Wutreden und andere invektive Gattungen zwischen Rekonstruktion und Aneignung
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Artikel Simon Meier-Vieracker* Wutreden und andere invektive Gattungen zwischen Rekonstruktion und Aneignung © 2021 Simon Meier-Vieracker, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License
64 10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78 Abstract: This paper deals with ‘Wutreden’ (rants) as an invective genre in digital media. It is argued that the generic aspects of rants are not due to the formal and functional features of the speech events alone, but should be described as the result of the practices of doing genre. Digital media with its affordances to recontextualization and serialization allow to reframe disparate speech events as instances of one generic scheme. As a result, the emerging concept of rants as a genre enables the production of new instances. In order to grasp this genre in the making, a discursive concept of genre is needed, which then can also be applied to other invective genres such as shitstorms and hate facts. Keywords: Wutreden, Shitstorms, Hate Facts, Doing Genre, Digitale Medien, Diskurs, Rekontextu- alisierung – rants, shitstorms, hate facts, doing gender, digital media, discourse, recontextualization *Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker, TU Dresden, Institut für Germanistik, Professur für Angewandte Linguistik, simon.meier-vieracker@tu-dresden.de 1 Einleitung ‚Wutreden‘, und auch der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und – wenn man den Schlagzeilen Thema des vorliegenden Aufsatzes ist die Frage Glauben schenken mag – sogar Papst Franziskus nach der Ausbildung und Transformation invek- haben sich als Wutredner hervorgetan.1 Bei Greta tiver Gattungen oder, etwas präziser formuliert, Thunbergs Ansprache vor den Vereinten Nationen die Frage danach, wie insbesondere im Kontext im September 2019 war man sich zumindest in digitaler Medien invektive Dynamiken durch der deutschsprachigen Presse ebenfalls schnell sich herausbildende Gattungen geordnet und einig, dass es sich um eine Wutrede gehandelt umstrukturiert werden. Empirischer Ausgangs- habe.2 Pressekonferenzen, Predigten, Telefon- punkt ist dabei die Beobachtung, dass in den interviews, Dankesreden, aber auch Instagram- letzten Jahren immer häufiger Redeereignisse Stories, Facebook-Posts, Zeitungskolumnen und eines bestimmten Typs mediale Aufmerksam- sogar ganze Romane können inzwischen als Wut- keit erlangen und dabei als „Wutreden“ bezeich- reden bezeichnet werden. net werden. Damit einher geht aber auch eine Mit dem Ausdruck ‚Wutrede‘ liegt also eine zunehmende Subsumierung verschiedenster Ethnokategorie zur benennenden Klassifizierung Redeereignisse unter diesen Terminus. Noch vor verschiedenartiger, invektiv konturierter Rede- zwanzig Jahren haben nur Fußballtrainer Reden ereignisse vor. Diese Kategorie ist Produkt und gehalten, die als „Wutreden“ bezeichnet worden Vollzugsform einer Typisierungspraxis, wie sie in sind; besonders prominent natürlich Giovanni neueren linguistischen Forschungen typischer- Trapattoni in seiner berühmten Pressekonferenz weise auch für wissenschaftliche Textsorten- und im Jahr 1998, die mit ihren Formulierungen wie Gattungstypologien den Ausgangspunkt bildet.3 „Flasche leer“ oder „Was erlaube Strunz“ längst in das allgemein verfügbare Schimpfinventar 1 Tsp/rtr/epd/KNA (2014) Wutrede von Papst Franziskus. übergegangen ist. Inzwischen halten aber auch 2 o.V. (2019) Thunberg hält Wutrede bei UN. Politiker wie Christian Lindner oder Cem Özdemir 3 Habscheid (2011) Das halbe Leben, S. 14–17.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021 65 Trotzdem versperrt sich die Wutrede den übli- Im Folgenden werde ich zunächst darstel- chen Zugriffen auf Gattungen in der Linguistik len, was man unter Wutreden versteht (2) und wie auch in der Soziologie, wo diese typischer- inwiefern man Wutreden als invektive Gattung weise als Bündel formal-funktionaler Elemente beschreiben kann (3). Die sich hier auftuenden aufgefasst werden, die sich als Reflexe wieder- Probleme werde ich dann zum Anlass nehmen, kehrender kommunikativer Aufgaben verfestigt einen rezeptions- und diskursorientierten Gat- haben.4 Das Beispiel der Wutreden zeigt viel- tungsbegriff zu entwickeln, der über die Gat- mehr, dass auch jenseits eines solchen formal- tungsexemplare hinaus vor allem Praktiken des funktional bestimmbaren Substrats Gattungszu- Doing Genre fokussiert, und werde zeigen, welche sammenhänge konstruiert werden können. Um analytischen Perspektiven ein solcher Gattungs- das Phänomen der Wutreden in gattungstheore- begriff gerade angesichts der medialen Bedin- tischer Perspektive angemessen beschreiben zu gungen des Internets eröffnet (4). Danach werde können, bedarf es deshalb eines rezeptions- und ich neuere Entwicklungen diskutieren, die zei- diskursorientierten Gattungsbegriffs, der stärker gen, wie sich Akteure die Kategorie der Wutrede auf die metapragmatischen Rahmungen abzielt, produktiv aneignen, so dass sie als verfügbare durch die disparate Diskursereignisse als zusam- Schablone im Haushalt des Invektiven zusehends mengehörig gerahmt und dadurch interpretativ verankert wird (5). Anschließend werde ich mit vorstrukturiert werden. Shitstorms und Hate Facts verwandte Fälle disku- Ein solcher rezeptionsorientierter Gattungsbe- tieren, die sich vor allem in politischen Kontexten griff hat sich besonders in neueren gattungstheo- in ähnlicher Weise zwischen Rekonstruktion und retischen Forschungen zu digitalen und sozialen Aneignung bewegen (6), und schließlich in einer Medien als hilfreich erwiesen.5 Denn hier lassen Schlussbemerkung nochmals auf die allgemeine sich die metapragmatischen Rahmungen, die Frage nach der Ausbildung und Transformation typischerweise mit intermedialen Rekontextuali- invektiver Gattungen zurückkommen (7). sierungen einhergehen, besonders detailliert und in ihrem Vollzugscharakter empirisch beobachten. Sie weisen aber auch über die digitalen Medien 2 Was sind Wutreden? hinaus, indem sie das einschlägige Gattungswis- sen für den kommunikativen Haushalt insgesamt Im zeitgenössischen Sprachgebrauch werden verfügbar machen und schließlich die Produktion als Wutreden typischerweise öffentliche Reden neuer Gattungsexemplare anleiten können. Das bezeichnet, meist von Funktionsträgern wie Trai- Beispiel der Wutreden zeigt somit, wie vielfältig nern oder auch Politikern (und übrigens kaum je die Deutungsmöglichkeiten und Deutungsmodi von Trainerinnen oder Politikerinnen), in denen von Invektiv-Geschehen6 gerade im Bereich der diese in emotionaler Weise und meist spontan- digitalen Medien sein können und welche Effekte impulsiv Kritik üben. Diese Kritik kann an das der diskursiven Ordnung sich hieraus ergeben. anwesende Publikum oder auch an abwesende Dabei handelt es sich bei den Wutreden zwar um Dritte adressiert sein. Sie richtet sich aber immer einen besonders deutlichen, aber nicht singulä- gegen Personen und nicht etwa gegen Strukturen ren Fall von Gattungskonstruktion im Bereich des oder Artefakte und hat nicht zuletzt wegen der Invektiven. An verwandten internettypischen Phä- meist derben Stillage invektives Potenzial. nomenen wie ‚Shitstorms‘ und ‚Hate Speech‘ kann Das Wort ‚Wutrede‘ wurde von Redakteur*in- gezeigt werden, wie sich ursprünglich rekonstruk- nen der BILD-Zeitung in der Berichterstattung tive Kategorien herabsetzender Rede zusehends über Giovanni Trapattonis bereits erwähnte in produktive Schablonen zu wandeln scheinen, Pressekonferenz im Jahr 1998 geprägt, in der die sich Akteure gezielt aneignen. der italienische Trainer die Spieler der von ihm betreuten Mannschaft für mangelnde Disziplin öffentlich gerügt hatte. Das Wort blieb für die 4 Reisigl (2014) Gattung; Knoblauch/Schnettler (2010) ersten Jahre gleichsam metonymisch an genau Sozialwissenschaftliche Gattungsforschung. dieses Redeereignis gebunden, bis im Jahr 2003 5 Lomborg (2011) Social Media. der damalige Fußballbundestrainer Rudi Völler in 6 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 6.
