DISCUSSION PAPER - Agentur für politische Strategie
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4_2017 DISCUSSION PAPER November 2017 von Elmar Wiesendahl Strategische Lehren aus dem Bundestagswahlkampf 2017 Schlechtes Timing, fehlende Flexibilität, undefinierte Zielgruppen und die neue Koalitionsoffen- heit der Parteien erklären, warum SPD und Union weit unter ihren Möglichkeiten blieben. sowie Sozialprofile der Wählerschaft. Dabei ermitteln Einleitung sie kontinuierlich, welche Probleme die Bevölkerung bewegen und wie diese die Problemlösungskompe- Die Bundestagswahl vom 24. September 2017 war eine tenz der Parteien einschätzen. Erdrutschwahl. Sie brachte tektonische Verschiebun- gen zwischen den Parteilagern mit sich, die die Kräfte- Die Demoskopie leuchtet also mit eingefahrenen, verhältnisse und Machtperspektiven im nunmehr auf standardisierten Befragungsinstrumenten die Wäh- sechs Parteien erweiterten Bundestag fundamental lerseite des Wahlkampfs aus. Die Seite der Parteien, verändern. Noch nie zuvor war der Ab- und Zufluss mit ihren Wahlkampfaktivitäten und Wettbewerbs- von Wählerstimmen zwischen den Parteien dermaßen manövern, bleibt dabei unberücksichtigt. Aus stra- groß gewesen. Erstmalig gelang es einer Rechtspartei tegischer Sicht muss aber auch die Akteursseite, also mit 12,5 Prozent ins Parlament einzuziehen. Die AfD das konzeptionelle und operative Geschäft der Par- bricht das bisherige bürgerlich-konservative Reprä- teien, als wichtiger Bestimmungsfaktor des Wahlaus- sentationsmonopol der Unionsparteien auf und wird gangs untersucht werden. dafür sorgen, dass sich die parlamentarische Arena für die Artikulation illiberaler, rechtsautoritärer Ideologi- Die nachfolgende Betrachtung befasst sich in selek- en öffnet. tiver Form mit strategischen Schlüsselaspekten der Konzipierung und Durchführung des Wahlkampfs der Wie ist dieses dramatische Wahlergebnis zustande SPD und CDU/CSU. Was ist – aus strategischer Sicht – gekommen? Antworten darauf stellen traditionell gut und was ist weniger gut gelaufen? Insbesondere kommerzielle demoskopische Institute mithilfe ihrer die Sozialdemokraten bieten sich an, weil sich ange- Umfragedaten bereit. Sie erfragen Wählerpräferenzen sichts ihres Absturzes während des Wahlkampfs eini- und dynamische Popularitätswerte der Parteien und ge wichtige strategische Lehren ableiten lassen. Doch ihrer Spitzenkandidaten vor und während des Wahl- die Analyse zeigt auch, dass der Wahlkampf der Union kampfes und erfassen im Nachhinein Wanderung zwischenzeitlich zu kippen drohte.
4_2017 DISCUSSION PAPER EXECUTIVE SUMMARY Wahlkämpfe sind Bewährungsproben durchdachter Strategiebildung. Sie sind dann erfolg- reich, wenn Parteien zunächst klare, realistische Ziele formulieren und anschließend ihre In- halte und ihr Personal darauf ausrichten. Eine Schlüsselfrage lautet dabei, welche Zielgruppen die jeweilige Partei ansprechen will. Das dramatisch schlechte Ergebnis der SPD bei der Bundestagswahl 2017 geht auf eine Verket- tung falscher strategischer Entscheidungen zurück. Dazu zählen u.a. die Mobilisierungspause vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, eine unklare Zielgruppen-Definition und die zu starke Anpassung des Spitzenkandidaten an die Vorgaben der Programmpartei SPD. Auch schaltete Martin Schulz zu spät und kaum vorbereitet auf persönliche Attacken gegen die Kanzlerin um. Ähnlich große Defizite wies die Strategie der Union im Bundestagswahlkampf 2017 auf. Ihre Wohlfühlkampagne passte nicht zu dem Unmut in der Bevölkerung, der sich im Zuge der Flüchtlingskrise angestaut hatte. CDU/CSU stecken in einer Modernisierungsfalle: Sie haben das konservative Stammklientel preisgegeben, ohne hinreichend in das rot-grüne Milieu eingedrungen zu sein. Insgesamt wa- ren beide Kampagnen – die der SPD wie die der Union – zu starr und vom Scheitern bedroht. Ein besonderes Charakteristikum des Wahlkampfs bestand darin, dass die Parteien auf Koali- tionsaussagen verzichteten. Die strategischen Implikationen, die sich aus dieser neuen Situa- tion ergaben, wurden nur unzureichend verstanden. Um diese vielen Fehler abzustellen, sollten die Parteien künftig weniger auf den Rat kommer- zieller Meinungsforscher hören und stattdessen an ihrer langfristigen Strategiefähigkeit ar- beiten. www.progressives-zentrum.org 2
4_2017 DISCUSSION PAPER Wählerinnen und Wähler im Wartestand wiedergewin- nen lassen, beziehungsweise neue Wählerschichten Anforderungen an hinzugewonnen werden können. Wie immer sich Par- Wahlkampfstrategen teien bei der Zielgruppenfokussierung entscheiden, ergibt sich daraus das strategische Folgeproblem, mit Wahlkämpfe sind Bewährungsproben durchdachter welchen Themen die Zielgruppen anzusprechen sind Strategiebildung und flexibler strategischer Steuerung. und wie ihnen glaubwürdig vermittelt werden kann, Wahlsiege und Wahlniederlagen haben verschiedene dass sich die jeweilige Partei ihrer Interessen und An- Ursachen. Ein Erfolgsfaktor lautet, einen Wahlkampf liegen annimmt. „Stimmenmaximierung“ zu betreiben, so anzulegen, dass greifbare Chancenpotenziale ge- wie es gelegentlich heißt, steht hingegen außerhalb der nutzt werden können und das definierte Ziel, das auch begrenzten strategischen Möglichkeiten von Parteien. erreichbar sein muss, durch den Einsatz tauglicher Mit- Ein weiteres Wahlkampfziel kann das Bestreben sein, tel und Vorgehensweisen verwirklicht wird. Was Wahl- Koalitionsmöglichkeiten auszuschöpfen und an der Re- kampfstrategie ausmacht, ist damit in groben Zügen gierungsbildung beteiligt zu werden („office seeking“). schon beschrieben. Ausgehend von der gegebenen, stark veränderlichen Lage spielt eine Partei Möglich- „Stimmenmaximierung zu betreiben, wie keiten der inhaltlichen Ausrichtung und personellen Aufstellung sowie die Kampagnenanlage auf ihre Er- es gelegentlich heißt, steht außerhalb der folgsgewissheiten durch und wählt die Kombination begrenzten strategischen Möglichkeiten an Zielen und Mitteln aus, die aus dem bestmöglichen von Parteien.” Erfolgskalkül resultiert. Angestrebt wird, was lagebezo- gen greifbar und machbar ist und in der Folgenabschät- Ohne ein klares Bild von der Lage ist kein durchdach- zung umsetzbar erscheint. ter Wahlkampf zu entwickeln und durchzuführen. Al- ternativen der Kampagnenführung lassen sich nämlich nur insoweit zum Einsatz bringen, wie die öffentliche “Wahlkämpfe sind Bewährungsproben Stimmungslage und das Meinungsklima es zulassen. durchdachter Strategiebildung und Diesbezüglich verfügen die demoskopischen Institu- flexibler strategischer Steuerung.” te über eine Fülle von Umfragedaten, von denen ein starkes Meinungsbildungsgewicht ausgeht. Noch ein- Hierzu gehört der Blick nach innen auf die infrage kom- flussreicher ist, wie – abgestützt auf den Fluss der mende Auswahl des Spitzenkandidaten und auf ver- Stimmungslage – der Medientenor die Kampagne in fügbare organisatorische Ressourcen so-wie bündelba- ein positives beziehungsweise negatives Licht taucht. re Kampagnenexpertise. Des Weiteren ist das Marken-, Die Anlage eines Wahlkampfes ist wechselhaften, mal Themen- und Kompetenzprofil wichtig, auf das der günstigen und mal ungünstigeren Umständen, also Wahlkampf zurückgreift. Nach außen hin unterliegt einer dynamischen Chancenstruktur ausgesetzt, aus die Lageeinschätzung der Wettbewerbssituation und der die Wahlkampfstrategen das Beste machen müs- den Chancen und Gefahren, den Konkurrenzparteien sen. Auf jeden Fall können sie nicht blindlings gegen Wählerinnen und Wähler abspenstig zu machen oder alle Widrigkeiten anrennen und starr auf unrealistisch aber an sie zu verlieren. Das Wahlkampfziel besteht gewordene Ziele setzen. Wenn ein Wahlziel wider der elektoral in erster Linie darin, Wählerinnen und Wähler eigenen Erwartung an den Umständen zerschellt, muss zu halten, zurückzuholen oder hinzuzugewinnen („vote auf eine Ersatzstrategie zurückgegriffen werden kön- seeking“). nen. Die Schlüsselfrage der Strategiebildung ist, welche “Die Anlage eines Wahlkampfs ist Wähler-Zielgruppen angesprochen werden sollen. Damit eng verknüpft ist zu klären, wie sich bishe- einer dynamischen Chancenstruktur rige Stammwähler bei der Stange halten oder sich ausgesetzt.” www.progressives-zentrum.org 3
4_2017 DISCUSSION PAPER abgesackt war und Sigmar Gabriel es sich erneut nicht zutraute, die wenig kampfstarke Sozialdemokratie SPD: Geschichte eines gegen Angela Merkel in den Wahlkampf zu führen. Niedergangs Die Wahlkampagne verlief dann kurios, zumal Mar- tin Schulz in den Umfragen zunächst ein fulminanter Der Bundestagswahlkampf der SPD endete am 24. Aufstieg gelang, der sich bald in einen Abstiegsprozess September 2017 in einem Fiasko. Nachdem bereits kehrte und am Wahltag in dem Desaster von 20,5 Pro- 2013 mit einem Stimmenanteil von 25,7 Prozent die zent (-5,1 Punkte) mündete. Die SPD legte also zunächst Hoffnungen auf einen Wiederaufstieg über die 30-Pro- wie entfesselt einen Parforceritt hin, um dann immer zent-Marke zerplatzt waren, folgte der Wahlkampf mehr die strategische Übersicht zu verlieren und aus 2017 mit dem desaströsen Abstieg auf 20,5 Prozent. der Spur zu geraten. Gegenüber 2013 büßte die SPD rund ein Fünftel ihrer Wählerschaft ein. In absoluten Zahlen ist das Ergeb- Martin Schulz war der Überraschungsjoker der SPD und nis noch niederschmetternder: Nachdem sie zwischen der Aufsteiger des Frühjahrs Februar/März 2017. Der 1998 und 2009 die Halbierung ihrer Wählerzahlen unter Volldampf stehende Schulz-Zug sollte die SPD von 20,2 Millionen auf 10,0 Millionen hinzunehmen in den anstehenden Landtagswahlen in Schleswig- hatte, stimmten 2013 wieder 11,3 Millionen Wähle- Holstein mitreißen und im September auf Bundesebe- rinnen und Wähler für die SPD. Im Jahr 2017 erlitt sie ne zum Sieg führen. Auf diese Inszenierung war das dann mit 1,8 Million Verlusten erneut einen Rückfall Wahlkampfdrehbuch ausgerichtet. Doch die Dinge ent- und wurde auf 9,5 Millionen Stimmen zurückgewor- wickelten sich anders. Zwar zogen die Werte der SPD fen. bis März von 22 auf 33 Prozent steil an, sie verharrten dann aber auf diesem Gipfelpunkt. Von diesem Auf- Für den Abstieg der SPD sind mit Blick auf die gesamt- wärtssog profitierte die Saar-SPD im Vergleich zu ihren deutsche Stimmenverteilung zwei Entwicklungen Umfragedaten von Anfang des Jahres. Bei der Landtags- charakteristisch. Zum einen setzte sich der Wähler- wahl am 26. März 2017 landete sie bei 29,6 Prozent und schwund in den ostdeutschen und süddeutschen „Pro- verlor damit gegenüber 2012 nur einen Prozentpunkt. blemländern“ weiter fort und lässt die Partei dort auf Das schlechte Abschneiden der Grünen, die aus dem eine Kleinpartei schrumpfen. Zum anderen blieb, an- Landtag flogen, verhinderte jedoch eine rot-rot-grüne ders als noch 2013, diesmal der Kompensationseffekt Mehrheit. aus, mit dem die SPD in den Stadtstaaten und nord- westlichen Bundesländern durch Stimmenanteile von Parallel mit den rückläufigen Zustimmungswerten der mehr als 30 Prozent das Nord-Süd- und West-Ostgefäl- Bundes-SPD setzte dann am 7. Mai 2017 bei den Land- le wieder wettmachen konnte. 2017 fuhr sie auch in den tagswahlen in Schleswig-Holstein der Abstiegsprozess einstigen Hochburgen starke Verluste ein. Das Gesamt- ein, der die SPD von 30,4 auf 27,3 Prozent (-3,1 Punkte) ergebnis von 20,5 Prozent wirkt wie ein Abstieg in die zurück warf. Die Regierung von Ministerpräsident Tors- zweite Liga. Nicht nur landet die SPD mit 12 Prozent- ten Albig (Rot-Grün-SSW) wurde überraschend abge- punkten Abstand hinter der ebenfalls stark eingebro- wählt. Zur regelrechten Katastrophe entwickelte sich chenen Union. Sondern sie hat damit auch strategisch der Abwärtssog dann bei der NRW-Landtagswahl am die Fähigkeit eingebüßt, jenseits der CDU/CSU eine Ko- 14. Mai 2017. Dort war die SPD im März auf ein 40-Pro- alitionsregierung schmieden zu können. zent-Umfragehoch geschnellt, um dann ab April wieder auf rund 30 Prozent zurückzufallen. Dies bildete sich Die SPD setzte bei ihrem Wahlkampf alles auf Martin auch im Landtagswahlergebnis ab, bei dem die SPD mit Schulz, der im Januar 2017 vom damaligen Parteivor- der populären Regierungschefin Hannelore Kraft um sitzenden Sigmar Gabriel von Brüssel auf die Berliner 7,9 Punkte auf einen Stimmenanteil von 31,2 Prozent Bühne geholt worden war. Dieser übernahm den Par- abstürzte. Das SPD-Stammland fiel in schwarz-gelbe teivorsitz und später die Kanzlerkandidatur zu einem Hände. Zeitpunkt, als die SPD auf 21 Prozent Zustimmung www.progressives-zentrum.org 4
4_2017 DISCUSSION PAPER Um im Bild zu bleiben: Spätestens zu diesem Zeitpunkt sprang der mit Volldampf gestartete Schulz-Zug aus den Gleisen – und der vom Aufsteiger zum Absteiger Die Fehler des Kandidaten mutierte Schulz laborierte an seinem Wiederaufstieg. Denn mit den Niederlagen wandte sich die politische Wie konnte das geschehen? Welchen Eigenanteil hat Stimmung gegen ihn. In seinen persönlichen Umfrage- die SPD an dem schlechten Ergebnis – und was ist der werten und in denen der SPD setzte sich die Talfahrt Gesamtsituation, der Konkurrenzkonstellation und den ungebremst fort und ließ das “Unternehmen Schulz” nicht beeinflussbaren Gegebenheiten geschuldet? Ein Er- vollends scheitern. Während in der Bevölkerung bereits klärungsansatz gehört in den Mittelpunkt: Martin Schulz im Mai der Glaube verschwunden war, dass die SPD vor alleine trug die Kampagne, weshalb das Auf und Ab auf der CDU/CSU ins Ziel kommen würde, klammerte sich ihn und sein Auftreten zurückzuführen ist. Er begann das Schulz-Team an das TV-Duell mit der Kanzlerin am seinen Wahlkampf instinktiv mit einer auf ihn zuge- 3. September 2017. Doch auch das Duell sollte nicht die schnittenen