Wutreden und andere invektive Gattungen zwischen Rekonstruktion und Aneignung

 
WEITER LESEN
Artikel
Simon Meier-Vieracker*

Wutreden und andere invektive
Gattungen zwischen Rekonstruktion
und Aneignung

           © 2021 Simon Meier-Vieracker, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives
3.0 License
64                                                         10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78

Abstract: This paper deals with ‘Wutreden’ (rants) as an invective genre in digital media. It is argued
that the generic aspects of rants are not due to the formal and functional features of the speech
events alone, but should be described as the result of the practices of doing genre. Digital media with
its affordances to recontextualization and serialization allow to reframe disparate speech events as
instances of one generic scheme. As a result, the emerging concept of rants as a genre enables the
production of new instances. In order to grasp this genre in the making, a discursive concept of genre
is needed, which then can also be applied to other invective genres such as shitstorms and hate facts.

Keywords: Wutreden, Shitstorms, Hate Facts, Doing Genre, Digitale Medien, Diskurs, Rekontextu-
alisierung – rants, shitstorms, hate facts, doing gender, digital media, discourse, recontextualization

*Prof. Dr. Simon Meier-Vieracker, TU Dresden, Institut für Germanistik, Professur für Angewandte Linguistik,
simon.meier-vieracker@tu-dresden.de

1 Einleitung                                              ‚Wutreden‘, und auch der Literaturkritiker Marcel
                                                          Reich-Ranicki und – wenn man den Schlagzeilen
Thema des vorliegenden Aufsatzes ist die Frage            Glauben schenken mag – sogar Papst Franziskus
nach der Ausbildung und Transformation invek-             haben sich als Wutredner hervorgetan.1 Bei Greta
tiver Gattungen oder, etwas präziser formuliert,          Thunbergs Ansprache vor den Vereinten Nationen
die Frage danach, wie insbesondere im Kontext             im September 2019 war man sich zumindest in
digitaler Medien invektive Dynamiken durch                der deutschsprachigen Presse ebenfalls schnell
sich herausbildende Gattungen geordnet und                einig, dass es sich um eine Wutrede gehandelt
umstrukturiert werden. Empirischer Ausgangs-              habe.2 Pressekonferenzen, Predigten, Telefon-
punkt ist dabei die Beobachtung, dass in den              interviews, Dankesreden, aber auch Instagram-
letzten Jahren immer häufiger Redeereignisse              Stories, Facebook-Posts, Zeitungskolumnen und
eines bestimmten Typs mediale Aufmerksam-                 sogar ganze Romane können inzwischen als Wut-
keit erlangen und dabei als „Wutreden“ bezeich-           reden bezeichnet werden.
net werden. Damit einher geht aber auch eine                  Mit dem Ausdruck ‚Wutrede‘ liegt also eine
zunehmende       Subsumierung     verschiedenster         Ethnokategorie zur benennenden Klassifizierung
Redeereignisse unter diesen Terminus. Noch vor            verschiedenartiger, invektiv konturierter Rede-
zwanzig Jahren haben nur Fußballtrainer Reden             ereignisse vor. Diese Kategorie ist Produkt und
gehalten, die als „Wutreden“ bezeichnet worden            Vollzugsform einer Typisierungspraxis, wie sie in
sind; besonders prominent natürlich Giovanni              neueren linguistischen Forschungen typischer-
Trapattoni in seiner berühmten Pressekonferenz            weise auch für wissenschaftliche Textsorten- und
im Jahr 1998, die mit ihren Formulierungen wie            Gattungstypologien den Ausgangspunkt bildet.3
„Flasche leer“ oder „Was erlaube Strunz“ längst
in das allgemein verfügbare Schimpfinventar               1 Tsp/rtr/epd/KNA (2014) Wutrede von Papst Franziskus.
übergegangen ist. Inzwischen halten aber auch             2 o.V. (2019) Thunberg hält Wutrede bei UN.
Politiker wie Christian Lindner oder Cem Özdemir          3 Habscheid (2011) Das halbe Leben, S. 14–17.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021                                                                      65