66 10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78 einem berühmt gewordenen spielanschließenden Invektive konstitutive Herabsetzung einer öffent- Interview die TV-Experten Günther Netzer und lichen Person ist hier nicht immer gegeben.9 Die Gerd Delling heftig angriff. Auch dieses Interview klassische Rhetorik kennt die iracundia, den Jäh- wurde in vielen Zeitungen als ‚Wutrede‘ bezeich- zorn, der aber nur dort rhetorische Relevanz hat, net. Seitdem nimmt die Verwendung des Wortes wo er intentional für persuasive Zwecke nutzbar in deutschsprachigen Zeitungen stetig zu, wie gemacht wird.10 Unter die Bezeichnung ‚Wutrede‘ sich etwa in einer Recherche in den Pressearchi- fallen indessen vornehmlich (scheinbar) spontan- ven des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) impulsive Ausbrüche. Selbst in den deutlich rede- zeigen lässt.7 Eine Auswertung der Belege nach affineren Settings wie politischen Kundgebungen Themen8 zeigt zudem, dass bis heute die meis- oder Parlamentsdebatten sind es, wie etwa bei ten als Wutreden klassifizierten Reden im Bereich Frank-Walter Steinmeier und Christian Lind- des Fußballs gehalten werden, aber auch in den ner, meist die gerade nicht geplanten Teile wie Bereichen der Politik und der Kunst wird immer die impulsiven Reaktionen auf Zwischenrufe, die wieder über Wutreden berichtet. Ein vielbeachte- dann aus dem Redekontext herausgegriffen und tes Beispiel war etwa die Reaktion des Politikers als Wutreden verbreitet werden. Wie aber lässt Christian Lindner auf einen Zwischenruf im Parla- sich angesichts solcher Variabilität überhaupt von ment, die anschließend in verschiedenen Online- einer Gattung ‚Wutrede‘ sprechen? Nachrichtenportalen und sozialen Medien weiter- verbreitet wurde. Und tatsächlich hat sich der Diskurs über Wutreden weitgehend ins Internet 3 D ie Wutrede als invektive verlagert, wo die Videos der betreffenden Rede- Gattung? ereignisse in Online-Artikel oder Social Media Posts eingebettet werden können und nicht sel- Gegenüber der klassischen Rhetorik und der ten zu regelrechten YouTube-Hits werden. engen Orientierung ihrer Typologisierungen am Betrachtet man nun die als Wutreden bezeich- Modellfall der vorbereiteten Rede vor Publikum neten Redeereignisse genauer, fällt auf, dass sind neuere Gattungstheorien weniger strikt und damit mitnichten nur Reden im engeren Sinne fassen Gattungen als „mehr oder weniger nor- des Wortes, also zu einem bestimmten Anlass mierte, aber historisch variable Bündelungen vorbereitete und vor Publikum monologisch vor- familienähnlicher Konstellationen von formalen getragene Reden bezeichnet werden. Schon das und funktionalen Elementen […], zu denen sich für die Wutrede prototypische Setting der Pres- Einzeltexte mehr oder weniger prototypisch ver- sekonferenz ist durch eine grundlegende Frage- halten.“11 Insbesondere in der soziologischen Antwort-Struktur charakterisiert und mit Radio- Gattungstheorie ist das ausbuchstabiert worden, und TV-Interviews sind sogar genuin dialogische etwa im Konzept der kommunikativen Gattungen, Formate vertreten. Auch heimlich mitgeschnit- welches Gattungen als verfestigte Lösungen wie- tene Wutausbrüche, die überhaupt nicht vor grö- derkehrender kommunikativer Probleme fasst.12 ßerem Publikum stattfanden (prominente Bei- Die formalen Aspekte von Gattungen, beschreib- spiele haben etwa der Fußballtrainer Claus-Dieter bar etwa als Ensembles lexikalischer oder phra- Wollitz und der Politiker Winfried Kretschmann seologischer Elemente, werden auf diese Weise geliefert), wurden als ‚Wutreden‘ verbreitet. funktional gedeutet und zudem über die soge- Schon allein wegen der Vielfalt der Redeereig- nisse und -anlässe findet die Wutrede in klassisch 9 Koster (1980) Invektive; Neumann (1998) Invektive. rhetorischen Gattungstypologien, die etwa mit Vgl. außerdem Pausch in diesem Band. der polemischen Gattung der Invektive (oratio 10 Pichl (1998) Iracundia. invectiva) durchaus vergleichbare Fälle kennt, 11 Reisigl (2014) Gattung. keinen rechten Platz. Auch die für die Gattung der 12 Ayaß (2011) Kommunikative Gattungen. Eine ver- gleichbare Position nimmt aus literaturwissenschaftlicher Sicht Voßkamp ein, wenn er Gattungen als sinnstiftende 7 Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (2020) Deutsches Konstellationen definiert, „in denen […] bestimmte histo- Referenzkorpus. rische Problemstellungen bzw. Problemlösungen oder ge- 8 Weiß (2005) Thematische Erschließung von Sprachkor- sellschaftliche Widersprüche artikuliert und aufbewahrt pora. sind.“ Voßkamp (1977) Gattungen, S. 32.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021 67 nannte Außenstruktur an soziale Kontexte ange- FC Bayern München ruft in der Jahreshauptver- bunden. Eine wichtige Implikation dieses Ansat- sammlung den sich kommerzialisierungskritisch zes ist, dass Gattungsunterscheidungen nicht positionierenden Fans entgegen: „Was glaubt rein wissenschaftliche ex post-Unterscheidungen ihr eigentlich wer ihr seid? Es kann doch nicht sind. Sie sind Teil des prozeduralen Wissens der sein, dass wir hier kritisiert werden, dafür dass Kommunizierenden und für diese selbst hand- wir uns seit vielen Jahren den Arsch aufreißen.“ lungsrelevant, was sich insbesondere in den von Ganz im Sinne des Konzepts der Invektivität sind ihnen verwendeten Gattungsbezeichnungen nie- Wutreden also oft Teil „kommunikative[r] Kaska- derschlägt, die immer auch eine ordnende Funk- den wechselseitiger invektiver Adressierung, von tion haben.13 Aus dieser Perspektive ist schon die Anschlusskommunikationen, die den invektiven Gebräuchlichkeit des Wortes ‚Wutrede‘ Anlass Charakter einer Äußerung rekursiv aufnehmen, genug, die Gattungsmerkmale von Wutreden zu verstärken oder zuallererst erzeugen.