Mobilisierungskampagne, die eine Sympa- Wende bringen. thiewelle auslöste. Die ihm zuströmende Wertschätzung wurde von den Medien wohlwollend begleitet. Im wech- selseitigen Sogeffekt von steigenden Sympathiewerten, “Ein Äquivalent zu Gerhard Schröders Neugier und positivem Medienfeedback schraubte sich ‘Nein’ zum Irakkrieg 2002 und der neo- die Mobilisierungsspirale nach oben. Befeuert wurde sie liberalen Wahlkampfblöße Merkels 2005 von seiner Newcomer-Rolle und Persönlichkeit. Schulz war 2017 nicht greifbar.” brachte authentisch und glaubwürdig seine menschliche Seite und die damit verbundenen Brüche seines lebens- Schulz hielt gegen die öffentliche Meinung und zu- geschichtlichen Werdegangs ins Spiel, die sich von Par- sehends ungünstiger werdende Medien-Resonanz venü-Attitüden mancher SPD-Granden krass abhoben: unverdrossen an der Linie seines „Ich werde Kanzler“- Er, der bodenständige, heimatverbundene Bürgermeis- Wahlkampfs fest. Dabei zog er Hoffnung daraus, in ei- ter aus Würselen, der Schulabbrecher, der verhinderte nem fulminanten Schlussspurt doch noch zur wieder- Profi-Fußballer, der trockene Alkoholiker und erfolgrei- erstarkten Kanzlerin und der CDU/CSU aufschließen che Buchhändler. Der Parteivorsitzende verkörpert einen zu können; so wie es Schröder 2002 und 2005 gelun- menschlich aufgeschlossenen und kontaktfreudigen, gen war. Doch dies gelang nicht, denn ein Äquivalent redselig-wortgewandten, lebhaft-leidenschaftlichen Po- zu Gerhard Schröders „Nein“ zum Irakkrieg 2002 und litiker. Darin eingebettet kam auch die Botschaft an, dass der neoliberalen Wahlkampfblöße Merkels 2005 war Menschen, die hart arbeiten, Respekt gezollt werden 2017 nicht greifbar. Auch setzte das temporäre Hoch müsse. der SPD zu früh in der Vorwahlkampfzeit ein. Es kehr- te sich dann bis zum Ende des Wahlkampfs in einen Diese Melodie spielte Schulz, die Menschen offenbar in Negativtrend um, den Schulz nicht erneut zu wenden seinen Bann schlagend, in seinen vielen Auftritten immer vermochte. Das Manko, das die SPD vom kurzzeitig wieder ab, um dann auf Bitten von Hannelore Kraft vor der aussichtsreichen Rivalen der Merkel-Union auf die Rol- Landtagswahl in NRW eine Auszeit zu nehmen. Anstatt le des abgehängten Wahlverlierers zurückwarf, hat also den Mobilisierungsauftrieb weiter anzuheizen, bremste wie bei einer Achterbahnfahrt mit dem Aufstiegs- und er den Hype ab. Es ist auf den unüberlegten temporären Abstiegs-Zyklus zu tun, der die SPD herabriss. Rückzug von Schulz aus der Berliner Arena zurückzufüh- ren, dass seiner Kampagne die Energiezufuhr entzogen wurde. Die von der NRW-SPD gewünschte Pause war die Hauptursache für das Ende des Schulz-Hypes und das Einsetzen der Talfahrt. Er hätte durch ein Feuerwerk an täglichen angriffslustigen Medienauftritten und um sei- ne Person herum inszenierte Pseudoereignisse die medi- ale Aufmerksamkeitsökonomie an sich binden müssen. www.progressives-zentrum.org 5
4_2017 DISCUSSION PAPER Da all dies ausblieb, wandten sich die Anhänger der Links- 2009 einer von Merkel selbst forcierten Standardlogik, partei und der Grünen, die sich von seinem phänomena- die auf den unter ihrer Ägide durchgesetzten Modernisie- len Aufstieg angesprochen gefühlt hatten, wieder ab. Die rungskurs der Union zurückgeht. Begeisterung für das „new kid in town“ erlosch. Ihrer Herkunft nach versteht sich die CDU traditionell als “Aus dem selbstbewussten Herausforderer Volkspartei, die verschiedene Richtungen in sich verei- wurde ein Parteisoldat.” nigt: die liberale, die christlich-soziale und die konserva- tive. Diese pluralistische, weltanschaulich-ideologische An die Seite der Mobilisierungspause trat ein weiterer Integrationsspanne wurde unter Merkel infrage gestellt, strategischer Missgriff der Schulz-Kampagne: Schulz seitdem ihr von demoskopischer Seite geraten wurde, das stieß als Brüsseler Quereinsteiger auf eine SPD, die sich konservative Profilelement zugunsten der Öffnung hin zu als Programm- und Gremienpartei versteht und Politik als Mitte-Wählern zu vernachlässigen. Den Ausgangspunkt getreue Umsetzung des zuvor detailliert festgeschriebe- dieser Empfehlung liefert die Verteilung der Wählerinnen nen programmatischen Fahrplans auffasst. Schulz, offen- und Wähler auf der sogenannten Links-Rechts-Achse. bar noch auf die unfertigen Fahrpläne wartend, gliederte Das Ergebnis ideologischer Selbsteinschätzung ergibt sich in diese Beschlussvorlagen-Partei ein und ließ sich eine Glockenkurve, bei der sich an die 60 Prozent der be- als Zugpferd vor den mit Fünf- und Zehn-Punktepro- fragten Bundesbürger dem mittleren Bereich der Achse grammen vollgepackten Karren spannen. Er hatte nicht zurechnen. Nun wird angenommen, dass diejenige Par- den kanzlertauglichen Marshallplan im Gepäck, sondern tei mit der Stimme einer Wählerin rechnen kann, die auf die von ihm abzuarbeitenden Vorgaben und Aufträge der der Links-Rechts-Achse die größte Nähe zu ihr aufweist. SPD. Aus dem authentisch daherkommenden, selbstbe- So gesehen steigert eine Partei dann ihren Stimmenan- wussten Herausforderer wurde ein Parteisoldat. So wur- teil, wenn sie ihren ideologischen Standort gezielt in die de Martin Schulz mit der bei 22 Prozent festgeklemmten Nähe des so genannten Medianwählers platziert. Für die Partei identifiziert, anstatt sich über sie zu stellen und CDU als Mitte-Rechts-Partei bedeutet diese Logik, sich anzutreiben. Und das, obwohl sich SPD-Kanzler bisher vom Standort nach links zur Mitte hin zu verlagern und allesamt auf die – von den Medien und der Wählerschaft so ihr Stimmerwerbspotenzial zu maximieren. Der Sorge, offenbar gewünschte – Aura eigenständiger Kraft und Rechtswähler der CDU würden der nach links gewendeten Verantwortung gestützt hatten. Partei den Laufpass geben, wird gern dagegengehalten, dass es sich um eine ältere Stammwählergruppe hande- le, die in den kommenden Jahren deutlich schrumpfen werde. Im Saldo ließen sich die möglichen Verluste durch Die Merkel-Kampagne weit stärkere Zugewinne unter den Mitte-Wählern über- kompensieren. und der ausgereizte Modernisierungskurs der “Unter dem Motto der Modernisierung Union griff Merkel die Linkswende-Strategie auf und ließ sie sich angesichts inner- Die strategische Wahlkampfausrichtung und die Mobi- parteilicher Widerstände im Sommer 2010 lisierungsüberlegungen der Merkel-Union dienten alle- mittels eines Präsidiumsbeschlusses der samt dem einen Ziel, die CDU/CSU in einer unangreif- Partei absegnen.” baren Mehrheitsbildungsposition zu halten, um damit Kanzlerpartei bleiben zu können. Der seit dem Jahr 2000 an der Spitze der CDU stehenden Kanzlerin Angela Merkel Unter dem Motto der Modernisierung griff Merkel die ist dabei hoch anzurechnen, dass sie dieses Ziel am 24. Linkswende-Strategie auf und ließ sie sich angesichts September zum vierten Mal hintereinander erreicht hat. innerparteilicher Widerstände im Sommer 2010, mit- Die Wahlkämpfe der Bundeskanzlerin folgen dabei seit tels eines Präsidiumsbeschlusses der Partei, absegnen. www.progressives-zentrum.org 6
