Wie Mieze Pienke doch noch ihre Weihnachtsallergie loswurde

 
WEITER LESEN
WEIHNACHTSGESCHICHTE

     Wie Mieze Pienke
      doch noch ihre
Weihnachtsallergie loswurde
V
       or Totensonntag hängt man            mit goldenen Löckchen und schnee-           Hätte ich diese Momente doch nur
       keenen Weihnachtsschmuck uff“,       weißem Tüllkleid auf die Erde schwebt       noch doller genossen, dachte sie bei
       fauchte Margarete Pienke, von        und wie die gute Fee höchstpersönlich       sich, während sie den unkaputtbaren
allen nur Mieze genannt, ihre Nach-         mit einem Sternenstab Geschenke für         Schachtelhalm von der Grabbepflan-
barn von gegenüber an und verpasste         alle herbeizaubert“, redete sich das        zung entfernte.
deren Adventsstimmung einen jähen           Mädchen in Rage. Für eine Achtjähri-
Dämpfer. „Oh, Verzeihung, ich wusste        ge konnte sie sich schon erstklassig
nicht, dass erst diesen Sonntag Toten-      echauffieren, pflegte ihr Opa immer zu
sonntag ist“, verteidigte sich Mutter       sagen.                                      Eine Woche später sah sie entgeistert
Hohenschein, von allen nur Frau                                                         durch den Spion ihrer Tür das kleine
Sonnenschein genannt, und setzte                                                        Nachbarsmädchen stehen – mit etwas
eine betont schuldbewusste Miene                                                        auf den Händen, das aussah wie eine
auf. „Das liegt möglicherweise daran,       Am Totensonntag stattete Mieze Pien-        Keksdose. „Bloß nich!“, stöhnte Mieze
dass der Totensonntag auch erst über-       ke ihrem „holden Gatten“ einen Besuch       Pienke, als sie widerwillig öffnete. Aus
nächsten Sonntag ist“, brachte die alte     auf dem Dorotheenstädtischen Fried-         ihrem Wohnzimmer erschallten die
Dame nun nur noch gepresst über die         hof ab. Irgendwo unweit von Brecht          Orffschen Bauerngesänge, die ihr Gatte
Lippen.                                     und Dessau, seiner bescheidenen             so geliebt hatte. „Was ist das denn für
                                            Ansicht zufolge die am größten unter-       Musik?“, fragte Minnie neugierig. „Also
„Was ist denn Totensonntag? Hat das         schätzten Künstler der Gegenwart,           früher hat man noch juten Tach jesagt,
was mit den lustigen Skeletten aus Me-      wollte er begraben sein, das war sein       aber wat willste von der Jugend von
xiko zu tun?“, fragte Wilhelmina            Wunsch gewesen – schon lange bevor          heute schon erwarten“, seufzte Mieze
Hohenschein, von allen nur Minnie           er viel zu früh „den Löffel abgab“, wie     Pienke. „Wat kann ick dir denn Jutes
Sonnenschein genannt, und richtete          er selbst gerne das ultimative Ende         tun, junge Dame?“
den Blick auf ihre Mutter, die auf der      herunterspielte. Zärtlich strich sie über
Leiter stehend den gezackten Weih-          den Marmorfrosch, der seinen sonst          Die junge Dame grinste bis über beide
nachtsstern über die Glühbirne im           sehr schlichten Grabstein zierte. Wenn      Ohren. „Eigentlich wollte ich Ihnen was
Treppenflur des Mehrfamilienhauses          sie abends in der Hollywoodschaukel         Gutes tun, Frau Pienke. Ich habe Weih-
in der Eberswalder Straße 24 stülpte.       auf der Terrasse ihrer Datsche am           nachtsplätzchen für Sie gebacken. Darf
„Nein, du meinst den Día de Muertos,        Müggelsee saßen, dann lauschten sie         ich reinkommen?“ Die alte Dame sog
Minnie. Und der war schon längst ge-        oft dem Froschkonzert und ihr Wolfi         tief Luft ein, trat aber mit einer ein-
wesen.“                                     genoss andächtig das sinfonische Qua-       ladenden Geste zur Seite. Ihr Blick fing
                                            ken der grünen Sängerknaben. Dann           die rothaarigen Zöpfe des Nachbars-
„Ach mit so ‘nem ausländischen Gedöns       nahm er sie in den Arm und sagte:           mädchens ein, die geradezu grotesk
kennse sich aus, aber von hiesigen          „Mensch Meedchen, wat hamwe es              fröhlich auf und ab hüpften.
Traditionen hamse keene Ahnung, na          doch jut, wa? Wat willste denn mehr?“
det is ma wieder typisch“, motzte Mieze     Mieze tätschelte ihrem holden Gatten        „Aber hier ist es ja gar nicht weihnacht-
Pienke und schloss kopfschüttelnd           dann für gewöhnlich die Plautze und         lich!“, rief Minnie entsetzt. „Ach, ick hab‘
die Tür zu ihrer Wohnung auf. Jetzt         freute sich über dessen Genügsamkeit.       nix für den janzen Tinnef übrig und
brauchte sie erst einmal ein Likörchen
und Beethovens 5. Sinfonie. Erst als sich
die Nadel ihres alten Plattenspielers
auf das Schellack herabsenkte und die
ersten Töne erklangen, beruhigte sie
sich wieder.