Trotzdem versperrt sich die Wutrede den übli-                         Im Folgenden werde ich zunächst darstel-
chen Zugriffen auf Gattungen in der Linguistik                    len, was man unter Wutreden versteht (2) und
wie auch in der Soziologie, wo diese typischer-                   inwiefern man Wutreden als invektive Gattung
weise als Bündel formal-funktionaler Elemente                     beschreiben kann (3). Die sich hier auftuenden
aufgefasst werden, die sich als Reflexe wieder-                   Probleme werde ich dann zum Anlass nehmen,
kehrender kommunikativer Aufgaben verfestigt                      einen rezeptions- und diskursorientierten Gat-
haben.4 Das Beispiel der Wutreden zeigt viel-                     tungsbegriff zu entwickeln, der über die Gat-
mehr, dass auch jenseits eines solchen formal-                    tungsexemplare hinaus vor allem Praktiken des
funktional bestimmbaren Substrats Gattungszu-                     Doing Genre fokussiert, und werde zeigen, welche
sammenhänge konstruiert werden können. Um                         analytischen Perspektiven ein solcher Gattungs-
das Phänomen der Wutreden in gattungstheore-                      begriff gerade angesichts der medialen Bedin-
tischer Perspektive angemessen beschreiben zu                     gungen des Internets eröffnet (4). Danach werde
können, bedarf es deshalb eines rezeptions- und                   ich neuere Entwicklungen diskutieren, die zei-
diskursorientierten Gattungsbegriffs, der stärker                 gen, wie sich Akteure die Kategorie der Wutrede
auf die metapragmatischen Rahmungen abzielt,                      produktiv aneignen, so dass sie als verfügbare
durch die disparate Diskursereignisse als zusam-                  Schablone im Haushalt des Invektiven zusehends
mengehörig gerahmt und dadurch interpretativ                      verankert wird (5). Anschließend werde ich mit
vorstrukturiert werden.                                           Shitstorms und Hate Facts verwandte Fälle disku-
     Ein solcher rezeptionsorientierter Gattungsbe-               tieren, die sich vor allem in politischen Kontexten
griff hat sich besonders in neueren gattungstheo-                 in ähnlicher Weise zwischen Rekonstruktion und
retischen Forschungen zu digitalen und sozialen                   Aneignung bewegen (6), und schließlich in einer
Medien als hilfreich erwiesen.5 Denn hier lassen                  Schlussbemerkung nochmals auf die allgemeine
sich die metapragmatischen Rahmungen, die                         Frage nach der Ausbildung und Transformation
typischerweise mit intermedialen Rekontextuali-                   invektiver Gattungen zurückkommen (7).
sierungen einhergehen, besonders detailliert und
in ihrem Vollzugscharakter empirisch beobachten.
Sie weisen aber auch über die digitalen Medien                    2 Was sind Wutreden?
hinaus, indem sie das einschlägige Gattungswis-
sen für den kommunikativen Haushalt insgesamt
                                                                  Im zeitgenössischen Sprachgebrauch werden
verfügbar machen und schließlich die Produktion
                                                                  als Wutreden typischerweise öffentliche Reden
neuer Gattungsexemplare anleiten können. Das
                                                                  bezeichnet, meist von Funktionsträgern wie Trai-
Beispiel der Wutreden zeigt somit, wie vielfältig
                                                                  nern oder auch Politikern (und übrigens kaum je
die Deutungsmöglichkeiten und Deutungsmodi
                                                                  von Trainerinnen oder Politikerinnen), in denen
von Invektiv-Geschehen6 gerade im Bereich der
                                                                  diese in emotionaler Weise und meist spontan-
digitalen Medien sein können und welche Effekte
                                                                  impulsiv Kritik üben. Diese Kritik kann an das
der diskursiven Ordnung sich hieraus ergeben.
                                                                  anwesende Publikum oder auch an abwesende
Dabei handelt es sich bei den Wutreden zwar um
                                                                  Dritte adressiert sein. Sie richtet sich aber immer
einen besonders deutlichen, aber nicht singulä-
                                                                  gegen Personen und nicht etwa gegen Strukturen
ren Fall von Gattungskonstruktion im Bereich des
                                                                  oder Artefakte und hat nicht zuletzt wegen der
Invektiven. An verwandten internettypischen Phä-
                                                                  meist derben Stillage invektives Potenzial.
nomenen wie ‚Shitstorms‘ und ‚Hate Speech‘ kann
                                                                      Das Wort ‚Wutrede‘ wurde von Redakteur*in-
gezeigt werden, wie sich ursprünglich rekonstruk-
                                                                  nen der BILD-Zeitung in der Berichterstattung
tive Kategorien herabsetzender Rede zusehends
                                                                  über Giovanni Trapattonis bereits erwähnte
in produktive Schablonen zu wandeln scheinen,
                                                                  Pressekonferenz im Jahr 1998 geprägt, in der
die sich Akteure gezielt aneignen.
                                                                  der italienische Trainer die Spieler der von ihm
                                                                  betreuten Mannschaft für mangelnde Disziplin
                                                                  öffentlich gerügt hatte. Das Wort blieb für die
4 Reisigl (2014) Gattung; Knoblauch/Schnettler (2010)             ersten Jahre gleichsam metonymisch an genau
Sozialwissenschaftliche Gattungsforschung.                        dieses Redeereignis gebunden, bis im Jahr 2003
5 Lomborg (2011) Social Media.
                                                                  der damalige Fußballbundestrainer Rudi Völler in
6 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität, S. 6.
66                                                         10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78

