WikiLeaks - Einmaliger Skandal oder Prototyp neuer Contentstrategien im Wettbewerb der Medienunternehmen? - Dr. Bettina Radeiski
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WikiLeaks – Einmaliger Skandal oder Prototyp neuer Contentstrategien im Wettbewerb der Medienunternehmen? Autorenangaben Dr. Bettina Radeiski Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg bettina.radeiski@germanistik.uni-halle.de © Bettina Radeiski / 2011
WikiLeaks – Einmaliger Skandal oder Prototyp neuer Contentstrategien im Wettbewerb der Medienunternehmen? Seite 2 von 5 Seit den Veröffentlichungen von geheimen oder jedenfalls nicht für die Öffentlichkeit be stimmten Depeschen von US-Diplomaten tobt eine lautstarke und bisweilen hysterische Debatte um die sogenannte Enthüllungsplattform WikiLeaks. Diese Debatte hat diejenige über den Inhalt der „geleakten“ Dokumente an Lautstärke weit übertroffen. Die gegenseitig aus getauschten argumentativen Schläge finden fast durchweg auf einer ethisch-moralischen Ebene statt, auf der es um das Verhältnis von allgemein geteilten Werten wie Meinungsfreiheit, Transparenz oder das Recht auf Vertraulichkeit geht. US-amerikanische-Gegner von WikiLeaks plädieren für ein robustes staatliches Vorgehen insbesondere gegen den Anchorman von WikiLeaks, den Australier Julian Assange, aber auch gegen die mit ihm zusammen arbeitenden Medien, darunter so renommierte Häuser wie die New York Times. Und innerhalb der deutschen Diskussion werden die WikiLeaks-Veröffentlichungen von denjenigen verurteilt, die in den Spiegel-Veröffentlichungen vor allem eine Konkurrenz um Auflagen sehen. Erstaunlicher Weise sind es gerade die Pro-WikiLeaks-Stimmen, die weniger das „Revolutionäre“ im moralischen Sinne betonen, sondern die vielen Gegner und Skeptiker aus dem Bereich der etablierten Medien darauf hinweisen, dass durch WikiLeaks Konturen neuer Strategien für die Content-Produktion und -Vermarktung auch und gerade durch die führenden Unternehmen der Branche aufgezeigt werden. Einige Schlussfolgerungen in Hinblick auf Entwicklungen innerhalb der Medienbranche lassen sich bereits jetzt ziehen: Erstens hat sich gezeigt, wie ‚lernfähig‘ eine internetbasierte Vernetzung dezentraler, nichtprofessioneller Informationsbeschaffung mit professioneller Aufbereitung und Präsentation auf unterschiedlichen Vertriebskanälen sein kann. Zwischen der ersten Veröffentlichung eines amerikanischen Militärvideos und der Verbreitung der Diplomatendepeschen liegen in dieser Hinsicht Welten. WikiLeaks hat die Zusammenarbeit mit führenden Medienhäusern gesucht, gefunden und mehrfach wurde sie durch beide Seiten entscheidend modifiziert. So schreibt Frank Rieger vom Chaos Computer Club in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. Dezember: „Die Plattform WikiLeaks selbst mutiert mit der Geschwindigkeit des Internets. Aus dem früheren ‚dummen‘ Daten-Abladeplatz, auf dem sich jeder bedienen konnte, ist WikiLeaks inzwischen weit entfernt.“ Zweitens hat WikiLeaks ganz im Unterschied zu dem teils erwarteten teils schon herbei geredeten Tod der klassischen „Leitmedien“ klar gemacht, dass diese erstens noch existieren Dr. Bettina Radeiski / 2011
WikiLeaks – Einmaliger Skandal oder Prototyp neuer Contentstrategien im Wettbewerb der Medienunternehmen? Seite 3 von 5 und zweitens gerade ein anscheinend so neuartiges und antiprofessionelles, antikommerzielles Konzept wie das von WikiLeaks darauf beruht, dass es sie gibt. Um nämlich den Vorwürfen in Sachen Intransparenz und mangelnder Überprüfung der Glaubwürdigkeit und Echtheit der Quellen zu begegnen, haben sich die WikiLeaks-Macher darauf eingelassen, mit klassischen journalistischen Medien zusammen die Veröffentlichung und deren Vorbereitung inklusive der redaktionellen Überprüfung zu betreiben. Um größtmögliche Aufmerksamkeit beim Publikum zu erzielen und größtmögliche investigative Sorgfalt zu demonstrieren, hat sich WikiLeaks hierfür konsequenter Weise möglichst international bekannte, als seriös eingestufte und mit erfolgreichem investigativen Journalismus renommierende Blätter ausgesucht: „New York Times“, der Spiegel, „Guardian“, „El Pais“ usw. Das Auftauchen der „Cyber-Anarchos“ hat also bisher den Stand der Konkurrenz auf diesem Feld weniger durcheinander gewirbelt als vielmehr auf dieser neuen Handlungsebene reproduziert. Drittens lag die Notwendigkeit für diesen Schritt von WikiLeaks ausgerechnet in der kommerziell orientierten bzw. eingerahmten Publikationsstrategie der etablierten Presse-Riesen. An den anfangs öffentlich und unbearbeitet ins Netz gestellten Dokumenten konnte sich nämlich jeder Journalist, jede Redaktion bedienen – und genau darum ist das so gut wie nicht geschehen. Hierzu noch einmal F. Rieger: „Das Exklusivitätsdenken der Medien ist zu stark verankert, als dass dieses Modell (des ‚dummen Daten-Abladplatzes‘) Durchschlagskraft entwickeln könnte.