"Wir erforschen die Tagesform der Intelligenz" - PSYCHOLOGIE

Die Seite wird erstellt Carolin Becker
 
WEITER LESEN
"Wir erforschen die Tagesform der Intelligenz" - PSYCHOLOGIE
PSYCHOLO GIE

   INTELLIGENZ Ob im Job oder in der Schule – niemand kann immer
   Topleistung bringen. Aber viel wäre schon gewonnen, wenn man
  wüsste, wovon die eigenen geistigen Tief- und Höhenflüge abhängen.

    »Wir erforschen
   die Tagesform der
      Intelligenz«
Herr Professor Schmiedek, in Ihren Studien beob­             vermögen und zur fluiden Intelligenz; zudem löst er
ach­teten Sie, dass Intelligenzleistungen bei einem          noch wissensbasierte Aufgaben und so weiter. Leistungs­
Menschen über die Zeit gesehen beträchtlich                  unterschiede in einzelnen Bereichen mitteln sich dann
schwanken. Dabei hieß es jahrzehntelang, die Intelli­        zum Teil heraus, wodurch das Maß insgesamt stabiler
genz sei ab dem zehnten Lebensjahr ein äußerst kon­­-        wird. In unserer Studie mit jungen Erwachsenen schau-
stantes Persönlichkeitsmerkmal – was stimmt nun?             ten wir uns getrennt an, wie gut ein Proband jeweils
Das ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Bei IQ-Mes-         ­bestimmte Aufgaben zum Arbeitsgedächtnis, zur Wahr-
sungen sind die Werte, selbst wenn Sie diese etwa im         nehmungsgeschwindigkeit oder Merkfähigkeit meister-
Abstand von mehreren Jahrzehnten vergleichen, tat-           te. Hier schwankten die Werte zwischen unter­schied­­­
sächlich erstaunlich stabil – im Gegensatz zu vielen an-     lichen Tagen deutlich. Bildeten wir den Mittelwert über
deren Merkmalen, die Psychologen über den Lebens-            alle Aufgaben, nahm die Schwankungsbreite wieder ab.
verlauf gemessen haben. Wenn Sie bei einem Abstand
von mehreren Jahrzehnten noch einen Korrelations­       Also beruhen die beobachteten Fluktuationen nur
koeffizienten von 0,7 finden (1 wäre vollkommene Über-  auf Ihrer Berechnungsweise?
einstimmung, Anm. der Red.), ist das einerseits enorm   Nein, der wichtigste Unterschied liegt darin, dass die
hoch – andererseits gibt es auch Spielraum für Verände- Bearbeitung der Aufgaben für unsere Studienteilneh-
rungen. Ob man den für unerheblich hält, ist eine Frage mer zu einem Teil ihres Alltags geworden ist. Wenn
der Betrachtung: Für den einen ist das Glas halb voll, für
                                                        eine Person lediglich zwei- oder dreimal im Abstand
den anderen halb leer …                                 von zehn Jahren einen IQ-Test absolviert, ist sie in der
                                                        Regel hoch motiviert und wird eher ihre maximale Per-
Wenn ich heute bei einem IQ-Test einen Wert             formanz erreichen. Wenn Sie dagegen Menschen wie-
von 110 erreiche, könnte ich dann ein Jahr später       derholt im Alltag testen, ist das nicht der Fall. Man
130 Punkte schaffen?                                    spricht dann von typischer Performanz – das sind die
Eher unwahrscheinlich. Das wäre schon eine sehr große Leistungen, die jemand Tag für Tag zeigt, mit Phasen, in
Schwankung innerhalb kurzer Zeit. Bei IQ-Messungen denen er müder oder wacher, mehr oder weniger moti-
werden in der Regel verschiedenste Aufgabentypen viert, besser oder schlechter gelaunt ist und so weiter.
­miteinander kombiniert und die Ergebnisse zusammen- Das ist es, wofür wir uns interessieren. Also nicht, wie
gefasst. Das heißt, der Proband absolviert viele unter- intelligent jemand im Vergleich zu anderen ist, wenn er
 schiedliche Tests, etwa zum räumlichen Vorstellungs­ sich in Bestform befindet, sondern wie er in seinem Job

                                          GEHIRN&GEIST   38 0 9 _ 2 0 2 0
"Wir erforschen die Tagesform der Intelligenz" - PSYCHOLOGIE
FOTORISMUS FÜR DIPF, MIT FRDL. GEN. VON FLORIAN SCHMIEDEK

