DISCUSSION PAPER - Agentur für politische Strategie

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DISCUSSION PAPER - Agentur für politische Strategie
4_2017

DISCUSSION PAPER
November 2017

von Elmar Wiesendahl

Strategische Lehren aus dem Bundestagswahlkampf 2017

Schlechtes Timing, fehlende Flexibilität, undefinierte Zielgruppen und die neue Koalitionsoffen-
heit der Parteien erklären, warum SPD und Union weit unter ihren Möglichkeiten blieben.

                                                            sowie Sozialprofile der Wählerschaft. Dabei ermitteln
Einleitung                                                  sie kontinuierlich, welche Probleme die Bevölkerung
                                                            bewegen und wie diese die Problemlösungskompe-
Die Bundestagswahl vom 24. September 2017 war eine          tenz der Parteien einschätzen.
Erdrutschwahl. Sie brachte tektonische Verschiebun-
gen zwischen den Parteilagern mit sich, die die Kräfte-     Die Demoskopie leuchtet also mit eingefahrenen,
verhältnisse und Machtperspektiven im nunmehr auf           standardisierten Befragungsinstrumenten die Wäh-
sechs Parteien erweiterten Bundestag fundamental            lerseite des Wahlkampfs aus. Die Seite der Parteien,
verändern. Noch nie zuvor war der Ab- und Zufluss           mit ihren Wahlkampfaktivitäten und Wettbewerbs-
von Wählerstimmen zwischen den Parteien dermaßen            manövern, bleibt dabei unberücksichtigt. Aus stra-
groß gewesen. Erstmalig gelang es einer Rechtspartei        tegischer Sicht muss aber auch die Akteursseite, also
mit 12,5 Prozent ins Parlament einzuziehen. Die AfD         das konzeptionelle und operative Geschäft der Par-
bricht das bisherige bürgerlich-konservative Reprä-         teien, als wichtiger Bestimmungsfaktor des Wahlaus-
sentationsmonopol der Unionsparteien auf und wird           gangs untersucht werden.
dafür sorgen, dass sich die parlamentarische Arena für
die Artikulation illiberaler, rechtsautoritärer Ideologi-   Die nachfolgende Betrachtung befasst sich in selek-
en öffnet.                                                   tiver Form mit strategischen Schlüsselaspekten der
                                                            Konzipierung und Durchführung des Wahlkampfs der
Wie ist dieses dramatische Wahlergebnis zustande            SPD und CDU/CSU. Was ist – aus strategischer Sicht –
gekommen? Antworten darauf stellen traditionell             gut und was ist weniger gut gelaufen? Insbesondere
kommerzielle demoskopische Institute mithilfe ihrer         die Sozialdemokraten bieten sich an, weil sich ange-
Umfragedaten bereit. Sie erfragen Wählerpräferenzen         sichts ihres Absturzes während des Wahlkampfs eini-
und dynamische Popularitätswerte der Parteien und           ge wichtige strategische Lehren ableiten lassen. Doch
ihrer Spitzenkandidaten vor und während des Wahl-           die Analyse zeigt auch, dass der Wahlkampf der Union
kampfes und erfassen im Nachhinein Wanderung                zwischenzeitlich zu kippen drohte.
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                EXECUTIVE SUMMARY

                Wahlkämpfe sind Bewährungsproben durchdachter Strategiebildung. Sie sind dann erfolg-
                reich, wenn Parteien zunächst klare, realistische Ziele formulieren und anschließend ihre In-
                halte und ihr Personal darauf ausrichten. Eine Schlüsselfrage lautet dabei, welche Zielgruppen
                die jeweilige Partei ansprechen will.

                Das dramatisch schlechte Ergebnis der SPD bei der Bundestagswahl 2017 geht auf eine Verket-
                tung falscher strategischer Entscheidungen zurück. Dazu zählen u.a. die Mobilisierungspause
                vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, eine unklare Zielgruppen-Definition und die
                zu starke Anpassung des Spitzenkandidaten an die Vorgaben der Programmpartei SPD. Auch
                schaltete Martin Schulz zu spät und kaum vorbereitet auf persönliche Attacken gegen die
                Kanzlerin um. Ähnlich große Defizite wies die Strategie der Union im Bundestagswahlkampf
                2017 auf. Ihre Wohlfühlkampagne passte nicht zu dem Unmut in der Bevölkerung, der sich im
                Zuge der Flüchtlingskrise angestaut hatte.

                CDU/CSU stecken in einer Modernisierungsfalle: Sie haben das konservative Stammklientel
                preisgegeben, ohne hinreichend in das rot-grüne Milieu eingedrungen zu sein. Insgesamt wa-
                ren beide Kampagnen – die der SPD wie die der Union – zu starr und vom Scheitern bedroht.
                Ein besonderes Charakteristikum des Wahlkampfs bestand darin, dass die Parteien auf Koali-
                tionsaussagen verzichteten. Die strategischen Implikationen, die sich aus dieser neuen Situa-
                tion ergaben, wurden nur unzureichend verstanden.

                Um diese vielen Fehler abzustellen, sollten die Parteien künftig weniger auf den Rat kommer-
                zieller Meinungsforscher hören und stattdessen an ihrer langfristigen Strategiefähigkeit ar-
                beiten.

www.progressives-zentrum.org                                                                                     2
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                                                                nen lassen, beziehungsweise neue Wählerschichten
     Anforderungen an                                           hinzugewonnen werden können. Wie immer sich Par-
     Wahlkampfstrategen                                         teien bei der Zielgruppenfokussierung entscheiden,
                                                                ergibt sich daraus das strategische Folgeproblem, mit
     Wahlkämpfe sind Bewährungsproben durchdachter              welchen Themen die Zielgruppen anzusprechen sind
     Strategiebildung und flexibler strategischer Steuerung.    und wie ihnen glaubwürdig vermittelt werden kann,
     Wahlsiege und Wahlniederlagen haben verschiedene           dass sich die jeweilige Partei ihrer Interessen und An-
     Ursachen. Ein Erfolgsfaktor lautet, einen Wahlkampf        liegen annimmt. „Stimmenmaximierung“ zu betreiben,
     so anzulegen, dass greifbare Chancenpotenziale ge-         wie es gelegentlich heißt, steht hingegen außerhalb der
     nutzt werden können und das definierte Ziel, das auch      begrenzten strategischen Möglichkeiten von Parteien.
     erreichbar sein muss, durch den Einsatz tauglicher Mit-    Ein weiteres Wahlkampfziel kann das Bestreben sein,
     tel und Vorgehensweisen verwirklicht wird. Was Wahl-       Koalitionsmöglichkeiten auszuschöpfen und an der Re-
     kampfstrategie ausmacht, ist damit in groben Zügen         gierungsbildung beteiligt zu werden („office seeking“).
     schon beschrieben. Ausgehend von der gegebenen,
     stark veränderlichen Lage spielt eine Partei Möglich-      „Stimmenmaximierung zu betreiben, wie
     keiten der inhaltlichen Ausrichtung und personellen
     Aufstellung sowie die Kampagnenanlage auf ihre Er-
                                                                es gelegentlich heißt, steht außerhalb der
     folgsgewissheiten durch und wählt die Kombination          begrenzten strategischen Möglichkeiten
     an Zielen und Mitteln aus, die aus dem bestmöglichen       von Parteien.”
     Erfolgskalkül resultiert. Angestrebt wird, was lagebezo-
     gen greifbar und machbar ist und in der Folgenabschät-     Ohne ein klares Bild von der Lage ist kein durchdach-
     zung umsetzbar erscheint.                                  ter Wahlkampf zu entwickeln und durchzuführen. Al-
                                                                ternativen der Kampagnenführung lassen sich nämlich
                                                                nur insoweit zum Einsatz bringen, wie die öffentliche
     “Wahlkämpfe sind Bewährungsproben
                                                                Stimmungslage und das Meinungsklima es zulassen.
     durchdachter       Strategiebildung und                    Diesbezüglich verfügen die demoskopischen Institu-
     flexibler strategischer Steuerung.”                        te über eine Fülle von Umfragedaten, von denen ein
                                                                starkes Meinungsbildungsgewicht ausgeht. Noch ein-
     Hierzu gehört der Blick nach innen auf die infrage kom-    flussreicher ist, wie – abgestützt auf den Fluss der
     mende Auswahl des Spitzenkandidaten und auf ver-           Stimmungslage – der Medientenor die Kampagne in
     fügbare organisatorische Ressourcen so-wie bündelba-       ein positives beziehungsweise negatives Licht taucht.
     re Kampagnenexpertise. Des Weiteren ist das Marken-,       Die Anlage eines Wahlkampfes ist wechselhaften, mal
     Themen- und Kompetenzprofil wichtig, auf das der           günstigen und mal ungünstigeren Umständen, also
     Wahlkampf zurückgreift. Nach außen hin unterliegt          einer dynamischen Chancenstruktur ausgesetzt, aus
     die Lageeinschätzung der Wettbewerbssituation und          der die Wahlkampfstrategen das Beste machen müs-
     den Chancen und Gefahren, den Konkurrenzparteien           sen. Auf jeden Fall können sie nicht blindlings gegen
     Wählerinnen und Wähler abspenstig zu machen oder           alle Widrigkeiten anrennen und starr auf unrealistisch
     aber an sie zu verlieren. Das Wahlkampfziel besteht        gewordene Ziele setzen. Wenn ein Wahlziel wider der
     elektoral in erster Linie darin, Wählerinnen und Wähler    eigenen Erwartung an den Umständen zerschellt, muss
     zu halten, zurückzuholen oder hinzuzugewinnen („vote       auf eine Ersatzstrategie zurückgegriffen werden kön-
     seeking“).                                                 nen.