“17 bestimmen und präziser noch zu fragen, inwiefern In der Interaktionslinguistik, die ganz in die- die Wutrede als eine invektive Gattung beschrie- sem Sinne von der grundlegenden Interaktivität ben werden kann. und Prozessualität von mündlicher Kommunika- Auf der Grundlage eines Datenkorpus von ins- tion ausgeht,18 sind typische Merkmale emotions- gesamt 30 Wutreden (d.h. Videomit- und -zusam- und besonders wutgeladener Interaktion etwa in menschnitten von Reden, die in der Berichterstat- Streitkontexten untersucht worden, die sich auch tung als solche bezeichnet wurden) im Umfang in den Wutreden wiederfinden.19 Die in den eben von 2:10 Stunden und in transkribierter Form von zitierten Ausschnitten erkennbare vulgäre Lexik, rund 20.000 Wörtern können folgende Merkmale aber auch Schimpfwörter wie „Deppen“ und einer prototypischen Wutrede herausgearbeitet andere herabsetzende Formulierungen wie „der werden, wobei der Prototypik entsprechend ein- hat von Tuten und Blasen keine Ahnung“ gehö- zelne Exemplare mehr oder weniger stark davon ren ebenso zum typischen Inventar der Wutreden abweichen können:14 Sie wird in einer öffentli- wie die proximalen Anredeformen („das weißt du chen Situation gehalten und ist typischerweise Waldi“) oder dialektale Ausdrücke. Sie alle haben auch an ein öffentliches Publikum adressiert. gemein, dass sie nicht das in den offiziellen Rede- Die Teilnehmendenkonstellation entspricht den kontexten eigentlich erwartbare Register darstel- Strukturen massenmedialer Kommunikation mit len und den von den üblichen Routinen abwei- der typischen Mehrfachadressierung, die Red- chenden Status der Wutreden deutlich markieren. ner*innen müssen sich also des erweiterten Krei- Dabei wird dieser exponierte Status auch von ses von Rezipierenden auch jenseits des unmit- den Rezipierenden thematisiert, wenn es etwa in telbar anwesenden Publikums gewahr sein.15 Die den Kommentaren zum Facebook-Post der Zei- Wutreden sind typischerweise responsiv orien- tung Die Welt zur ‚Wutrede‘ von Christian Lind- tiert, sie sind meist eine Reaktion auf Kritik, die ner heißt: „Endlich mal jemand der den Nagel auf als unangemessen und herabsetzend empfunden den Kopf trifft und das Ausspricht was sich viele wird und deshalb Anlass gibt, die Produzieren- nicht getrauen.“20 Statt der üblichen Routinen des den oder auch nur Überbringenden dieser Kritik parlamentarischen Alltags sind es gerade diese ihrerseits zu kritisieren und herabzusetzen.16 So impulsiven Momente, die von den Nutzenden der moniert Rudi Völler in Richtung der TV-Experten Sozialen Medien begeistert aufgegriffen werden. Netzer und Delling „diesen Scheiß, der da immer Eine interessante Eigenart von Wutreden, die gelabert wird“, und der damalige Manager des abermals auf ihren responsiven Charakter ver- weist, sind auch die vielen direkten Redewieder- 13 Miller (1984) Genre as social action, S. 155. gaben gerade der als unangemessen dargestell- 14 Meier (2016) Wutreden, S. 44–51. 15 Burger/Luginbühl (2014) Mediensprache, S. 21. 17 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, 16 Dies erinnert an die auf Aristoteles zurückgehende und S. 13. Vgl. hierzu auch Pausch in diesem Band. die europäische Literaturgeschichte grundlegend prägende 18 Deppermann (2008) Gespräche analysieren, S. 8f. Theorie des Zorns (orgé) als „ein mit Schmerz verbundenes 19 Spiegel (2011) Streit, S. 231f. Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung […] für eine 20 https://www.latest.facebook.com/WELTnext/videos/ vermeintliche Herabsetzung“ Aristoteles (2002), Rhetorik, 788263411221273/ (letzter Zugriff: 18.11.2020). Die Schrei- Abs. 1978a. Vgl. Lehmann (2019) Zorn und Wut, S. 180. bung wurde unbereinigt übernommen.
68 10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78 ten Kritik von anderen. Die Redewiedergaben medialen Kommunikationssetting überhaupt von selbst sind meist prosodisch auffällig markiert, spontan-impulsiver Kommunikation ausgegangen überzeichnen so die wiedergegebenen Sprechen- werden kann. Auch nach Greta Thunbergs Auftritt den und geben sie ihrerseits der Lächerlichkeit vor den Vereinten Nationen ist kontrovers disku- preis. Günthner weist in ihrer Analyse von Rede- tiert worden, ob die prosodisch und mimisch zum wiedergaben im Gespräch darauf hin, dass solche Ausdruck gebrachten Emotionen eine geplante Stilisierungen „die Rezipierenden zur gemeinsa- Inszenierung oder aufrichtiger Emotionsausdruck men Verurteilung des porträtierten Verhaltens waren. Vor allem aber werden Wutreden erst in ein[laden]“.21 Sie dienen also der „Formierung der Rezeption zu Wutreden gemacht, nicht sel- emotionaler Gemeinschaften“22 und fungieren ten zur Überraschung oder gar gegen den Willen durch die gemeinsame Herabsetzung als interak- der Wutredner*innen selbst. ‚Wutrede‘ ist – ver- tive Ressource der Vergemeinschaftung. gleichbar etwa mit dem ‚Skandalauftritt‘ – in ers- Der emotional aufgeladene Charakter der ter Linie eine rekonstruktive Kategorie, die einen Wutreden zeigt sich auch an anderen oberflä- stärker rezeptionsorientierten Gattungsbegriff chensprachlichen Merkmalen. Prosodisch fällt erforderlich macht. Zur Bestimmung der Wutrede zuvorderst die oft erhöhte Lautstärke auf, aber als Gattung genügt es nicht, die ohnehin höchst auch das von Fiehler beschriebene „insistierende disparaten Redeereignisse in den Blick zu neh- Iterieren“23 wie etwa in der Wutrede des Fuß- men. Vielmehr müssen auch die Interpretations- balltrainers Thomas Doll: „das ist doch alles bla leistungen der Rezipierenden Berücksichtigung bla bla ist das doch – alles bla bla bla ist das“. finden, wie sie in metapragmatischen Rahmun- Neben diesen sprachlichen Phänomenen finden gen zum Ausdruck kommen und hier auch empi- sich natürlich auch gestische und mimische Auf- risch beobachtbar sind. fälligkeiten, etwa heftiges und ausladendes Ges- tikulieren oder ein Gesichtsausdruck, der in der Forschung oft als „anger face“24 beschrieben wird. 4 Doing genre Obwohl sich Wutreden in dieser Weise als Bün- delungen inhaltlicher, formaler und auch funktio- Ein solcher rezeptionsorientierter Gattungsbe- naler Merkmale beschreiben lassen, führen derar- griff ist etwa in der Rezeptionsästhetik mit ihrem tige Beschreibungsansätze in diesem besonderen Begriff des Erwartungshorizontes26 schon ange- Fall nicht weiter. Das liegt weniger daran, dass nur deutet und dann vor allem in der amerikani- ein Teil der Wutreden die beschriebenen Merk- schen Linguistischen Anthropologie ausformuliert male aufweist, zumal diese abgestufte Relevanz worden. Hanks zufolge sind Gattungen weniger der Gattungsmerkmale durch die angenommene als formal bestimmbare Gruppen inhaltlicher oder prototypische Struktur der Gattungen schon