4_2017 DISCUSSION PAPER Hierin wurde unverblümt die Absicht zum Ausdruck nicht zu erkennen. Sie ging einem Themenwahlkampf gebracht, in grüne und sozialdemokratische Wähler- aus dem Weg und setzte auf eine Strategie der De- kreise eindringen zu wollen. In diesem Licht müssen die mobilisierung und Entpolitisierung der Wählerschaft. einschneidenden Kursveränderungen im Familien- und Irrtümlich hielt Martin Schulz der Kanzlerin auf dem Partnerschaftsverständnis der CDU, im Ausstieg aus der Dortmunder SPD-Parteitag Ende Juni 2017 vor, mit ihrer Kernenergie, in der Abschaffung der Wehrpflicht und der Strategie der asymmetrischen Demobilisierung der De- jüngsten Öffnung der Partei für die „Ehe für alle“ betrach- mokratie zu schaden. Dieser Vorwurf trifft nur insoweit tet werden. Es handelt sich um durchdachte Schritte zur ins Schwarze, als dass Merkel in der Tat jeder themati- Wählbarkeit der CDU in bürgerlich-weltoffenen und links- schen Auseinandersetzung zur Offenlegung von Diffe- liberalen Wählerkreisen. Ihre, eher aus einer unbedachten renzen zwischen den Politik-Alternativen von Union und Grenzöffnungsentscheidung resultierende, humanitäre SPD aus dem Weg ging. Asymmetrische Demobilisierung Willkommenspolitik gegenüber Flüchtlingen ist in diese auf der Grundlage von „Produktpiraterie“ oder „Themen- Modernisierungsstrategie der CDU mit einzubeziehen. klau“ fiel hingegen diesmal aus. Erneut zum Einsatz kam allein ihre altbekannte Entpolitisierungsstrategie, sich Für Angela Merkel als Kanzlerin zahlte sich der Profil- im Gestus der Überparteilichkeit dem Parteienstreit um wechsel der CDU aus, zumal sie weit in SPD- und grüne konfliktgeladene Themen systematisch zu entziehen. Wählerkreise hinein breite Wertschätzung ansammeln Dem diente nicht zuletzt das zentrale Plakat der CDU konnte. Die erhofften Wählerzuwächse für die CDU fie- mit dem Wohlfühl-Satz „Für ein Deutschland, in dem len dagegen bescheiden aus beziehungsweise konnten wir gut und gerne leben“. Zugleich nahm sie wieder die nicht realisiert werden. So fiel die CDU/CSU 2005 auf 35,2 Rolle der Staatenlenkerin ein, die sich, global angesehen Prozent Stimmenanteil zurück und konnte nur mit ei- und einflussreich, zwischen den Großen der Welt bewegt. nem knappen Vorsprung vor der SPD das Kanzleramt er- Ihre Botschaft: Die Aufgabe, internationale Krisen von obern. 2009 sackte die Partei weiter ab, auf 33,8 Prozent. Deutschland fernzuhalten und sie zu bewältigen, ohne 2013 gelang ihr der imponierende Sprung auf 41,5 Prozent die Deutschen zu belasten, liegt bei mir in guten Händen! Stimmenanteil vor allem deshalb, weil sie abtrünnige Teil des Wahlkampfdrehbuchs war überdies, die „Merkel- FDP-Wähler hinzugewinnen konnte. Die FDP bezahlte meets-the-public“-Phase auf eine Vier-Wochen-Frist vor diesen Aderlass mit dem Abschied aus dem Bundestag. der Bundestagswahl zu begrenzen. Zugleich scheiterte die AfD mit 4,7 Prozent nur knapp am Einzug ins Parlament. Bei der Bundestagswahl 2017 hat “Sie ging einem Themenwahlkampf aus Merkel nun den Absturz der CDU/CSU um 8,5 Punkte auf desaströse 32,9 Prozent zu verantworten. Er fußt in erster dem Weg und setzte auf eine Strategie Linie auf dem Abfluss von 1,3 Million Unionswählern zur der Demobilisierung und Entpolitisierung FDP und von 1 Million Wählerinnen und Wählern zur AfD. der Wählerschaft.” Vom rot-grünen Wählerreservoir war hingegen nichts Nennenswertes zu holen. Dem Modernisierungskurs der Bis in den Sommer hinein gingen wie geplant Bilder um Merkel-CDU kann also letztlich elektoral keine respekta- die Nachrichtenwelt, die diesem gezielten Eindrucks- ble Erfolgsbilanz bescheinigt werden. Management dienten. Der als Schlusspunkt der Kam- pagne gedachte G20-Gipfel in Hamburg erzeugte mit seinen anarchischen Gewaltexzessen indes kontrapro- “Dem Modernisierungskurs der Merkel- duktive Bilder. Die sterile Wohlfühlkampagne brach in CDU kann also elektoral keine respekta- den Schlusswochen vollends ein, als der Kanzlerin auf ble Erfolgsbilanz bescheinigt werden.” ihren öffentlichen Kundgebungen ein Pfeifkonzert und der Hass von Veranstaltungsstörern entgegenschlugen. Zwar hatte Merkel noch im November 2016 vorhergesagt, Auch die geölte Wahlkampfmaschinerie konnte die me- dass der Bundestagswahlkampf 2017 anders werden wür- diale Verbreitung dieser verstörenden Bilder nicht verhin- de als die Wahlkämpfe zuvor, doch an der von ihr einge- dern. Der Protest speiste sich in erster Linie aus dem Wi- schlagenen Wahlkampflinie waren diese Neuerungen derstand zur merkelschen Flüchtlingspolitik. Die Sorgen, www.progressives-zentrum.org 7
4_2017 DISCUSSION PAPER von der die Bevölkerung wegen der Flüchtlinge erfasst wurden, stiegen nach IfD-Allensbach-Befunden zwischen Mai und Juni 2017 von 23 auf 47 Prozent an und wurden Stolpersteine des somit zu einem wahlentscheidenden Faktor. Außerdem Angriffswahlkampfs gegen wurde die Kanzlerin in den diversen Talkshowrunden von ZDF und ARD vor einem ausgewählten Publikum mit kon- Merkel kreten Renten- und Pflegeproblemen konfrontiert, die ihre Wahlkampfstrategie durchkreuzten. Bezeichnend Anders als in den USA und den europäischen Nachbar- für den Kontrollverlust der Kanzlerin über die Themen- ländern gilt in Deutschland das Mantra, dass persönliche Agenda war, dass die Union in der Sonntagsfrage ab Ende Angriffe gegen politische Gegenspieler und Rivalen („ne- August Verluste erlitt, die schließlich in das miserable gative campaigning“) zu unterlassen seien. Sie würden Wahlergebnis von 32,9 Prozent mündeten. als unschicklich auf den Angreifer zurückfallen – und dies umso mehr, wenn die angegriffene Person Sympa- “Damit steht die CDU am Endpunkt ein- thieträgerin ist und ihrerseits persönliche Angriffe unter- lässt. Diese verbreitete Ansicht fußt auf der tief sitzenden er von Merkel betriebenen Entwicklung, Konflikt- und Streitscheu der deutschen Konsenskultur. die die Partei in eine Modernisierungsfalle Von ihr profitiert in der jetzigen Konstellation allein die geführt hat.” Kanzlerin. Damit steht die CDU am Endpunkt einer von Merkel be- Angela Merkels Erfolgslogik in Wahlkämpfen besteht triebenen Entwicklung, die die Partei in eine Moderni- darin, diesen mithilfe ihrer Selbstinszenierung unge- sierungsfalle geführt hat. Die strategische Preisgabe der schehen zu machen. Sie meidet die Auseinandersetzung, konservativen Stammklientel hat nicht zur erfolgreichen spitzt nicht zu und kämpft nicht um die Überzeugungs- Verlagerung der Partei ins rot-grüne Wählermilieu ge- und Rechtfertigungsgrundlagen ihrer „alternativlosen“ führt. Sie schenkte den Warnzeichen keine Beachtung, Politik. Widerstreitende Interessen blendet sie in ihrer Po- dass die Unionswählerschaft