     Die Schlüsselfrage der Strategiebildung ist, welche
                                                                “Die Anlage eines              Wahlkampfs ist
     Wähler-Zielgruppen angesprochen werden sollen.
     Damit eng verknüpft ist zu klären, wie sich bishe-
                                                                einer dynamischen              Chancenstruktur
     rige Stammwähler bei der Stange halten oder sich           ausgesetzt.”

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                                                              abgesackt war und Sigmar Gabriel es sich erneut nicht
                                                              zutraute, die wenig kampfstarke Sozialdemokratie
     SPD: Geschichte eines                                    gegen Angela Merkel in den Wahlkampf zu führen.
     Niedergangs                                              Die Wahlkampagne verlief dann kurios, zumal Mar-
                                                              tin Schulz in den Umfragen zunächst ein fulminanter
     Der Bundestagswahlkampf der SPD endete am 24.            Aufstieg gelang, der sich bald in einen Abstiegsprozess
     September 2017 in einem Fiasko. Nachdem bereits          kehrte und am Wahltag in dem Desaster von 20,5 Pro-
     2013 mit einem Stimmenanteil von 25,7 Prozent die        zent (-5,1 Punkte) mündete. Die SPD legte also zunächst
     Hoffnungen auf einen Wiederaufstieg über die 30-Pro-      wie entfesselt einen Parforceritt hin, um dann immer
     zent-Marke zerplatzt waren, folgte der Wahlkampf         mehr die strategische Übersicht zu verlieren und aus
     2017 mit dem desaströsen Abstieg auf 20,5 Prozent.       der Spur zu geraten.
     Gegenüber 2013 büßte die SPD rund ein Fünftel ihrer
     Wählerschaft ein. In absoluten Zahlen ist das Ergeb-     Martin Schulz war der Überraschungsjoker der SPD und
     nis noch niederschmetternder: Nachdem sie zwischen       der Aufsteiger des Frühjahrs Februar/März 2017. Der
     1998 und 2009 die Halbierung ihrer Wählerzahlen          unter Volldampf stehende Schulz-Zug sollte die SPD
     von 20,2 Millionen auf 10,0 Millionen hinzunehmen        in den anstehenden Landtagswahlen in Schleswig-
     hatte, stimmten 2013 wieder 11,3 Millionen Wähle-        Holstein mitreißen und im September auf Bundesebe-
     rinnen und Wähler für die SPD. Im Jahr 2017 erlitt sie   ne zum Sieg führen. Auf diese Inszenierung war das
     dann mit 1,8 Million Verlusten erneut einen Rückfall     Wahlkampfdrehbuch ausgerichtet. Doch die Dinge ent-
     und wurde auf 9,5 Millionen Stimmen zurückgewor-         wickelten sich anders. Zwar zogen die Werte der SPD
     fen.                                                     bis März von 22 auf 33 Prozent steil an, sie verharrten
                                                              dann aber auf diesem Gipfelpunkt. Von diesem Auf-
     Für den Abstieg der SPD sind mit Blick auf die gesamt-   wärtssog profitierte die Saar-SPD im Vergleich zu ihren
     deutsche Stimmenverteilung zwei Entwicklungen            Umfragedaten von Anfang des Jahres. Bei der Landtags-
     charakteristisch. Zum einen setzte sich der Wähler-      wahl am 26. März 2017 landete sie bei 29,6 Prozent und
     schwund in den ostdeutschen und süddeutschen „Pro-       verlor damit gegenüber 2012 nur einen Prozentpunkt.
     blemländern“ weiter fort und lässt die Partei dort auf   Das schlechte Abschneiden der Grünen, die aus dem
     eine Kleinpartei schrumpfen. Zum anderen blieb, an-      Landtag flogen, verhinderte jedoch eine rot-rot-grüne
     ders als noch 2013, diesmal der Kompensationseffekt       Mehrheit.
     aus, mit dem die SPD in den Stadtstaaten und nord-
     westlichen Bundesländern durch Stimmenanteile von        Parallel mit den rückläufigen Zustimmungswerten der
     mehr als 30 Prozent das Nord-Süd- und West-Ostgefäl-     Bundes-SPD setzte dann am 7. Mai 2017 bei den Land-
     le wieder wettmachen konnte. 2017 fuhr sie auch in den   tagswahlen in Schleswig-Holstein der Abstiegsprozess
     einstigen Hochburgen starke Verluste ein. Das Gesamt-    ein, der die SPD von 30,4 auf 27,3 Prozent (-3,1 Punkte)
     ergebnis von 20,5 Prozent wirkt wie ein Abstieg in die   zurück warf. Die Regierung von Ministerpräsident Tors-
     zweite Liga. Nicht nur landet die SPD mit 12 Prozent-    ten Albig (Rot-Grün-SSW) wurde überraschend abge-
     punkten Abstand hinter der ebenfalls stark eingebro-     wählt. Zur regelrechten Katastrophe entwickelte sich
     chenen Union. Sondern sie hat damit auch strategisch     der Abwärtssog dann bei der NRW-Landtagswahl am
     die Fähigkeit eingebüßt, jenseits der CDU/CSU eine Ko-   14. Mai 2017. Dort war die SPD im März auf ein 40-Pro-
     alitionsregierung schmieden zu können.                   zent-Umfragehoch geschnellt, um dann ab April wieder
                                                              auf rund 30 Prozent zurückzufallen. Dies bildete sich
     Die SPD setzte bei ihrem Wahlkampf alles auf Martin      auch im Landtagswahlergebnis ab, bei dem die SPD mit
     Schulz, der im Januar 2017 vom damaligen Parteivor-      der populären Regierungschefin Hannelore Kraft um
     sitzenden Sigmar Gabriel von Brüssel auf die Berliner    7,9 Punkte auf einen Stimmenanteil von 31,2 Prozent
     Bühne geholt worden war. Dieser übernahm den Par-        abstürzte. Das SPD-Stammland fiel in schwarz-gelbe
     teivorsitz und später die Kanzlerkandidatur zu einem     Hände.
     Zeitpunkt, als die SPD auf 21 Prozent Zustimmung