auf- stilistischer Merkmale anzusehen denn als Orien- gefangen wird.25 Schwerer wiegt der Einwand, tierungsrahmen und interpretative Prozeduren, dass das zentrale Bestimmungsmerkmal kom- die nicht zu den Texten selbst gehören, sondern munikativer Gattungen, historisch verfestigte beschreiben, wie sich Akteure zu Texten verhal- Lösungen wiederkehrender kommunikativer Pro- ten.27 Briggs und Bauman argumentieren in ähn- bleme zu sein, die als vorgefertigte Muster zur liche Richtung, dass insbesondere publikumssei- Verfügung stehen, hier kaum angewendet wer- tige Konstruktionen intertextueller Bezüge und den kann. Der spontan-impulsive Charakter der die hierdurch eingebrachten Deutungsrahmen meisten Wutreden versperrt sich einer solchen die Gattungshaftigkeit von Texten ausmachen Beschreibung, auch wenn bei medienerprobten und nicht so sehr die formalen Eigenschaften der Figuren wie Fußballtrainern fraglich ist, ob in dem Texte selbst.28 In Anbetracht der Tatsache, dass Wutreden 21 Günthner (2002) Stimmenvielfalt im Diskurs, S. 66. 22 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, vor allem über digitale und Soziale Medien wei- S. 10. 23 Fiehler (1993) Grenzfälle des Argumentierens, S. 161. 26 Jauß (1977) Theorie der Gattungen, S. 330. 24 Sell (2019) The Evolutionary Psychology of Anger, S. 179. 27 Hanks (1987) Discourse genres. 25 Günthner/Knoblauch (1994) Forms are the food of faith, 28 Briggs/Bauman (1992) Genre, Intertextuality, and So- S. 705. cial Power, S. 147.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021 69 terverbreitet werden, ist ein solcher rezeptions- Konzept des Doing Genre vor.32 Gattungsunter- orientierte Gattungsbegriff besonders attraktiv. scheidungen und -zuordnungen, die im Reden In diesen medialen Settings lassen sich vielfältige über Wutreden faktisch vorgenommen werden, Praktiken der Neueinbettung, der Rekombination werden nicht als Ausdruck tatsächlicher substan- und der Rekontextualisierung von Diskursfrag- tieller Eigenschaften der betreffenden Redeereig- menten beobachten, welche die ursprünglichen nisse aufgefasst, sondern als Orientierungsmus- kommunikativen Zwecke dieser Fragmente ten- ter, die im – meist nachträglichen – Reden über denziell suspendieren.29 Auf die Wutreden ange- Wutreden erst entstehen. So rücken metadiskur- wendet zeigt sich, dass Wahlkampfauftritte, sive Praktiken in den Fokus, welche auf vielfältige Telefon-Interviews, Dankesreden und Presse- Weise die Gattungshaftigkeit der Wutreden indi- konferenzen in der Online-Berichterstattung und zieren oder auch thematisieren. den Timelines der Sozialen Medien aus ihrem Empirische Belege für solche Praktiken des ursprünglichen Kontext herausgelöst und neu Doing Genre finden sich im Falle der Wutreden etwa eingebettet werden. Und eben durch die Bezeich- in den Überschriften der Online-Artikel, in denen nung als Wutrede werden sie metapragmatisch über die Wutreden mit oftmals direkt eingebette- gerahmt und auch interpretativ vorstrukturiert. ten Videos berichtet wird. „Wutrede von Steinmeier Die Gattungszuordnungen, die auf dieser Ebene wird zum Hit bei YouTube“ heißt es etwa in einem der Rekontextualisierung vorgenommen werden, Bericht über einen Wahlkampfauftritt des damali- sind entscheidend. gen Außenministers33 und ein Video einer AfD-kri- Eigens für den Anwendungsfall der Sozialen tischen Rede Cem Özdemirs wird mit der Schlag- Medien hat Lomborg einen Gattungsbegriff vor- zeile „Özdemirs Wutrede sorgt für Begeisterung“ geschlagen, der ganz in diesem Sinne die meta- weiterverbreitet.34 Entscheidend hierbei ist, dass diskursiven Bezugnahmen der Kommunizieren- es erst die – häufig zusammengeschnittenen – und den und die hierdurch an die eigentlichen Texte bereits in den Sozialen Medien verbreiteten Videos, herangetragenen Normen in den Fokus rückt: und weniger die in ihnen abgebildeten Redeereig- nisse selbst, die Diskursfragmente sind, die dann […] genre can be studied and analysed within an mit dem Label ‚Wutrede‘ versehen werden. Nicht interactionist framework focusing on how users ‘do’ zuletzt durch den Verweis auf ihre Viralität werden genre – that is, on how users accomplish meaningful communication by bringing interactional norms, con- sie auch interpretativ vorstrukturiert und letztlich ventions and tacit genre knowledge into play in the als Unterhaltungsprodukte präsentiert. In konse- communicative process, and on how they demonstrate quenter Fortführung dieses Unterhaltungscharak- genre skills.30 ters finden sich auch zahlreiche Listicles,35 also Kompilationen wie „Die besten Wutreden“ oder Die Formulierung „how users ‚do‘ genre“ erinnert „Die legendärsten Wutreden“, in denen die Videos an die ethnomethodologische Doing-Terminolo- meist gleich eingebettet sind.36 Interessanterweise gie, wie sie etwa im gendertheoretischen Ansatz werden hier auch längst vergangene Redeereig- des Doing Gender Verwendung findet. In diesem nisse wie der Wutausbruch Klaus Kinskis am Set Ansatz wird das soziale Geschlecht nicht als sub des Films Fitzcarraldo oder die Parlamentsreden stantielle Eigenschaft von Personen aufgefasst, Herbert Wehners rückwirkend als Wutreden umge- sondern als ein „routine accomplishment“, das deutet und gerade in ihrer seriellen Präsentation Geschlechterunterschiede in der Interaktion rele- mit anderen Wutreden zu Gattungsexemplaren vant setzt und dadurch Geschlecht erst diskursiv erhoben. Es werden also intertextuelle Bezüge konstruiert.31 In Anlehnung hieran schlagen Meier und Marx für gattungstheoretische Fragen das den Zugang zu Genres und Genredefinitionen über text- inhärente Eigenschaften (properties) kritisch sieht. 29 Meier/Viehhauser (2020) Rekontextualisierung, S. 6f.; 32 Meier/Marx (2019) Doing genre. Jones (2018) Surveillant media, S. 252; Krieger/Machnyk 33 Bitz (2014) Wutrede von Steinmeier wird zum Hit bei (2019) Das Internet ist für alle Neuland. YouTube. 30 Lomborg (2011) Social Media, S. 68. 34 Thomys (2018) Özdemirs Wutrede sorgt für Begeiste- 31 West/Zimmerman (1987) Doing Gender, S. 125; Goff- rung. man (1977) The Arrangement between the Sexes, S. 324. 35 Pflaeging (2020) Diachronic perspectives. Vgl. hierzu auch Kanzler (in diesem Band), die ebenfalls 36 Brauer (2015) Wutredner und Choleriker.