seit Jahren von Zentrifu- litikvermittlungsstrategie aus, und damit auch Interes- galkräften auseinandergetrieben wird, wobei einer Hälfte senkonflikte. Politik reduziert sich damit auf die Lösung der Modernisierungskurs gerade recht ist, ein Viertel sich von Sachproblemen. die Union noch moderner wünscht und ein Viertel sie gern konservativer hätte. Nun hat sich die AfD erfolgreich “Angela Merkels Erfolgslogik in Wahl- in die von der CDU verursachte Vertretungslücke von kämpfen besteht darin, diesen mithilfe politisch heimatlos gewordenen rechtskonservativen Wählerinnen und Wählern hineingedrängt und zerstört ihrer Selbstinszenierung ungeschehen zu damit das in der Nachkriegszeit bisher unangefochtene machen.” Vertretungsmonopol des bürgerlich-konservativen La- gers durch die Union. Auch der massenhafte Wechsel von Mit ihrer Rhetorik verschachtelt die Kanzlerin was sie zu Unionswählern zur FDP ist ein schrilles Warnsignal, der sagen hat entweder in ein Satzungetüm, oder sie flüchtet wirtschaftsliberalen Profilbildung und Klientelpflege der sich in Leerformeln und Unbestimmtes. Sie meidet poli- Partei nicht genügend Beachtung geschenkt zu haben. tische Debatten. Ihre gezielte Sparsamkeit, sich öffentlich Kurzum, die Union wird in der Modernisierungsfalle mit mitzuteilen, kaschiert ihre begrenzten Fähigkeiten glanz- einer offen ausgebrochenen Integrationskrise konfron- voller Rhetorik und argumentativer Eloquenz. Ihr Ein- tiert. Zur Bewältigung dieser Krise wird ihr ein Spagat drucksmanagement setzt auf die vordergründigen Bilder, abverlangt, wobei sich die wieder erstarkte FDP und die die speziell die elektronischen Medien von ihr herstellen raumgreifende AfD die Beute aus dem Jagdrevier der Uni- und verbreiten. Insofern bietet der Darstellungsstil der on nicht so leicht wieder abnehmen lassen werden. Kanzlerin kaum Angriffsflächen. Als dem Parteienhader enthobene Regierungschefin bedient sie den Wunsch der Deutschen nach Konsens und Verlässlichkeit. Entspre- chend hoch sind ihre Zustimmungswerte. www.progressives-zentrum.org 8
4_2017 DISCUSSION PAPER Geht ein Herausforderer oder eine Herausforderin auf eigen machte, löste die Attacke massive Gegenwehr aus Konfrontationskurs, droht er/sie als streitsüchtig und den CDU- und CSU-Zentralen aus, was die Leitmedien un- stillos abgekanzelt zu werden. Die SPD hat die Kanzle- terstützend aufgriffen. Schulz – und nicht Merkel – hatte rin deshalb lange mit Kritik geschont und ihre Strategie sich der Folgen des überzogenen Angriffs zu erwehren. dadurch gestützt. Mehr noch: In der schonungslos aus- getragenen persönlichen Fehde zwischen Horst Seehofer Hieran wird die undurchdachte Vorgehensweise von und Angela Merkel um die Begrenzung der Flüchtlings- Schulz ersichtlich. Nicht nur, dass das Umschalten auf zahlen stellte sie sich schützend vor die Kanzlerin. persönliche Attacken viel zu spät kam, nachdem die Kanzlerin ihre Schwächephase längst überwunden hatte. Mit der Übernahme der Kanzlerkandidatur stand es Überdies fehlte es der Attacke auch an vorbedachter Re- Schulz frei, Merkel persönlich anzugreifen, zumal er kein aktion, den zu erwartenden Gegenangriff mit der Vertie- Ministeramt inne und damit keine Loyalitätsverpflich- fung und Fortführung der Attacke Paroli zu bieten. Wei- tung hatte. Mit persönlichen Attacken Treffer zu setzen, tere Vorwürfe gegen die Kanzlerin zu erheben, hätte der hätte aber vorausgesetzt, einen permanenten Schwarm Kampagne vielleicht Nachdruck verliehen, um hierdurch von Pfeilen auf die Kanzlerin abzuschießen. Schulz ver- eine längere mediale Aufmerksamkeitsspanne, vielleicht folgte anfangs hingegen die Linie, Merkel zu schonen gar eine Themenkarriere zu erzielen. und einen Keil zwischen die beiden zerstrittenen Schwes- terparteien CDU und CSU zu treiben. Dies misslang, wie Persönliche Attacken müssen strategisch vorbereitet spätestens mit dem Friedensschluss zwischen Seehofer sein. Sie bedürfen der Nachhaltigkeit, des Hin und Her, und Merkel im Frühjahr 2017 deutlich wurde. Der fried- der Wiederholung und des Dauerfeuers, um die medialen liche Schongang gegenüber der Kanzlerin verschuf ihr Aufmerksamkeitshürden zu überwinden und um dem noch dazu die Luft, ihre, von den Medien aufgegriffene, Bild der Kanzlerin im öffentlichen Bewusstsein Kratzer lustlose Schwächephase während des Jahreswechsels beizubringen. Zudem geht es um die Platzierung geflü- zu überwinden. Infolgedessen schloss sie an ihre hohen gelter Worte („Merkel merkelt wieder“), um das Rede- und Sympathiewerte wieder an, auch indem sie mit einem Argumentationsverhalten der Gegnerin mithilfe eingän- Feuerwerk an Pseudoereignissen ihre mediale Dauerprä- giger Assoziationsketten in ein kritisches Licht zu stellen. senz als hoch angesehene Staatenlenkerin auf der natio- Nicht zur Debatte steht hierbei die ehrverletzende und nalen und internationalen Bühne sicherstellte. erniedrigende Pauschalkritik, die den Herausforderer in der Tat diskreditiert hätte. Auch Angriffslust fällt auf den “Mit persönlichen Attacken Treffer zu Angreifer zurück, wenn sie persönlichen Groll oder einen Empörungsreflex als Ausfluss persönlicher Kränkungen setzen, hätte aber vorausgesetzt, einen und Enttäuschungen zum Ausdruck bringt. Die persönli- permanenten Schwarm von Pfeilen auf che Attacke ist nur dann legitim, wenn sie kritikwürdige die Kanzlerin abzuschießen.” Schwächen der Kanzlerin öffentlich macht und selbst als Ausdruck von schlagfertiger Souveränität und Gegner- Angesichts der sich öffnenden Schere zwischen den Sym- schaft auf Augenhöhe daherkommt. pathiewerten der Kanzlerin und denen des Herausforde- rers reifte bei Schulz dann der Entschluss, die Kanzlerin “Es fehlte der Attacke auch an vorbe- doch persönlich unter Beschuss zu nehmen. Wie wenig hinter dieser Kurskorrektur jedoch eine gezielte Kampa- dachter Reaktion, den zu erwartenden gnenstrategie stand, wurde auf dem Dortmunder Par- Gegenangriff mit der Vertiefung und Fort- teitag der SPD Ende Juni 2017 deutlich. Einigermaßen führung der Attacke Paroli zu bieten.” grobschlächtig hielt er der Kanzlerin ihre angeblich er- neut betriebene Strategie der asymmetrischen Demo- bilisierung vor, die einen „Anschlag auf die Demokratie“ darstellen würde. Abgesehen von dem unverständlichen Soziologen-Kauderwelsch, das sich Schulz damit zu www.progressives-zentrum.org 9