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     Um im Bild zu bleiben: Spätestens zu diesem Zeitpunkt
     sprang der mit Volldampf gestartete Schulz-Zug aus
     den Gleisen – und der vom Aufsteiger zum Absteiger        Die Fehler des Kandidaten
     mutierte Schulz laborierte an seinem Wiederaufstieg.
     Denn mit den Niederlagen wandte sich die politische       Wie konnte das geschehen? Welchen Eigenanteil hat
     Stimmung gegen ihn. In seinen persönlichen Umfrage-       die SPD an dem schlechten Ergebnis – und was ist der
     werten und in denen der SPD setzte sich die Talfahrt      Gesamtsituation, der Konkurrenzkonstellation und den
     ungebremst fort und ließ das “Unternehmen Schulz”         nicht beeinflussbaren Gegebenheiten geschuldet? Ein Er-
     vollends scheitern. Während in der Bevölkerung bereits    klärungsansatz gehört in den Mittelpunkt: Martin Schulz
     im Mai der Glaube verschwunden war, dass die SPD vor      alleine trug die Kampagne, weshalb das Auf und Ab auf
     der CDU/CSU ins Ziel kommen würde, klammerte sich         ihn und sein Auftreten zurückzuführen ist. Er begann
     das Schulz-Team an das TV-Duell mit der Kanzlerin am      seinen Wahlkampf instinktiv mit einer auf ihn zuge-
     3. September 2017. Doch auch das Duell sollte nicht die   schnittenen Mobilisierungskampagne, die eine Sympa-
     Wende bringen.                                            thiewelle auslöste. Die ihm zuströmende Wertschätzung
                                                               wurde von den Medien wohlwollend begleitet. Im wech-
                                                               selseitigen Sogeffekt von steigenden Sympathiewerten,
     “Ein Äquivalent zu Gerhard Schröders
                                                               Neugier und positivem Medienfeedback schraubte sich
     ‘Nein’ zum Irakkrieg 2002 und der neo-                    die Mobilisierungsspirale nach oben. Befeuert wurde sie
     liberalen Wahlkampfblöße Merkels 2005                     von seiner Newcomer-Rolle und Persönlichkeit. Schulz
     war 2017 nicht greifbar.”                                 brachte authentisch und glaubwürdig seine menschliche
                                                               Seite und die damit verbundenen Brüche seines lebens-
     Schulz hielt gegen die öffentliche Meinung und zu-         geschichtlichen Werdegangs ins Spiel, die sich von Par-
     sehends ungünstiger werdende Medien-Resonanz              venü-Attitüden mancher SPD-Granden krass abhoben:
     unverdrossen an der Linie seines „Ich werde Kanzler“-     Er, der bodenständige, heimatverbundene Bürgermeis-
     Wahlkampfs fest. Dabei zog er Hoffnung daraus, in ei-      ter aus Würselen, der Schulabbrecher, der verhinderte
     nem fulminanten Schlussspurt doch noch zur wieder-        Profi-Fußballer, der trockene Alkoholiker und erfolgrei-
     erstarkten Kanzlerin und der CDU/CSU aufschließen         che Buchhändler. Der Parteivorsitzende verkörpert einen
     zu können; so wie es Schröder 2002 und 2005 gelun-        menschlich aufgeschlossenen und kontaktfreudigen,
     gen war. Doch dies gelang nicht, denn ein Äquivalent      redselig-wortgewandten, lebhaft-leidenschaftlichen Po-
     zu Gerhard Schröders „Nein“ zum Irakkrieg 2002 und        litiker. Darin eingebettet kam auch die Botschaft an, dass
     der neoliberalen Wahlkampfblöße Merkels 2005 war          Menschen, die hart arbeiten, Respekt gezollt werden
     2017 nicht greifbar. Auch setzte das temporäre Hoch       müsse.
     der SPD zu früh in der Vorwahlkampfzeit ein. Es kehr-
     te sich dann bis zum Ende des Wahlkampfs in einen         Diese Melodie spielte Schulz, die Menschen offenbar in
     Negativtrend um, den Schulz nicht erneut zu wenden        seinen Bann schlagend, in seinen vielen Auftritten immer
     vermochte. Das Manko, das die SPD vom kurzzeitig          wieder ab, um dann auf Bitten von Hannelore Kraft vor der
     aussichtsreichen Rivalen der Merkel-Union auf die Rol-    Landtagswahl in NRW eine Auszeit zu nehmen. Anstatt
     le des abgehängten Wahlverlierers zurückwarf, hat also    den Mobilisierungsauftrieb weiter anzuheizen, bremste
     wie bei einer Achterbahnfahrt mit dem Aufstiegs- und      er den Hype ab. Es ist auf den unüberlegten temporären
     Abstiegs-Zyklus zu tun, der die SPD herabriss.            Rückzug von Schulz aus der Berliner Arena zurückzufüh-
                                                               ren, dass seiner Kampagne die Energiezufuhr entzogen
                                                               wurde. Die von der NRW-SPD gewünschte Pause war die
                                                               Hauptursache für das Ende des Schulz-Hypes und das
                                                               Einsetzen der Talfahrt. Er hätte durch ein Feuerwerk an
                                                               täglichen angriffslustigen Medienauftritten und um sei-
                                                               ne Person herum inszenierte Pseudoereignisse die medi-
                                                               ale Aufmerksamkeitsökonomie an sich binden müssen.

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     Da all dies ausblieb, wandten sich die Anhänger der Links-   2009 einer von Merkel selbst forcierten Standardlogik,
     partei und der Grünen, die sich von seinem phänomena-        die auf den unter ihrer Ägide durchgesetzten Modernisie-
     len Aufstieg angesprochen gefühlt hatten, wieder ab. Die     rungskurs der Union zurückgeht.
     Begeisterung für das „new kid in town“ erlosch.
                                                                  Ihrer Herkunft nach versteht sich die CDU traditionell als
     “Aus dem selbstbewussten Herausforderer                      Volkspartei, die verschiedene Richtungen in sich verei-
     wurde ein Parteisoldat.”                                     nigt: die liberale, die christlich-soziale und die konserva-
                                                                  tive. Diese pluralistische, weltanschaulich-ideologische
     An die Seite der Mobilisierungspause trat ein weiterer       Integrationsspanne wurde unter Merkel infrage gestellt,
     strategischer Missgriff der Schulz-Kampagne: Schulz           seitdem ihr von demoskopischer Seite geraten wurde, das
     stieß als Brüsseler Quereinsteiger auf eine SPD, die sich    konservative Profilelement zugunsten der Öffnung hin zu
     als Programm- und Gremienpartei versteht und Politik als     Mitte-Wählern zu vernachlässigen. Den Ausgangspunkt
     getreue Umsetzung des zuvor detailliert festgeschriebe-      dieser Empfehlung liefert die Verteilung der Wählerinnen
     nen programmatischen Fahrplans auffasst. Schulz, offen-        und Wähler auf der sogenannten Links-Rechts-Achse.
     bar noch auf die unfertigen Fahrpläne wartend, gliederte     Das Ergebnis ideologischer Selbsteinschätzung ergibt
     sich in diese Beschlussvorlagen-Partei ein und ließ sich     eine Glockenkurve, bei der sich an die 60 Prozent der be-
     als Zugpferd vor den mit Fünf- und Zehn-Punktepro-           fragten Bundesbürger dem mittleren Bereich der Achse
     grammen vollgepackten Karren spannen. Er hatte nicht         zurechnen. Nun wird angenommen, dass diejenige Par-
     den kanzlertauglichen Marshallplan im Gepäck, sondern        tei mit der Stimme einer Wählerin rechnen kann, die auf
     die von ihm abzuarbeitenden Vorgaben und Aufträge der        der Links-Rechts-Achse die größte Nähe zu ihr aufweist.
     SPD. Aus dem authentisch daherkommenden, selbstbe-           So gesehen steigert eine Partei dann ihren Stimmenan-
     wussten Herausforderer wurde ein Parteisoldat. So wur-       teil, wenn sie ihren ideologischen Standort gezielt in die
     de Martin Schulz mit der bei 22 Prozent festgeklemmten       Nähe des so genannten Medianwählers platziert. Für die
     Partei identifiziert, anstatt sich über sie zu stellen und   CDU als Mitte-Rechts-Partei bedeutet diese Logik, sich
     anzutreiben. Und das, obwohl sich SPD-Kanzler bisher         vom Standort nach links zur Mitte hin zu verlagern und
     allesamt auf die – von den Medien und der Wählerschaft       so ihr Stimmerwerbspotenzial zu maximieren. Der Sorge,
     offenbar gewünschte – Aura eigenständiger Kraft und           Rechtswähler der CDU würden der nach links gewendeten
     Verantwortung gestützt hatten.                               Partei den Laufpass geben, wird gern dagegengehalten,
                                                                  dass es sich um eine ältere Stammwählergruppe hande-
                                                                  le, die in den kommenden Jahren deutlich schrumpfen
                                                                  werde. Im Saldo ließen sich die möglichen Verluste durch
     Die Merkel-Kampagne                                          weit stärkere Zugewinne unter den Mitte-Wählern über-
                                                                  kompensieren.
     und der ausgereizte
     Modernisierungskurs der                                      “Unter dem Motto der Modernisierung
     Union                                                        griff Merkel die Linkswende-Strategie
                                                                  auf und ließ sie sich angesichts inner-
     Die strategische Wahlkampfausrichtung und die Mobi-          parteilicher Widerstände im Sommer 2010
     lisierungsüberlegungen der Merkel-Union dienten alle-        mittels eines Präsidiumsbeschlusses der
     samt dem einen Ziel, die CDU/CSU in einer unangreif-
                                                                  Partei absegnen.”
     baren Mehrheitsbildungsposition zu halten, um damit
     Kanzlerpartei bleiben zu können. Der seit dem Jahr 2000
     an der Spitze der CDU stehenden Kanzlerin Angela Merkel      Unter dem Motto der Modernisierung griff Merkel die
     ist dabei hoch anzurechnen, dass sie dieses Ziel am 24.      Linkswende-Strategie auf und ließ sie sich angesichts
     September zum vierten Mal hintereinander erreicht hat.       innerparteilicher Widerstände im Sommer 2010, mit-
     Die Wahlkämpfe der Bundeskanzlerin folgen dabei seit         tels eines Präsidiumsbeschlusses der Partei, absegnen.