                                                            FLORIAN SCHMIEDEK                                         werden wie die Intelligenzunterschiede zwischen Men-
                                                                                                                      schen. Die Genausstattung etwa ändert sich nicht, also
                                                            ist Professor für Methoden der Entwicklungs- und
                                                                                                                      spielen Genvarianten für innerindividuelle Schwankun-
                                                            Pädagogischen Psychologie am Leibniz-Institut für
                                                            Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF)          gen keine Rolle. Stattdessen kann eine wechselnde
                                                            und der Goethe-Universität, Frankfurt am Main.            Schlafqualität dafür verantwortlich sein, die Stimmung,
                                                            Derzeit leitet er mehrere Forschungsprojekte, die sich    eine unstete Motivation – und dabei lässt sich der eine
                                                            mit der kognitiven und emotionalen Entwicklung von        zudem mehr durch Stress, der andere stärker durch
                                                            Schulkindern beschäftigen.                                Schlafmangel und der Dritte durch Ablenkung leichter
                                                                                                                      in seiner Intelligenzleistung beeinträchtigen. Wir kön-
                                                                                                                      nen aber durch die Vielzahl der Messungen eine per-
                                                            oder in der Schule jeden Tag zurechtkommt und wie sönliche Signatur jedes Probanden bestimmen, mit der
                                                            man diese alltägliche Leistung optimieren kann. Wir er- sich sein Abschneiden bei Arbeitsgedächtnis, Merkfä-
                                                            forschen quasi die Tagesform der Intelligenz. Hier fin- higkeit oder Wahrnehmungsgeschwindigkeit dann bes-
                                                            den wir sehr deutliche Schwankungen – wobei es sich ser voraussagen lässt.
                                                            nicht um Messfehler handelt, sondern um systemati-
                                                             sche und individuell verschiedene Variationsmuster.      Bei Ihren Studien mit Schulkindern haben
                                                                                                                      Sie ­allerdings nur das Arbeitsgedächtnis getestet.
                                                            Was bedeutet das?                                         Warum diese Vereinfachung?
                                                            Wenn wir uns die Ergebnisse für einzelne Personen Da wir die kognitive Leistungsfähigkeit der Kinder
                                                            über die Zeit anschauen, sehen wir etwa, dass die Leis- mehrmals am Tag und auch während des Unterrichts
                                                             tungen bei den verschiedenen Aufgaben bei einem In- erfassen wollten, durfte die einzelne Messung nicht län-
                                                            dividuum offenbar in ganz bestimmter Weise miteinan- ger als einige Minuten dauern. Wir haben uns daher für
                                                            der zusammenhängen, allerdings nicht so, wie es das das Arbeitsgedächtnis als bestes Annäherungsmaß ent-
                                                            ­hierarchische Modell aus der interindividuellen Intelli- schieden. Das hatte mehrere Gründe: Erstens korreliert
                                                            genzforschung voraussagt (siehe den Beitrag ab S. 32).    es sehr stark mit der fluiden Intelligenz. Zweitens kann
                                                                                                                      man von den Aufgaben für das Arbeitsgedächtnis belie-
                                                            Und woran liegt das?                                      big viele und vergleichbar schwierige Varianten erstel-
                                                            Daran, dass die Schwankungen innerhalb eines Indi­ len. Drittens hängt es im Vergleich etwa zur Inhibiti-
                                                            viduums nicht durch dieselben Faktoren beeinflusst onsfähigkeit oder Wahrnehmungsgeschwindigkeit, die

                                                                                                    GEHIRN&GEIST   39 0 9 _ 2 0 2 0
"Wir erforschen die Tagesform der Intelligenz" - PSYCHOLOGIE
man ähnlich schnell erfassen kann, empirisch stärker                                     M E H R W I S S E N AU F
mit den Schulleistungen zusammen.                                                        »SPEKTRUM.DE«

