Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen
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MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen Aufsätze Wie digitalisiert war der Bundestagswahl- Mitglieder und Wähler deutlich, die unter dem mas- kampf 2021? Zwölf Thesen siven Druck der Corona-Pandemie vollzogen wur- den. Alle Parteien haben mit der Bundestagswahl Gerhard Vowe1 und mit den Wahlen in den Corona-Wellen davor ge- lernt, eine Wahl digital zu organisieren: Gremiensit- zungen, Listenaufstellungen in den Parteigliederun- Der Bundestagswahlkampf 2021 war mit seinen gen, Schulungen der Kandidaten und Wahlkämpfer, Aufs und Abs spannend und voller Überraschungen Programmdebatten und Führungskämpfe auf Partei- – etwa die unerwartet geringe Bedeutung der Pande- tagen, innerparteiliche Absprachen, überparteiliche mie gegen Ende oder die starke Zentrierung um die Agreements, Akquisition von Spenden und große politische Mitte. Im Folgenden geht es um einen spe- Teile der Wahlkampagne selbst. Das Know-How ist ziellen Aspekt: Was zeigt uns der Bundestagswahl- jetzt da – bei Führung und Apparat, aber auch bei kampf 2021 unter dem Aspekt der Digitalisierung? Mitgliedern und Bürgern. In den frühen Phasen wur- War er eher eine Fortsetzung der Tradition oder ein den die Beteiligten durch die Pandemie in die Digi- Durchbruch für Innovation?2 talität gezwungen, und dies hat insgesamt einen Durchbruch der Digitalisierung in der Wahlkommu- Mit zwölf Fragen soll erfasst werden, wie sich die nikation zur Folge gehabt. Kommunikation im Dreieck von Parteien, Wählern und Medien während des Wahlkampfes im Hinblick In der heißen Schlussphase hingegen entspannte sich auf Digitalisierung gestaltet. Die Antworten beruhen die Infektionslage, und die Pandemie prägte nicht nicht auf einer systematischen Erhebung und Aus- mehr so wie bei den Landtagswahlkämpfen im Früh- wertung von Daten, sondern sollen eben dies als jahr den Wahlkampf. Weder dominierte das Corona- Thesen vorbereiten, indem sie die digitalen Aspekte thema, noch beherrscht der Infektionsschutz die Kam- des Bundestagswahlkampfs 2021 (BWK21) diffe- pagnen, noch hatte Corona massiven Einfluss auf Prä- renzieren und zu einer strukturierten Diskussion an- senz oder Performanz der Spitzenkandidaten. Aller- regen. Daraus kann dann empirische Forschung her- dings wurden auch in der Schlussphase für viele For- vorgehen.3 mate digitale Backups vorbereitet, etwa Veranstal- tungen zusätzlich gestreamt. Außerdem nahmen die (1) War Corona ein Katalysator der Digitalisierung Parteien die Briefwähler mit gesonderten digitalen des Wahlkampfs? Ansprachen ins Visier. Durch die sprunghafte Zu- nahme der Briefwahl wurde der Zeitraum für Wahl- Betrachtet man den ganzen Prozess der Bundestags- entscheidungen wesentlich nach vorne verlängert wahl von der Kandidatenaufstellung in den Parteien – mit noch unklarer Wirkung auf das Wahlergebnis. bis zur Koalitionsbildung, so werden die steilen Lernkurven der Parteiorganisationen, aber auch der Antwort auf die Frage also: Corona beschleunigte enorm die Digitalisierung und damit auch die Profes- 1 Prof. Dr. Gerhard Vowe ist Seniorprofessor für Kommunika- sionalisierung von Wahlen und Wahlkämpfen, auch tionswissenschaft im Institut für Sozialwissenschaften an der wenn die Schlussphase des BWK21 davon weniger Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und im Department of geprägt wurde. Ethical, Legal & Social Implications des Center for Advanced Internet Studies (CAIS) in Bochum tätig. 2 (2) War Digitalisierung ein Treiber für Polarisie- Unter Digitalisierung wird hier eine Veränderung der Kom- munikation verstanden, bei der ein zunehmender Anteil der in rung? der Kommunikation verwendeten Zeichen binär codiert ist, also Unter Polarisierung ist eine Veränderung der politi- direkt oder indirekt auf dem Code von Null und Eins beruht (Grimm & Delfmann, 2017). Auch der digital basierte Anteil schen Auseinandersetzung zu verstehen, bei der die der politischen Kommunikation wird immer größer und kann politische Mitte abnimmt und die Ränder zunehmen. mit Hilfe von vernetzten Computern produziert, übertragen, Die Unterschiede zwischen den politischen Positio- gespeichert, genutzt und bearbeitet werden. Ein Indikator für nen werden größer, und die Sicht der jeweils ande- Digitalisierung ist die Verschiebung der Nutzungszeiten von ren Position wird negativer (Neubaum, 2021). Dieser klassischen zu internetbasierten Medien. Mit der Digitalisie- rung geht ein struktureller Wandel der politischen Kommuni- Prozess hängt eng mit digitaler Kommunikation zu- kation in allen ihren Facetten einher (siehe dazu Vowe, 2020). sammen. Die digitalen Medien bieten hervorragende 3 Der Beitrag ist unmittelbar nach der Bundestagswahl im Ok- Möglichkeiten, die Polarisierung zum Ausdruck zu tober 2021 entstanden. Ich danke Christine Buse für Hilfe bei bringen und sie damit zu verschärfen. Denn Meinun- der Recherche und Matthias Begenat, Christoph Bieber, Josef gen können vielfach anonym oder pseudonym geäu- Haschke, Ole Kelm, Nils Kleibrink und Thomas Poguntke für hilfreiche Hinweise zu einer früheren Fassung. ßert werden, die zeitlichen, finanziellen und sozialen doi:10.24338/mip-2021215-229 215
Aufsätze Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 Kosten für expressive Äußerungen sind gering, und Laschet gegeben hat. Aber diese verfingen nicht scharfe und schrille Verlautbarungen werden durch in dem Maße, wie es etwa 2017 der Fall war, als der hohe Aufmerksamkeit belohnt – alles das fördert die Wahlkampf thematisch auf Migration und personell Ränder und nicht die Mitte. Umgekehrt ermuntert auf Angela Merkel fokussiert war. die Schärfe der Auseinandersetzung zu schnellen Antwort also: Grundsätzlich korrelieren die beiden und verkürzten Botschaften. Dadurch entsteht eine Tendenzen positiv, sie treiben oder sie dämpfen sich Spirale wachsender digitaler Erregung (Pörksen, wechselseitig. Je höher oder niedriger die Polarisie- 2018). Polarisierung und Digitalisierung korrelieren rung, desto höher oder niedriger die Digitalisierung. deshalb grundsätzlich positiv – sie treiben sich Dieser Wahlkampf bildet somit die Gegenprobe zur wechselseitig voran. Spirale digitaler Erregung: Da der BWK21 wenig Von dieser Spirale war in diesem Wahlkampf wenig polarisiert war, gingen davon keine Impulse für die zu spüren. Überraschend war der geringe Grad an Digitalisierung aus; umgekehrt ist nicht erkennbar, Polarisierung. Es war kein Lagerwahlkampf. Im dass im Verlauf des BWK21 eine intensivierte Nut- Ergebnis entfallen auf die Mitte 75% der Stimmen, zung digitaler Medien die Polarisierung vorangetrie- auf die politischen Ränder mit den Linken und der ben hätte. AfD 15% und auf die Splitterparteien 10%. Sicher- lich gibt es in der Mitte deutliche programmatische (3) Wie digitalisiert war die Top Down-Kommuni- Unterschiede, etwa zum Verhältnis von Staat und kation zwischen Parteien und Wählern? Markt. Aber die Gemeinsamkeiten sind groß, und In der Wahlkommunikation der