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     Hierin wurde unverblümt die Absicht zum Ausdruck             nicht zu erkennen. Sie ging einem Themenwahlkampf
     gebracht, in grüne und sozialdemokratische Wähler-           aus dem Weg und setzte auf eine Strategie der De-
     kreise eindringen zu wollen. In diesem Licht müssen die      mobilisierung und Entpolitisierung der Wählerschaft.
     einschneidenden Kursveränderungen im Familien- und           Irrtümlich hielt Martin Schulz der Kanzlerin auf dem
     Partnerschaftsverständnis der CDU, im Ausstieg aus der       Dortmunder SPD-Parteitag Ende Juni 2017 vor, mit ihrer
     Kernenergie, in der Abschaffung der Wehrpflicht und der       Strategie der asymmetrischen Demobilisierung der De-
     jüngsten Öffnung der Partei für die „Ehe für alle“ betrach-   mokratie zu schaden. Dieser Vorwurf trifft nur insoweit
     tet werden. Es handelt sich um durchdachte Schritte zur      ins Schwarze, als dass Merkel in der Tat jeder themati-
     Wählbarkeit der CDU in bürgerlich-weltoffenen und links-      schen Auseinandersetzung zur Offenlegung von Diffe-
     liberalen Wählerkreisen. Ihre, eher aus einer unbedachten    renzen zwischen den Politik-Alternativen von Union und
     Grenzöffnungsentscheidung resultierende, humanitäre           SPD aus dem Weg ging. Asymmetrische Demobilisierung
     Willkommenspolitik gegenüber Flüchtlingen ist in diese       auf der Grundlage von „Produktpiraterie“ oder „Themen-
     Modernisierungsstrategie der CDU mit einzubeziehen.          klau“ fiel hingegen diesmal aus. Erneut zum Einsatz kam
                                                                  allein ihre altbekannte Entpolitisierungsstrategie, sich
     Für Angela Merkel als Kanzlerin zahlte sich der Profil-      im Gestus der Überparteilichkeit dem Parteienstreit um
     wechsel der CDU aus, zumal sie weit in SPD- und grüne        konfliktgeladene Themen systematisch zu entziehen.
     Wählerkreise hinein breite Wertschätzung ansammeln           Dem diente nicht zuletzt das zentrale Plakat der CDU
     konnte. Die erhofften Wählerzuwächse für die CDU fie-         mit dem Wohlfühl-Satz „Für ein Deutschland, in dem
     len dagegen bescheiden aus beziehungsweise konnten           wir gut und gerne leben“. Zugleich nahm sie wieder die
     nicht realisiert werden. So fiel die CDU/CSU 2005 auf 35,2   Rolle der Staatenlenkerin ein, die sich, global angesehen
     Prozent Stimmenanteil zurück und konnte nur mit ei-          und einflussreich, zwischen den Großen der Welt bewegt.
     nem knappen Vorsprung vor der SPD das Kanzleramt er-         Ihre Botschaft: Die Aufgabe, internationale Krisen von
     obern. 2009 sackte die Partei weiter ab, auf 33,8 Prozent.   Deutschland fernzuhalten und sie zu bewältigen, ohne
     2013 gelang ihr der imponierende Sprung auf 41,5 Prozent     die Deutschen zu belasten, liegt bei mir in guten Händen!
     Stimmenanteil vor allem deshalb, weil sie abtrünnige         Teil des Wahlkampfdrehbuchs war überdies, die „Merkel-
     FDP-Wähler hinzugewinnen konnte. Die FDP bezahlte            meets-the-public“-Phase auf eine Vier-Wochen-Frist vor
     diesen Aderlass mit dem Abschied aus dem Bundestag.          der Bundestagswahl zu begrenzen.
     Zugleich scheiterte die AfD mit 4,7 Prozent nur knapp am
     Einzug ins Parlament. Bei der Bundestagswahl 2017 hat        “Sie ging einem Themenwahlkampf aus
     Merkel nun den Absturz der CDU/CSU um 8,5 Punkte auf
     desaströse 32,9 Prozent zu verantworten. Er fußt in erster
                                                                  dem Weg und setzte auf eine Strategie
     Linie auf dem Abfluss von 1,3 Million Unionswählern zur      der Demobilisierung und Entpolitisierung
     FDP und von 1 Million Wählerinnen und Wählern zur AfD.       der Wählerschaft.”
     Vom rot-grünen Wählerreservoir war hingegen nichts
     Nennenswertes zu holen. Dem Modernisierungskurs der          Bis in den Sommer hinein gingen wie geplant Bilder um
     Merkel-CDU kann also letztlich elektoral keine respekta-     die Nachrichtenwelt, die diesem gezielten Eindrucks-
     ble Erfolgsbilanz bescheinigt werden.                        Management dienten. Der als Schlusspunkt der Kam-
                                                                  pagne gedachte G20-Gipfel in Hamburg erzeugte mit
                                                                  seinen anarchischen Gewaltexzessen indes kontrapro-
     “Dem Modernisierungskurs der Merkel-
                                                                  duktive Bilder. Die sterile Wohlfühlkampagne brach in
     CDU kann also elektoral keine respekta-                      den Schlusswochen vollends ein, als der Kanzlerin auf
     ble Erfolgsbilanz bescheinigt werden.”                       ihren öffentlichen Kundgebungen ein Pfeifkonzert und
                                                                  der Hass von Veranstaltungsstörern entgegenschlugen.
     Zwar hatte Merkel noch im November 2016 vorhergesagt,        Auch die geölte Wahlkampfmaschinerie konnte die me-
     dass der Bundestagswahlkampf 2017 anders werden wür-         diale Verbreitung dieser verstörenden Bilder nicht verhin-
     de als die Wahlkämpfe zuvor, doch an der von ihr einge-      dern. Der Protest speiste sich in erster Linie aus dem Wi-
     schlagenen Wahlkampflinie waren diese Neuerungen             derstand zur merkelschen Flüchtlingspolitik. Die Sorgen,

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4_2017 DISCUSSION PAPER

     von der die Bevölkerung wegen der Flüchtlinge erfasst
     wurden, stiegen nach IfD-Allensbach-Befunden zwischen
     Mai und Juni 2017 von 23 auf 47 Prozent an und wurden        Stolpersteine des
     somit zu einem wahlentscheidenden Faktor. Außerdem           Angriffswahlkampfs gegen
     wurde die Kanzlerin in den diversen Talkshowrunden von
     ZDF und ARD vor einem ausgewählten Publikum mit kon-         Merkel
     kreten Renten- und Pflegeproblemen konfrontiert, die
     ihre Wahlkampfstrategie durchkreuzten. Bezeichnend           Anders als in den USA und den europäischen Nachbar-
     für den Kontrollverlust der Kanzlerin über die Themen-       ländern gilt in Deutschland das Mantra, dass persönliche
     Agenda war, dass die Union in der Sonntagsfrage ab Ende      Angriffe gegen politische Gegenspieler und Rivalen („ne-
     August Verluste erlitt, die schließlich in das miserable     gative campaigning“) zu unterlassen seien. Sie würden
     Wahlergebnis von 32,9 Prozent mündeten.                      als unschicklich auf den Angreifer zurückfallen – und
                                                                  dies umso mehr, wenn die angegriffene Person Sympa-
     “Damit steht die CDU am Endpunkt ein-                        thieträgerin ist und ihrerseits persönliche Angriffe unter-
                                                                  lässt. Diese verbreitete Ansicht fußt auf der tief sitzenden
     er von Merkel betriebenen Entwicklung,                       Konflikt- und Streitscheu der deutschen Konsenskultur.
     die die Partei in eine Modernisierungsfalle                  Von ihr profitiert in der jetzigen Konstellation allein die
     geführt hat.”                                                Kanzlerin.