„Was war das denn eben, Mutti?“, fragte
Minnie, während sie nachdenklich einen
selbst gebastelten Weihnachtsmann in
Scherenschnittoptik auf das geriffelte
Glasfenster der Wohnungseingangstür
klebte. „Weißt du, Minnie-Schatz, es
gibt merkwürdige Käuze, die können
sich nicht so sehr für Weihnachten
begeistern wie unsereiner. Ja, ich weiß,
das ist kaum vorstellbar. Aber es soll ja
auch Leute geben, die nicht an Außerir-
dische glauben“, sagte Mutter Hohen-
schein und machte sich nun daran,
den obligatorischen Mistelzweig am
oberen Türrahmen zu befestigen. „Es
soll sogar Menschen geben, die nicht
mal an den Weihnachtsmann glauben“,
pflichtete ihr Minnie empört bei. „Statt-
dessen denken die, dass ein Christkind

2                                                                                                         Weichnachtsgeschichte 2021
Weihnachten jeht mir wirklich am Aller-     der Allergiequelle fernhalten. Deswegen     Plattensammlung im Bücherregal. „Na
wertesten vorbei. Ick reagier allerjisch    ist er gleich ganz weit weg in den Süden    logo, das ist total einfach. Zeig ich dir
uff dit alles“, erklärte Mieze Pienke und   gezogen“, sagte Minnie. „Irgendwo nach      gern!“, freute sich Minnie.
griff beherzt in Minnies Keksdose. Er-      Dresden.“
staunt stellte sie fest, dass das Gebäck                                                Von da an brachte Minnie nicht nur
ausgesprochen gut schmeckte und dies        „Aha, von so ‘ner Allerjie hab ick schon    Weihnachtsleckereien zu ihren in-
trotz der weihnachtlichen Aromen von        oft gehört. Soll janz schön verbreitet      zwischen regelmäßigen Besuchen bei
Zimt, Nelken und Kardamom. „Meine           sein. Tut mir leid für dich und deine       der alten Dame mit, sondern auch ihr
Mutti sagt immer, jedem Tierchen            Mutti“, meinte Mieze aufrichtig. „I wo,     Tablet. Die beiden ungleichen Nachba-
sein Pläsierchen. Man muss nicht alles      wir haben ja noch meinen Opi. Der ist       rinnen wurden mit der Zeit zu wahren
mögen. Aber ein bisschen schade ist         toll. Er kann alles, aber auch wirklich     Komplizinnen auf der Jagd nach Meis-
ja schon, dass Sie ausgerechnet der         alles reparieren. Sogar zerbrochene         terwerken der klassischen Musik auf
schönsten Zeit des Jahres nichts ab-        Müslischalen. Wir haben vielleicht ein      Vinyl. Es war sozusagen ein „Jeschäft
gewinnen können.“ Weil Mieze darauf         Glück“, flötete Minnie fröhlich und wieg-   uff Jegenseitigkeit“, wie Mieze sagte.
nichts mehr zu sagen wusste, aßen           te sich leicht zu Debussys musikalischer    Sie konnte dank der jungen Dame ihre
sie gemeinsam schweigend die Keks-          Interpretation eines Schwanes. Wie ge-      Plattensammlung um längst verloren
dose leer und als die letzten Klänge der    wohnt rotierte wieder eine von Miezes       geglaubte Musikalben erweitern und