einem berühmt gewordenen spielanschließenden               Invektive konstitutive Herabsetzung einer öffent-
Interview die TV-Experten Günther Netzer und               lichen Person ist hier nicht immer gegeben.9 Die
Gerd Delling heftig angriff. Auch dieses Interview         klassische Rhetorik kennt die iracundia, den Jäh-
wurde in vielen Zeitungen als ‚Wutrede‘ bezeich-           zorn, der aber nur dort rhetorische Relevanz hat,
net. Seitdem nimmt die Verwendung des Wortes               wo er intentional für persuasive Zwecke nutzbar
in deutschsprachigen Zeitungen stetig zu, wie              gemacht wird.10 Unter die Bezeichnung ‚Wutrede‘
sich etwa in einer Recherche in den Pressearchi-           fallen indessen vornehmlich (scheinbar) spontan-
ven des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo)                  impulsive Ausbrüche. Selbst in den deutlich rede-
zeigen lässt.7 Eine Auswertung der Belege nach             affineren Settings wie politischen Kundgebungen
Themen8 zeigt zudem, dass bis heute die meis-              oder Parlamentsdebatten sind es, wie etwa bei
ten als Wutreden klassifizierten Reden im Bereich          Frank-Walter Steinmeier und Christian Lind-
des Fußballs gehalten werden, aber auch in den             ner, meist die gerade nicht geplanten Teile wie
Bereichen der Politik und der Kunst wird immer             die impulsiven Reaktionen auf Zwischenrufe, die
wieder über Wutreden berichtet. Ein vielbeachte-           dann aus dem Redekontext herausgegriffen und
tes Beispiel war etwa die Reaktion des Politikers          als Wutreden verbreitet werden. Wie aber lässt
Christian Lindner auf einen Zwischenruf im Parla-          sich angesichts solcher Variabilität überhaupt von
ment, die anschließend in verschiedenen Online-            einer Gattung ‚Wutrede‘ sprechen?
Nachrichtenportalen und sozialen Medien weiter-
verbreitet wurde. Und tatsächlich hat sich der
Diskurs über Wutreden weitgehend ins Internet              3 D
                                                              ie Wutrede als invektive
verlagert, wo die Videos der betreffenden Rede-              Gattung?
ereignisse in Online-Artikel oder Social Media
Posts eingebettet werden können und nicht sel-
                                                           Gegenüber der klassischen Rhetorik und der
ten zu regelrechten YouTube-Hits werden.
                                                           engen Orientierung ihrer Typologisierungen am
    Betrachtet man nun die als Wutreden bezeich-
                                                           Modellfall der vorbereiteten Rede vor Publikum
neten Redeereignisse genauer, fällt auf, dass
                                                           sind neuere Gattungstheorien weniger strikt und
damit mitnichten nur Reden im engeren Sinne
                                                           fassen Gattungen als „mehr oder weniger nor-
des Wortes, also zu einem bestimmten Anlass
                                                           mierte, aber historisch variable Bündelungen
vorbereitete und vor Publikum monologisch vor-
                                                           familienähnlicher Konstellationen von formalen
getragene Reden bezeichnet werden. Schon das
                                                           und funktionalen Elementen […], zu denen sich
für die Wutrede prototypische Setting der Pres-
                                                           Einzeltexte mehr oder weniger prototypisch ver-
sekonferenz ist durch eine grundlegende Frage-
                                                           halten.“11 Insbesondere in der soziologischen
Antwort-Struktur charakterisiert und mit Radio-
                                                           Gattungstheorie ist das ausbuchstabiert worden,
und TV-Interviews sind sogar genuin dialogische
                                                           etwa im Konzept der kommunikativen Gattungen,
Formate vertreten. Auch heimlich mitgeschnit-
                                                           welches Gattungen als verfestigte Lösungen wie-
tene Wutausbrüche, die überhaupt nicht vor grö-
                                                           derkehrender kommunikativer Probleme fasst.12
ßerem Publikum stattfanden (prominente Bei-
                                                           Die formalen Aspekte von Gattungen, beschreib-
spiele haben etwa der Fußballtrainer Claus-Dieter
                                                           bar etwa als Ensembles lexikalischer oder phra-
Wollitz und der Politiker Winfried Kretschmann
                                                           seologischer Elemente, werden auf diese Weise
geliefert), wurden als ‚Wutreden‘ verbreitet.
                                                           funktional gedeutet und zudem über die soge-
Schon allein wegen der Vielfalt der Redeereig-
nisse und -anlässe findet die Wutrede in klassisch
                                                           9 Koster (1980) Invektive; Neumann (1998) Invektive.
rhetorischen Gattungstypologien, die etwa mit
                                                           Vgl. außerdem Pausch in diesem Band.
der polemischen Gattung der Invektive (oratio              10 Pichl (1998) Iracundia.
invectiva) durchaus vergleichbare Fälle kennt,             11 Reisigl (2014) Gattung.
keinen rechten Platz. Auch die für die Gattung der         12 Ayaß (2011) Kommunikative Gattungen. Eine ver-
                                                           gleichbare Position nimmt aus literaturwissenschaftlicher
                                                           Sicht Voßkamp ein, wenn er Gattungen als sinnstiftende
7 Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (2020) Deutsches   Konstellationen definiert, „in denen […] bestimmte histo-
Referenzkorpus.                                            rische Problemstellungen bzw. Problemlösungen oder ge-
8 Weiß (2005) Thematische Erschließung von Sprachkor-      sellschaftliche Widersprüche artikuliert und aufbewahrt
pora.                                                      sind.“ Voßkamp (1977) Gattungen, S. 32.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021                                                                       67

nannte Außenstruktur an soziale Kontexte ange-              FC Bayern München ruft in der Jahreshauptver-
bunden. Eine wichtige Implikation dieses Ansat-             sammlung den sich kommerzialisierungskritisch
zes ist, dass Gattungsunterscheidungen nicht                positionierenden Fans entgegen: „Was glaubt
rein wissenschaftliche ex post-Unterscheidungen             ihr eigentlich wer ihr seid? Es kann doch nicht
sind. Sie sind Teil des prozeduralen Wissens der            sein, dass wir hier kritisiert werden, dafür dass
Kommunizierenden und für diese selbst hand-                 wir uns seit vielen Jahren den Arsch aufreißen.“
lungsrelevant, was sich insbesondere in den von             Ganz im Sinne des Konzepts der Invektivität sind
ihnen verwendeten Gattungsbezeichnungen nie-                Wutreden also oft Teil „kommunikative[r] Kaska-
derschlägt, die immer auch eine ordnende Funk-              den wechselseitiger invektiver Adressierung, von
tion haben.13 Aus dieser Perspektive ist schon die          Anschlusskommunikationen, die den invektiven
Gebräuchlichkeit des Wortes ‚Wutrede‘ Anlass                Charakter einer Äußerung rekursiv aufnehmen,
genug, die Gattungsmerkmale von Wutreden zu                 verstärken oder zuallererst erzeugen.“17
bestimmen und präziser noch zu fragen, inwiefern                 In der Interaktionslinguistik, die ganz in die-
die Wutrede als eine invektive Gattung beschrie-            sem Sinne von der grundlegenden Interaktivität
ben werden kann.                                            und Prozessualität von mündlicher Kommunika-
    Auf der Grundlage eines Datenkorpus von ins-            tion ausgeht,18 sind typische Merkmale emotions-
gesamt 30 Wutreden (d.h. Videomit- und -zusam-              und besonders wutgeladener Interaktion etwa in
menschnitten von Reden, die in der Berichterstat-           Streitkontexten untersucht worden, die sich auch
tung als solche bezeichnet wurden) im Umfang                in den Wutreden wiederfinden.19 Die in den eben
von 2:10 Stunden und in transkribierter Form von            zitierten Ausschnitten erkennbare vulgäre Lexik,
rund 20.000 Wörtern können folgende Merkmale                aber auch Schimpfwörter wie „Deppen“ und
einer prototypischen Wutrede herausgearbeitet               andere herabsetzende Formulierungen wie „der
werden, wobei der Prototypik entsprechend ein-              hat von Tuten und Blasen keine Ahnung“ gehö-
zelne Exemplare mehr oder weniger stark davon               ren ebenso zum typischen Inventar der Wutreden
abweichen können:14 Sie wird in einer öffentli-             wie die proximalen Anredeformen („das weißt du
chen Situation gehalten und ist typischerweise              Waldi“) oder dialektale Ausdrücke. Sie alle haben
auch an ein öffentliches Publikum adressiert.               gemein, dass sie nicht das in den offiziellen Rede-
Die Teilnehmendenkonstellation entspricht den               kontexten eigentlich erwartbare Register darstel-
Strukturen massenmedialer Kommunikation mit                 len und den von den üblichen Routinen abwei-
der typischen Mehrfachadressierung, die Red-                chenden Status der Wutreden deutlich markieren.
ner*innen müssen sich also des erweiterten Krei-            Dabei wird dieser exponierte Status auch von
ses von Rezipierenden auch jenseits des unmit-              den Rezipierenden thematisiert, wenn es etwa in
telbar anwesenden Publikums gewahr sein.15 Die              den Kommentaren zum Facebook-Post der Zei-
Wutreden sind typischerweise responsiv orien-               tung Die Welt zur ‚Wutrede‘ von Christian Lind-
tiert, sie sind meist eine Reaktion auf Kritik, die         ner heißt: „Endlich mal jemand der den Nagel auf
als unangemessen und herabsetzend empfunden                 den Kopf trifft und das Ausspricht was sich viele
wird und deshalb Anlass gibt, die Produzieren-              nicht getrauen.“20 Statt der üblichen Routinen des
den oder auch nur Überbringenden dieser Kritik              parlamentarischen Alltags sind es gerade diese
ihrerseits zu kritisieren und herabzusetzen.16 So           impulsiven Momente, die von den Nutzenden der
moniert Rudi Völler in Richtung der TV-Experten             Sozialen Medien begeistert aufgegriffen werden.
Netzer und Delling „diesen Scheiß, der da immer                  Eine interessante Eigenart von Wutreden, die
gelabert wird“, und der damalige Manager des                abermals auf ihren responsiven Charakter ver-
                                                            weist, sind auch die vielen direkten Redewieder-
13 Miller (1984) Genre as social action, S. 155.            gaben gerade der als unangemessen dargestell-
14 Meier (2016) Wutreden, S. 44–51.
15 Burger/Luginbühl (2014) Mediensprache, S. 21.            17 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität,
16 Dies erinnert an die auf Aristoteles zurückgehende und   S. 13. Vgl. hierzu auch Pausch in diesem Band.
die europäische Literaturgeschichte grundlegend prägende    18 Deppermann (2008) Gespräche analysieren, S. 8f.
Theorie des Zorns (orgé) als „ein mit Schmerz verbundenes   19 Spiegel (2011) Streit, S. 231f.
Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung […] für eine   20 https://www.latest.facebook.com/WELTnext/videos/
vermeintliche Herabsetzung“ Aristoteles (2002), Rhetorik,   788263411221273/ (letzter Zugriff: 18.11.2020). Die Schrei-
Abs. 1978a. Vgl. Lehmann (2019) Zorn und Wut, S. 180.       bung wurde unbereinigt übernommen.
68                                                             10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78