     Damit steht die CDU am Endpunkt einer von Merkel be-         Angela Merkels Erfolgslogik in Wahlkämpfen besteht
     triebenen Entwicklung, die die Partei in eine Moderni-       darin, diesen mithilfe ihrer Selbstinszenierung unge-
     sierungsfalle geführt hat. Die strategische Preisgabe der    schehen zu machen. Sie meidet die Auseinandersetzung,
     konservativen Stammklientel hat nicht zur erfolgreichen      spitzt nicht zu und kämpft nicht um die Überzeugungs-
     Verlagerung der Partei ins rot-grüne Wählermilieu ge-        und Rechtfertigungsgrundlagen ihrer „alternativlosen“
     führt. Sie schenkte den Warnzeichen keine Beachtung,         Politik. Widerstreitende Interessen blendet sie in ihrer Po-
     dass die Unionswählerschaft seit Jahren von Zentrifu-        litikvermittlungsstrategie aus, und damit auch Interes-
     galkräften auseinandergetrieben wird, wobei einer Hälfte     senkonflikte. Politik reduziert sich damit auf die Lösung
     der Modernisierungskurs gerade recht ist, ein Viertel sich   von Sachproblemen.
     die Union noch moderner wünscht und ein Viertel sie
     gern konservativer hätte. Nun hat sich die AfD erfolgreich   “Angela Merkels Erfolgslogik in Wahl-
     in die von der CDU verursachte Vertretungslücke von
                                                                  kämpfen besteht darin, diesen mithilfe
     politisch heimatlos gewordenen rechtskonservativen
     Wählerinnen und Wählern hineingedrängt und zerstört          ihrer Selbstinszenierung ungeschehen zu
     damit das in der Nachkriegszeit bisher unangefochtene        machen.”
     Vertretungsmonopol des bürgerlich-konservativen La-
     gers durch die Union. Auch der massenhafte Wechsel von       Mit ihrer Rhetorik verschachtelt die Kanzlerin was sie zu
     Unionswählern zur FDP ist ein schrilles Warnsignal, der      sagen hat entweder in ein Satzungetüm, oder sie flüchtet
     wirtschaftsliberalen Profilbildung und Klientelpflege der    sich in Leerformeln und Unbestimmtes. Sie meidet poli-
     Partei nicht genügend Beachtung geschenkt zu haben.          tische Debatten. Ihre gezielte Sparsamkeit, sich öffentlich
     Kurzum, die Union wird in der Modernisierungsfalle mit       mitzuteilen, kaschiert ihre begrenzten Fähigkeiten glanz-
     einer offen ausgebrochenen Integrationskrise konfron-         voller Rhetorik und argumentativer Eloquenz. Ihr Ein-
     tiert. Zur Bewältigung dieser Krise wird ihr ein Spagat      drucksmanagement setzt auf die vordergründigen Bilder,
     abverlangt, wobei sich die wieder erstarkte FDP und die      die speziell die elektronischen Medien von ihr herstellen
     raumgreifende AfD die Beute aus dem Jagdrevier der Uni-      und verbreiten. Insofern bietet der Darstellungsstil der
     on nicht so leicht wieder abnehmen lassen werden.            Kanzlerin kaum Angriffsflächen. Als dem Parteienhader
                                                                  enthobene Regierungschefin bedient sie den Wunsch der
                                                                  Deutschen nach Konsens und Verlässlichkeit. Entspre-
                                                                  chend hoch sind ihre Zustimmungswerte.

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     Geht ein Herausforderer oder eine Herausforderin auf        eigen machte, löste die Attacke massive Gegenwehr aus
     Konfrontationskurs, droht er/sie als streitsüchtig und      den CDU- und CSU-Zentralen aus, was die Leitmedien un-
     stillos abgekanzelt zu werden. Die SPD hat die Kanzle-      terstützend aufgriffen. Schulz – und nicht Merkel – hatte
     rin deshalb lange mit Kritik geschont und ihre Strategie    sich der Folgen des überzogenen Angriffs zu erwehren.
     dadurch gestützt. Mehr noch: In der schonungslos aus-
     getragenen persönlichen Fehde zwischen Horst Seehofer       Hieran wird die undurchdachte Vorgehensweise von
     und Angela Merkel um die Begrenzung der Flüchtlings-        Schulz ersichtlich. Nicht nur, dass das Umschalten auf
     zahlen stellte sie sich schützend vor die Kanzlerin.        persönliche Attacken viel zu spät kam, nachdem die
                                                                 Kanzlerin ihre Schwächephase längst überwunden hatte.
     Mit der Übernahme der Kanzlerkandidatur stand es            Überdies fehlte es der Attacke auch an vorbedachter Re-
     Schulz frei, Merkel persönlich anzugreifen, zumal er kein   aktion, den zu erwartenden Gegenangriff mit der Vertie-
     Ministeramt inne und damit keine Loyalitätsverpflich-       fung und Fortführung der Attacke Paroli zu bieten. Wei-
     tung hatte. Mit persönlichen Attacken Treffer zu setzen,     tere Vorwürfe gegen die Kanzlerin zu erheben, hätte der
     hätte aber vorausgesetzt, einen permanenten Schwarm         Kampagne vielleicht Nachdruck verliehen, um hierdurch
     von Pfeilen auf die Kanzlerin abzuschießen. Schulz ver-     eine längere mediale Aufmerksamkeitsspanne, vielleicht
     folgte anfangs hingegen die Linie, Merkel zu schonen        gar eine Themenkarriere zu erzielen.
     und einen Keil zwischen die beiden zerstrittenen Schwes-
     terparteien CDU und CSU zu treiben. Dies misslang, wie      Persönliche Attacken müssen strategisch vorbereitet
     spätestens mit dem Friedensschluss zwischen Seehofer        sein. Sie bedürfen der Nachhaltigkeit, des Hin und Her,
     und Merkel im Frühjahr 2017 deutlich wurde. Der fried-      der Wiederholung und des Dauerfeuers, um die medialen
     liche Schongang gegenüber der Kanzlerin verschuf ihr        Aufmerksamkeitshürden zu überwinden und um dem
     noch dazu die Luft, ihre, von den Medien aufgegriffene,      Bild der Kanzlerin im öffentlichen Bewusstsein Kratzer
     lustlose Schwächephase während des Jahreswechsels           beizubringen. Zudem geht es um die Platzierung geflü-
     zu überwinden. Infolgedessen schloss sie an ihre hohen      gelter Worte („Merkel merkelt wieder“), um das Rede- und
     Sympathiewerte wieder an, auch indem sie mit einem          Argumentationsverhalten der Gegnerin mithilfe eingän-
     Feuerwerk an Pseudoereignissen ihre mediale Dauerprä-       giger Assoziationsketten in ein kritisches Licht zu stellen.
     senz als hoch angesehene Staatenlenkerin auf der natio-     Nicht zur Debatte steht hierbei die ehrverletzende und
     nalen und internationalen Bühne sicherstellte.              erniedrigende Pauschalkritik, die den Herausforderer in
                                                                 der Tat diskreditiert hätte. Auch Angriffslust fällt auf den
     “Mit persönlichen Attacken Treffer zu                        Angreifer zurück, wenn sie persönlichen Groll oder einen
                                                                 Empörungsreflex als Ausfluss persönlicher Kränkungen
     setzen, hätte aber vorausgesetzt, einen
                                                                 und Enttäuschungen zum Ausdruck bringt. Die persönli-
     permanenten Schwarm von Pfeilen auf                         che Attacke ist nur dann legitim, wenn sie kritikwürdige
     die Kanzlerin abzuschießen.”                                Schwächen der Kanzlerin öffentlich macht und selbst als
                                                                 Ausdruck von schlagfertiger Souveränität und Gegner-
     Angesichts der sich öffnenden Schere zwischen den Sym-       schaft auf Augenhöhe daherkommt.
     pathiewerten der Kanzlerin und denen des Herausforde-
     rers reifte bei Schulz dann der Entschluss, die Kanzlerin   “Es fehlte der Attacke auch an vorbe-
     doch persönlich unter Beschuss zu nehmen. Wie wenig
     hinter dieser Kurskorrektur jedoch eine gezielte Kampa-
                                                                 dachter Reaktion, den zu erwartenden
     gnenstrategie stand, wurde auf dem Dortmunder Par-          Gegenangriff mit der Vertiefung und Fort-
     teitag der SPD Ende Juni 2017 deutlich. Einigermaßen        führung der Attacke Paroli zu bieten.”
     grobschlächtig hielt er der Kanzlerin ihre angeblich er-
     neut betriebene Strategie der asymmetrischen Demo-
     bilisierung vor, die einen „Anschlag auf die Demokratie“
     darstellen würde. Abgesehen von dem unverständlichen
     Soziologen-Kauderwelsch, das sich Schulz damit zu