70 10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78 hergestellt, welche die ursprüngliche, situations- toni. „Heißsporn Gattuso macht den Trapattoni“ gebundene Funktionalität der Redeereignisse völ- heißt es etwa in einem Bericht über die Wutrede lig suspendieren und mit Epitheta wie ‚schön‘, des italienischen Trainers.39 Vor allem aber in den ‚begeisternd‘, ‚episch‘, ‚legendär‘ usw. ganz neue Kommentarbereichen der Sozialen Medien, wo die Beschreibungsmaßstäbe etablieren, die erst auf Wutredenvideos kursieren, finden sich geradezu der metadiskursiven Ebene Geltung haben. Aushandlungen von Gattungsnormen:40 „Wut? Also Im Übrigen leistet schon die Bezeichnung eine emotionale Wutrede sieht für mich anders ‚Wutrede‘ selbst durch ihre Semantik einen Bei- aus, siehe Erdogan.“41 Durch solche Kommen- trag zur metapragmatischen Rahmung, indem tare, die interessanterweise durch die Formulie- durch das Zweitglied ‚-rede‘ auch bei eigentlich rung ‚sieht für mich … aus‘ den Rezeptionsprozess dialogischen Settings vor allem der monolo- selbst fokussieren, explizieren die Rezipierenden gisch-performative Charakter der Redeereignisse ihre Erwartungshorizonte, die aus ihrer Perspek- hervorgehoben und geradezu ein staging der tive die Gattung der Wutrede formieren.42 affektiv aufgeladenen Kommunikation suggeriert Man muss also zwischen den ursprünglichen wird. Wutreden sind zwar durchaus tendenziell Redeereignissen selbst und den medial rekon- monologisch und suspendieren vorübergehend textualisierten, meist serialisiert präsentierten die üblichen Mechanismen des Sprecherwech- und damit auch metapragmatisch neu gerahm- sels. Ein eindrückliches Beispiel ist etwa eine nur ten Aufzeichnungen dieser Redeereignisse unter- 42-sekündige Pressekonferenz des Fußballtrai- scheiden. Erst auf dieser zweiten Stufe werden sie ners Klaus Augenthaler, in der dieser die Fragen aktiv in einen Gattungszusammenhang gestellt, selbst gestellt und auch selbst beantwortet hat.37 und nur in Bezug auf diese medial rekontextua- Doch auch bei den eher dialogischen Varianten lisierten Ereignisse ergibt die Rede von Wutreden wie etwa dem spielanschließenden TV-Interview als Gattung überhaupt Sinn. Das hat der ameri- von Rudi Völler rückt die Bezeichnung ‚Wutrede‘ kanische Blogger Travis Timmons im Übrigen klar die gesprächsförmigen Aspekte in den Hinter- erkannt, wenn er in einem Artikel „Wutrede Hall of grund, sodass auch nur über Völlers Redebeiträge Fame: Giovanni Trapattoni, the Original“43 seinen in den Medien berichtet wurde. Auch das Erstglied amerikanischen Leser*innen das in seinen Augen ‚Wut-‘ hat einen unifizierenden Effekt. Gleichwohl typisch deutsche Phänomen der Wutrede (er lässt man aus emotionstheoretisch fundierter Sicht die den Ausdruck unübersetzt) erklärt. Die Wutrede in den Wutreden zum Ausdruck gebrachten Emo- definiert er als „an event captured on camera, fea- tionen viel präziser unterscheiden müsste – Greta turing an enraged male“, und gerade die mediale Thunbergs Ansprache vor den Vereinten Nationen Repräsentation, insbesondere auf YouTube, und etwa ist wohl eher durch die moralisch aufgela- damit auch das veränderte Publikum transformie- dene Emotion der Verachtung charakterisiert38 –, ren den pragmatischen Gehalt der ursprünglichen wird alles kurzerhand der Wut zugerechnet. Wie Redeereignisse grundlegend: „From an audience auch die häufigen Paraphrasen wie ‚Ausraster‘ perspective, it seems we’ve mostly hijacked Wut- zusätzlich verdeutlichen, werden die betreffen- reden with irony, transforming them into legen- den Redeereignisse schon dadurch als spontan- darily humorous episodes.“ Nach dieser Charak- eruptiv gerahmt. Die faktischen Unterschiede in terisierung präsentiert er Trapattonis Wutrede als den Motivationslagen der Redner*innen rücken in „THE Wutrede. The ‚O.G.‘ of Wutreden. The god- den Hintergrund. father“, also als das prototypische Gattungsexem- Eine weitere Praktik des Doing Genre, die auf plar, und bettet auch das entsprechende YouTube- ein gewisses Gattungsbewusstsein hinweist und dieses auch diskursiv formiert, bilden die häufi- 39 o.V. (2014) Heißsporn Gattuso macht den Trappatoni. gen vergleichenden Bezugnahmen insbesondere 40 Lomborg (2011) Social Media, S. 62. auf die traditionsstiftende Wutrede von Trapat- 41 Die Äußerung war im inzwischen deaktivierten Kom- mentarbereich zu diesem Artikel zu finden: https://www. spiegel.de/politik/ausland/steinmeier-bruellt-montagsde- 37 https://www.welt.de/sport/article864475/Was-erlau- mo-auf-alexanderplatz-in-berlin-nieder-a-970571.html ben-Klaus-Augenthaler.html (letzter Zugriff: 18.11.2020). (letzter Zugriff: 18.11.2020). 38 Brokoff/Walter-Jochum (2019) Verachtung und Hass 42 Hiippala/Tseng (2017) Media evolution. aus literaturwissenschaftlicher Sicht. 43 Timmons (2018) Wutrede Hall of Fame.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021 71 Video ein. Damit fängt der Blogger zum einen die diskursiv manifestiert, betrifft zunächst und vor Spezifika von Wutreden als medial rekontextua- allem die nachträgliche Kategorisierung, Benen- lisierte und metadiskursiv neu gerahmte Redeer- nung und mithin auch Deutung der betreffenden eignisse präzise ein und liefert zum anderen auch Redeereignisse. Gerade in jüngerer Zeit lassen sich selbst ein besonders dichtes Beispiel für das Doing aber Tendenzen beobachten, dass das Gattungswis- Genre von Wutreden. sen selbst produktiv wird. War ‚Wutrede‘ zunächst Der gattungsanalytische Perspektivenwech- eine Fremdkategorisierung, welche im Übrigen sel von den ursprünglichen Redeereignissen hin die Wutredner*innen nicht selten einem voyeuris- zu ihren medialen Rekontextualisierungen liefert tischen Blickregime unterwirft und die Aufmerk- dann auch Erklärungsmöglichkeiten für den ein- samkeit mitunter auf körperliche Merkmale wie gangs beschriebenen Anstieg in der Häufigkeit von schrille Stimmen, rot angelaufene Gesichter oder Wutreden. Öffentliche Wutausbrüche als solche geschwollene Halsschlagadern lenkt, eignen sich sind ja mitnichten ein neues Phänomen. Aber das Akteure diese Kategorie zusehend gezielt an. Das Internet und insbesondere die Sozialen Medien deutet sich schon in den Fällen an, in denen Presse- schaffen mit ihren Affordanzen der ‚persistence‘, texte, die man in klassischer Gattungsterminologie ‚spreadability‘ und ‚visibility‘44 neue Rezeptions- wohl als polemische Glossen bezeichnen könnte, bedingungen, welche die gattungskonstitutiven von den Zeitungen selbst als Wutreden präsen- Rekontextualisierungen erleichtern, den Prakti- tiert werden.46 Wenigstens in einem spielerischen ken des Doing Genre Raum geben und auch die Rahmen können die als typisch wahrgenommenen nötige Sichtbarkeit verschaffen. Die Wutreden Merkmale von Wutreden aber auch direkt hand- geben somit ein eindrückliches Beispiel dafür ab, lungsleitend werden. So präsentiert das Fußball- wie eine invektive Praxis – denn die Wutreden magazin 11Freunde eine als Lückentext gestaltete haben als Form der Kritik ad personam ja durch- Anleitung für die „perfekte Wutrede“, die für den aus herabsetzendes Potenzial – metadiskursiv persönlichen Gebrauch ausgestaltet werden kann: umgedeutet werden kann und wie gerade Gat- Jetzt möchte ich mal in aller Deutlichkeit was sagen: Mir tungszuordnungen diskursive Ordnung schaffen reicht es! Wirklich! Wenn ich den Namen ______ (hier können. Die aus dem Invektiv-Geschehen resul- bitte den Namen eines Ex-Spielers einfügen) schon tierenden Effekte, so heißt es im Konzeptpapier höre, kommt mir das Frühstück wieder hoch. Das ist zum Begriff der Invektivität, „häng[en] von den schade um das Omelett, aber es geht nicht anders. Wer vielfältigen Möglichkeiten der Deutung und den hat denn hier in den letzten Jahren den Ruf des Klubs entsprechenden Resonanzen ab, die es selbst erst gerettet? War das ________ (hier bitte den Namen des Ex-Spielers einfügen)? So ein Schwachsinn!47 erzeugt.“45 Wie vielfältig diese Deutungsmöglich- keiten sein können und wie sie sich (inter-)medial Auch paraverbale sowie gestische und mimische ausgestalten, lässt sich am Beispiel der Wutreden Anweisungen wie etwa Schnaufen vor Wut, kra- empirisch detailliert zeigen. Und wie weitreichend chend auf den Tisch hauen und ein starrer Blick die Effekte sind, zeigt sich in neueren Entwicklun- finden sich in dem Text, der deutlich macht, wie gen, die darauf hindeuten, dass sich die Wutrede sehr sich die Gattungserwartungen an Wutreden von einer bloß rekonstruktiven zu einer nunmehr bereits konsolidiert haben. Interessanterweise auch produktiven Kategorie zu wandeln beginnt. rückt gerade in dieser fingierten Wutrede, die als besonders verdichtetes Beispiel gesehen werden kann, vor allem ihr invektiver Charakter, die per- 5 V on der Rezeption sönlich herabsetzende und affektiv grundierte zur Aneignung Kritik ad hominem, in den Vordergrund. Auf YouTube und Facebook finden sich aber neu- Das Gattungswissen über die Wutreden, wie es sich erdings auch Fälle, in denen einzelne Nutzer*innen in den beschriebenen Praktiken des Doing Genre ganz gezielt auch ausdrücklich als solche bezeich- 46 https://twitter.com/szmagazin/status/9779780314815 44 Boyd (2014) It’s complicated, S. 11. 40608 (letzter Zugriff: 18.11.2020). 45 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, 47 Kuhlhoff (2017) „Da kotze ich doch im Strahl“ – Wie S. 6. sieht die perfekte Wutrede aus?