Carmina Burana verstummten, ver-            Platten im Hintergrund.                     ganz „ong passong“ lernte Minnie
abschiedete sich Minnie und schlurfte                                                   etwas über klassische Musik und deren
nach Hause.                                 „Mein Wolfi war auch so eener, es gab       Meister. Es war nur etwas gewöhnungs-
                                            nüscht, was er nich‘ wieder zum Loofen      bedürftig, dass das Mädchen sich mehr
                                            bringen konnte. Und er konnte jeden         über das Ableben der großen Künstler
                                            Fleck entfernen aus meenen Klamotten        zu interessieren scheinte als über deren
„Wo ist denn eigentlich dein Vater;         und von der Couchgarnitur. Det war          Virtuosität zu Lebzeiten. Wer hätte ge-
Minnie Sonnenschein?“, wollte Mieze         een Alleskönner, sag ick dir! Heutzutage    dacht, dass schon Kinder einen Hang zu
am nächsten Tag wissen. Diesmal stand       wird ja immer alles sofort wegjeschmis-     Morbidität entwickeln. „Muss wohl dran
die Kleene mit Apfelpunsch vor ihrer        sen und neu jekooft.“ Da hatte sie aber     liegen, dass et dem jungen Gemüse
Tür und für den hatte sie trotz ihrer Ab-   was gesagt, denn plötzlich wurde die        heutzutage einfach zu jut jeht“, erklärte
neigung gegenüber Weihnachten doch          kleene Maus von gegenüber leiden-           es sich Mieze.
ziemlich viel übrig. „Ach, den gibt es      schaftlich. „Nee, nee, so ist das nicht
nicht mehr. Der hatte auch Allergien“,      mehr. Wir schmeißen nichts weg, wir
sagte Minnie mit einer wegwischenden        verkaufen alles auf Ebay. Und wenn wir
Geste. „Oh je, hat ihn etwa een allerji-    mal was brauchen, zum Beispiel Weih-        Drei Tage vor Heiligabend, Mieze hatte
scher Schock wegjerafft?“, fragte Mieze     nachtsdeko, dann suchen wir auf Ebay        gerade wieder Pachelbels Kanon aufge-
und setzte einen mitleidigen Gesichts-      und finden immer was Schönes.“              legt, („Nur die Kunstbanausen denken,
ausdruck auf. „Nee, nee. Meine Mutti                                                    dass dit Weihnachtsmusik ist.“) fragte
sagt, er war schon immer allergisch         Mieze wurde ganz hellhörig. „Von            Minnie beiläufig, was es denn eigentlich
gegen das Arbeiten. Und als ich auf die     diesem Iehbä hab ick schon mal jehört.      mit Miezes Weihnachtsallergie auf sich
Welt kam, stellte er dann auch noch         Meinste man bekommt da noch alte            habe. Erst als die letzten Töne des Cellos
eine Unverträglichkeit gegen Kinder         Schallplatten? Ick hätte so gerne mal       verklungen waren, begann Mieze Pienke
fest. Er meinte, da kann man nix gegen      wieder wat Neues uff meene Ohren“,          mit einer für sie untypisch ausdrucks-
machen, er muss sich konsequent von         sagte sie und blickte wehmütig auf die      loser Miene zu erzählen. „Ick hatte eene