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                                                                  “Nicht abwegig ist die These, dass so-
     Warum der                                                    ziale Gerechtigkeit auf anschauliche und
     Gerechtigkeitswahlkampf der                                  die Menschen unmittelbar ansprechende
     SPD scheiterte                                               Themen und Problemfelder herunterge-
                                                                  brochen werden muss.”
     Wenn Parteien der sogenannten Salience-Theorie folgen,
     heben sie im Wahlkampf gezielt diejenigen Themen her-        Die Gründe des gescheiterten Gerechtigkeitswahlkamp-
     vor, für die ihnen von der Wählerschaft traditionell Prob-   fes liegen aber noch tiefer. Soziale Gerechtigkeit bezieht
     lemlösungskompetenz zugesprochen wird. Dies schlägt          ihre Virulenz aus der sozialen Ungleichheitsstruktur der
     bei der CDU/CSU beim Thema Wirtschaft, Recht und             Gesellschaft. Und die SPD ist historisch die Partei, die ihre
     Ordnung oder innere Sicherheit durch, während bei den        Anhängerschaft mit dem Versprechen bindet, ihre Aus-
     Grünen der Umweltschutz obenan steht. Der SPD wird           beutung, Schlechterstellung und Diskriminierung auch
     traditionell bescheinigt, dass sie für soziale Gerechtig-    gegen den Widerstand der bessergestellten Kreise, gegen
     keit einsteht. Nach wie vor ist dies ihr unumstößlicher      die Mächtigen der Gesellschaft zu vertreten. Insofern ist
     Markenkern, wenngleich er im Gefolge der schröderschen       eine Partei für Soziales noch keine Partei der sozialen Ge-
     Agenda-Politik stark beschädigt wurde. Mittlerweile ha-      rechtigkeit. Mit sozialer Gerechtigkeit um Stimmen zu
     ben sich ihre Kompetenzwerte auf diesem Gebiet aber          werben, heißt nämlich, die soziale Frage zu politisieren
     wieder erholt, sodass ihr zu Wahlkampfbeginn fast jeder      und damit die Frage nach „who gets what from whom“?
     vierte das Eintreten für Gerechtigkeit zubilligte.           (Harold Lasswell), nach Begünstigung und Benachtei-
                                                                  ligung aufzuwerfen. Soziale Gerechtigkeit berührt das
     Vor diesem Hintergrund entschloss sich die SPD-Führung,      Oben-Unten-Verhältnis der gesellschaftlichen Gruppen
     die Schulz-Kampagne thematisch auf einen Gerechtig-          zueinander. Aus dieser Perspektive bedingen Bevor- und
     keitswahlkampf hin zuzuspitzen. Der Slogan „Zeit für         Benachteiligung einander. Die Schlechterstellung einer
     mehr Gerechtigkeit“ lieferte die Überschrift für das Wahl-   Gruppe gegenüber den Bessergestellten wird als Benach-
     programm und stand im Mittelpunkt der Plakatierung.          teiligung und ungerecht empfunden. Ungerechtigkeit
     Wie sich an dem desaströsen Wahlausgang ablesen lässt,       abzubauen bedeutet dann, zugunsten von Benachteilig-
     wollte, wie schon 2013, auch 2017 der auf soziale Gerech-    ten auf Kosten von Bevorteilten Ungleichheitsverhältnis-
     tigkeit fokussierte Wahlkampf nicht zünden. Hierfür gibt     se abzubauen.
     es keine auf den ersten Blick einleuchtende Erklärung.
     Nicht abwegig ist die These, dass soziale Gerechtigkeit      Wenn es je eine Mission für die Sozialdemokratie gab,
     auf anschauliche und die Menschen unmittelbar anspre-        dann die, den Konflikt um mehr soziale Gleichheit und
     chende Themen und Problemfelder herunter gebrochen           eine gerechtere Gesellschaftsordnung politisch auszu-
     werden muss. Auch spricht einiges für die These, dass        tragen und Menschen zu besseren Lebensverhältnissen
     mit sozialer Gerechtigkeit schwerlich gepunktet wer-         zu verhelfen. Darin findet das klassische Versprechen der
     den kann, wenn es der übergroßen Mehrheit gut geht           SPD auf sozialen Aufstieg seine Bewährung. Ein sozialde-
     und diese mit ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage       mokratischer Gerechtigkeitswahlkampf spricht gezielt
     zufrieden ist. Schließlich können auch eine ungünstige       die unbefriedigende Interessenlage der Menschen an und
     Themenkonjunktur und die Überlagerung der sozialen           positioniert die Partei als Repräsentationsorgan der ihr
     Gerechtigkeitsfrage durch andere, weit mehr unter den        am Herzen liegenden Gruppeninteressen. Interessenkon-
     Schuhen brennenden, Themen einen Gerechtigkeits-             flikte offenzulegen und couragiert auszutragen, macht
     wahlkampf verhageln.                                         das Versprechen, für mehr soziale Gerechtigkeit einzutre-
                                                                  ten, erst glaubwürdig. Die SPD beugt damit der verbrei-
                                                                  teten politischen Sterilisierungstendenz um die soziale
                                                                  Frage vor, nämlich den Wettstreit zwischen den Parteien
                                                                  auf ein Ringen um die beste Lösung von Sachproblemen
                                                                  zu reduzieren.

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     Nun liegen aber Ungerechtigkeitsverhältnisse nicht un-      sie sich zwar noch nicht auf Augenhöhe mit der Union,
     mittelbar greifbar auf der Hand, sondern müssen erst        könnte aber bei möglichen Koalitionsbildungen wieder
     veranschaulicht werden. Denn eine Gerechtigkeitskam-        mitspielen. Jetzt geht es zunächst vorrangig darum, nicht
     pagne kann nicht allein auf das verbreitete allgemeine      unter die 20-Prozent-Marke gedrückt zu werden und da-
     Ungerechtigkeitsempfinden in der Bevölkerung setzen.        mit dauerhaft eine Machtperspektive zu verlieren.
     Sie muss zu den einzelnen Wählerinnen und Wählern
     durchdringen, welche die Leidtragenden sozialer Unge-       Strategisch muss es der Partei auf einem auf sechs Partei-
     rechtigkeitsverhältnisse sind und dies auch so empfin-      en erweiterten und aufgefächerten Anbietermarkt darum
     den. Eine erfolgsorientierte Gerechtigkeitskampagne be-     gehen, ihren Markenkern als Alleinstellungsmerkmal zu
     nötigt ein empörendes Bild von zum Himmel schreienden       erhalten und mit einem unverwechselbaren Profil einen
     Ungleichheitsverhältnissen und Ungleichbehandlung.          nicht verdrängbaren Platz im Standortwettbewerb einzu-
     Der Verweis auf kapitalistische Ausbeutungsverhältnis-      nehmen. Dem trägt die SPD, anders als die Merkel-CDU,
     se oder den globalen Finanzkapitalismus reicht nicht,       mit ihrem ausladenden programmatischen Angebots-
     sondern muss mit konkreten, anschaulichen Beispielen        Portfolio noch nicht wirklich Rechnung. Im Gegenteil
     unterlegt werden. Da das Ungerechtigkeitsempfinden          präsentiert sie sich nach wie vor als politischer Groß-
     bei den betroffenen Menschen zumeist erst durch die          Wettbewerber wie ein Karstadt-Warenhaus, während die
     drastische Zuspitzung von Beispielfällen hervorgerufen      wachsende Konkurrenz sich mit dem Geschäftsmodell
     und wach gehalten werden kann, ist bei einem Gerech-        des exquisiten Kleinanbieters in Stellung bringt. Das
     tigkeitswahlkampf jeder politischen Forderung zunächst      „Alles-im-Angebot“-Prinzip der SPD lässt keinen öffent-
     in personalisierter Beispielform ein Ungerechtigkeits-      lichen Güter- und Dienstleistungsversorgungsbereich
     skandal vorzulagern, um dann die Lösung hin zu mehr         aus, hat aber auch nach wie vor den distinktionslosen
     Gerechtigkeit zu offerieren. Vonnöten ist die skandalisie-   Massengeschmack der Gesamtwählerschaft vor Augen.
     rende Zuspitzung, um größere mediale Aufmerksamkeit
     und kollektive Betroffenheit zu wecken.
                                                                 “Strategisch muss es der Partei auf ei-
     Martin Schulz hat dies in seinen Reden mit der Gegen-
                                                                 nem auf sechs Parteien erweiterten und
     überstellung des steuerzahlenden Bäckers und des steu-      aufgefächerten Anbietermarkt darum
     ervermeidenden Amazon-Konzerns durchaus prototy-            gehen, ihren Markenkern als Alleinstel-
     pisch vorgeführt. Es ist aber offenkundig, dass bei der      lungsmerkmal zu erhalten und mit einem
     Vermittlung all der Vorschläge der SPD zur Steuer-, Bil-    unverwechselbaren Profil einen nicht ver-
     dungs-, Renten-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik       drängbaren Platz im Standortwettbewerb
     der Zwei-Sprung von „ungerecht ist“ und „das beseitigen
                                                                 einzunehmen.”
     wir“ nicht in den Mittelpunkt gerückt wurde.