72 10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78 empfindet ihr noch etwas zu dem was bei rundherum nete Wutreden produzieren, als geplante und für die um euch passiert Videokanalabonnenten inszenierte Wutausbrüche oder versucht ihr das alles nur noch irgendwie mit dem und Schimpftiraden. So beschimpft ein Fan den Trai- Verstand zu abstrahieren ner des von ihm favorisierten Vereins als „Absturz- und euch an irgendwelche komischen schalen Illusionen trainer“ und „Witz-Lauch-Typen“, der so „dumm, an irgendwelche Gedanken zu klammern wird schon nichts passieren behindert, gehirnamputiert“ sei, dass er „wenn es is noch immer jot jejangen überhaupt“ für die „Bezirksliga“ geeignet sei.48 Der oder ach der Kelch geht schon an uns vorbei HSV-Fan und selbsterklärte „Direkt-Ansager“ Timo n Scheiß wird er Siever publiziert auf seiner Facebook-Seite regel- gar nichts geht an euch vorbei mäßig als Wutreden bezeichnete Selfie-Videos von Himmelherrgott fangt endlich an wirklich erwachen sich in seinem Auto, in denen er das eigene Team erwacht endlich spürt mal was bei euch los ist nach schlechten Spielen als „nicht ganz dicht“ oder spürt mal die Verzweiflung die Hoffnungslosigkeit auch Ultra-Fans des eigenen Vereins als „Schwach- und fangt nicht immer an im Verstand alles irgendwie maten“ beschimpft, da sie mit ihren „Bengalos“ für zu rationalisieren hohe Geldstrafen verantwortlich sind.49 Die an die Bullshit Schwachsinn Auftritte der Kunstfigur Gernot Hassknecht in der Polizisten werden stranguliert Frauen sollen nicht mehr alleine joggen gehen Comedy-Show heute-show erinnernden Videos, die was ist denn das bitteschön für ein Land meist in ruhigem Ton beginnen, um dann schlagar- ist doch n lach lachhaft tig in lautes Schreien umzuschlagen, werden auch weil Kinder werden in den Schulen drangsaliert zusam- in Online-Medien verschiedentlich aufgegriffen und mengeschlagen abgezogen ihrer offenkundigen Inszeniertheit zum Trotz als ja wir schützen noch nicht mal unsere Kinder authentische Ausraster eines enttäuschten Fans was ist denn das für ne beschissene Gesellschaft die sich nicht mehr um ihre Nachkommen kümmert weiterverbreitet.50 […] Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein selbstproduziertes You- Bemerkenswert an dieser ‚Wutrede‘ ist die norma- Tube-Video der ehemaligen Pegida-Aktivistin Tat- tiv unterlegte und durch den ganzen Auftritt ein- jana Festerling mit dem Titel „Wutrede: Es geht schließlich der Mimik auch performativ inszenierte ums Überleben – tut endlich was!“.51 In dem gut Gegenüberstellung von ‚Verstand‘ und ‚Gefühl‘, siebenminütigen Video, in dessen Vorspann u.a. von Rationalisierungsversuchen und dem Spüren das Logo der rechtspopulistischen Bewegung der Verzweiflung – eine Gegenüberstellung, die in Fortress Europe eingeblendet wird, filmt sich Fes- deutlicher Parallele zum Typus des ‚Wutbürgers‘ terling am Meeresufer im Gegenlicht und spricht dann auch die eigene Wut legitimiert und gera- direkt in die Kamera (auffällige Betonungen sind dezu als Zustand der Erweckung erscheinen lässt. im Transkript mit Unterstreichungen markiert): Und so ist die vorgetragene Kritik, obwohl sie in [0:05 – 1:29] der zweiten Person Plural vorgetragen wird, wohl Hallo auch nur zum Schein an die Kanal-Abonnent*in- ich lebe inzwischen nicht mehr in Deutschland nen adressiert. Eher ist sie an die Mehrheitsge- das ermöglicht mir einen Blick mit Abstand sellschaft gerichtet, welche die angeblichen Miss- und ich muss sagen was ich sehe stände in Deutschland nicht wahrnehmen will. ich könnte kotzen ich könnte kotzen über euch Rein formal finden sich Parallelen zu den her- sag mal merkt ihr eigentlich noch was kömmlichen Wutreden, wie sie auf YouTube zir- kriegt ihr überhaupt noch mit kulieren. Die insistierenden Wiederholungen, das vulgäre Vokabular, das überartikulierte Sprechen in erhöhter Lautstärke und die typische Mimik 48 https://www.youtube.com/watch?v=OW-Ey36MsoM verbinden Festerlings Wutrede etwa mit der von (letzter Zugriff: 18.11.2020). 49 https://www.facebook.com/DerSievi/ (letzter Zugriff: Uli Hoeneß, sind hier aber bis ins Detail geplant. 18.11.2020). Die Wut wird ganz gezielt als solche inszeniert 50 https://www.youtube.com/watch?v=e68-oPtCBfE und, anders als bei den Fußballfans, wo der (letzter Zugriff: 18.11.2020). Unterhaltungscharakter im Vordergrund steht, ist 51 https://www.youtube.com/watch?v=bOigXb_9L28 die ganze Inszenierung Teil einer agitatorischen (letzter Zugriff: 18.11.2020).
