Februar 1830
                                                        baren Spuren im Schnee folgten. Die leichte
      Vogt Ainser“                                      Schneedecke verhinderte auch den Blick in die
                                                        schwarze Tiefe des Seegrundes. Hätte blan-
      (Urgroßvater des derzeitigen Hagnauer Bür-
                                                        kes Eis die
      germeisters Felix Ainser)

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Hagnau mit den Wegen der Eisübergänge der
Gruppe I und II sowie der Eisprozession

sen Blick freigegeben, sicherlich wären die mei-   Eises mit ihrem Gefolge nach Meersburg und
sten zurückgeblieben. Wie von einem Rausch         trafen gegen 17 Uhr in ihrem Heimatort ein,
gepackt, hasteten sie in Sprüngen, schlitternd     freudig begrüßt von den Bewohnern, die sich
und schleifend in knapp einer Stunde über die      an der Schiffslandestelle versammelt hatten.
Eisbahn. Zusammen mit den beiden Gruppen
                                                   Vom nächsten Tag an begann ein ungeheurer
waren nach und nach 57 Hagnauer in Altnau
                                                   Zulauf und eine Wanderung über den See von
versammelt.
                                                   beiden Ufern. Manch ergötzliche Episode wäre
Da die Schweizer Behörden den Rückweg              zu berichten. So machte sich eine Hagnauer
nicht verantworten konnten, bestellten sie ei-     Familie auf den Weg in die Schweiz. Nach
nen Omnibus, dessen Kosten die Gemeinde-           dreistündigem Marsch fand sie sich schließlich
verwaltung Hagnau später beglich. Er brachte       im Nebel einige hundert Meter unterhalb der
sie an die Grenze und zur Fähre nach Kon-          Ausgangsstelle wieder am heimischen Strand.
stanz-Staad. Die erstangekomme- nen Eisläu-        Die Nachbarn von drüben kamen zunächst
fer fuhren, mit Kaffee und Schokolade von den      einzeln, angetan mit Rettungsringen, Luftma-
gastfreien Nachbarn beschenkt, im Kleinbus         tratzen, Tauen u. a., dann in größeren Scha-
voraus. Ehe die zweite Gruppe die Fahrt an-        ren. Verschlossen und schweigsam schritten
trat, schafften sie ihr Boot an Land. Es wurde     sie einher, zielten nach den Weinstuben und
wie die Leiter bei einem späteren Besuch zu-       schlürften voll Behagen den Weißherbst und
rückgebracht, der vierte Schlitten war in die      Ruländer. Er löste ihnen die schweren Zungen;
Tiefe gesunken. Mit einer der letzten Fähren —     sie waren gesprächig und sangesfroh, wenn
am nächsten Tag wurde der Verkehr eingestellt      sie gegen Abend den Heimweg an-
— gelangten die Erstbezwinger des Obersee-

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traten. „Ihr habt en guete Wi“, meinte einer, er   9. März versuchten die Fährschiffe eine Rinne
      wolle schnell heim, um das Vieh zu besorgen,       nach Meersburg aufzubrechen, aber ohne Er-
      dann komme er gleich wieder. Ein anderer           folg. Es gelang erst am 15. des Monats. Nach
      bestieg schwankend sein Velo und steuerte          66tägiger Unterbrechung nahmen die Schiffe
      slalomartig Altnau zu. Dabei geriet er in eine     der Bundesbahn am 7. April auf dem Obersee
      Spalte, und ehe er sich von dem Sturz erholt       ihre Fahrten wieder auf. Anderwärts hatte der
      hatte, war sein Fahrrad unter das Eis gerutscht    See auch vier Opfer gefordert. Wider Erwarten
      und versunken. Es schlossen sich viele Bande       waren die Schäden durch das Eis gering.
      freundnachbarlicher Verbundenheit, die, durch
                                                         So begeistert die Seehasen das große Eis be-
      gegenseitige Besuche enger geknüpft, zu dau-
                                                         grüßt hatten, sie freuten sich nicht minder, als
      ernden menschlichen Beziehungen führten.
                                                         der See, aus der Todesstarre erwacht, wieder
      Der Höhepunkt all dieser Begegnungen wurde         zu atmen begann, das Plätschern, Rauschen
      die Eisprozession am Dienstag, dem 12. Fe-         und Schlagen der Wellen zu vernehmen war
      bruar. Ob Pilger oder Zuschauer, die zu Tau-       und das rhythmische Tacken der Fischerboo-
      senden herbeigeströmt waren, alle waren von        te neue Nahrung verhieß. Für die Hagnauer
      der tiefen Bedeutung dieses säkularen und          aber war es die größte Überraschung, daß der
      weihevollen Ereignisses ergriffen.                 Eiswinter 1963 ihren Reben keinen Schaden
                                                         zugefügt hatte.
      Ein erneuter Kälteeinbruch dehnte die Eiszeit
      1963 bis über die erste Märzwoche hinaus. Am

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