3                                                                                                  Weichnachtsgeschichte 2021
schöne Kindheit in eener kleenen Stadt,      teich zugefroren und wir fanden alte        fürchterlich traurig. Sie hat nie wieder
die heute im tiefsten Polen liegt. Vor der   Wehrmachtshelme. Die dienten uns als        Freude an Weihnachten gehabt. Das ist
Bescherung waren mein großer Bruder          Schlitten und wir hatten eenen Heide-       doch schlimm, oder?“ „Da hast du Recht,
Klausi und ich immer so uffjeregt, wir       spaß, als wir auf dem Eis herumschlit-      mein Minnie-Schatz. Von einem Mo-
kabbelten uns richtig dolle. Unser Tan-      terten. Doch bald mussten wir weiter.       ment auf den anderen hatte sich Miezes
nenbaum war so groß, dass es meine           Die Russen kamen näher. Wir erfuhren        Leben für immer verändert. Das passiert
Eltern, meine beiden Tanten, die Omi         später, dass die dit janze Schloss ab-      Millionen Menschen auch heute noch.
und uns Kinder brauchte, um einen            fackelten.                                  Aber genau deswegen ist es so wichtig,
Reigen um ihn zu bilden. Mit Klausis                                                     dass wir das Leben und den Frieden
Geige und meiner Blockflöte gaben            Egal, wo wir hinkamen, keener wollte        feiern“, tröstete Mutti Sonnenschein ihre
wir vor der Bescherung und vor den           uns, nirgends waren wir willkommen.         Tochter und stimmte Minnies Lieblings-
Augen des Weihnachtsmannes immer             Mit meiner Mutti gingen Klausi und ich      weihnachtslied „Sind die Lichter ange-
een kleenes Kammerkonzert, wie wir es        oft von Haus zu Haus, um nach was           zündet“* an. Beim Vers „Weihnachtsfrie-
nannten. Unsere Mutti blinzelte dabe         Essbarem zu fragen. Manchmal hatte          de wird verkündet, zieht hinaus in alle
ihre Tränen weg und Vati schnäuzte in        jemand Erbarmen und gab uns ein paar        Welt“, bekam Minnie Gänsehaut.
sein Taschentuch. Dit war schon schön.       Kartoffeln oder Eier. Eenmal fand Mutti
Beim letzten Weihnachtsfest in der           Schwarzwurzeln im Wald und wir aßen
alten Heimat bekam ick meine Bärbel,         uns fast schon satt. Seither liebe ick
ick hab mir diese Puppe so von Herzen        Schwarzwurzeln. Na, ick schweife ab.        „Ick weeß dat zu schätzen, aber ick
jewünscht jehabt.                            Dit sollte so junges, unschuldiges Jemü-    komm schon zurecht, Minnie. Genau
                                             se wie du nich‘ hören und ick erspar dir    wie die letzten 15 Jahre ooch, seitdem
Am nächsten Tag hörten wir ein leises        mal die grausamen Details der Flucht.       mein holder Gatte nich mehr unter uns
Donnern in der Ferne. Bis dahin hatten       Jedenfalls habe ick seitdem keen jutes      ist. Ick mach‘s mir mit ´nem schönen
wir nie viel vom Krieg mitbekommen.          Verhältnis mehr zu Weihnachten. Mei-        Grog und der „Zauberflöte“ jemüt-
Wir hatten noch eene Nacht im alten          nem Wolfi und unseren Kindern zuliebe       lich und ihr feiert mal schön alleene
Haus, dann mussten wir raus – und            hab ick später immer mitjemacht mit         Weihnachten.“ Doch als Mieze das
zwar janz zackig. Nur für ein paar Tage,     dem janzen weihnachtlichen Gedöns.“         enttäuschte Gesicht von Minnie sah,
hieß es, bis unsere siegreichen Soldaten                                                 bekam sie auf ihre alten Tage doch ein
den Feind wieder zurückgetrieben             Minnie Sonnenschein hatte aufmerk-          schlechtes Gewissen. Gemeinsam mit
haben. Deswegen sollten wir auch bloß        sam zugehört. Und weil eine gute            Mutti und Opa hatte Minnie nämlich
nich‘ so viele Habseligkeiten mitneh-        Zuhörerin sparsam mit Worten umgeht,        beschlossen, dass sie ihre Nachbarin
men. Es ging allet janz schnell und ick      sagte sie erst einmal nichts. Stattdessen   zur Hohenscheinschen Weihnachtsbe-
konnte meene Bärbel nich‘ finden. Das        drückte sie die verdutzte Mieze Pienke      scherung einluden, damit die alte Dame
war dit Schlimmste. Wie auch immer.          so fest, dass der armen alten Dame fast     endlich mal wieder ein schönes Fest
Auf Kur ging’it jedenfalls nich, kann ich    die Luft wegblieb.                          erleben konnte.
dir sagen. Dit war eher ‚ne Hunger-
kur, würd‘ ick meinen. Wat haben wir                                                     „Man kann niemanden zu seinem Glück
jehungert und jefroren. Du machts dir                                                    zwingen“, versuchte Opa seine Enkelin
ja keene Vorstellung.                        „Weißt du Mutti“, sinnierte Minnie          aufzuheitern, während er dem Nuss-
                                             und verlor sich im Kerzenschein des         knacker seinen rechten Arm das dritte
Einmal wurden wir in einem alten             Adventskranzes. „Mieze ist schon so         Jahr infolge wieder anklebte. „Ach, men-
Gutschloss untergebracht, Schoss             alt und ihre Flucht so lange her und        no“, schmollte Minnie, die sich schon
Hülseburg hieß es. Da war der Schloss-       trotzdem ist sie deswegen immer noch        alles so schön ausgemalt hatte.