Parteien und Kandi- grundsätzlich können alle in der Mitte koalieren. daten mit den Wählern lassen sich drei Grundtypen Entsprechend integrativ traten alle Spitzenkandidaten von Formaten unterscheiden und im Hinblick auf der Mitte auf. Und auch die Wähler waren bereit, Reichweite, Kontrollgrad und Digitalisierung cha- zwischen den Parteien der Mitte zu wechseln: Sehr rakterisieren. viel mehr Menschen als früher konnten sich durchaus vorstellen, verschiedene Parteien zu wählen, aller- Auf der einen Seite des Spektrums werden massen- dings nicht die am rechten und linken Rand. Da sich mediale Formate im One-To-Many-Modus genutzt, nicht zwei scharf konturierte Lager bekämpften, um Wahlbotschaften an ein breites Publikum zu ver- blieben der Stellenwert normativ aufgeladener The- mitteln, und zwar men und das Ausmaß der Empörung begrenzt. Identi- – stark durch die Parteien kontrollierbare Formate tätspolitik blieb außen vor, sowohl in der linken als wie TV-Spots, Plakate, Presseanzeigen, Kundge- auch in der rechten Variante. Klassische Verteilungs- bungen, Webseiten und Parteiseiten in sozialen konflikte dominierten kulturelle Wertkonflikte. Auch Netzmedien; beim Klimaschutz ging es vor allem um die Vertei- lung der Lasten. Damit korrespondiert, dass der An- – weniger stark kontrollierbare Formate wie die teil der negativen Wahlkampfbotschaften begrenzt Trielle und im TV übertragene Town Hall-Mee- blieb: Insgesamt priesen die meisten Akteure stärker tings, in denen den Kandidaten innerhalb strikter die Vorzüge der eigenen Position als sie die Nachtei- Regeln ein großer Spielraum zugestanden wird; le der anderen Positionen schmähten. Umso überra- – wenig durch die Parteien kontrollierbare Formate schender war der Versuch der Union, gegen Ende wie die journalistische Wahlberichterstattung in mit Warnung vor einer Linksregierung einen Last den klassischen Medien oder in journalistischen Minute-Swing herbeizuführen. Auch die persönli- Online-Angeboten. chen Angriffe auf Spitzenkandidaten hielten sich Alle drei Formatgruppen wurden im BWK21 durch insgesamt in engen Grenzen, wenn man den BWK21 die Parteien weiter digitalisiert. Eine Intention dabei mit Wahlen früher oder woanders vergleicht. ist, die Reichweite zu erhöhen, etwa indem Kundge- Dies alles dämpfte die digitale Erregung. Denn bungen gestreamt werden. Wachsende Bedeutung hat wenn die Stimmung sich stärker aufgeheizt hätte, gewonnen, diejenigen kontinuierlich mit Informatio- wären vermehrt digitale Instrumente genutzt worden nen zu versorgen, die den Seiten von Parteien und – aus expressiven und aus strategischen Motiven. Je Kandidaten in sozialen Netzmedien folgen, darunter schriller, desto mehr Reaktionen, desto schneller gerade auch diejenigen, die nur noch über soziale hätte sich die Spirale der Erregung gedreht. Dem war Netzmedien erreicht werden können (Hölig et al., aber nicht so. Dies schließt nicht aus, dass es einige 2021; Wiederholz et al., 2021). Dabei konzentrieren konzertierte digitale Angriffswellen gegen Baerbock sich die Parteien nach wie vor stark auf Twitter, also 216 doi:10.24338/mip-2021215-229
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen Aufsätze auf ein Netzmedium der Elite. Mit der Digitalisie- sierung hat gerade in diesem Bereich besonders ge- rung dieser Formate verbindet sich die Intention, den griffen. Denn die Formate basieren auf Daten, um Kontrollgrad zu erhöhen, etwa indem unmittelbar die Gruppen zu bilden. Je mehr Datenpunkte man nach den Triellen Ausschnitte an Journalisten mit von einer Person hat, desto genauer kann man schät- Kommentaren geschickt werden, um die Berichter- zen, wofür sie sich interessiert und wie sie sich ver- stattung über die Trielle zu beeinflussen. Hinzu hält (Kosinski et al., 2013). Daraus hat sich Micro- kommen weitere Vorteile digitaler Verbreitung: So targeting als digital gestützte Marketingstrategie ent- können multimediale Botschaften schnell und kos- wickelt (Castleman, 2016; Lundry, 2012; Nickerson tengünstig produziert und verbreitet werden; vor al- & Rogers, 2014). Damit ist die Illusion individuali- lem können dabei Daten über Rezeption und Rezipi- sierter Botschaften verbunden, tatsächlich bleiben es enten gewonnen werden. aber standardisierte Botschaften an eher grob zuge- schnittene Gruppen. Die Modelle dafür werden stän- Auf der anderen Seite des Spektrums von Top dig verbessert, auch durch den Einsatz von Künstli- Down-Kommunikation stehen Formate der inter- cher Intelligenz. Dies wird durch Agenturen und personellen Wahlkommunikation im One-To-One- Plattformen als Geschäftsmodell betrieben – ganz Modus zwischen Kandidaten und Wählern. Bei eini- überwiegend für Wirtschaftskommunikation. gen dieser Formate, wie die Ansprache von Wählern an Ständen, per Telefonanruf oder an der Haustür, Antwort also: Im BWK21 hat die Digitalisierung aller können zumindest die Botschaften und die Bedin- Formate der Top Down-Kommunikation merklich gungen stark durch die Kandidaten kontrolliert wer- zugenommen und dadurch zugleich die Reichweite den, wenn auch nicht die Reaktionen der Gesprächs- und die Kontrollierbarkeit der Top Down-Kommuni- partner. Andere Formate können nur schwach durch kation erweitert. Diese Steigerung der Effizienz ge- die Parteien kontrolliert werden wie die Vielzahl von lang insbesondere durch neue Formate der Gruppen- spontanen und flüchtigen Gesprächen zwischen Par- kommunikation, aber auch durch neue hybride For- teimitgliedern und Unterstützern mit Wählern. Alle mate der Verknüpfung von analoger und digitaler diese Formate haben durch ihre Zeitintensität sehr Massenkommunikation und von digital unterstützter begrenzte Reichweiten. Auch sie haben sich im interpersonaler Kommunikation.4 BWK21 digitalisiert, allerdings schwächer als die massenmedialen Formate. Hinter dieser Digitalisie- (4) Welchen Stellenwert hatte Microtargeting? rung steht ebenfalls die Intention, den Kontrollgrad Mit Microtargeting verbindet sich die faszinierende zu erhöhen, etwa indem täglich Kernbotschaften an Idee, nicht mehr generelle Botschaften an möglichst die Anhänger versendet werden, die dann als Richt- alle auszusenden, sondern gezielt die Botschaften schnur für Gespräche genutzt werden können. Die auf möglichst spezifische Gruppen oder gar auf ein- andere Intention ist, die Reichweite zu erhöhen, etwa zelne Personen auszurichten. Damit reagiert die indem der Haustürwahlkampf auf einer Datenbasis Wahlkommunikation auf die wachsende Differenzie- geführt wird, die es erlaubt, mit höherer Wahr- rung von Wählerprofilen im Hinblick auf ihre Inter- scheinlichkeit parteiaffine Bewohner anzusprechen, essen, kognitiven Muster und Kommunikationswei- bei denen sich also das Klingeln lohnt (Kruschinski sen. Eine Version des Wahlprogramms in einfacher & Haller, 2018). Neue Formate der individuellen Sprache ist inklusiv, nicht exklusiv. Eine ausführli- Ansprache von Wählern im digitalen Raum sind hin- che Darlegung der Radwegeplanung für die daran gegen im BWK21 nicht entwickelt worden. Interessierten schließt