ten Kritik von anderen. Die Redewiedergaben                    medialen Kommunikationssetting überhaupt von
selbst sind meist prosodisch auffällig markiert,               spontan-impulsiver Kommunikation ausgegangen
überzeichnen so die wiedergegebenen Sprechen-                  werden kann. Auch nach Greta Thunbergs Auftritt
den und geben sie ihrerseits der Lächerlichkeit                vor den Vereinten Nationen ist kontrovers disku-
preis. Günthner weist in ihrer Analyse von Rede-               tiert worden, ob die prosodisch und mimisch zum
wiedergaben im Gespräch darauf hin, dass solche                Ausdruck gebrachten Emotionen eine geplante
Stilisierungen „die Rezipierenden zur gemeinsa-                Inszenierung oder aufrichtiger Emotionsausdruck
men Verurteilung des porträtierten Verhaltens                  waren. Vor allem aber werden Wutreden erst in
ein[laden]“.21 Sie dienen also der „Formierung                 der Rezeption zu Wutreden gemacht, nicht sel-
emotionaler Gemeinschaften“22 und fungieren                    ten zur Überraschung oder gar gegen den Willen
durch die gemeinsame Herabsetzung als interak-                 der Wutredner*innen selbst. ‚Wutrede‘ ist – ver-
tive Ressource der Vergemeinschaftung.                         gleichbar etwa mit dem ‚Skandalauftritt‘ – in ers-
     Der emotional aufgeladene Charakter der                   ter Linie eine rekonstruktive Kategorie, die einen
Wutreden zeigt sich auch an anderen oberflä-                   stärker rezeptionsorientierten Gattungsbegriff
chensprachlichen Merkmalen. Prosodisch fällt                   erforderlich macht. Zur Bestimmung der Wutrede
zuvorderst die oft erhöhte Lautstärke auf, aber                als Gattung genügt es nicht, die ohnehin höchst
auch das von Fiehler beschriebene „insistierende               disparaten Redeereignisse in den Blick zu neh-
Iterieren“23 wie etwa in der Wutrede des Fuß-                  men. Vielmehr müssen auch die Interpretations-
balltrainers Thomas Doll: „das ist doch alles bla              leistungen der Rezipierenden Berücksichtigung
bla bla ist das doch – alles bla bla bla ist das“.             finden, wie sie in metapragmatischen Rahmun-
Neben diesen sprachlichen Phänomenen finden                    gen zum Ausdruck kommen und hier auch empi-
sich natürlich auch gestische und mimische Auf-                risch beobachtbar sind.
fälligkeiten, etwa heftiges und ausladendes Ges-
tikulieren oder ein Gesichtsausdruck, der in der
Forschung oft als „anger face“24 beschrieben wird.             4 Doing genre
     Obwohl sich Wutreden in dieser Weise als Bün-
delungen inhaltlicher, formaler und auch funktio-
                                                               Ein solcher rezeptionsorientierter Gattungsbe-
naler Merkmale beschreiben lassen, führen derar-
                                                               griff ist etwa in der Rezeptionsästhetik mit ihrem
tige Beschreibungsansätze in diesem besonderen
                                                               Begriff des Erwartungshorizontes26 schon ange-
Fall nicht weiter. Das liegt weniger daran, dass nur
                                                               deutet und dann vor allem in der amerikani-
ein Teil der Wutreden die beschriebenen Merk-
                                                               schen Linguistischen Anthropologie ausformuliert
male aufweist, zumal diese abgestufte Relevanz
                                                               worden. Hanks zufolge sind Gattungen weniger
der Gattungsmerkmale durch die angenommene
                                                               als formal bestimmbare Gruppen inhaltlicher oder
prototypische Struktur der Gattungen schon auf-
                                                               stilistischer Merkmale anzusehen denn als Orien-
gefangen wird.25 Schwerer wiegt der Einwand,
                                                               tierungsrahmen und interpretative Prozeduren,
dass das zentrale Bestimmungsmerkmal kom-
                                                               die nicht zu den Texten selbst gehören, sondern
munikativer Gattungen, historisch verfestigte
                                                               beschreiben, wie sich Akteure zu Texten verhal-
Lösungen wiederkehrender kommunikativer Pro-
                                                               ten.27 Briggs und Bauman argumentieren in ähn-
bleme zu sein, die als vorgefertigte Muster zur
                                                               liche Richtung, dass insbesondere publikumssei-
Verfügung stehen, hier kaum angewendet wer-
                                                               tige Konstruktionen intertextueller Bezüge und
den kann. Der spontan-impulsive Charakter der
                                                               die hierdurch eingebrachten Deutungsrahmen
meisten Wutreden versperrt sich einer solchen
                                                               die Gattungshaftigkeit von Texten ausmachen
Beschreibung, auch wenn bei medienerprobten
                                                               und nicht so sehr die formalen Eigenschaften der
Figuren wie Fußballtrainern fraglich ist, ob in dem
                                                               Texte selbst.28
                                                                    In Anbetracht der Tatsache, dass Wutreden
21 Günthner (2002) Stimmenvielfalt im Diskurs, S. 66.
22 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität,     vor allem über digitale und Soziale Medien wei-
S. 10.
23 Fiehler (1993) Grenzfälle des Argumentierens, S. 161.       26 Jauß (1977) Theorie der Gattungen, S. 330.
24 Sell (2019) The Evolutionary Psychology of Anger, S. 179.   27 Hanks (1987) Discourse genres.
25 Günthner/Knoblauch (1994) Forms are the food of faith,      28 Briggs/Bauman (1992) Genre, Intertextuality, and So-
S. 705.                                                        cial Power, S. 147.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021                                                                  69