                                                                                         Mehr darüber, was der IQ bedeutet,
Wenn Kinder vier Wochen lang mehrmals täglich                                             lesen Sie in unserem Spektrum
Aufgaben fürs Arbeitsgedächtnis lösen – verbessert                                        Kompakt »Die Vermessung der
                                                                                          Intelligenz«:
es sich dann nicht allein durch die Übung?
Das würde man vielleicht erwarten und war für einen                                       www.spektrum.de/shop
Teil der Kinder auch der Fall. Im Mittel haben wir aber
keine solchen Verbesserungen gefunden. Manche Kin-
der verschlechterten sich sogar im Lauf der vier Wo-
chen, was an der Motivation gelegen haben könnte. Uns genetisch bedingt sein. Doch darüber wissen wir noch
interessieren allerdings vor allem die Schwankungen zu wenig.
um diese längerfristigen Verläufe herum.
                                                           Was halten Sie davon, wenn Kinder mit Leistungs­
In welcher Größenordnung schwankte bei                     problemen einem IQ-Test unterzogen werden?
den Kindern denn die individuelle Leistung des             Das ist sicher sinnvoll. Aber ich wäre gerade bei Kin-
Arbeitsgedächtnisses über die Zeit?                        dern mit Leistungsauffälligkeiten vorsichtiger, was die
Das ist sehr schwierig pauschal zu sagen. Es kommt da- Aussagekraft eines einzelnen IQ-Tests betrifft. Denn da
rauf an, ob ich die Werte von Tag zu Tag oder nur von werden oft auf Grund von Cut-off-Werten (Trennwerte,
einer Messung zur nächsten vergleiche. Messe ich an Anm. der Red.) gravierende Entscheidungen getroffen,
zwei Tagen hintereinander jeweils zehnmal am Tag und obwohl die Schwankungsbreite kognitiver Leistungen
 bilde darüber den Mittelwert, ist die Variabilität gerin- von einem Tag zum nächsten bei Kindern noch nicht so
ger, als wenn ich nur einmal pro Tag messe. Doch ganz gut untersucht ist. Und unsere Studien haben bestätigt,
grob über den Daumen gepeilt lassen sich bis zur Hälf- dass insbesondere bei Schülern mit schlechteren Leis-
te der gesamten Leistungsabweichungen auf die indivi- tungen die Variabilität der Ergebnisse hoch ausfällt. An-
duellen Tagesschwankungen zurückführen.                    gesichts der verschiedenen Einflussgrößen – wie moti-
                                                           viert das Kind ist, in welcher Stimmung es war, wie gut
Das ist viel! Da wäre es ja nicht überraschend,            es geschlafen hat – würde ich mich nicht auf einen ein-
wenn sich solche Fluktuationen auf das Ergebnis            zigen Test verlassen.
eines Vokabel- oder Mathetests auswirken …
Ja, es bestehen auf jeden Fall Zusammenhänge mit der Alle IQ-Tests sind altersnormiert: Ein Kind wird mit
Schulleistung. Es gibt zum Beispiel durchaus Kinder, Kindern seines Alters verglichen. Könnte es sein,
die vergleichsweise wenig Variabilität zeigen, während dass sich sein volles intellektuelles Potenzial einfach
andere sehr stark über den Tagesverlauf, über mehrere mit einem halbem oder dreiviertel Jahr Verspätung
Tage hinweg, aber auch zwischen den einzelnen Aufga- entfaltet?
 bentypen um ihren persönlichen Mittelwert schwan- Ja, es gibt vor allem im Kindesalter starke entwicklungs-
 ken – letztere schnitten in einem Schulleistungstest eher bedingte Veränderungen. Aber wenn ich Entscheidun-
 schlechter ab.                                            gen treffen muss, etwa ob ein Kind zurückgestellt wird
                                                           oder ob es jetzt besonderer Förderung bedarf, brauche
Warum ist die Leistung bei manchen Kindern                 ich natürlich Referenzwerte. Es bedeutet jedoch auch:
­instabiler als bei anderen?                               Wenn ein Kind innerhalb des normierten Altersbe-
Da spielen offenbar sehr viele Faktoren eine Rolle: man- reichs zu den jüngsten gehört, ist es womöglich allein
gelnde Schlafqualität und Schlaflänge, das emotionale deshalb etwas im Nachteil.
Wohlbefinden, die Motivation, die Empfindlichkeit, mit
dem ein Kind auf Störungen reagiert. Letztlich könnte Helfen Trainingsprogramme, etwa für das
eine erhöhte oder niedrigere Variabilität zum Teil auch ­Arbeitsgedächtnis, der Intelligenz auf die Sprünge?
                                                           Was kurze Trainings von wenigen Wochen betrifft, bin
                                                           ich skeptisch. Durch die zunehmende Vertrautheit mit
                                                           den Aufgaben können Teilnehmer zwar binnen kurzer
»Gerade bei Kindern mit                                    Zeit bessere Ergebnisse erreichen. Allerdings sind das
Leistungsauffälligkeiten                                   Anpassungen, die meist an einen bestimmten Aufgaben­
                                                           typ gebunden sind. Wechselt man ihn, sieht man oft
wäre ich vorsichtiger, was                                 kaum Transfereffekte, und es lässt sich auch keine signi-
die Aussagekraft eines                                     fikante Auswirkung auf die fluide Intelligenz beobach-
                                                           ten – zu diesem Schluss kommen jedenfalls die aktuells-
­einzelnen IQ-Tests betrifft«                              ten Metaanalysen. Ich gehe davon aus, dass grundlegen-