diese nicht aus, im Gegenteil, Zwischen diesen beiden Polen des Spektrums stehen sie bindet sie ein. Microtargeting könnte Kampagnen Formate der Gruppenkommunikation im One-To- ansprechender und rationeller machen, vor allem Few-Modus. Es werden gezielt Gruppen von Perso- können dadurch Rückkopplungen der Wähler präzi- nen angesprochen, die sich in verschiedenen Merk- ser aufgegriffen und die Ansprachen iterativ opti- malen ähneln – in sozio-demographischen, psycho- miert werden. graphischen, geographischen oder kommunikativen Alle Bundestagsparteien, auch Grüne und Linke, ha- Merkmalen. Diese Ansprache spezifischer Gruppen ben einen erheblichen Teil ihres Wahlkampfbudgets bietet enorme Vorteile, da sie Streuverluste mini- miert und damit eine Erhöhung der Reichweite und 4 Die einzelnen Formate der Top Down-Wahlkampfkommuni- des Kontrollgrads verspricht. Traditionell werden kation lassen sich auf einem Achsenkreuz aus Reichweite und dafür analoge Medien genutzt wie Standardbriefe Kontrollierbarkeit abbilden. Grundsätzlich verschiebt die Di- oder Anzeigen in Spezialzeitschriften. Die Digitali- gitalisierung die Formate dann in Richtung vergrößerter Reichweite und vergrößertem Kontrollgrad. doi:10.24338/mip-2021215-229 217
Aufsätze Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 im BWK21 für Microtargeting verwendet (Hoppen- gegen Ende des Wahlkampfes einen erheblichen stedt & Pauly, 2021; Kasper, 2021). Es gibt zwei Anteil ihres Budgets für Microtargeting in An- Gruppen von Targetingformaten: griffe auf die SPD gesteckt, auf die andere Regie- rungspartei. Hingegen blieben Grüne und SPD – Targeting auf Basis von Plattformdaten: Die weitgehend positiv in ihren über Microtargeting Partei kauft bei Facebook, Google, Instagram versendeten Botschaften (Kruschinski, 2021a; und YouTube gezielte Werbung, also Kontakte 2021b; 2021c). nach Profilen. Sie nutzen dabei die Datenbestände der Plattformen. Die Gruppenbildung geschieht – Targeting auf Basis eigener Daten: Die Partei nach eher groben Kategorien. Die Plattformen baut eigene Datenbestände auf, um selbst gezielt spielen dann politische Informationen denjenigen Personen anzusprechen. Dafür kann sie Daten aus Nutzern zu, von denen anzunehmen ist, dass sie bereits bestehenden Kontakten nutzen, etwa aus für die jeweiligen Botschaften empfänglich sind. ihren Mailinglisten, und sie kann vor allem bei Auf Facebook geschieht das in zwei Formaten: der Deutschen Post Direkt Adressen von Personen als kenntlich gemachte Anzeige oder als Nach- erwerben, für die nach Häuserblocks eine Wahr- richt mit dem Vermerk sponsored post.5 Die sind scheinlichkeit der Parteineigung bekannt ist. Das dann nur für diese Gruppe sichtbar. In diesem nutzt die Partei für den Haustürwahlkampf. Dabei Wahlkampf hat der Anteil der gezielt ausgespiel- werden die Daten kontinuierlich durch die Ergeb- ten Anzeigen zugenommen; dies belegt den ho- nisse der Ansprache ergänzt. Ein Beispiel für ein hen Stellenwert dieser Ansprache in den Wahl- entsprechendes Tool ist die App CDU Connect, kampfstrategien. Das kann positive Eigenwer- die auch spielerische Elemente integriert. bung transportieren oder auch negative Werbung Die Parteien setzen beim Microtargeting unter- mit Angriffen auf Konkurrenten. Alle Parteien schiedliche Schwerpunkte, etwa im Hinblick auf haben sich mit Angriffen auf die AfD zurückge- Anzahl, Frequenz und Varianz der Anzeigen oder im halten und sie vielmehr ignoriert. Die CDU hat Hinblick auf das Verhältnis von Ads und sponsored 5 Eine hilfreiche Übersicht der Optionen und erste Auswertun- posts. Insbesondere die FDP hat dies überlegt in ihre gen einer Datenerhebung des Microtargeting im BWK21 über Wahlkampfstrategie eingebunden. Facebook finden sich bei Kruschinski, 2021a. In Kurzfassung: Facebook bietet zwei Formate für paid media im Wahlkampf Und die Parteien sind beim datengetriebenen Wahl- an: (1) Postformat: Eine Partei kann die Posts von ihrer Face- kampf unterschiedlich transparent, was das finanzi- book-Seite (owned media) nicht nur an ihre Follower ausspie- len, sondern auch an diejenigen, die ihr von Facebook zusätz- elle Budget, die Intensität der Aktivitäten und die lich nach sozio-demographischen und geographischen Kriteri- Zielgruppen angeht. Die Grünen sind besonders en zur Verfügung gestellt werden. Nur in deren Newsfeed tau- transparent, aber auch die Union veröffentlicht alle chen die Parteibotschaften dann als sponsored posts auf. Dies Anzeigen auf ihrer Website, um dem Vorwurf zu dient damit der gezielten Vergrößerung der Reichweite von entgehen, sie spiele dark posts aus, also Botschaften, auch generell ausgesendeten Informationen. (2) Anzeigenformat: Oder die Partei erstellt eigens gestaltete Botschaften, die als die nicht allgemein sichtbar sind (Hoppenstedt & Ads an eine Gruppe von targeted user gehen, die sehr viel fei- Pauly, 2021; Kasper, 2021). ner granuliert sind, da sie von Facebook nach Maßgabe von vielen Kriterien auf Grundlage ihres Datenschattens zusam- Antwort also: Microtargeting ist zum Kernbestand- mengestellt werden. Für diese Zielgruppenbestimmung wer- teil von Wahlkampagnen geworden und war auch im den auch bisherige Kontakte der Parteien herangezogen, zu BWK21 integraler Bestandteil aller im Bundestag denen dann lookalike audiences gebildet werden, also User vertretenen Parteien. Aber: Über die Inhalte von Micro- der Plattformen, die diesen bisherigen Kontakten ähnlich sind. Es kann für die Ads auch das Werbeziel genau definiert targeting wissen wir wenig, über die Nutzung wissen werden, beispielsweise Aufmerksamkeit zu gewinnen oder wir ganz wenig, über die Wirkung wissen wir nichts. Aktivitäten auszulösen, etwa der Partei auf Facebook zu fol- gen, zu spenden oder auf ein Gesprächsangebot einzugehen. (5) Wie sehr war die Mobilisierung der Anhänger Dementsprechend wird auch die Vergütung angesetzt, da die auf Digitalisierung angewiesen? Zielerreichung gemessen werden kann. Zudem erlaubt das Anzeigenformat einen Test von mehreren Versionen einer Die Kommunikation zwischen Parteispitze und Par- Anzeige. Das alles ist kostspielig, aber effizient. Beide Forma- teibasis ist von entscheidender Bedeutung für den te bieten Möglichkeiten, dass die Rezipienten selbst auf die Botschaften reagieren, sie kommentieren, bewerten und vor Wahlerfolg. Mitglieder und Unterstützer können für allem teilen, also ihrerseits interagieren (earned media). Mit eine aktive Rolle im Wahlkampf mobilisiert werden, den Daten aus diesen Reaktionen können nicht nur Botschaf- denn grundsätzlich stehen sie ja ihrer jeweiligen Par- ten optimiert werden, dies geht auch ein in den Preis für die tei positiv gegenüber. Aber sie müssen auch mobili- Ads und in die algorithmisch kuratierte Platzierung der spon- sored posts in den Newsfeeds. siert werden, denn zwischen positiver Grundhaltung 218 doi:10.24338/mip-2021215-229