terverbreitet werden, ist ein solcher rezeptions-          Konzept des Doing Genre vor.32 Gattungsunter-
orientierte Gattungsbegriff besonders attraktiv.           scheidungen und -zuordnungen, die im Reden
In diesen medialen Settings lassen sich vielfältige        über Wutreden faktisch vorgenommen werden,
Praktiken der Neueinbettung, der Rekombination             werden nicht als Ausdruck tatsächlicher substan-
und der Rekontextualisierung von Diskursfrag-              tieller Eigenschaften der betreffenden Redeereig-
menten beobachten, welche die ursprünglichen               nisse aufgefasst, sondern als Orientierungsmus-
kommunikativen Zwecke dieser Fragmente ten-                ter, die im – meist nachträglichen – Reden über
denziell suspendieren.29 Auf die Wutreden ange-            Wutreden erst entstehen. So rücken metadiskur-
wendet zeigt sich, dass Wahlkampfauftritte,                sive Praktiken in den Fokus, welche auf vielfältige
Telefon-Interviews, Dankesreden und Presse-                Weise die Gattungshaftigkeit der Wutreden indi-
konferenzen in der Online-Berichterstattung und            zieren oder auch thematisieren.
den Timelines der Sozialen Medien aus ihrem                     Empirische Belege für solche Praktiken des
ursprünglichen Kontext herausgelöst und neu                Doing Genre finden sich im Falle der Wutreden etwa
eingebettet werden. Und eben durch die Bezeich-            in den Überschriften der Online-Artikel, in denen
nung als Wutrede werden sie metapragmatisch                über die Wutreden mit oftmals direkt eingebette-
gerahmt und auch interpretativ vorstrukturiert.            ten Videos berichtet wird. „Wutrede von Steinmeier
Die Gattungszuordnungen, die auf dieser Ebene              wird zum Hit bei YouTube“ heißt es etwa in einem
der Rekontextualisierung vorgenommen werden,               Bericht über einen Wahlkampfauftritt des damali-
sind entscheidend.                                         gen Außenministers33 und ein Video einer AfD-kri-
    Eigens für den Anwendungsfall der Sozialen             tischen Rede Cem Özdemirs wird mit der Schlag-
Medien hat Lomborg einen Gattungsbegriff vor-              zeile „Özdemirs Wutrede sorgt für Begeisterung“
geschlagen, der ganz in diesem Sinne die meta-             weiterverbreitet.34 Entscheidend hierbei ist, dass
diskursiven Bezugnahmen der Kommunizieren-                 es erst die – häufig zusammengeschnittenen – und
den und die hierdurch an die eigentlichen Texte            bereits in den Sozialen Medien verbreiteten Videos,
herangetragenen Normen in den Fokus rückt:                 und weniger die in ihnen abgebildeten Redeereig-
                                                           nisse selbst, die Diskursfragmente sind, die dann
    […] genre can be studied and analysed within an        mit dem Label ‚Wutrede‘ versehen werden. Nicht
    interactionist framework focusing on how users ‘do’
                                                           zuletzt durch den Verweis auf ihre Viralität werden
    genre – that is, on how users accomplish meaningful
    communication by bringing interactional norms, con-    sie auch interpretativ vorstrukturiert und letztlich
    ventions and tacit genre knowledge into play in the    als Unterhaltungsprodukte präsentiert. In konse-
    communicative process, and on how they demonstrate     quenter Fortführung dieses Unterhaltungscharak-
    genre skills.30                                        ters finden sich auch zahlreiche Listicles,35 also
                                                           Kompilationen wie „Die besten Wutreden“ oder
Die Formulierung „how users ‚do‘ genre“ erinnert           „Die legendärsten Wutreden“, in denen die Videos
an die ethnomethodologische Doing-Terminolo-               meist gleich eingebettet sind.36 Interessanterweise
gie, wie sie etwa im gendertheoretischen Ansatz            werden hier auch längst vergangene Redeereig-
des Doing Gender Verwendung findet. In diesem              nisse wie der Wutausbruch Klaus Kinskis am Set
Ansatz wird das soziale Geschlecht nicht als sub­          des Films Fitzcarraldo oder die Parlamentsreden
stantielle Eigenschaft von Personen aufgefasst,            Herbert Wehners rückwirkend als Wutreden umge-
sondern als ein „routine accomplishment“, das              deutet und gerade in ihrer seriellen Präsentation
Geschlechterunterschiede in der Interaktion rele-          mit anderen Wutreden zu Gattungsexemplaren
vant setzt und dadurch Geschlecht erst diskursiv           erhoben. Es werden also intertextuelle Bezüge
konstruiert.31 In Anlehnung hieran schlagen Meier
und Marx für gattungstheoretische Fragen das               den Zugang zu Genres und Genredefinitionen über text-
                                                           inhärente Eigenschaften (properties) kritisch sieht.
29 Meier/Viehhauser (2020) Rekontextualisierung, S. 6f.;   32 Meier/Marx (2019) Doing genre.
Jones (2018) Surveillant media, S. 252; Krieger/Machnyk    33 Bitz (2014) Wutrede von Steinmeier wird zum Hit bei
(2019) Das Internet ist für alle Neuland.                  YouTube.
30 Lomborg (2011) Social Media, S. 68.                     34 Thomys (2018) Özdemirs Wutrede sorgt für Begeiste-
31 West/Zimmerman (1987) Doing Gender, S. 125; Goff-       rung.
man (1977) The Arrangement between the Sexes, S. 324.      35 Pflaeging (2020) Diachronic perspectives.
Vgl. hierzu auch Kanzler (in diesem Band), die ebenfalls   36 Brauer (2015) Wutredner und Choleriker.
70                                                          10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78