4_2017 DISCUSSION PAPER “Nicht abwegig ist die These, dass so- Warum der ziale Gerechtigkeit auf anschauliche und Gerechtigkeitswahlkampf der die Menschen unmittelbar ansprechende SPD scheiterte Themen und Problemfelder herunterge- brochen werden muss.” Wenn Parteien der sogenannten Salience-Theorie folgen, heben sie im Wahlkampf gezielt diejenigen Themen her- Die Gründe des gescheiterten Gerechtigkeitswahlkamp- vor, für die ihnen von der Wählerschaft traditionell Prob- fes liegen aber noch tiefer. Soziale Gerechtigkeit bezieht lemlösungskompetenz zugesprochen wird. Dies schlägt ihre Virulenz aus der sozialen Ungleichheitsstruktur der bei der CDU/CSU beim Thema Wirtschaft, Recht und Gesellschaft. Und die SPD ist historisch die Partei, die ihre Ordnung oder innere Sicherheit durch, während bei den Anhängerschaft mit dem Versprechen bindet, ihre Aus- Grünen der Umweltschutz obenan steht. Der SPD wird beutung, Schlechterstellung und Diskriminierung auch traditionell bescheinigt, dass sie für soziale Gerechtig- gegen den Widerstand der bessergestellten Kreise, gegen keit einsteht. Nach wie vor ist dies ihr unumstößlicher die Mächtigen der Gesellschaft zu vertreten. Insofern ist Markenkern, wenngleich er im Gefolge der schröderschen eine Partei für Soziales noch keine Partei der sozialen Ge- Agenda-Politik stark beschädigt wurde. Mittlerweile ha- rechtigkeit. Mit sozialer Gerechtigkeit um Stimmen zu ben sich ihre Kompetenzwerte auf diesem Gebiet aber werben, heißt nämlich, die soziale Frage zu politisieren wieder erholt, sodass ihr zu Wahlkampfbeginn fast jeder und damit die Frage nach „who gets what from whom“? vierte das Eintreten für Gerechtigkeit zubilligte. (Harold Lasswell), nach Begünstigung und Benachtei- ligung aufzuwerfen. Soziale Gerechtigkeit berührt das Vor diesem Hintergrund entschloss sich die SPD-Führung, Oben-Unten-Verhältnis der gesellschaftlichen Gruppen die Schulz-Kampagne thematisch auf einen Gerechtig- zueinander. Aus dieser Perspektive bedingen Bevor- und keitswahlkampf hin zuzuspitzen. Der Slogan „Zeit für Benachteiligung einander. Die Schlechterstellung einer mehr Gerechtigkeit“ lieferte die Überschrift für das Wahl- Gruppe gegenüber den Bessergestellten wird als Benach- programm und stand im Mittelpunkt der Plakatierung. teiligung und ungerecht empfunden. Ungerechtigkeit Wie sich an dem desaströsen Wahlausgang ablesen lässt, abzubauen bedeutet dann, zugunsten von Benachteilig- wollte, wie schon 2013, auch 2017 der auf soziale Gerech- ten auf Kosten von Bevorteilten Ungleichheitsverhältnis- tigkeit fokussierte Wahlkampf nicht zünden. Hierfür gibt se abzubauen. es keine auf den ersten Blick einleuchtende Erklärung. Nicht abwegig ist die These, dass soziale Gerechtigkeit Wenn es je eine Mission für die Sozialdemokratie gab, auf anschauliche und die Menschen unmittelbar anspre- dann die, den Konflikt um mehr soziale Gleichheit und chende Themen und Problemfelder herunter gebrochen eine gerechtere Gesellschaftsordnung politisch auszu- werden muss. Auch spricht einiges für die These, dass tragen und Menschen zu besseren Lebensverhältnissen mit sozialer Gerechtigkeit schwerlich gepunktet wer- zu verhelfen. Darin findet das klassische Versprechen der den kann, wenn es der übergroßen Mehrheit gut geht SPD auf sozialen Aufstieg seine Bewährung. Ein sozialde- und diese mit ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage mokratischer Gerechtigkeitswahlkampf spricht gezielt zufrieden ist. Schließlich können auch eine ungünstige die unbefriedigende Interessenlage der Menschen an und Themenkonjunktur und die Überlagerung der sozialen positioniert die Partei als Repräsentationsorgan der ihr Gerechtigkeitsfrage durch andere, weit mehr unter den am Herzen liegenden Gruppeninteressen. Interessenkon- Schuhen brennenden, Themen einen Gerechtigkeits- flikte offenzulegen und couragiert auszutragen, macht wahlkampf verhageln. das Versprechen, für mehr soziale Gerechtigkeit einzutre- ten, erst glaubwürdig. Die SPD beugt damit der verbrei- teten politischen Sterilisierungstendenz um die soziale Frage vor, nämlich den Wettstreit zwischen den Parteien auf ein Ringen um die beste Lösung von Sachproblemen zu reduzieren. www.progressives-zentrum.org 10
4_2017 DISCUSSION PAPER Nun liegen aber Ungerechtigkeitsverhältnisse nicht un- sie sich zwar noch nicht auf Augenhöhe mit der Union, mittelbar greifbar auf der Hand, sondern müssen erst könnte aber bei möglichen Koalitionsbildungen wieder veranschaulicht werden. Denn eine Gerechtigkeitskam- mitspielen. Jetzt geht es zunächst vorrangig darum, nicht pagne kann nicht allein auf das verbreitete allgemeine unter die 20-Prozent-Marke gedrückt zu werden und da- Ungerechtigkeitsempfinden in der Bevölkerung setzen. mit dauerhaft eine Machtperspektive zu verlieren. Sie muss zu den einzelnen Wählerinnen und Wählern durchdringen, welche die Leidtragenden sozialer Unge- Strategisch muss es der Partei auf einem auf sechs Partei- rechtigkeitsverhältnisse sind und dies auch so empfin- en erweiterten und aufgefächerten Anbietermarkt darum den. Eine erfolgsorientierte Gerechtigkeitskampagne be- gehen, ihren Markenkern als Alleinstellungsmerkmal zu nötigt ein empörendes Bild von zum Himmel schreienden erhalten und mit einem unverwechselbaren Profil einen Ungleichheitsverhältnissen und Ungleichbehandlung. nicht verdrängbaren Platz im Standortwettbewerb einzu- Der Verweis auf kapitalistische Ausbeutungsverhältnis- nehmen. Dem trägt die SPD, anders als die Merkel-CDU, se oder den globalen Finanzkapitalismus reicht nicht, mit ihrem ausladenden programmatischen Angebots- sondern muss mit konkreten, anschaulichen Beispielen Portfolio noch nicht wirklich Rechnung. Im Gegenteil unterlegt werden. Da das Ungerechtigkeitsempfinden präsentiert sie sich nach wie vor als politischer Groß- bei den betroffenen Menschen zumeist erst durch die Wettbewerber wie ein Karstadt-Warenhaus, während die drastische Zuspitzung von Beispielfällen hervorgerufen wachsende Konkurrenz sich mit dem Geschäftsmodell und wach gehalten werden kann, ist bei einem Gerech- des exquisiten Kleinanbieters in Stellung bringt. Das tigkeitswahlkampf jeder politischen Forderung zunächst „Alles-im-Angebot“-Prinzip der SPD lässt keinen öffent- in personalisierter Beispielform ein Ungerechtigkeits- lichen Güter- und Dienstleistungsversorgungsbereich skandal vorzulagern, um dann die Lösung hin zu mehr aus, hat aber auch nach wie vor den distinktionslosen Gerechtigkeit zu offerieren. Vonnöten ist die skandalisie- Massengeschmack der Gesamtwählerschaft vor Augen. rende Zuspitzung, um größere mediale Aufmerksamkeit und kollektive Betroffenheit zu wecken. “Strategisch muss es der Partei auf ei- Martin Schulz hat dies in seinen Reden mit der Gegen- nem auf sechs Parteien erweiterten und überstellung des steuerzahlenden Bäckers und des steu- aufgefächerten Anbietermarkt darum ervermeidenden Amazon-Konzerns durchaus prototy- gehen, ihren Markenkern als Alleinstel- pisch vorgeführt. Es ist aber offenkundig, dass bei der lungsmerkmal zu erhalten und mit einem Vermittlung all der Vorschläge der SPD zur Steuer-, Bil- unverwechselbaren Profil einen nicht ver- dungs-, Renten-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik drängbaren Platz im Standortwettbewerb der Zwei-Sprung von „ungerecht ist“ und „das beseitigen einzunehmen.” wir“ nicht in den