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen Aufsätze und aktivem Engagement klafft eine tiefe Lücke, die sollte es einen Konflikt zwischen einem edlen Hel- überbrückt werden muss. Mobilisierung ist kein den und perfiden Widersachern geben. In deren Selbstläufer, wie auch der BWK21 sehr deutlich Kampf sollte es um das Große und Ganze gehen, zeigt. Wenn noch nicht einmal die Anhänger einer nicht um Kinkerlitzchen und nicht um schnöde Vor- Partei vollständig und vollzählig hinter einer Kam- teile. Es muss etwas auf dem Spiel stehen, die Welt pagne stehen, dann fällt sie in sich zusammen. Wenn muss vor der Heißzeit gerettet werden oder Deutsch- sie aber überzeugt sind, dass es sich zu kämpfen land vor einer Linksregierung. Und eine packende lohnt, dann zieht das Kreise, und immer mehr Men- Erzählung muss einen Spannungsbogen haben, ihr schen im jeweiligen Umfeld werden aktiviert, die ih- Ende hat offen zu sein und kann und muss beein- rerseits wieder andere ansprechen. Wie kann eine flusst werden. Auch hier zwingt die Erfahrung des solche Spirale der Mobilisierung in Schwung kom- BWK21 zu Einschränkungen, weil es immer Aus- men? Dies erfordert Antworten auf vier Teilfragen: nahmen von goldenen Wahlkampfregeln gibt: Die SPD hat auch ohne packende Erzählung und ohne Wer soll mobilisiert werden? Es geht dabei nicht strahlenden Helden ihre Anhänger mobilisieren kön- nur um die Parteimitglieder und deren Umfeld, es nen, und zwar einfach dadurch, dass nach Jahren der geht auch um diejenigen Wähler, die bei einzelnen Gefangenschaft die Freiheit winkte. Dennoch: Eine politischen Teilfragen für ein Engagement zu gewin- packende Erzählung bleibt ein wirksamer Hebel, um nen sind, etwa beim Thema Migration oder bei ei- die drei Grundbedingungen für Mobilisierung zu er- nem lokalen Problem. Im Fokus stehen dabei die füllen: Anhänger können nur mobilisiert werden, Meinungsführer, die in ihren jeweiligen sozialen wenn sie sich beteiligen wollen, also selbst das Be- Netzen den Ton vorgeben, also in der Nachbar- dürfnis haben, sich zu engagieren; und wenn sie sich schaft, in Vereinen, am Arbeitsplatz oder in der Fa- beteiligen sollen, also spüren, dass ein Engagement milie (Katz & Lazarsfeld, 1955). Es geht aber auch von ihnen erwartet wird, und zwar durch die Partei- um Bündnispartner der Parteien, also um Vertreter spitze und durch ihr soziales Umfeld; und wenn sie von Verbänden oder zivilgesellschaftlichen Gruppen, sich beteiligen können, wenn es also zu ihnen pas- und um Multiplikatoren wie Journalisten und Influ- sende Möglichkeiten gibt. encern. Das Können verweist auf Digitalisierung als Ant- Wozu soll mobilisiert werden? Mobilisierung zielt wort auf die Frage: Wie kann mobilisiert werden? letztlich auf Verhaltensänderungen ab. Die Mobili- Digitale Medien haben zentrale Bedeutung für inner- sierten sollen Partei und Kandidaten aktiv unterstüt- parteiliche Kommunikation gewonnen. Das betrifft zen, etwa durch Spenden und durch Mitarbeit, aber die punktuelle Kommunikation, also die digitale vor allem sollen sie in ihrem jeweiligen Umfeld für Vorbereitung, Durchführung und Verbreitung von Partei und Kandidaten werben. Dies setzt Verände- Ereignissen wie Parteitagen, und es betrifft die konti- rungen von Einstellungen voraus. Die zu Mobilisie- nuierliche Kommunikation. Messengerdienste, sozia- renden müssen überzeugt werden, dass sich ihr En- le Netzseiten, Videoportale bieten niedrigschwellige gagement lohnt, sie müssen Kosten und Nutzen ab- Möglichkeiten nicht nur für Kontakt und Information, wägen und zu einem positiven Resultat kommen. sondern auch für Engagement – von Likes und Und das setzt wiederum Veränderungen im Wissen Shares über Tweets und Re-Tweets bis zu der Teil- voraus, und zwar durch vertrauenswürdige Informa- nahme an digitalen Votings oder dem Spenden von tionen über Kandidaten, Themen, andere Unterstüt- Daten (Bündnis 90/Die Grünen, o.J.). Sie erlauben, zer und Gegner. Um über diese Kaskade von Wissen unmittelbar zu agieren und auf Gegner zu reagieren. und Einstellungen Änderungen des Verhaltens zu er- Sie sind flexibel und passen sich den jeweiligen reichen, hat die Nudging-Forschung neue Wege er- kommunikativen Welten von Digital Natives und mittelt (Thaler & Sunstein, 2008). Digital Immigrants an. Digitale Medien sind effizi- Wodurch kann mobilisiert werden? Menschen wer- ent, weil die finanziellen, zeitlichen und kognitiven den durch Menschen mobilisiert, durch Bekannte, Ver- Kosten in einem sehr günstigen Verhältnis stehen traute, Verwandte: „more than anything else people can zum Nutzen. Und sie bieten einen multimedialen move other people“ (Lazarsfeld et al., 1944, S. 158). Raum, die Story weiter zu erzählen und sie dabei Diese Menschen müssen glaubhaft eine Botschaft weiterzuentwickeln – angereichert mit Selfies, Emo- vermitteln. Diese Botschaft ist umso vermittelbarer, ticons, Anekdoten, eigenen Erfahrungen, Fakten je mehr sie packend erzählt werden kann. Mit Para- oder witzigen Kommentaren. Durch soziale Medien graphen, Bullet-Points und Statistiken können Men- wird jede(r) zum Erzähler und strickt die Story fort. schen nicht mobilisiert werden. In der Erzählung Und digitale Kanäle ermöglichen eine Rückkopp- doi:10.24338/mip-2021215-229 219
Aufsätze Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 lung, indem sie Nutzungsdaten zu Inhalten, Formen der von der Flutkatastrophe besonders betroffen war, und Personen zurückspielen und so Optimierungen wird Laschet dabei gefilmt, wie er im Hintergrund ermöglichen. für einige Sekunden mit Umstehenden scherzt und laut herauslacht. Wie schon etliche Politiker seiner Daten zur Mobilisierung durch die einzelnen Partei- Generation hatte er einen Moment lang vergessen, en im BWK21 stehen (noch) nicht zur Verfügung. dass er in einer digitalen Welt immer und überall Aber auf Grundlage anekdotischer Evidenz sind vor beobachtet wird und dass Beobachtungen unmittel- allem drei Phänomene bemerkenswert: (1) Es ist der bar und unwiderruflich verbreitet werden. Die Szene Union nur unzureichend gelungen, ihre Anhänger zu wurde live in TV und Netz übertragen, ging dann in mobilisieren. Vor allem dadurch hinterlassen die den sozialen Netzmedien viral, wurde dort zum beiden Parteien einen erschöpften Eindruck. Den Meme, also karikiert und variiert, was weitere Medien- Grünen ist es hingegen gelungen, ihre Anhänger zu berichterstattung hervorrief. Dafür steht #Laschet- mobilisieren, und überraschenderweise auch der lacht, also eine Debatte in den sozialen Netzmedien, SPD und der FDP. (2) Es ist bezeichnend für das in der sich empört und gespottet, aber wenig debat- Personaltableau in diesem Wahlkampf, dass ausge- tiert wurde. Es bildete sich darum ein „mini-public“ rechnet Scholz noch am ehesten zum Helden avan- (Thimm, 2015), ein themenzentriertes Publikum, das cierte. Scholz konnte sich einen relativen Vorteil die Skandalisierung vorantrieb. Laschets Verhalten verschaffen – trotz der Verstrickung in Skandale, wurde einhellig und ohne zu zögern als ein grober trotz seiner Vizekanzlerschaft in einer ungeliebten Normverstoß gewertet und damit zum Skandal Regierung, trotz seines wenig ansprechenden Kom- (Kepplinger, 2012; Pörksen & Detel, 2012). Daran munikationsstils. (3) Einiges deutet auf Strategien konnte auch nichts mehr ändern, dass Laschet und der „asymmetrischen Demobilisierung“ (Jung et al., seine Crew im Weiteren alles richtig machten und 2009), also auf Versuche, gegnerische Kampagnen sich an die Regeln für Skandalkommunikation hiel- dadurch zu entleiben, dass Konfliktthemen ent- ten: Laschet bat persönlich und sofort um Entschul- schärft werden. Ein Beispiel ist das Klimaschutzge- digung für sein Fehlverhalten, ohne jemanden für setz der Regierungsparteien. den Normverstoß verantwortlich zu machen oder ihn Antwort also: Die Mobilisierung der Anhänger ist klein reden zu wollen. In diesem Falle galt nicht eine entscheidende Voraussetzung für Wahlerfolg. „Second step kills“; denn nicht ein zögerlicher und Anhänger müssen sich engagieren wollen, sollen und abwehrender Umgang mit Vorfall und Vorwurf, son- können. Und ermöglicht wird das Engagement mehr dern bereits der erste Schritt wurde ihm zum Ver- und mehr durch digitale Kanäle. Aber leistungsfähi- hängnis – ein Beleg dafür, wie schwerwiegend das ge digitale Instrumente sind eine notwendige, aber Verhalten gesehen wurde. nicht hinreichende Bedingung für Mobilisierung. Wie relevant war dieser Skandal für den BWK21 und Selbst wenn man die digitale Kampagne professio- wie relevant war insbesondere #Laschetlacht, also nell managt, kann man dadurch nicht ausbügeln, das Bild und seine digitale Verbreitung? Für eine wenn Kandidat und Kurs nicht überzeugend genug gründliche Antwort sollte man sich einen fundamen- sind, um die Anhängerschaft zu mobilisieren. Digita- talen Grundsatz der Skandalkommunikation verge- lisierung ersetzt nicht die packende Erzählung mit genwärtigen: Damit ein Vorfall zum Skandal werden einem kämpfenden Helden, einem hohen Einsatz kann, ob in der analogen oder in der digitalen Welt, und einem offenen Ende, das zur Mitwirkung gera- bedarf es des Zusammenspiels von drei Elementen, dezu zwingt (Müller, 2020). Digitalisierung bietet die zueinander passen müssen. Dies sind – in einer nicht mehr und nicht weniger als flexible und effizi- Agrarmetapher formuliert:6 ente Möglichkeiten, an dieser Erfolgsstory mitzuwir- ken. Der Erfolg beflügelt, und so kann sich die Spi- – ein fruchtbarer Boden rale der Mobilisierung in Gang setzen. – ein keimfähiges Saatkorn – ein tüchtiger Bauer, der beides zusammenführt (6) Hat #Laschetlacht den Wahlkampf entschieden? und so das Wachstum der Pflanze ermöglicht. Aus dem Wahlkampf ragt ein spektakuläres Medien- In diesem Falle haben wir einen doppelten frucht- ereignis heraus, ein Ereignis, das zwar nicht für die Medien inszeniert war, im Gegenteil, das aber als baren Boden, und zwar die Vorstellungen der Jour- Skandal gedeutet wurde und deshalb sofort weite nalisten von Laschet und die Vorstellungen der Verbreitung fand. Während einer Rede des Bundes- 6 Andere Bilder sind Schlüssel, Schloss und Schließer oder Pul- präsidenten am 17. Juli 2021 in Erftstadt, einem Ort, verfass, Zündschnur und Attentäter. 220 doi:10.24338/mip-2021215-229
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen Aufsätze Wähler von ihm. Diese Vorstellungen waren vor al- lung von Laschet noch besser greifbar. Das Bild ver- lem durch die Kandidatenkür im Frühjahr geprägt. knüpft sich gedanklich mit der Person und wird dann Laschet galt im Vergleich zu Söder als schlechtere im Folgenden sofort aktiviert, wenn der Name Laschet Wahl, als weniger tatkräftig, als weniger zuverlässig, fällt. Dadurch wird die Vorstellung noch klarer und als weniger kompetent. Dem Vergleich mit Söder besser erinnerbar (Iyengar & Kinder, 1987). Der Sti- hielt er nicht stand, auch nicht bei der Pandemiebe- mulus wird zum Schlüsselbild, zum Shortcut zwischen kämpfung, da konnten die Corona-Werte in NRW im weiteren Auftritten und den Vorstellungen. In ihm Vergleich zu Bayern noch so gut sein. Die öffentli- kristallisieren die Vorstellungen von Laschet, und che Wahrnehmung war: Zupacker versus Zauderer. das prägt dann die weitere Sichtweise: Überall hat Durch Corona wissen Wähler: Die nächste Krise man dann im Weiteren den lachenden Laschet gese- kommt bestimmt. Möchte man da jemanden in Ver- hen. Aus diesem Tief kam Laschet nicht mehr her- antwortung sehen, der bereits innerhalb seiner Partei aus. Die Zustimmung zu ihm stürzte ab und mit ihr nicht vollständig überzeugt? Der BWK21 war insge- die Parteipräferenz. Nach Erftstadt sanken die Werte samt von einem wenig überzeugenden Personalta- in der Sonntagsfrage bis unter 20%. Analog dazu bleau geprägt und folglich in negativer Weise stark stiegen die Werte für Scholz und damit die Präferenz personalisiert. Das hat am meisten und sehr früh für die SPD. Die SPD hatte wegen Scholz letztlich Laschet geschadet. Nach der Kandidatenkür war das die Nase vorn, die CDU hat aber trotz Laschet bis negative Urteil der Journalisten und der Wähler über zuletzt mithalten können. Vielleicht hätte es andere den Spitzenkandidaten gefällt, und dies wirkte sich Bilder mit ähnlichen Effekten im Wahlkampf gegeben, auch deutlich auf die Parteipräferenz aus. etwa „#Laschetstürzt“ oder „#Laschetschwankt“, aber das verbreitete Bild hat seine Potenziale opti- Der Boden war also bereit für ein Saatkorn. Das mal entfalten können (Niendorf et al., 2021). Saatkorn ist zwingend erforderlich, damit eine veri- table Pflanze entstehen kann. Allein aus dem Boden Es fehlt noch die dritte Bedingung: Ein Skandal be- entsteht nichts. Es kommt also auch auf die Qualitä- darf eines Bauern, der Saatkorn und Boden zusam- ten des Saatkorns an. Es muss keimfähig und robust menbringt, günstige Bedingungen schafft, die Saat sein und zum jeweiligen Boden passen. Das Saat- hegt und pflegt und so das Wachstum ermöglicht. korn steht hier für den Aufsehen erregenden Vorfall. Das sind bei #Laschetlacht seine Gegner, die dafür Der muss zu den Vorstellungen der Betrachter pas- sorgen, dass das Bild sofort und massenhaft verbrei- sen, damit er skandalisiert werden kann. Nur das Zu- tet wird und dass mit weiteren Bildern oder Bildaus- sammenspiel von Vorstellungen und Vorfall ergibt schnitten nachgelegt wird. Diese Gegner sind nicht den Skandal. Man kann sich diese doppelte Bedin- nur in den anderen Parteien zu suchen (Jessen, 2021), gung durch ein Gedankenexperiment klar machen: auch in der eigenen Partei. Das sind außerdem die Was wäre, wenn ein Bild aus Erftstadt eine lachende Journalisten und andere Multiplikatoren – auch die Angela Merkel gezeigt hätte? Jedes Bild von Merkel in sozialen Netzmedien. Sie replizieren immer wie- wird gesehen und verstanden auf dem Hintergrund der das Bild, auch um den Niedergang der CDU zu der Vorstellungen von Merkel. Eine lachende Merkel erklären, und verstärken somit seine Salienz. Jeden in Erftstadt ist schlicht nicht vorstellbar, darum wäre Schritt beobachten sie nun daraufhin, ob er wieder ein Bild davon nicht sofort verstanden worden, son- ein Fehltritt ist – und sie interpretieren alle Bilder dern auf ungläubiges Erstaunen gestoßen. Die Leute auf der Folie des