hergestellt, welche die ursprüngliche, situations-          toni. „Heißsporn Gattuso macht den Trapattoni“
gebundene Funktionalität der Redeereignisse völ-            heißt es etwa in einem Bericht über die Wutrede
lig suspendieren und mit Epitheta wie ‚schön‘,              des italienischen Trainers.39 Vor allem aber in den
‚begeisternd‘, ‚episch‘, ‚legendär‘ usw. ganz neue          Kommentarbereichen der Sozialen Medien, wo die
Beschreibungsmaßstäbe etablieren, die erst auf              Wutredenvideos kursieren, finden sich geradezu
der metadiskursiven Ebene Geltung haben.                    Aushandlungen von Gattungsnormen:40 „Wut? Also
    Im Übrigen leistet schon die Bezeichnung                eine emotionale Wutrede sieht für mich anders
‚Wutrede‘ selbst durch ihre Semantik einen Bei-             aus, siehe Erdogan.“41 Durch solche Kommen-
trag zur metapragmatischen Rahmung, indem                   tare, die interessanterweise durch die Formulie-
durch das Zweitglied ‚-rede‘ auch bei eigentlich            rung ‚sieht für mich … aus‘ den Rezeptionsprozess
dialogischen Settings vor allem der monolo-                 selbst fokussieren, explizieren die Rezipierenden
gisch-performative Charakter der Redeereignisse             ihre Erwartungshorizonte, die aus ihrer Perspek-
hervorgehoben und geradezu ein staging der                  tive die Gattung der Wutrede formieren.42
affektiv aufgeladenen Kommunikation suggeriert                   Man muss also zwischen den ursprünglichen
wird. Wutreden sind zwar durchaus tendenziell               Redeereignissen selbst und den medial rekon-
monologisch und suspendieren vorübergehend                  textualisierten, meist serialisiert präsentierten
die üblichen Mechanismen des Sprecherwech-                  und damit auch metapragmatisch neu gerahm-
sels. Ein eindrückliches Beispiel ist etwa eine nur         ten Aufzeichnungen dieser Redeereignisse unter-
42-sekündige Pressekonferenz des Fußballtrai-               scheiden. Erst auf dieser zweiten Stufe werden sie
ners Klaus Augenthaler, in der dieser die Fragen            aktiv in einen Gattungszusammenhang gestellt,
selbst gestellt und auch selbst beantwortet hat.37          und nur in Bezug auf diese medial rekontextua-
Doch auch bei den eher dialogischen Varianten               lisierten Ereignisse ergibt die Rede von Wutreden
wie etwa dem spielanschließenden TV-Interview               als Gattung überhaupt Sinn. Das hat der ameri-
von Rudi Völler rückt die Bezeichnung ‚Wutrede‘             kanische Blogger Travis Timmons im Übrigen klar
die gesprächsförmigen Aspekte in den Hinter-                erkannt, wenn er in einem Artikel „Wutrede Hall of
grund, sodass auch nur über Völlers Redebeiträge            Fame: Giovanni Trapattoni, the Original“43 seinen
in den Medien berichtet wurde. Auch das Erstglied           amerikanischen Leser*innen das in seinen Augen
‚Wut-‘ hat einen unifizierenden Effekt. Gleichwohl          typisch deutsche Phänomen der Wutrede (er lässt
man aus emotionstheoretisch fundierter Sicht die            den Ausdruck unübersetzt) erklärt. Die Wutrede
in den Wutreden zum Ausdruck gebrachten Emo-                definiert er als „an event captured on camera, fea-
tionen viel präziser unterscheiden müsste – Greta           turing an enraged male“, und gerade die mediale
Thunbergs Ansprache vor den Vereinten Nationen              Repräsentation, insbesondere auf YouTube, und
etwa ist wohl eher durch die moralisch aufgela-             damit auch das veränderte Publikum transformie-
dene Emotion der Verachtung charakterisiert38 –,            ren den pragmatischen Gehalt der ursprünglichen
wird alles kurzerhand der Wut zugerechnet. Wie              Redeereignisse grundlegend: „From an audience
auch die häufigen Paraphrasen wie ‚Ausraster‘               perspective, it seems we’ve mostly hijacked Wut-
zusätzlich verdeutlichen, werden die betreffen-             reden with irony, transforming them into legen-
den Redeereignisse schon dadurch als spontan-               darily humorous episodes.“ Nach dieser Charak-
eruptiv gerahmt. Die faktischen Unterschiede in             terisierung präsentiert er Trapattonis Wutrede als
den Motivationslagen der Redner*innen rücken in             „THE Wutrede. The ‚O.G.‘ of Wutreden. The god-
den Hintergrund.                                            father“, also als das prototypische Gattungsexem-
    Eine weitere Praktik des Doing Genre, die auf           plar, und bettet auch das entsprechende YouTube-
ein gewisses Gattungsbewusstsein hinweist und
dieses auch diskursiv formiert, bilden die häufi-           39 o.V. (2014) Heißsporn Gattuso macht den Trappatoni.
gen vergleichenden Bezugnahmen insbesondere                 40 Lomborg (2011) Social Media, S. 62.
auf die traditionsstiftende Wutrede von Trapat-             41 Die Äußerung war im inzwischen deaktivierten Kom-
                                                            mentarbereich zu diesem Artikel zu finden: https://www.
                                                            spiegel.de/politik/ausland/steinmeier-bruellt-montagsde-
37 https://www.welt.de/sport/article864475/Was-erlau-       mo-auf-alexanderplatz-in-berlin-nieder-a-970571.html
ben-Klaus-Augenthaler.html (letzter Zugriff: 18.11.2020).   (letzter Zugriff: 18.11.2020).
38 Brokoff/Walter-Jochum (2019) Verachtung und Hass         42 Hiippala/Tseng (2017) Media evolution.
aus literaturwissenschaftlicher Sicht.                      43 Timmons (2018) Wutrede Hall of Fame.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021                                                                          71