“ Was Rieger hier als „Exklusivitätsdenken der Medien“ kennzeichnet, ist nichts anderes als die notwendige betriebswirtschaftliche Kalkulation des Aufwandes für die Produktion von Inhalten und den betriebswirtschaftlich messbaren monetären Nutzen durch erhöhte Einnahmen aus Verkauf, Werbeeinnahmen u.a. Eine möglichst ‚exklusive Story‘ lebt dabei immer viel mehr von der Exklusivität des Materials als von der Einzigartigkeit seiner journalistischen Aufbereitung und Interpretation. Eine für jeden Interessenten zugängliche Quelle ist von daher unattraktiv. Umgekehrt hat, was die Publizität anbelangt, gerade der letzte WikiLeaks-Coup alle seine Vorgängeraktionen in den Schatten gestellt. Das Gleiche gilt für den kommerziellen Erfolg, den z.B. der für den deutschen Markt exklusiv mit WikiLeaks als Partner fungierenden Spiegel anbelangt: Der hat zwei Hefte mit entsprechenden Titel geschichten komplett verkauft, hat sogar eine Nachauflage hergestellt (Heft 48/2010) und ein Spiegel Spezial publiziert, ebenfalls mit durchschlagendem Erfolg. Ein beträchtlicher Teil der Dr. Bettina Radeiski / 2011
WikiLeaks – Einmaliger Skandal oder Prototyp neuer Contentstrategien im Wettbewerb der Medienunternehmen? Seite 4 von 5 nörgelnden Kritik der Kollegen von der Zeit und der Süddeutschen wird wohl eher diesem Umstand als den haushoch überlegenen berufsethischen Standards dieser beiden Spiegel- Konkurrenten geschuldet gewesen sein. Viertens findet parallel zu der nicht beendeten Debatte um das moralische Für und Wider bereits ein Wettlauf darum statt, wer für sich ein solches Modell reproduzieren und ent sprechend der eigenen Strategie modifiziert anwenden kann. Den ersten Paukenschlag landete hier die WAZ-Gruppe, die ein eigenes Leaking-Portal ins Netz setzte. Die Idee erscheint verlockend – wenn sie funktioniert: Auf der Webseite http://www.derwesten.de/recherche kann jeder Dateien unterschiedlichster Art (Texte, Photos, Filme, Audioaufnahmen) und Formate hochladen. Dabei sichert ihm das verantwortliche WAZ-Recherche-Team um den Journalisten David Schraven absolute Anonymität zu. Und weil sich auf der Webseite die Dateien nur hochladen, nicht aber herunterladen oder ansehen lassen, sichert die WAZ im Gegenzug sich selbst die Exklusivität der Verfügung darüber zu – vorausgesetzt, der ‚Leaker‘ unterbreitet sein Angebot nicht noch anderen Nachfragern. Das Ganze präsentiert Schraven als Möglichkeit für engagierte Bürger, sich für Nordrhein-Westfalen stark zu machen, und macht somit plausibel und nachvollziehbar, dass die WAZ in den Genuss von Dokumenten kommt, ohne dafür zahlen zu müssen. Fünftens kann dabei von einer Konstante ausgegangen werden, die gerade im Streit um WikiLeaks oft geleugnet wird: Obwohl hier des Öfteren davon die Rede ist, dass sich das Publikum für Enthüllungen nicht dauerhaft interessieren wird, lehrt schon die pure Geschichte des investigativen Journalismus, dass ganz offensichtlich das Gegenteil der Fall ist. Sicherlich nicht auf dem Aufmerksamkeitsniveau unmittelbar bzw. kurz nach den jeweiligen WikiLeaks- Veröffentlichungen, aber auf einem niedrigeren Level doch dauerhaft werden Enthüllungen über die Sphäre der Politik ihr Publikum finden und daher für jeden journalistisch orientierten Inhalte-Anbieter Teil des Tätigkeitsportfolio bleiben müssen. Im Prinzip ist hier Thomas Steinfeld von der Süddeutschen Zeitung recht zu geben, wenn auch der kulturkritische Grundton seines Artikels sicherlich zu hinterfragen ist: „Wobei dem so aufgeklärten Bürger, dem ewig nörgelnden Moralisten, das zweifelhafte Vergnügen geboten wird, zumindest imaginär dabei zu sein, wenn die Diplomaten dieselben abfälligen Urteile über das politische Personal niederschreiben, die er sich selbst in seiner vermeintlichen Überlegenheit über das Dr. Bettina Radeiski / 2011
WikiLeaks – Einmaliger Skandal oder Prototyp neuer Contentstrategien im Wettbewerb der Medienunternehmen? Seite 5 von 5 Geschäft der Regierenden zu eigen gemacht hat.“ Das soziologisch und psychologisch schon vielfach untersuchte, auch in offenen Gesellschaften vorfindliche Bedürfnis, „der Politik“ als mehr oder weniger hermetisch und moralisch zweifelhaft gedachter Sphäre zu misstrauen, also Geheimnisse zu vermuten – wo dann ja auch oftmals welche sind –, gehört zu den Grund konstanten im Verhältnis von Bürgern und Politikern und macht – nicht nur aber auch investigativen – Journalismus überhaupt zu einem Beruf und journalistische Medien und Medienunternehmen zu einer dauerhaft notwendigen und nur deshalb kommerziell überlebens fähigen Branche. Dr. Bettina Radeiski / 2011
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