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021 73 Strategie, die Wut zum politischen Programm ruktiv ordnet. Das Neologismenwörterbuch OWID macht. Ähnlich wie bei Donald Trump und sei- definiert Shitstorm als „unkontrollierte[n] virtuel- nen affektgesättigten Auftritten on- und offline le[n] Sturm der Entrüstung als Reaktion auf die wird Wut zur Leitemotion der öffentlichen Selbst- Äußerung einer bekannten Person in Form von inszenierung und zielt dabei auf die „Schaffung massenweise versendeten beleidigenden und exklusiver Solidarität“.52 Und gerade die indirekte bedrohlichen E-Mails oder Facebook-Nachrichten, Adressierung, welche die Kritik an dem ‚lachhaf- der von den Medien aufgegriffen wird“.53 Gerade ten Schwachsinn‘ und den ‚schalen Illusionen‘ an die abschließende Einschränkung macht deutlich, die im Video Angesprochenen zu richten scheint, dass die Medienresonanz und die benennende tatsächlich aber die Rezipierenden als Teil einer Kategorisierung als Shitstorm diesem Diskurs- Erregungsgemeinschaft von eben dieser Kritik phänomen wesentlich sind. Typischerweise wer- ausnimmt, trägt hierzu bei und unterstreicht in den in der Berichterstattung einzelne Tweets oder ihrer rhetorischen Kunstfertigkeit den Inszenie- Facebook-Kommentare herausgegriffen und ver- rungscharakter des Videos. dichtend so rekontextualisiert, dass die Katego- Derartige Formen der Aneignung der Kate- risierung als Shitstorm gerechtfertigt erscheint, gorie ‚Wutrede‘ zeigen, dass der Diskurs über auch wenn im tatsächlichen Diskurs die Shitpos- die Wutreden die alltagsweltlich verfügbare Gat- tings womöglich in der Minderheit sind.54 Als gat- tungssystematik und die entsprechenden Erwar- tungstypologische Kategorie wird der Shitstorm tungshorizonte schon so weit transformiert hat, also auch durch (inter-)mediale Praktiken des dass auch Wutreden wie die von Tatjana Festerling Doing Genre konturiert. als Medienprodukte nicht nur möglich, sondern Neuere Entwicklungen zeigen nun, dass sich auch erfolgreich und kommunikativ anschlussfä- Akteure diese retrospektive und typischerweise hig sind. Die gezielte Funktionalisierung affekt- anklagende Kategorisierung selbst zu eigen grundierter Rede in den als solche inszenierten machen können. So wird das Verb shitstormen Wutreden wird dabei insbesondere in den Dienst nunmehr auch als fremdes wie eigenes Verhal- invektiver Zwecke gestellt, die manchmal in ten bezeichnendes Kommunikationsverb verwen- spielerischer Rahmung eher Unterhaltungsfunk- det: „wenn ich shitstormen oder mich aufregen/ tion haben, aber eben auch, wie bei Festerling, ärgern würde…dann sähe das ganz anders aus.“55 politische Dimension haben und gesellschaftliche Und auch parodistische Anleitungen für gelunge- Ein- und Ausschlüsse verhandeln können. Die nes Shitstormen finden sich inzwischen im Netz.56 Wutrede konsolidiert sich somit zu einer benenn- Eine andere Form der Aneignung zeigt sich baren und auch produktiv verfügbaren Gattung, dagegen in einem Facebook-Post des Grünen- welche auf invektive Dynamiken zurückwirkt und Politikers Boris Palmer, in dem er einen Screen- ihnen Form gibt. shot der Startseite der Deutschen Bahn, auf dem Fahrgäste verschiedener ethnischer Hintergründe abgebildet sind, postet und mit folgendem Kom- 6 Ein Blick auf verwandte Fälle mentar versieht: Der shitstorm wird nicht vermeidbar sein. Und Die eben nachgezeichnete Wendung von der dennoch: Ich finde es nicht nachvollziehbar, nach Rezeption hin zur Produktion über die bewusste Aneignung einer primär rekonstruktiven Katego- 53 https://www.owid.de/artikel/402347 (letzter Zugriff: rie wird am Beispiel der Wutrede zwar besonders 18.11.2020). deutlich, lässt sich in ähnlicher Form aber auch an 54 Meier/Marx (2019) Doing genre, S. 205; Marx (2019) Von Schafen im Wolfspelz, S. 146. anderen Fällen aufzeigen, in denen sich Formen 55 http://swtorcantina.de/paketoeffnen-neu-gestaltet/ herabsetzender Rede zu Gattungen verdichten. (letzter Zugriff: 18.11.2020); Dieser und weitere Belege Zu nennen wäre etwa die Kategorie des Shit- lassen sich im Webkorpus 2016c im Digitalen Wörterbuch storms, welche kollektive und allein schon des- der Deutschen Sprache dwds.de recherchieren: https:// halb höchst disparate Diskursereignisse rekonst- www.dwds.de/r?q=shitstormen&corpus=ibk_web_2016c (letzter Zugriff: 18.11.2020). 56 Gogl/Lebersorger (2016) Shitstormen auf Österrei- 52 Koch/Nanz/Rogers (2020) The Great Disruptor, S. 7. chisch #oidaRP.
74 10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78 welchen Kriterien die „Deutsche Bahn“ die Personen auf der Eingangsseite ausgewählt hat. Welche Gesell- ihr euch dann so auf?“ kritische Kommentare als schaft soll das abbilden?57 unbegründet zurückweist. Nicht der eigene Ras- sismus erscheint hier als das Problem, sondern seine Thematisierung, welche ‚uns‘ spalte. Zwar Durch seine abschließende Frage scheint Palmer finden sich tatsächlich zahlreiche beleidigende und zu insinuieren, dass die Bebilderung der DB- verhöhnende Kommentare, wenn Palmer etwa Homepage einer identitätspolitischen Agenda „verbaler Brechdurchfall“ attestiert wird. Dass folge, die in einer Überbetonung von Multikul- aber viele der Kommentare sehr wohl ihre Kritik turalität den eigentlichen ethnischen Charakter begründen, wird dabei ebenso ausgeblendet wie der deutschen Gesellschaft in den Hintergrund die vielen Kommentare, die sich um Vermittlung rückt – eine implizit rassistische Position, die so bemühen oder gar ausdrücklich unterstützend auch von rechtsextremen Akteuren wie der Iden- argumentieren. Die Kategorisierung als ‚Shit- titären Bewegung vertreten wird.58 Die erwarte- storm‘ hat angesichts des sehr ausdifferenzierten ten Reaktionen auf diese Stellungnahme katego- kommunikativen Geschehens in den Kommenta- risiert Palmer nun vorgreifend als ‚Shitstorm‘ und ren ordnende und akzentuierende Kraft und das delegitimiert sie somit als problematische, einer Doing Genre wird als rhetorisches Mittel im politi- unheilvollen Entrüstungslogik folgende Praxis. schen Diskurs nutzbar. In typisch rechtspopulistischer Manier inszeniert In eine ähnliche Richtung zielt der in Politi- sich Palmer als Tabubrecher, der sich dem Diktat cal Correctness-kritischen Kontexten etablierte der politischen Korrektheit nicht beugt, und ver- Begriff der ‚Hate Facts‘ im Sinne von angeblich schiebt so die Aufmerksamkeit weg von der tabuisierten Wahrheiten, die aus der Perspek- eigenen rassistischen Äußerung hin zu der ver- tive des Mainstream-Diskurses als ‚Hate Speech‘ meintlichen Überreaktion des Publikums.59 Diese kategorisiert würden. Der rechtskonservative Reaktionen aber werden durch ihre Kategorisie- Blog National Association of Scholars etwa defi- rung als ‚Shitstorm‘ in einen vereinheitlichenden niert Hate Facts wie folgt: Deutungsrahmen gestellt. Das zunächst vorgrei- fende Doing