                                                                 Die alte Wähler-Anziehungskraft dieses Konsumtempel-

     Das Karstadt-Label                                          Modells ist längst verloren gegangen. Die SPD setzt aber
                                                                 weiterhin auf ihr „Für-jeden-alles“, bei dem kein Pro-
     des politischen                                             duktbereich ausgespart bleibt. Hier bricht ihr traditionel-
                                                                 les Politikverständnis durch, alle erdenklichen Probleme
     Angebotsportfolios der SPD                                  dem politischen Gestaltungsanspruch zu unterwerfen
                                                                 und in all seinen Facetten durchzubuchstabieren.
     Das schlechte Wahlergebnis macht die SPD auf abseh-
     bare Zukunft bestenfalls zu einer Mittelgewichtspartei,     Martin Schulz griff diese Linie mit einem nicht enden wol-
     die der Schwergewichtspartei CDU/CSU nicht das Wasser       lenden Register an kleinteiligen politischen Versprechen
     reichen kann. Die Messlatte, die die SPD beim Wiederauf-    auf, die in der Öffentlichkeit mit immer kürzerer Halb-
     stieg zu überwinden hätte, liegt bei 30 Prozent aufwärts.   wertszeit an der Aufmerksamkeitsschwelle zerschellten.
     Käme sie wieder auf diesen Stimmenanteil, befände           Thematisiert wurden: Donald Trump, Nordkorea, die

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4_2017 DISCUSSION PAPER

     Türkei-Beitrittsverhandlungen, die Finanzausstattung         gedankenlos unterließ, Wählerkreise herauszuheben, für
     der Bundeswehr, Europa und das Verhältnis zu Frankreich,     die sie sich einzusetzen gedachte.
     der G20-Gipfel in Deutschland, bessere Infrastruktur und
     Schulsanierung, kostenfreier Kita-, Schul- und Unibesuch,
     Abschaffung des Kooperationsverbots, Integration der
                                                                  “Vielleicht unterliegt die SPD dem
     Flüchtlinge, Grundrente, Bürgerversicherung, Rentenre-       Missverständnis, dass Wählergruppen
     form, Pflegereform, Mietpreisbremse, Steuerreform, Er-       von sich aus erkennen würden, welche
     halt der Dieseltechnologie, Verlängerung des Arbeitslo-      Partei sich mit ihren Politikvorstellungen
     sengeldes, Ausbau des Kinder- und Elterngeldes, und so       für sie einsetzt.”
     weiter und so weiter.

     Was all diesen Einzelplänen und Einzelforderungen ab-        Für eine 25-Prozent-Partei läuft diese vage und ungerich-
     ging, war die Einbindung in einen sinngebenden, verdich-     tete Wähleransprache darauf hinaus, dass sich niemand
     tenden Überbau mit der Botschaft, was Sozialdemokra-         so richtig angesprochen fühlt. Vielleicht unterliegt die
     ten unter “Zusammenhalt” und einer “nicht gespaltenen        SPD dem Missverständnis, dass Wählergruppen von sich
     Gesellschaft” verstehen.                                     aus erkennen würden, welche Partei sich mit ihren Poli-
                                                                  tikvorstellungen für sie einsetzt. Ganz im Gegenteil: Für
                                                                  die SPD ist nichts gewonnen, wenn sie nicht proaktiv um
                                                                  jene Zielgruppen wirbt, von denen sie annimmt, sie als
     Keine Kampagne ohne                                          Wählerinnen und Wähler gewinnen und möglichst zu ei-
                                                                  ner Wählerkoalition zusammenschmieden zu können.
     Zielgruppenbestimmung
                                                                  Die Chance, sich zum Fürsprecher einer solchen inklusi-
     Gute Ideen und Wahlkampfkonzepte entfalten ihre Wir-         ven Zielgruppe zu machen, ergriff die Partei indes nicht.
     kungskraft erst dann, wenn klar ist, für wen sie was brin-   Es hätte nahegelegen, sich zum Anwalt jener rund 40 Pro-
     gen und für welche Zielgruppen sie in die Tat umgesetzt      zent der Beschäftigten in Deutschland zu machen, die in
     werden sollen. Die SPD zog unter Martin Schulz einen         den vergangenen Jahren von jeglicher Nettosteigerung
     Gerechtigkeitswahlkampf auf, der in dieser Hinsicht im       der Löhne ausgeschlossen wurden. Doch diese Chan-
     Unklaren beließ, welche Zielgruppen sich davon ange-         ce ließ die Partei ungenutzt. Dabei hätte sie gerade um
     sprochen fühlen sollten. Für wen die SPD erklärtermaßen      diese Zielgruppe ihren Gerechtigkeitswahlkampf ranken
     eingetreten ist, wurde weder der Öffentlichkeit noch den      können. Dies umso mehr, wo sich das Bild der boomen-
     in den Fokus genommenen Zielgruppen deutlich. An             den Wirtschaft und des Exportweltmeisters Deutschland
     Wähler-Zielgruppenanalysen mangelt es der Partei dabei       gegen die Lebenswirklichkeit der davon nicht profitieren-
     nicht. Nur welche Schlussfolgerungen sie daraus ziehen       den Beschäftigten hätte kontrastieren lassen.
     soll, diese Frage ist nicht mit einem erfolgversprechenden
     Zielgruppenkonzept beantwortet worden.
                                                                  “Eine Wiederauferstehung als Arbeiter-
     Martin Schulz brachte anfänglich die bei Bill Clinton ent-   partei schließt sich von vorneherein aus,
     lehnte Zielgruppe der „hart arbeitenden Menschen“ ins        weil diese Gruppe weiter der Erosion un-
     Spiel, wobei der Begriff „Menschen“ zeitweilig auch durch     terliegt und kein richtiger Milieuzusam-
     „Mitte“ ersetzt wurde. Von Dauer war dieser Fokus nicht.     menhang mehr besteht.”
     Offenkundig blieben auch die „kleinen Leute“ und die
     „Arbeiter“ ausgeklammert. Die Mitte wurde nicht weiter
     nach Berufsgruppen aufgeschlüsselt und die „neue Mit-
     te“ fiel offenbar vollständig aus dem Zielgruppen-Arse-       Vor diesem Hintergrund geht es der SPD, um ihr wei-
     nal heraus. Infolgedessen drängt sich der Eindruck auf,      teres Absinken zu verhindern, um die Stabilisierung
     dass die SPD es gezielt oder unschlüssig, vielleicht auch    und Erschließung von Wählerpotenzialen, die auf ihre