Video ein. Damit fängt der Blogger zum einen die             diskursiv manifestiert, betrifft zunächst und vor
Spezifika von Wutreden als medial rekontextua-               allem die nachträgliche Kategorisierung, Benen-
lisierte und metadiskursiv neu gerahmte Redeer-              nung und mithin auch Deutung der betreffenden
eignisse präzise ein und liefert zum anderen auch            Redeereignisse. Gerade in jüngerer Zeit lassen sich
selbst ein besonders dichtes Beispiel für das Doing          aber Tendenzen beobachten, dass das Gattungswis-
Genre von Wutreden.                                          sen selbst produktiv wird. War ‚Wutrede‘ zunächst
     Der gattungsanalytische Perspektivenwech-               eine Fremdkategorisierung, welche im Übrigen
sel von den ursprünglichen Redeereignissen hin               die Wutredner*innen nicht selten einem voyeuris-
zu ihren medialen Rekontextualisierungen liefert             tischen Blickregime unterwirft und die Aufmerk-
dann auch Erklärungsmöglichkeiten für den ein-               samkeit mitunter auf körperliche Merkmale wie
gangs beschriebenen Anstieg in der Häufigkeit von            schrille Stimmen, rot angelaufene Gesichter oder
Wutreden. Öffentliche Wutausbrüche als solche                geschwollene Halsschlagadern lenkt, eignen sich
sind ja mitnichten ein neues Phänomen. Aber das              Akteure diese Kategorie zusehend gezielt an. Das
Internet und insbesondere die Sozialen Medien                deutet sich schon in den Fällen an, in denen Presse-
schaffen mit ihren Affordanzen der ‚persistence‘,            texte, die man in klassischer Gattungsterminologie
‚spreadability‘ und ‚visibility‘44 neue Rezeptions-          wohl als polemische Glossen bezeichnen könnte,
bedingungen, welche die gattungskonstitutiven                von den Zeitungen selbst als Wutreden präsen-
Rekontextualisierungen erleichtern, den Prakti-              tiert werden.46 Wenigstens in einem spielerischen
ken des Doing Genre Raum geben und auch die                  Rahmen können die als typisch wahrgenommenen
nötige Sichtbarkeit verschaffen. Die Wutreden                Merkmale von Wutreden aber auch direkt hand-
geben somit ein eindrückliches Beispiel dafür ab,            lungsleitend werden. So präsentiert das Fußball-
wie eine invektive Praxis – denn die Wutreden                magazin 11Freunde eine als Lückentext gestaltete
haben als Form der Kritik ad personam ja durch-              Anleitung für die „perfekte Wutrede“, die für den
aus herabsetzendes Potenzial – metadiskursiv                 persönlichen Gebrauch ausgestaltet werden kann:
umgedeutet werden kann und wie gerade Gat-
                                                                Jetzt möchte ich mal in aller Deutlichkeit was sagen: Mir
tungszuordnungen diskursive Ordnung schaffen
                                                                reicht es! Wirklich! Wenn ich den Namen ______ (hier
können. Die aus dem Invektiv-Geschehen resul-
                                                                bitte den Namen eines Ex-Spielers einfügen) schon
tierenden Effekte, so heißt es im Konzeptpapier                 höre, kommt mir das Frühstück wieder hoch. Das ist
zum Begriff der Invektivität, „häng[en] von den                 schade um das Omelett, aber es geht nicht anders. Wer
vielfältigen Möglichkeiten der Deutung und den                  hat denn hier in den letzten Jahren den Ruf des Klubs
entsprechenden Resonanzen ab, die es selbst erst                gerettet? War das ________ (hier bitte den Namen des
                                                                Ex-Spielers einfügen)? So ein Schwachsinn!47
erzeugt.“45 Wie vielfältig diese Deutungsmöglich-
keiten sein können und wie sie sich (inter-)medial
                                                             Auch paraverbale sowie gestische und mimische
ausgestalten, lässt sich am Beispiel der Wutreden
                                                             Anweisungen wie etwa Schnaufen vor Wut, kra-
empirisch detailliert zeigen. Und wie weitreichend
                                                             chend auf den Tisch hauen und ein starrer Blick
die Effekte sind, zeigt sich in neueren Entwicklun-
                                                             finden sich in dem Text, der deutlich macht, wie
gen, die darauf hindeuten, dass sich die Wutrede
                                                             sehr sich die Gattungserwartungen an Wutreden
von einer bloß rekonstruktiven zu einer nunmehr
                                                             bereits konsolidiert haben. Interessanterweise
auch produktiven Kategorie zu wandeln beginnt.
                                                             rückt gerade in dieser fingierten Wutrede, die als
                                                             besonders verdichtetes Beispiel gesehen werden
                                                             kann, vor allem ihr invektiver Charakter, die per-
5 V
   on der Rezeption                                         sönlich herabsetzende und affektiv grundierte
  zur Aneignung                                              Kritik ad hominem, in den Vordergrund.
                                                                 Auf YouTube und Facebook finden sich aber neu-
Das Gattungswissen über die Wutreden, wie es sich            erdings auch Fälle, in denen einzelne Nutzer*innen
in den beschriebenen Praktiken des Doing Genre               ganz gezielt auch ausdrücklich als solche bezeich-