Genre setzt Palmer dann übrigens Hate facts are truths that must not be spoken among parallel zu den tatsächlich einsetzenden Reaktio- the intelligentsia any more because doing so could nen fort, wenn er nach etwa einer Stunde seinen offend some “protected” group. Academics (and Facebook-Post ergänzt: anyone else who wants to survive in the public realm) learn to steer a safe course away from hate facts.60 PS: Eine Stunde später tobt der Shitstorm. Wie vor- hergesehen. Alle, die mich jetzt fragen, warum ich Auch Hate Speech ist zuvorderst eine rekons- dieses Thema aufgreife, frage ich zurück: Wenn die truktive Kategorie, die sich nicht zuletzt in den Auswahl dieser Bilder vollkommen belanglos, normal, Sozialen Medien durch metadiskursive Thema- unbedeutend ist, warum regt ihr euch dann so auf? tisierungen diskriminierender Rede in den und Was wir hier diskutieren, ist Identitätspolitik. Und zwar von Recht [sic!] wie Links. Die einen sagen, man wisse außerhalb der digitalen Medien etabliert hat. Der nicht mehr, in welchem Land man lebt, die anderen Terminus ‚Hate Speech‘ selbst ist dabei typischer- bekämpfen alte weiße Männer. Und gemeinsam haben weise „nicht Teil des sprachlichen Materials […], die Identitätspolitiker es ziemlich weit damit gebracht, das er kategorisiert“.61 Insbesondere von rechter uns zu spalten. Seite aus wird jedoch die im Hate Speech-Diskurs oft formulierte Kritik an ehemals unhinterfrag- Die Formulierung „tobt der Shitstorm“ rahmt die ten sprachlichen Mustern der Ausgrenzung und in den Kommentaren vorgebrachte Kritik als ein Herabsetzung als übertriebene Political Correct- blindes Wüten, das rationalen Argumenten kaum ness kritisiert, welche die Meinungskorridore ver- zugänglich ist, so wie auch die Frage „warum regt enge.62 Gerade weil Hate Speech zunächst eine Fremdkategorisierung ist, die jedoch für illegitim 5 7 h t t p s : / / w w w. f a c e b o o k . c o m / o b . b o r i s . p a l m e r / posts/2381885385184313 (letzter Zugriff: 18.11.2020). 60 Leef (2014) Hate Facts. 58 Bruns/Glösel/Strobl (2017) Die Identitären; Boehnke 61 Marx (2017) Rekontextualisierung von Hate Speech, (2019) Rechter Kulturkampf heute. S. 132. 59 Niehr/Reissen-Kosch (2018) Volkes Stimme?, S. 127. 62 Auer (2002) Political Correctness.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021 75 gehalten wird, können das gezielte Aussprechen Ein ganzer Diskurs von Fremd- und Selbstzu- von Hate Speech und der affirmative Bezug auf schreibungen und -positionierungen im Wechsel diese Kategorie geradezu als Akte des Wider- von Kritik und Gegenkritik verdichtet sich in der stands erscheinen. „Ja – ich bin ein Rassist und Rede von ‚Hate Facts‘. Die „kommunikativen Kas- das ist gut so!“63 formuliert in trotzigem Ton ein kaden wechselseitiger invektiver Adressierung“ Kommentierender auf der rechtsextremen Inter- und metainvektiver Thematisierung sowie die netseite pi-news und bedient zuvor etwa mit der hierbei oft zu beobachtenden Formen „diskursi- Rede vom „Terror dieser Gutmenschen-Verbre- ve[r] Umcodierung“66 im Hate Speech-Diskurs cher“ zielsicher den Topos der Meinungsdiktatur. werden auf diese Weise geordnet und auch selbst Wie nun gerade die Rede von Hate Facts als invektive Ressource nutzbar. diese vermeintliche Widerstandshaltung diskursiv umsetzt, lässt sich an der folgenden Passage aus Nils Wegners Editorial zur neurechten Zeitschrift 7 Schlussbemerkung Sezession zeigen: Der Autor dieser Zeilen stellt die akademischen Ikono- Die in diesem Beitrag eingenommene Perspektive klasten vor, die Aktivisten gegen Multikulturalismus-, auf invektive Gattungen zeigt zum einen, wie die Vielfalt- und Schmelztiegellügen auf der ganzen Welt im Konzept der Invektivität so zentral gesetzten mit (wie man heute so „schön“ sagt) Hate facts ver- Anschlusskommunikationen und Deutungsmodi sorgen. Ihre wissenschaftliche Disziplin ist die Human in einem diskurs- und rezeptionsorientierten Gat- biodiversity, kurz HBD, und ihr Anliegen ist relativ simpel: Das fortlaufende Ignorieren und Wegdiskutie- tungsverständnis eingefangen werden können. ren der natürlichen Unterschiede zwischen ethnischen Zum anderen veranschaulichen die besproche- und demographischen Gruppen befördert eine grund- nen Fälle durch die prozessorientierte Perspek- legende Instabilität „bunter“ Gesellschaftskonstrukte, tive auf Gattungskonstruktionen und -aneignun- die sich nicht dadurch aus der Welt schaffen läßt, daß gen auf empirisch detaillierte Weise, wie vielfältig man sie durch Sozialleistungen und Förderprogramme mit Geld bewirft. Ein „Haßfakt“ auch das, doch nichts- die Deutungsmöglichkeiten von Invektiv-Gesche- destoweniger ein Fakt.64 hen sein können, wie sie sich zu Erwartungsho- rizonten verdichten und später auch produktive Aneignungen ermöglichen. Gerade in den digita- Die hier ganz offen vorgebrachte biologistisch- len und Sozialen Medien, wo Rezeptionszeugnisse rassistische Anschauung einer „Human biodiver- verschriftlicht und dauerhaft sichtbar sind, lassen sity“, welche die „natürlichen Unterschiede zwi- sich diese Prozesse präzise nachvollziehen, und schen ethnischen […] Gruppen“ verteidigt, aber die dort herrschenden medialen Bedingungen auch die Verächtlichmachung von Minderhei- sind sicherlich prägend für die Ausbildung der tenschutzprogrammen und ihren Subventionen hier diskutierten invektiven Gattungen. werden hier als ‚Hate Facts‘ eingeordnet. Im Vor- Die diskutierten Beispiele repräsentieren griff auf die erwartbare Stigmatisierung solcher dabei verschiedene Etappen oder auch Grade der Positionen als Hass, die aber nur um den Preis Gattungskonstruktion. Bei der Wutrede ist sie „fortlaufende[n] Ignorieren[s] und Wegdiskutie- schon weit fortgeschritten und durch den mono- ren[s]“ zu haben sei, werden sie als der Wahrheit logischen Charakter der Wutrede auch so fokus- verpflichtete Positionen in einer Welt der Lügen siert, dass längst gezielt neue Gattungsexemplare legitimiert.65 Die eigentlich stigmatisierende Kate- produziert werden können. Shitstorms als kol- gorie ‚Hate Speech‘ wird so angeeignet und schon lektiv hervorgebrachte Diskursereignisse entzie- in der Produktion verfügbar gemacht. Zugleich hen sich dagegen der gezielten Produktion. Doch aber ist in die so kategorisierte Praxis auch schon auch hier zeigen die diskutierten Möglichkeiten ihre metadiskursive Thematisierung eingelassen. der vorgreifenden Kategorisierung erwartbarer Reaktionen, dass sich hier Erwartungshorizonte 63 http://www.pi-news.net/2013/06/video-hallo-mein- verdichten und die vereinheitlichende Benen- name-ist-paul-weston-und-ich-bin-ein-rassist/ (letzter Zu- griff: 18.11.2020). 64 Wegner (2017) Sezession, S. 79. 66 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, 65 Meier (2020) Selbstlegitimationen von Hate Speech, S. 140 S. 13.
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