                                         GEHIRN&GEIST   40 0 9 _ 2 0 2 0
"Wir erforschen die Tagesform der Intelligenz" - PSYCHOLOGIE
PSYCHOLO GIE / INTELLIGENZ

de Verbesserungen des Arbeitsgedächtnisses, wenn dächtnisleistung zeigte sich davon unbeeinflusst. Man-
 überhaupt, nur durch ein bedeutend längeres und in- che reagierten dagegen nur auf negative, andere nur auf
  tensiveres Training möglich sind.                       positive Emotionen, wieder andere auf beides mit ent-
                                                          sprechend schlechteren oder besseren Leistungen.
Forscher sprechen davon, dass mindestens 60
­Prozent der Intelligenz erblich sind – sich demnach      Sind die Einflüsse so groß, dass sich psychologische
  knapp zwei Drittel der Intelligenzunterschiede          Maßnahmen lohnen?
 durch die Genausstattung erklären lassen. Kann da        Auf jeden Fall. In einem neuen Projekt wollen wir genau
  eine Förderung überhaupt viel bringen?                  das angehen und fragen uns daher: Was könnte man
Eine hohe Erblichkeit von beispielsweise 60 Prozent etwa für jene Kinder tun, die sich von ihren negativen
  oder sogar mehr bedeutet ja nicht, dass ein Merkmal Affekten stark beeinflussen lassen? Verbessert ein Ent-
 nicht veränderlich ist. Das Arbeitsgedächtnis etwa ver- spannungstraining ihr Arbeitsgedächtnis und ihr psy-
  bessert sich in sehr starkem Ausmaß über die Kindheit chisches Wohlbefinden? Langfristig ist unser Ziel eine
  bis hinein ins junge Erwachsenenalter – also über einen individuelle Diagnostik, die auf Beobachtungen des
  sehr langen Zeitraum. Wir müssen die notwendigen Kindes oder Erwachsenen im Alltag über viele Wochen
Voraussetzungen für diese Entwicklung schaffen, damit beruht und die wir dann mit maßgeschneiderten Inter-
 ein Kind sein individuelles genetisches Potenzial mög- ventionen verknüpfen können.                           H
  lichst gut ausschöpfen kann.
                                                          Die Fragen stellte Katja Gaschler, Redakteurin bei
Wie stark wirkt sich die emotionale Befindlichkeit        »Gehirn&Geist«.
  auf die Intelligenzleistung bei Kindern aus?
Unsere Daten ließen alle denkbaren Kombinationen
 ­erkennen: Es gab Kinder, die berichteten zwar von                        Das Interview im Internet:
 Schwankungen in der Stimmung, aber ihre Arbeitsge-                  www.spektrum.de/artikel/1751290

    Unsere Themenhefte                                                                                                   Alle
                                                                                                                     Sonderhefte
                                                                                                                       auch im
                                                                                                                     PDF-Format

    Die dunkle Seite der Persönlichkeit •      Sprache: Eine einzigartige Fähigkeit •   Was ist real? Am Übergang von
    Gesichtserkennung: Super-Talente           Entwicklung: Wie Kinder das Sprechen     Wissenschaft und Philosophie •
    suchen Täter • Psychologie im Ge-          lernen • Medizin: Skurrile Ausfälle      Naturgesetze: Universelle Regeln? •
    richtssaal • Sind Sexualtäter therapier-   durch Hirnschäden • Technik:             Neo-Geozentrismus: Was steht im
    bar? • Prävention: Gefährder identi-       Stimmen aus dem Computer • € 8,90        Mittelpunkt? • Kognition: Was ist
    fizieren • Brandstiftung: Flammen der                                               Bewusstsein? • € 5,90
    Frustration • € 8,90

    Weitere Hefte und Bestellinfo:
    www.spektrum.de/shop | service@spektrum.de | Tel.: 06221 9126-743
Sie können auch lesen