Mittelpunkt gerückt wurde. Die alte Wähler-Anziehungskraft dieses Konsumtempel- Das Karstadt-Label Modells ist längst verloren gegangen. Die SPD setzt aber weiterhin auf ihr „Für-jeden-alles“, bei dem kein Pro- des politischen duktbereich ausgespart bleibt. Hier bricht ihr traditionel- les Politikverständnis durch, alle erdenklichen Probleme Angebotsportfolios der SPD dem politischen Gestaltungsanspruch zu unterwerfen und in all seinen Facetten durchzubuchstabieren. Das schlechte Wahlergebnis macht die SPD auf abseh- bare Zukunft bestenfalls zu einer Mittelgewichtspartei, Martin Schulz griff diese Linie mit einem nicht enden wol- die der Schwergewichtspartei CDU/CSU nicht das Wasser lenden Register an kleinteiligen politischen Versprechen reichen kann. Die Messlatte, die die SPD beim Wiederauf- auf, die in der Öffentlichkeit mit immer kürzerer Halb- stieg zu überwinden hätte, liegt bei 30 Prozent aufwärts. wertszeit an der Aufmerksamkeitsschwelle zerschellten. Käme sie wieder auf diesen Stimmenanteil, befände Thematisiert wurden: Donald Trump, Nordkorea, die www.progressives-zentrum.org 11
4_2017 DISCUSSION PAPER Türkei-Beitrittsverhandlungen, die Finanzausstattung gedankenlos unterließ, Wählerkreise herauszuheben, für der Bundeswehr, Europa und das Verhältnis zu Frankreich, die sie sich einzusetzen gedachte. der G20-Gipfel in Deutschland, bessere Infrastruktur und Schulsanierung, kostenfreier Kita-, Schul- und Unibesuch, Abschaffung des Kooperationsverbots, Integration der “Vielleicht unterliegt die SPD dem Flüchtlinge, Grundrente, Bürgerversicherung, Rentenre- Missverständnis, dass Wählergruppen form, Pflegereform, Mietpreisbremse, Steuerreform, Er- von sich aus erkennen würden, welche halt der Dieseltechnologie, Verlängerung des Arbeitslo- Partei sich mit ihren Politikvorstellungen sengeldes, Ausbau des Kinder- und Elterngeldes, und so für sie einsetzt.” weiter und so weiter. Was all diesen Einzelplänen und Einzelforderungen ab- Für eine 25-Prozent-Partei läuft diese vage und ungerich- ging, war die Einbindung in einen sinngebenden, verdich- tete Wähleransprache darauf hinaus, dass sich niemand tenden Überbau mit der Botschaft, was Sozialdemokra- so richtig angesprochen fühlt. Vielleicht unterliegt die ten unter “Zusammenhalt” und einer “nicht gespaltenen SPD dem Missverständnis, dass Wählergruppen von sich Gesellschaft” verstehen. aus erkennen würden, welche Partei sich mit ihren Poli- tikvorstellungen für sie einsetzt. Ganz im Gegenteil: Für die SPD ist nichts gewonnen, wenn sie nicht proaktiv um jene Zielgruppen wirbt, von denen sie annimmt, sie als Keine Kampagne ohne Wählerinnen und Wähler gewinnen und möglichst zu ei- ner Wählerkoalition zusammenschmieden zu können. Zielgruppenbestimmung Die Chance, sich zum Fürsprecher einer solchen inklusi- Gute Ideen und Wahlkampfkonzepte entfalten ihre Wir- ven Zielgruppe zu machen, ergriff die Partei indes nicht. kungskraft erst dann, wenn klar ist, für wen sie was brin- Es hätte nahegelegen, sich zum Anwalt jener rund 40 Pro- gen und für welche Zielgruppen sie in die Tat umgesetzt zent der Beschäftigten in Deutschland zu machen, die in werden sollen. Die SPD zog unter Martin Schulz einen den vergangenen Jahren von jeglicher Nettosteigerung Gerechtigkeitswahlkampf auf, der in dieser Hinsicht im der Löhne ausgeschlossen wurden. Doch diese Chan- Unklaren beließ, welche Zielgruppen sich davon ange- ce ließ die Partei ungenutzt. Dabei hätte sie gerade um sprochen fühlen sollten. Für wen die SPD erklärtermaßen diese Zielgruppe ihren Gerechtigkeitswahlkampf ranken eingetreten ist, wurde weder der Öffentlichkeit noch den können. Dies umso mehr, wo sich das Bild der boomen- in den Fokus genommenen Zielgruppen deutlich. An den Wirtschaft und des Exportweltmeisters Deutschland Wähler-Zielgruppenanalysen mangelt es der Partei dabei gegen die Lebenswirklichkeit der davon nicht profitieren- nicht. Nur welche Schlussfolgerungen sie daraus ziehen den Beschäftigten hätte kontrastieren lassen. soll, diese Frage ist nicht mit einem erfolgversprechenden Zielgruppenkonzept beantwortet worden. “Eine Wiederauferstehung als Arbeiter- Martin Schulz brachte anfänglich die bei Bill Clinton ent- partei schließt sich von vorneherein aus, lehnte Zielgruppe der „hart arbeitenden Menschen“ ins weil diese Gruppe weiter der Erosion un- Spiel, wobei der Begriff „Menschen“ zeitweilig auch durch terliegt und kein richtiger Milieuzusam- „Mitte“ ersetzt wurde. Von Dauer war dieser Fokus nicht. menhang mehr besteht.” Offenkundig blieben auch die „kleinen Leute“ und die „Arbeiter“ ausgeklammert. Die Mitte wurde nicht weiter nach Berufsgruppen aufgeschlüsselt und die „neue Mit- te“ fiel offenbar vollständig aus dem Zielgruppen-Arse- Vor diesem Hintergrund geht es der SPD, um ihr wei- nal heraus. Infolgedessen drängt sich der Eindruck auf, teres Absinken zu verhindern, um die Stabilisierung dass die SPD es gezielt oder unschlüssig, vielleicht auch und Erschließung von Wählerpotenzialen, die auf ihre www.progressives-zentrum.org 12
4_2017 DISCUSSION PAPER Politikvorstellungen ansprechbar sind. Sie wird davon unter Merkel die Asylgesetze mehrmals verschärft. Doch Abstand nehmen müssen, sich von demoskopisch er- stiegen die Sorgen über die Flüchtlinge im Sommer 2017 hobenen Wünschen und Ansichten der Gesamtwähler- überraschenderweise wieder stark an und haben vermut- schaft weiter blenden zu lassen. Auch sich wie gehabt als lich zum Umfrageabsturz der CDU/CSU ab Juli/August Arbeitnehmerpartei, als Partei der kleinen Leute, der hart beigetragen. arbeitenden Menschen, der neuen Mitte, der Leistungs- träger, zu positionieren, ist nicht zielgenau genug, um “Die CDU hat ihren Repräsentationsbogen in der Wählerlandschaft weiterhin verankert zu bleiben. Eine Wiederauferstehung als Arbeiterpartei schließt sich nach links verschoben und auf der rechten von vorneherein aus, weil diese Gruppe weiter der Erosi- Seite aus der Verankerung gerissen.” on unterliegt und kein richtiger Milieuzusammenhang mehr besteht. Darüber hinaus sind die einschneidenden Bei der SPD geht der Kulturkonflikt um libertäre, kos- Verluste der Partei unter ehemaligen Arbeiter-Stamm- mopolitische Wertvorstellungen einerseits und autori- wählern, als Folge der Agenda-Politik, nicht mehr rück- täre Werte der Begrenzung und Schließung andererseits gängig zu machen. So fiel die SPD laut Infratest dimap mitten durch ihre Wählerschaft hindurch. Repräsentiert unter Arbeitern am 24. September 2017 auf 24 Prozent (-3 wurde dieser Spannungsbogen durch die Partei nicht. Im Punkte). Dagegen konnte die neue Konkurrenzpartei AfD Schulterschluss mit ihren Mitgliedern vertrat die Partei- ihre Arbeiterstimmen erneut um 15 Punkte auf einen An- führung stattdessen einseitig libertäre Werte bildungs- teilswert von 21 Prozent steigern. bürgerlicher Kreise aus den gehobenen