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     Politikvorstellungen ansprechbar sind. Sie wird davon          unter Merkel die Asylgesetze mehrmals verschärft. Doch
     Abstand nehmen müssen, sich von demoskopisch er-               stiegen die Sorgen über die Flüchtlinge im Sommer 2017
     hobenen Wünschen und Ansichten der Gesamtwähler-               überraschenderweise wieder stark an und haben vermut-
     schaft weiter blenden zu lassen. Auch sich wie gehabt als      lich zum Umfrageabsturz der CDU/CSU ab Juli/August
     Arbeitnehmerpartei, als Partei der kleinen Leute, der hart     beigetragen.
     arbeitenden Menschen, der neuen Mitte, der Leistungs-
     träger, zu positionieren, ist nicht zielgenau genug, um
                                                                    “Die CDU hat ihren Repräsentationsbogen
     in der Wählerlandschaft weiterhin verankert zu bleiben.
     Eine Wiederauferstehung als Arbeiterpartei schließt sich       nach links verschoben und auf der rechten
     von vorneherein aus, weil diese Gruppe weiter der Erosi-       Seite aus der Verankerung gerissen.”
     on unterliegt und kein richtiger Milieuzusammenhang
     mehr besteht. Darüber hinaus sind die einschneidenden          Bei der SPD geht der Kulturkonflikt um libertäre, kos-
     Verluste der Partei unter ehemaligen Arbeiter-Stamm-           mopolitische Wertvorstellungen einerseits und autori-
     wählern, als Folge der Agenda-Politik, nicht mehr rück-        täre Werte der Begrenzung und Schließung andererseits
     gängig zu machen. So fiel die SPD laut Infratest dimap         mitten durch ihre Wählerschaft hindurch. Repräsentiert
     unter Arbeitern am 24. September 2017 auf 24 Prozent (-3       wurde dieser Spannungsbogen durch die Partei nicht. Im
     Punkte). Dagegen konnte die neue Konkurrenzpartei AfD          Schulterschluss mit ihren Mitgliedern vertrat die Partei-
     ihre Arbeiterstimmen erneut um 15 Punkte auf einen An-         führung stattdessen einseitig libertäre Werte bildungs-
     teilswert von 21 Prozent steigern.                             bürgerlicher Kreise aus den gehobenen Mittelschichten.
                                                                    Umgekehrt sind autoritäre Werthaltungen stärker in sozi-
                                                                    aldemokratischen Wählerkreisen aus der unteren Mittel-
                                                                    schicht und der Arbeiterschicht verankert. Das Schisma
     Das Integrationsversagen                                       macht sich an der Flüchtlingsfrage fest, an der konträre
     der Volksparteien bei der                                      Positionen der Öffnung und Toleranz einerseits und der
                                                                    Schließung und ethnozentrischen Ausgrenzung anderer-
     Flüchtlingsfrage                                               seits verfochten werden. Zwar schwingen bei der unteren
                                                                    Mittelschicht und der Arbeiterschicht fremdenfeindliche
     Großparteien mit Volksparteianspruch müssen ihre so-           Mentalitäten und kulturelle Überfremdungssorgen mit,
     zial, kulturell und mental heterogen zusammengesetzte          doch geht es dieser Gruppe im Kern um einen auf ihrem
     Wählerschaft zusammenbinden und ihnen in der Vertre-           Rücken ausgetragenen Verteilungskonflikt, bei dem sich
     tung ihrer Interessen und Wertvorstellungen ein entspre-       sozialdemokratische Wählerinnen und Wähler aus dem
     chend breit gefächertes Repräsentations- und Resonanz-         gesellschaftlichen Souterrain in ihrer Existenzgrundlage
     spektrum bieten, in dem sie sich angenommen fühlen.            im Hinblick auf Wohnen, Arbeiten und staatliche Unter-
     Die CDU hat ihren Repräsentationsbogen nach links ver-         stützungsleistungen bedroht sehen.
     schoben und auf der rechten Seite aus der Verankerung
     gerissen. In der Flüchtlingskrise spitzte sich die hierdurch   Die SPD hat im Wahlkampf einseitig für ihre kosmopo-
     ausgelöste Spannung auf einen Kulturkonflikt zu. Auf der       litische bildungsbürgerliche Klientel Partei ergriffen, um
     einen Seite fühlten sich von Merkels humanitär-weltoffe-        die in der Flüchtlingsfrage auch die Grünen und die Lin-
     nen Ausrichtung der Flüchtlingsfrage bürgerlich-libertäre      ken werben. Martin Schulz lud die positive Haltung ge-
     Trägergruppen der Willkommenskultur stark angespro-            genüber Flüchtlingen sogar noch emphatisch zu einem
     chen, während eine Mehrheit unter den potenziellen             Gesinnungsimperativ auf, während die soziale Dimensi-
     Unionswählern über den Flüchtlingszustrom besorgt war          on der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen aus-
     und sich eine Begrenzung wünschte. Diese Kluft koste-          geklammert wurde. In der Flüchtlingsfrage macht sich
     te der Union einen kräftigen Aderlass an Wählerstim-           die SPD damit zum Sprachrohr einer bessergestellten
     men. Die AfD hätte hiervon noch stärker profitiert, wenn       bildungsbürgerlichen Klientel, während sie die Entfrem-
     nicht die FDP mit einer betont merkelkritischen Haltung        dung ihrer besorgten Stammwählerschaft aus der unte-
     einen Teil zu sich herüber gezogen hätte. Zwar wurden          ren Mittelschicht und dem Arbeitermilieu hinnimmt. Die

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4_2017 DISCUSSION PAPER

     gesinnungsethisch inspirierte Pro-Flüchtlingspartei SPD     Wahlkämpfen nehmen die Parteien dagegen eine „So-
     vernachlässigt damit ihren volksparteilichen Repräsen-      wohl-als-auch“-Haltung in der Koalitionsfrage ein. Sie
     tations- und Integrationsanspruch. Die Repräsentation       lassen die Wählerschaft im Unklaren, welche Koalitions-
     von flüchtlingskritischen Haltungen und Sorgen in ihrer     option sie letzten Endes bevorzugen werden. Zwar wer-
     Kernwählerschaft überlässt sie, wie schon bei den voran-    den für die Parteien mit koalitionslosen Wahlkämpfen die
     gegangenen Landtagswahlen, der AfD, die in den Rang         Koalitionsbildungsspielräume lagerübergreifend stark
     einer Arbeiterpartei hineinwächst. Mit dieser einseitigen   erweitert. Doch mutet die Koalitionsoffenheit den Wäh-
     Haltung wird die SPD zukünftig noch weitaus mehr als        lerinnen und Wähler die schwer erträgliche Befürchtung
     die 450.000 Abgänge an die AfD bei den Bundestagswah-       zu, letztlich die Katze im Sack zu kaufen. Während sich
     len zu verkraften haben. Es spricht für wenig strategi-     die Parteien ihre gouvernementalen Beteiligungschancen
     sches Gespür, wenn die Flüchtlingspolitik von CDU/CSU       durch Offenhaltung und Flexibilisierung ihrer Koalitions-
     und SPD sehenden Auges zur Abspaltung von einstmals         neigungen zu erweitern versuchen, hat die koalitionstak-
     treuen Stammwählern beiträgt.                               tische Wechselbereitschaft der Wählerschaft ebenfalls
                                                                 zugenommen, sie überschreitet aber seltener die Lager-
                                                                 grenzen. So ist die taktische Wahl der CDU/CSU für vie-
     “Martin Schulz lud die positive Haltung                     le FDP-Wähler Teil eines rationalen Kalküls, während sie
     gegenüber Flüchtlingen sogar noch em-                       einer Dreierkoalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen fern
     phatisch zu einem Gesinnungsimperativ                       stehen. Grünen-Wähler spalten sich ebenfalls nach einer
     auf, während die soziale Dimension der                      schwarz-grünen und rot-rot-grünen Koalitionspräferenz
     Aufnahme und Integration von Flüchtlin-                     auf.
     gen ausgeklammert wurde.”
                                                                 “Doch mutet die Koalitionsoffenheit den
                                                                 Wählerinnen und Wählern die schwer er-
                                                                 trägliche Befürchtung zu, letztlich die Ka-
                                                                 tze im Sack zu kaufen.”
     Strategisches Umlernen
     in Zeiten koalitionsloser                                   Die Merkel-CDU verzichtete 2017 auf eine Koalitions-
                                                                 aussage für die FDP und erklärte sich für koalitionsoffen.
     Wahlkämpfe                                                  Anders als 2013 unterließ es auch die FDP, sich per Koaliti-
                                                                 onsaussage erneut an die CDU/CSU zu binden. Von einer
     Deutschland hat 2017 erstmals einen Bundestagswahl-         sorgfältig ausbalancierten Äquidistanz gegenüber einer-
     kampf erlebt, der ohne lagergebundene Koalitionsfest-       seits der Union und andererseits der SPD und den Grünen
     legungen der Parteien ablief. Die Wählerinnen und Wähler    kann aber keine Rede sein. Nach dem dreimaligen Schei-
     waren dem Werben von nach allen Seiten hin koalitions-      tern der Grünen bei der Wiederauflage einer rot-grünen
     offenen Parteien ausgesetzt, was deren Entscheidungs-        Koalition setzte sich deren Führung 2017 von Rot-Grün
     kalkül massiv beeinflusste. Umgekehrt ließ der Wahl-        ab und entschied sich für eine koalitionsoffene Linie der
     kampf ohne Koalitionsaussagen aber auch die Chancen         Eigenständigkeit. Strategisch bedeutete dies, sich hin zur
     und Risiken der Parteien steigen, ihren Stimmenanteil zu    CDU/CSU als möglichen Koalitionspartner zu öffnen. Die
     verbessern oder auch zu mindern. Zu beachten ist in stra-   Basis ermöglichte diese Ausrichtung, indem sie die bei-
     tegischer Hinsicht, dass sich dadurch die Wettbewerbs-      den Realos Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir zu
     logik der Parteien untereinander grundlegend verändert.     Spitzenkandidaten wählte. Allein die Linkspartei trug ih-
     Bei koalitionsgebundenen Wahlkämpfen legen sich Par-        ren koalitionspolitischen Richtungsstreit mehr oder min-
     teien offen fest, mit wem sie eine Koalition anstreben       der offen weiter zwischen den Antipoden Wagenknecht
     und welche gegnerischen Koalitionsparteien sie demge-       und Bartsch aus und nährte öffentlich Zweifel daran, für
     genüber bekämpfen wollen. In koalitionsungebundenen         ein rot-rot-grünes Bündnis bereit zu stehen.

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