ersten Bildes. hätten erst einmal gestutzt, sie hätten sich dieses Antwort also: Das Bild des zur Unzeit fröhlichen Bild nicht erklären können. Die lachende Merkel Rheinländers hat Bedeutung für den Wahlkampf, wäre dann auch nicht reflexartig verurteilt worden. weil es viral ging und damit zum Schlüsselbild des Somit wäre ein Bild der lachenden Merkel nicht Kandidaten und der Partei wurde (Nahon & Hemsley, skandalisiert worden. Man hätte wegen des Bildes 2013). Aber es konnte nur viral gehen, weil es genau nicht den Stab über sie gebrochen. Wenn ein Bild zu den Vorstellungen der Journalisten und der Wäh- für einen Skandal sorgen soll, muss es sofort ver- ler vom Kandidaten passte, weil es auf den Punkt standen und gut erinnert werden. Es muss eindeutig brachte, was viele über ihn dachten und von ihm sein, keine Ambivalenzen aufweisen oder Raum für hielten. Dadurch konnte es zum Sinnbild eines Skan- unterschiedliche Deutungen geben. Wenn aber ein dals werden. Die Wucht rührte in diesem Falle da- Bild sofort in die Vorstellungen einrasten kann und her, dass die Vorstellung von Laschet bei den Jour- sie sogar auf den Punkt bringt, dann kann es nach- nalisten und bei den Wählern weitgehend konform weislich Wirkung erzeugen. Das ist hier der Fall: gingen. Diese Konformität ist nicht selbstverständ- Das Bild vom lachenden Laschet macht die Vorstel- doi:10.24338/mip-2021215-229 221
Aufsätze Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 lich: Es gibt andere Vorfälle, die nur in einigen Mas- führung, die entgegen der grünen Parteikultur einen senmedien skandalisiert werden, und wieder andere, Burgfrieden der Flügel erreichte, der Twitter-Attacken die nur in Teilen der sozialen Netzmedien skandali- unterband. Und vor allem ist der SPD das Kunst- siert werden. So aber ist Armin Laschet politisch an stück gelungen, durchgängig dafür zu sorgen, dass diesem Bild zerbrochen. Politiker aus der zweiten und dritten Reihe nicht ver- führt wurden, sich durch Tweets Sichtbarkeit zu ver- (7) Wie konnte innerparteiliche Geschlossenheit schaffen, auch nicht während der langen Zeit im Tal unter digitalen Bedingungen erreicht werden? der 15%. Dafür dürfte weniger der Stock als vielmehr Innerparteiliche Kommunikation steht vor einem Di- die Karotte gesorgt haben. Es ist nicht auszuschlie- lemma: Einerseits wird die Geschlossenheit einer ßen, dass die Parteiführung engmaschig die Kommu- Partei vom Wähler belohnt. Der Wähler schenkt in- nikation kontrollierte und jeweils entsprechend früh ternen Auseinandersetzungen Aufmerksamkeit, aber eingriff. Es ist weitgehend unbekannt, wer aus der kein Interesse oder gar Gefolgschaft. Außen hörbare Parteiführung wen wann wie reglementierte. Zu ver- Dissonanzen führen Wähler dazu, sich von der Partei muten ist, dass die jeweiligen Führungspersonen in ab- und anderen Parteien zuzuwenden oder gleich ihren speziellen Parteigruppierungen das Schweigen ganz der Politik den Rücken zu kehren. Innerparteili- durchsetzten. Wichtiger als die Furcht vor Reglemen- cher Zwist schadet also einer Partei. Dennoch ist es tierung dürfte aber die Hoffnung auf Belohnung ge- für Protagonisten einer Partei attraktiv, ihre Position wesen sein: Vermutlich wurden maßgebliche Kräfte durch Verschärfung der innerparteilichen Auseinan- innerparteilicher Opposition dadurch eingebunden, dersetzungen zu stärken – zumal in der kompetitiven dass sie sich von einem Gesamterfolg eigene Vorteile Atmosphäre eines Wahlkampfs. Individuelle Gewinne erhoffen konnten. Der demoskopisch messbare Er- stehen somit kollektiven Verlusten entgegen. Digitale folg des Spitzenkandidaten ließ Ambitionen sprießen Kommunikation verschärft dieses Dilemma. Die indi- und minimierte die Lust, querzuschießen. Eine Re- viduellen Kosten einer mit einem Tweet eingefädelten gulierung muss also kompatibel sein mit den Ei- Intrige streben gegen Null. Wie war es im BWK21 geninteressen der Regulierten, vor allem mit ihrem um die innerparteiliche Geschlossenheit bestellt? Interesse am Machterwerb. Der muss realistisch sein, also konkret und zum Greifen nah, nicht abstrakt und Vergleicht man die Parteien unter diesem Aspekt, fern am Horizont. Durch die Kombination überstie- zeigen sich erhebliche Unterschiede. Innerhalb der gen die persönlichen Kosten einer abweichenden SPD ist es in einem erstaunlichen Maße gelungen, Verlautbarung den Nutzen durch kurzzeitige Sicht- alle gegen den Spitzenkandidaten opponierenden barkeit. Stimmen verstummen zu lassen und nach außen Einig- keit zu demonstrieren. Dies gilt auch für die Grünen Antwort also: Wer die digitale Kommunikation in- mit ihrer weitgehend geräuschlosen Kandidatenkür nerhalb einer Partei effektiv regulieren kann und da- und ihrer programmatischen Geschlossenheit. Auch bei an den Eigeninteressen ansetzt, der hat im Wett- angesichts sinkender Zustimmungsraten zeigte die bewerb um Wählerstimmen einen erheblichen Vor- Partei eine im Vergleich zu früheren Debatten uner- teil. Dies gelang im BWK21 vor allem der SPD. In wartet große Disziplin. Dies gilt nicht für die Union. ihr setzte sich eine Selbstverpflichtung der digitalen Sie zeigte durchgehend ein zerstrittenes Bild, erst in Zurückhaltung durch, und dies im kollektiven und der Kandidatenkür, dann im weiteren Verlauf des individuellen Interesse an Machterhalt und Machter- Wahlkampfes. Dies gilt erst recht nicht für die AfD, werb. die sich noch nicht einmal nach der Wahl auf eine (8) Wie nutzte die AfD die Potenziale der Digitali- einheitliche Einschätzung des Wahlergebnisses eini- sierung? gen konnte. Konsequente Digitalisierung ist ein Merkmal des Wie sind die Unterschiede in der Geschlossenheit zu Kommunikationsprofils der AfD. Würde man die erklären? Eine Ursache liegt darin, dass die Parteien Parteien mit einem Digitalisierungsindex aus mehre- in ihrer Struktur und Kultur divergieren. So setzt ren Indikatoren vergleichen, hätte die AfD große sich die Union aus zwei selbstständigen Parteien zu- Chancen auf den ersten Platz. Denn sie muss beson- sammen. Die unterschiedliche Geschlossenheit ist ders stark digitalisiert sein, weil sie in den Massen- aber auch darin begründet, dass es nicht allen Partei- medien mittlerweile wenig präsent ist und weil sie en gelungen ist, einen „Digital Detox“ (Zurstiege, als junge Partei bislang nur eine schwache Infra- 2019) durchzusetzen, eine Verpflichtung zu digitaler struktur ausbilden konnte (Ruhose, 2021). Zurückhaltung. Gelungen ist dies der grünen Partei- 222 doi:10.24338/mip-2021215-229