Mittelschichten. Umgekehrt sind autoritäre Werthaltungen stärker in sozi- aldemokratischen Wählerkreisen aus der unteren Mittel- schicht und der Arbeiterschicht verankert. Das Schisma Das Integrationsversagen macht sich an der Flüchtlingsfrage fest, an der konträre der Volksparteien bei der Positionen der Öffnung und Toleranz einerseits und der Schließung und ethnozentrischen Ausgrenzung anderer- Flüchtlingsfrage seits verfochten werden. Zwar schwingen bei der unteren Mittelschicht und der Arbeiterschicht fremdenfeindliche Großparteien mit Volksparteianspruch müssen ihre so- Mentalitäten und kulturelle Überfremdungssorgen mit, zial, kulturell und mental heterogen zusammengesetzte doch geht es dieser Gruppe im Kern um einen auf ihrem Wählerschaft zusammenbinden und ihnen in der Vertre- Rücken ausgetragenen Verteilungskonflikt, bei dem sich tung ihrer Interessen und Wertvorstellungen ein entspre- sozialdemokratische Wählerinnen und Wähler aus dem chend breit gefächertes Repräsentations- und Resonanz- gesellschaftlichen Souterrain in ihrer Existenzgrundlage spektrum bieten, in dem sie sich angenommen fühlen. im Hinblick auf Wohnen, Arbeiten und staatliche Unter- Die CDU hat ihren Repräsentationsbogen nach links ver- stützungsleistungen bedroht sehen. schoben und auf der rechten Seite aus der Verankerung gerissen. In der Flüchtlingskrise spitzte sich die hierdurch Die SPD hat im Wahlkampf einseitig für ihre kosmopo- ausgelöste Spannung auf einen Kulturkonflikt zu. Auf der litische bildungsbürgerliche Klientel Partei ergriffen, um einen Seite fühlten sich von Merkels humanitär-weltoffe- die in der Flüchtlingsfrage auch die Grünen und die Lin- nen Ausrichtung der Flüchtlingsfrage bürgerlich-libertäre ken werben. Martin Schulz lud die positive Haltung ge- Trägergruppen der Willkommenskultur stark angespro- genüber Flüchtlingen sogar noch emphatisch zu einem chen, während eine Mehrheit unter den potenziellen Gesinnungsimperativ auf, während die soziale Dimensi- Unionswählern über den Flüchtlingszustrom besorgt war on der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen aus- und sich eine Begrenzung wünschte. Diese Kluft koste- geklammert wurde. In der Flüchtlingsfrage macht sich te der Union einen kräftigen Aderlass an Wählerstim- die SPD damit zum Sprachrohr einer bessergestellten men. Die AfD hätte hiervon noch stärker profitiert, wenn bildungsbürgerlichen Klientel, während sie die Entfrem- nicht die FDP mit einer betont merkelkritischen Haltung dung ihrer besorgten Stammwählerschaft aus der unte- einen Teil zu sich herüber gezogen hätte. Zwar wurden ren Mittelschicht und dem Arbeitermilieu hinnimmt. Die www.progressives-zentrum.org 13
4_2017 DISCUSSION PAPER gesinnungsethisch inspirierte Pro-Flüchtlingspartei SPD Wahlkämpfen nehmen die Parteien dagegen eine „So- vernachlässigt damit ihren volksparteilichen Repräsen- wohl-als-auch“-Haltung in der Koalitionsfrage ein. Sie tations- und Integrationsanspruch. Die Repräsentation lassen die Wählerschaft im Unklaren, welche Koalitions- von flüchtlingskritischen Haltungen und Sorgen in ihrer option sie letzten Endes bevorzugen werden. Zwar wer- Kernwählerschaft überlässt sie, wie schon bei den voran- den für die Parteien mit koalitionslosen Wahlkämpfen die gegangenen Landtagswahlen, der AfD, die in den Rang Koalitionsbildungsspielräume lagerübergreifend stark einer Arbeiterpartei hineinwächst. Mit dieser einseitigen erweitert. Doch mutet die Koalitionsoffenheit den Wäh- Haltung wird die SPD zukünftig noch weitaus mehr als lerinnen und Wähler die schwer erträgliche Befürchtung die 450.000 Abgänge an die AfD bei den Bundestagswah- zu, letztlich die Katze im Sack zu kaufen. Während sich len zu verkraften haben. Es spricht für wenig strategi- die Parteien ihre gouvernementalen Beteiligungschancen sches Gespür, wenn die Flüchtlingspolitik von CDU/CSU durch Offenhaltung und Flexibilisierung ihrer Koalitions- und SPD sehenden Auges zur Abspaltung von einstmals neigungen zu erweitern versuchen, hat die koalitionstak- treuen Stammwählern beiträgt. tische Wechselbereitschaft der Wählerschaft ebenfalls zugenommen, sie überschreitet aber seltener die Lager- grenzen. So ist die taktische Wahl der CDU/CSU für vie- “Martin Schulz lud die positive Haltung le FDP-Wähler Teil eines rationalen Kalküls, während sie gegenüber Flüchtlingen sogar noch em- einer Dreierkoalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen fern phatisch zu einem Gesinnungsimperativ stehen. Grünen-Wähler spalten sich ebenfalls nach einer auf, während die soziale Dimension der schwarz-grünen und rot-rot-grünen Koalitionspräferenz Aufnahme und Integration von Flüchtlin- auf. gen ausgeklammert wurde.” “Doch mutet die Koalitionsoffenheit den Wählerinnen und Wählern die schwer er- trägliche Befürchtung zu, letztlich die Ka- tze im Sack zu kaufen.” Strategisches Umlernen in Zeiten koalitionsloser Die Merkel-CDU verzichtete 2017 auf eine Koalitions- aussage für die FDP und erklärte sich für koalitionsoffen. Wahlkämpfe Anders als 2013 unterließ es auch die FDP, sich per Koaliti- onsaussage erneut an die CDU/CSU zu binden. Von einer Deutschland hat 2017 erstmals einen Bundestagswahl- sorgfältig ausbalancierten Äquidistanz gegenüber einer- kampf erlebt, der ohne lagergebundene Koalitionsfest- seits der Union und andererseits der SPD und den Grünen legungen der Parteien ablief. Die Wählerinnen und Wähler kann aber keine Rede sein. Nach dem dreimaligen Schei- waren dem Werben von nach allen Seiten hin koalitions- tern der Grünen bei der Wiederauflage einer rot-grünen offenen Parteien ausgesetzt, was deren Entscheidungs- Koalition setzte sich deren Führung 2017 von Rot-Grün kalkül massiv beeinflusste. Umgekehrt ließ der Wahl- ab und entschied sich für eine koalitionsoffene Linie der kampf ohne Koalitionsaussagen aber auch die Chancen Eigenständigkeit. Strategisch bedeutete dies, sich hin zur und Risiken der Parteien steigen, ihren Stimmenanteil zu CDU/CSU als möglichen Koalitionspartner zu öffnen. Die verbessern oder auch zu mindern. Zu beachten ist in stra- Basis ermöglichte diese Ausrichtung, indem sie die bei- tegischer Hinsicht, dass sich dadurch die Wettbewerbs- den Realos Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir zu logik der Parteien untereinander grundlegend verändert. Spitzenkandidaten wählte. Allein die Linkspartei trug ih- Bei koalitionsgebundenen Wahlkämpfen legen sich Par- ren koalitionspolitischen Richtungsstreit mehr oder min- teien offen fest, mit wem sie eine Koalition anstreben der offen weiter zwischen den Antipoden Wagenknecht und welche gegnerischen Koalitionsparteien sie demge- und Bartsch aus und nährte öffentlich Zweifel daran, für genüber bekämpfen wollen. In koalitionsungebundenen ein rot-rot-grünes Bündnis bereit zu stehen. www.progressives-zentrum.org 14
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