44                                                                                                        Weichnachtsgeschichte
                                                                                                           Weichnachtsgeschichte 2021
                                                                                                                                 2021
Die Enttäuschung wirkte auch am Weih-          Als alle sich etwas beruhigt hatten
nachtsmorgen noch nach, denn bei der           und der Kartoffelsalat mit Würstchen
Achtjährigen wollte sich das aufgeregte        verdrückt war, Mutti Hohenschein
Kribbeln im Bauch, dass sonst so zuverläs-     schon einen leichten Schwips hatte,
sig wie ein Schweizer Uhrwerk funktio-         übergab Minnie der frisch adoptieren
nierte, einfach nicht so recht einstellen.     Oma Mieze ihr Geschenk. Deren Augen
Entsprechend missmutig beging sie am           wurden ganz groß und aufmerksame
späten Nachmittag die familiären Weih-         Beobachter hätten ein kleines Leuchten
nachtsfeierlichkeiten. Nicht mal Opis tradi-   darin entdeckt. Behutsam öffnete sie
tionelles Weihnachtständchen konnte ihre       die Schleife und entfernte das knallrote
Stimmung aufhellen. Als der Hobbysänger        Geschenkpapier. Ein muffig riechender
bei der letzten Strophe von „O Tannen-         brauner Karton kam zum Vorschein,
baum“ angelangt war, klopfte es plötzlich      dessen Gestaltung Mieze Pienke selt-
energisch an der Tür. Ob das schon der         sam bekannt vorkam. Als sie schließlich
Weihnachtsmann war? Minnie stürmte             den Deckel lüftete, nahm sie für einen
zur Tür und riss sie schwungvoll auf.          Moment an, dass sie träumte. Vor ihr
                                               lag die kleine Bärbel, jene Puppe, die
„Also, wer so schief singt, sollte es mal      sie Weihnachten 1944 unterm Weih-
lieber janz lassen“, flüsterte Mieze Pien-     nachtsbaum vorfand und nur wenige
ke ihrer kleinen Nachbarin augenzwin-          Tage später dort zurückließ. „Jetzt werd‘
kernd zu. „Du weeßt doch inzwischen,           ick aber janz sentimental“, sagte sie mit
wat Harmonien bedeuten. Kannste                tränenerstickter Stimme. Zärtlich strich
deinem Opa nich mal `nen Wink mit              sie ihrer Minnie über das artig frisierte
dem Zaunpfahl‘ jeben?“                         Haar und hauchte ihr ein bewegtes
                                               “Danke“ entgegen. Und Minnie lernte in
Minnie rief laut „Juchhuu, Mieze ist da!“      diesem Augenblick, dass zu schenken
Freudestrahlend lief sie mit der alten         tatsächlich schöner sein konnte als be-
Dame an der Hand in das von Kerzen-            schenkt zu werden.
schein heimelig erleuchtete Wohnzim-
mer. „Mutti, mach bitte sofort meine           Nicht ahnen konnte sie jedoch, dass
Weihnachts-Playlist an, ja?“ Passend zu        die alte auf Ebay erworbene Schild-
diesem wunderbaren Augenblick ertön-           kröt-Puppe bei Margarete Pienke weit
te Händels „Freue dich Welt“ und Min-          mehr auslöste, als Freude über ein für
nie wurde vor seligem Bauchkribbeln            immer verloren geglaubtes Spielzeug.
fast schwindelig. „Nun setzten Sie sich        Sie schloss Frieden. „Guck mal eener        allergie losgeworden“, so sprach sie
mal“, forderte Opa die ungewöhnlich            an, was mein Wolfi? Wat ick auf meene       in Gedanken mit ihrem holden Gatten
zurückhaltende Mieze auf und drückte           alten Tage noch erleben darf. Bin ick       und hob ihr Likörglas gen Weihnachts-
ihr ein Likörchen in die Hand.                 doch tatsächlich meene Weihnachts-          himmel.

*
 Bei dem Lied „Sind die
Lichter angezündet“ handelt
es sich um eines der be-
liebtesten und bekanntesten
Weihnachtslieder der DDR.
Die Autorin empfiehlt jeder
und jedem, einmal hinein-
zuhören.

Autorin: Anne-Katrin Schwanitz
Layout: Elsworth Frobisher
Bilder/Grafiken: freepik.com,
andrew_rybalko, AdobeStock

5                                                                                                         Weichnachtsgeschichte 2021
Sie können auch lesen