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen Aufsätze Darum ist die konsequente Digitalisierung eine der eine Wahl der AfD als Denkzettel an die etablierten drei strategischen Entscheidungen, denen die AfD Parteien begreifen, sondern mehr und mehr Wähler, ihren Erfolg 2017 verdankt. Die anderen beiden waren: die vom politischen Profil der AfD überzeugt sind. Sie machte das Migrationsthema zu ihrem Marken- Für diesen Erfolg ist vor allem die Entscheidung für kern. Und sie setzte auf eine Strategie der provokati- eine konsequente Digitalisierung ihrer Kommunika- ven Kommunikation, die darauf zielte, Empörung tionsinfrastruktur maßgebend. Die intensive Nutzung beim Gegner zu wecken und auf diesem Umweg digitaler Kanäle hat ein Binnenmeinungsklima ge- dann doch massenmedial präsent zu werden. schaffen und so für Stabilität gesorgt – auch bei stür- mischem Gegenwind. Im BWK21 war von diesem Erfolgsrezept nicht mehr viel übrig. Das Migrationsthema hat in der Virulenz Antwort also: Die AfD hat sich eine digitale Blase stark nachgelassen, wenn man die grenznahen Ge- geschaffen und darin ihre Stammwähler konserviert. biete Ostdeutschlands ausklammert. Zu den Themen Sie hat über digitale Plattformen an den etablierten Klima, Corona und soziale Gerechtigkeit vertritt die Medien vorbei ihren Anhängern ihre Themen und AfD keine klare Position. Sie konnte sich auch nicht Positionen kommunizieren können. Damit hat sie zum Hort der Oppositionsströmungen bei diesen sich als eigenständige Kraft stabilisiert. Darüber hin- Themen machen und deren Schwung nutzen. Sie hat aus hat sie im BWK21 keine Spuren hinterlassen. auch nicht die Karte Kulturkampf gespielt, also Lo- kalisten gegen Globalisten in Stellung gebracht, Hei- (9) Wie digitalisiert und wie erfolgreich war die mat gegen Welt gesetzt (Kriesi et al., 2006). Und Bottom Up-Kommunikation? auch die Strategie, durch provokante Äußerungen Ein Wahlkampf bietet immer gute Gelegenheiten, dass eine öffentlich weit sichtbare Empörung hervorzuru- auch parteipolitisch nicht gebundene Gruppen fen, war 2021 sehr viel weniger erfolgreich als 2017, ihre Themen und Positionen zur Geltung bringen weil das Kernthema der AfD in den Hintergrund der können. Sie finden in der hochpolitisierten Atmo- Aufmerksamkeit rückte, weil die Polarisierung längst sphäre öffentliches Gehör und gewinnen Unterstüt- nicht so ausgeprägt war und weil die anderen Parteien zer und Zugang zu Entscheidern. und Massenmedien gelernt hatten, zögerlicher und selektiver mit Verlautbarungen der AfD umzugehen. Dafür sind digitale Instrumente von großer Bedeu- Es kamen noch vier weitere gravierende Probleme tung, da sie schnell, effizient und flexibel einsetzbar hinzu: (1) innere Zerrissenheit mit zwei sich einan- sind. Sie dienen der internen Koordination und Or- der auch digital erbittert bekämpfenden Gruppen, ganisation, aber auch der externen Kommunikation mit Austritten und Ausschlüssen, mit Auflösungen mit Unterstützern, Medien und Interessierten. Zu- und Spaltungen von Parteigliederungen; (2) ein auch meist sind sie eingebettet in hybride Strategien und für die Anhänger wenig überzeugendes Spitzenper- werden folglich kombiniert mit analogen „Pseudo- sonal; (3) ein allgemeines Meinungsklima, in dem Events“ wie Demonstrationen, Kundgebungen oder sich potentielle Anhänger immer weniger zur AfD spektakulären Aktionen, die dann ein massenmedia- bekennen mögen; und schließlich (4) die Ächtung les Echo hervorrufen. durch die anderen Parteien, sodass konkrete Gestal- Im BWK21 gab es dafür einige Beispiele: tungsoptionen in weite Ferne gerückt sind. Da alle Parteien sich einig sind, mit der AfD nicht zusam- – unabhängige Aktivisten wie Rezo, der mit lautem menarbeiten zu wollen, hat eine Stimme für die AfD Echo seinen Kampf gegen die etablierten Parteien keinen direkten Einfluss auf die Regierungszusam- fortsetzte; mensetzung. Die Brandmauer zur AfD hat im Wahl- – Klimaschützer mit Schülerstreiks und Hunger- kampf gehalten. Auch das ist ein Ergebnis innerpar- streik vor dem Bundeskanzleramt; teilicher Regulierung der Kommunikation, in diesem – Corona-Leugner mit Demonstrationen und Pro- Falle vor allem bei der CDU. Diese massiven Pro- testaktionen; bleme haben verhindert, dass die AfD über ihre bis- herigen Wahlergebnisse hinaus von der Schwäche – Mieteraktivisten, die in Berlin einen Volksent- der Union profitiert. scheid zur Enteignung von Wohnungskonzernen durchsetzten und es damit bis in den Wahlakt Umso bemerkenswerter ist, dass die AfD eine schafften. Stammwählerschaft von immerhin etwa 10% auch Alle kombinierten in ihren Kampagnen spektakuläre unter den widrigen Bedingungen stabilisiert hat. Events mit digitaler Kommunikation und massenme- Dies sind immer weniger strategische Wähler, die dialem Echo. Insgesamt blieb der Einfluss dieser und doi:10.24338/mip-2021215-229 223
Aufsätze Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 anderer zivilgesellschaftlicher Gruppen auf die Par- onsgrad, um die gegenwärtige Stimmung abzubilden, teien und auf den Wahlkampf eher gering. So haben auch wenn der Anteil von Spätentscheidern wächst. auch identitätspolitische Aktivisten sich und ihre Von der Optimierung profitieren auch die Exit Polls Anliegen nicht in die Wahlkampfkommunikation am Wahltag selbst. Die Qualitätsunterschiede zwi- einbringen können. schen klassischen Telefon-Umfragen und reinen On- line-Umfragen sind zwar gering, aber noch hat das Antwort also: Grundsätzlich ermöglichen digitale Institut für Demoskopie Allensbach mit seiner tradi- Medien auch lose organisierten zivilgesellschaftlichen tionellen Stichprobenziehung und mit seiner Abfrage Gruppen, in den Wahlkampf einzugreifen. Mittels di- im Face-to-Face-Modus die geringsten Abweichun- gitaler Medien können sie informieren, reagieren gen vom tatsächlichen Wahlergebnis (Funk, 2021). und sich koordinieren. Aber die Nutzung digitaler An der Modellierung des Wählerverhaltens wird Medien ist kein Garant für Erfolg. Es ist nicht so: Je auch deutlich, wie sehr mittlerweile die Wahl- und digitaler eine Gruppe, desto erfolgreicher ist sie. Die damit die Wahlkommunikationsforschung in die po- Kampagnen folgen vielmehr Hybridstrategien aus litische Auseinandersetzung integriert ist. analogen und digitalen Elementen. Insgesamt blieb der Einfluss von Aktivisten auf den BWK21 blass. Antwort also: Digitalisierung veränderte im BWK21 die Reflexion des Elektorats durch Wahlumfragen. (10) Wie veränderte Digitalisierung die Wahlum- Der Spiegel, in dem sich die Wähler und die Partei- fragen? en sehen konnten, war vielgestaltiger und klarer als Wahlumfragen haben Wirkungen auf Wahlkampf in früheren Wahlkämpfen. Dies machte die rasche und Wahlergebnis: Sie sind eine wichtige Information Abfolge von Aufs und Abs transparent und beein- für Wähler, und zwar eine Information über die an- flusste das Verhalten der Wähler und der zu Wäh- deren Wähler. Dadurch beeinflussen sie das Wahl- lenden. Zwar wird oft beschworen: „Umfragen sind verhalten. Manche Wähler werden aufgrund der Um- keine Wahlen.“ Dies ist grundsätzlich richtig, sollte fragen zu Mitläufern, manche zu Mitleidern, manche aber nach dem BWK21 noch weniger Grund zur Be- zu Mitdenkern, also zu taktischen Wählern. Die Wir- ruhigung geben. Denn das digital ermöglichte eng- kungen sind zum Teil gegenläufig. Deshalb ist nicht maschige Netz der Wahlumfragen erlaubte den Par- vorauszusagen, in welche Richtung die Veränderun- teien eine kontinuierliche Beobachtung, welche Wir- gen gehen. Und sie sind eine wichtige Information kungen die Parteikommunikation in der Wähler- für Wahlkämpfer. Sie beeinflussen die innerparteili- schaft zeitigte (Hardmeier, 2008). che Diskussion, sie beflügeln oder entmutigen, sor- (11) Wie präsent waren digitalpolitische Themen gen für Streit oder für Stolz. Sie sind Grundlage für im Wahlkampf? strategische Überlegungen und für taktische Reaktio- nen. Von daher ist es von Bedeutung, ob Digitalisie- Corona hat aufgedeckt, wie groß der politische rung auch die Umfragen erfasst und verändert. Handlungsbedarf bei Digitalisierung ist. Deutsch- land ist im internationalen Vergleich zwar nicht Ein immer größer werdender Anteil der Daten zu den „Bummelletzter“ (Angela Merkel), aber es hinkt hin- Wählerpräferenzen wird digital erhoben, ausgewertet terher. Vor allem auf sieben Baustellen ist politi- und verbreitet. Digitalisierung ermöglicht mehr und sche Tatkraft gefordert: raschere Umfragen zu mehr Themen von mehr Insti- tuten, weil sie die fixen und variablen Kosten von – Netzausbau, Umfragen senkt. Damit kann die steigende Nachfrage – Digitalisierung vor allem in Schule, Gesundheit durch mehr Auftraggeber befriedigt werden. Außer und öffentlicher Verwaltung, der Sonntagsfrage gibt es noch spezifische Umfragen – Cyber-Sicherheit, zu Kandidaten, Themen, Koalitionen und einzelnen Ereignissen wie den Triellen. Das Netz an Umfragen – Regulierung von Netzinhalten, macht kontinuierliche Vergleiche möglich; es ent- – Schutz von Privatheit, steht ein dichtes Bild der Aufs und Abs. Dies ermög- – Besteuerung von Internetunternehmen, licht die Überprüfung von Vermutungen über Ursa- – Institutionelle Absicherung der Digitalpolitik im chen für Veränderungen der Wählerpräferenzen. Regierungsgefüge. Die Umfragen vermehren sich nicht nur, sie verbes- Alle diese Punkte werden in den Programmen der sern sich auch. Die Modelle für die Gewichtung der Parteien aufgegriffen (König & Siewert, 2021). Da- Daten bei der Sonntagsfrage erhöhen ihren Präzisi- bei gibt es programmatische Unterschiede, etwa in 224 doi:10.24338/mip-2021215-229
MIP 2021 | 27. Jhrg. | Heft 2 Vowe – Wie digitalisiert war der Bundestagswahlkampf 2021? Zwölf Thesen Aufsätze der Gewichtung der Probleme und im vorgeschlage- (12) Wie gefährdet war die Legitimität der Wahl nen Vorgehen, vor allem in der Kombination von durch Digitalisierung? Markt- und Staatselementen. Andere Aspekte von In einem Wahlkampf können die Kampagnen selbst Digitalisierung waren kein Programmbestandteil, so zum Thema werden, auch deren digitale Elemente, z.B. E-Partizipation, also die Nutzung digitaler Ka- sofern sie Anlass zu politischem Streit bieten. Im näle für die Verbesserung der bürgerschaftlichen BWK21 wurde kurz über einen SPD-Clip gegen die Teilhabe. Auch Künstliche Intelligenz wurde weder CDU und über Datenschutzprobleme bei der App in wirtschaftlicher noch in ethischer Hinsicht promi- CDU Connect debattiert. Aber insgesamt blieben nent thematisiert, allenfalls mit Blick auf die Risiken Kontroversen über die Kampagnen aus. einer verstärkten sozialen Kontrolle, etwa durch au- tomatisierte Gesichtserkennung. Dazu passt, dass es zwar Warnungen, aber keine konkreten Befürchtungen gab, die Legitimität der Doch kein Digitalthema spielte eine maßgebliche Wahlen könnte durch Social Bots, Cyber-Angriffe Rolle im Wahlkampf selbst. Warum ist das so? Der oder Fake-News beschädigt werden (Dunn Cavelty, Wahl-O-Mat weist den Weg zu einer Begründung. 2008: Kuhn, 2021; Sachs-Hombach & Zywietz, 2018). 2017 wird Digitalpolitik im Wahl-O-Mat überhaupt Auch die Plattformen mussten selten regulativ ein- nicht aufgeführt (Fiene, 2017). 2021 sind immerhin greifen. Der Wahlprozess wurde intensiv durch die drei Fragen enthalten, und zwar zu Gesichtserken- verantwortlichen Behörden kommunikativ begleitet, nung, Digitalsteuer und Aufträgen an Huawei. Der um Befürchtungen zu zerstreuen, etwa im Hinblick Grund für die geringe Prominenz und für die Aus- auf die Briefwahl. Wenn überhaupt etwas die Legiti- wahl eher entlegener Fragen ist, dass sich die Partei- mität der Wahl in Zweifel gezogen hat, dann war es en in ihrer Digitalpolitik nicht signifikant unterschei- die vollkommen analoge notorische Schludrigkeit den. Sie sind sich weitgehend einig. Aber der Wahl- der Berliner Verwaltung, die für zahlreiche Pannen O-Mat soll ja helfen, die Programmatik der Parteien am Wahltag in Berlin verantwortlich war. den Präferenzen der Wähler zuzuordnen. Dafür ist die Digitalpolitik aber ungeeignet. Es ist unwahr- Antwort also: Die Legitimität der Wahl war zu kei- scheinlich, dass jemand für die Union gewonnen ner Zeit durch Digitalisierung gefährdet. Entspre- wird, weil die mehr Gewähr dafür bietet, dass die chende Befürchtungen im Vorfeld erwiesen sich als Digitalisierung vorankommt. Es fehlt die parteipoli- unbegründet. Folglich war dies auch kein Thema im tische Kontroverse. Dadurch bekommt das Thema BWK21. Dies macht noch einmal den Kontrast zu keinen politischen Schwung. Zuletzt haben die Pira- jüngsten Wahlen in den USA oder in Großbritannien ten versucht, dieses Politikfeld zu ihrer Profilierung deutlich. zu nutzen und auf digitalpolitische Konflikte gesetzt. Fazit: Was lehrt uns der Bundestagswahlkampf Davon ist nicht mehr viel geblieben. Zur Friedlich- 2021 unter dem Aspekt der Digitalisierung? keit des Politikfeldes passt, dass sich die Digitalpoli- tiker der Parteien untereinander gut verstehen und Alle diese Fragen sind zu differenzieren, und alle gemeinsam an einem Strang ziehen. Dazu passt Antworten sind empirisch zu prüfen, etwa durch auch, dass es in diesem speziellen Politikfeld keine Auswertung der nun mehr und mehr vorliegenden konfliktfähigen zivilgesellschaftlichen Gruppen gibt, Daten aus Befragungen und Inhaltsanalysen zum die für Auseinandersetzung sorgen. Und so spielte BWK21, aber auch durch Vergleiche mit Wahl- Digitalisierung nur bei relativ kleinen Gruppen wie kämpfen früher oder in anderen Ländern. den Erstwählern oder den IT-Fachkräften insofern Aber auch ohne dem kann resümierend festgehalten eine Rolle für die Wahlentscheidung, als sie etwa werden: Insgesamt war der BWK21 analoger als er- der FDP mehr als Union vertrauten, dass sie ihre di- wartet. Der Einfluss digitaler Elemente war begrenzt. gitalpolitischen Versprechen umsetzen kann. Frühere Innovationen wurden stabilisiert und im De- Antwort also: Probleme der Digitalisierung waren tail optimiert, aber es gab keine grundsätzlich neuen keine vorrangigen Wahlkampfthemen, obwohl immen- Instrumente, auch nicht in der journalistischen Wahl- ser politischer Handlungsbedarf gegeben ist. Aber berichterstattung. Digitalität hat nicht den Wahl- Digitalpolitik ist eben (noch) keine Kampfarena. Für kampf geprägt – auch wenn es angesichts der Pande- Digitalisierung treten alle ein, die Themen spalten mie noch bis ins Frühjahr hinein danach aussah. Es nicht. ist auch kein offensichtlich digital erzeugtes Bild zur Ikone des Wahlkampfs geworden, wie dies in ande- ren Wahlkämpfen der Fall war, etwa als digitalisiert doi:10.24338/mip-2021215-229 225
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