                                                             46 https://twitter.com/szmagazin/status/9779780314815
44 Boyd (2014) It’s complicated, S. 11.                      40608 (letzter Zugriff: 18.11.2020).
45 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität,   47 Kuhlhoff (2017) „Da kotze ich doch im Strahl“ – Wie
S. 6.                                                        sieht die perfekte Wutrede aus?
72                                                        10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78

                                                             empfindet ihr noch etwas zu dem was bei rundherum
nete Wutreden produzieren, als geplante und für die
                                                             um euch passiert
Videokanalabonnenten inszenierte Wutausbrüche                oder versucht ihr das alles nur noch irgendwie mit dem
und Schimpftiraden. So beschimpft ein Fan den Trai-          Verstand zu abstrahieren
ner des von ihm favorisierten Vereins als „Absturz-          und euch an irgendwelche komischen schalen Illusionen
trainer“ und „Witz-Lauch-Typen“, der so „dumm,               an irgendwelche Gedanken zu klammern
                                                             wird schon nichts passieren
behindert, gehirnamputiert“ sei, dass er „wenn
                                                             es is noch immer jot jejangen
überhaupt“ für die „Bezirksliga“ geeignet sei.48 Der         oder ach der Kelch geht schon an uns vorbei
HSV-Fan und selbsterklärte „Direkt-Ansager“ Timo             n Scheiß wird er
Siever publiziert auf seiner Facebook-Seite regel-           gar nichts geht an euch vorbei
mäßig als Wutreden bezeichnete Selfie-Videos von             Himmelherrgott fangt endlich an wirklich erwachen
sich in seinem Auto, in denen er das eigene Team             erwacht endlich
                                                             spürt mal was bei euch los ist
nach schlechten Spielen als „nicht ganz dicht“ oder
                                                             spürt mal die Verzweiflung die Hoffnungslosigkeit
auch Ultra-Fans des eigenen Vereins als „Schwach-            und fangt nicht immer an im Verstand alles irgendwie
maten“ beschimpft, da sie mit ihren „Bengalos“ für           zu rationalisieren
hohe Geldstrafen verantwortlich sind.49 Die an die           Bullshit Schwachsinn
Auftritte der Kunstfigur Gernot Hassknecht in der            Polizisten werden stranguliert
                                                             Frauen sollen nicht mehr alleine joggen gehen
Comedy-Show heute-show erinnernden Videos, die
                                                             was ist denn das bitteschön für ein Land
meist in ruhigem Ton beginnen, um dann schlagar-             ist doch n lach lachhaft
tig in lautes Schreien umzuschlagen, werden auch             weil Kinder werden in den Schulen drangsaliert zusam-
in Online-Medien verschiedentlich aufgegriffen und           mengeschlagen abgezogen
ihrer offenkundigen Inszeniertheit zum Trotz als             ja wir schützen noch nicht mal unsere Kinder
authentische Ausraster eines enttäuschten Fans               was ist denn das für ne beschissene Gesellschaft
                                                             die sich nicht mehr um ihre Nachkommen kümmert
weiterverbreitet.50
                                                             […]
     Besonders aufschlussreich ist in diesem
Zusammenhang auch ein selbstproduziertes You-
                                                          Bemerkenswert an dieser ‚Wutrede‘ ist die norma-
Tube-Video der ehemaligen Pegida-Aktivistin Tat-
                                                          tiv unterlegte und durch den ganzen Auftritt ein-
jana Festerling mit dem Titel „Wutrede: Es geht
                                                          schließlich der Mimik auch performativ inszenierte
ums Überleben – tut endlich was!“.51 In dem gut
                                                          Gegenüberstellung von ‚Verstand‘ und ‚Gefühl‘,
siebenminütigen Video, in dessen Vorspann u.a.
                                                          von Rationalisierungsversuchen und dem Spüren
das Logo der rechtspopulistischen Bewegung
                                                          der Verzweiflung – eine Gegenüberstellung, die in
Fortress Europe eingeblendet wird, filmt sich Fes-
                                                          deutlicher Parallele zum Typus des ‚Wutbürgers‘
terling am Meeresufer im Gegenlicht und spricht
                                                          dann auch die eigene Wut legitimiert und gera-
direkt in die Kamera (auffällige Betonungen sind
                                                          dezu als Zustand der Erweckung erscheinen lässt.
im Transkript mit Unterstreichungen markiert):
                                                          Und so ist die vorgetragene Kritik, obwohl sie in
     [0:05 – 1:29]                                        der zweiten Person Plural vorgetragen wird, wohl
     Hallo                                                auch nur zum Schein an die Kanal-Abonnent*in-
     ich lebe inzwischen nicht mehr in Deutschland        nen adressiert. Eher ist sie an die Mehrheitsge-
     das ermöglicht mir einen Blick mit Abstand           sellschaft gerichtet, welche die angeblichen Miss-
     und ich muss sagen was ich sehe
                                                          stände in Deutschland nicht wahrnehmen will.
     ich könnte kotzen
     ich könnte kotzen über euch                              Rein formal finden sich Parallelen zu den her-
     sag mal merkt ihr eigentlich noch was                kömmlichen Wutreden, wie sie auf YouTube zir-
     kriegt ihr überhaupt noch mit                        kulieren. Die insistierenden Wiederholungen, das
                                                          vulgäre Vokabular, das überartikulierte Sprechen
                                                          in erhöhter Lautstärke und die typische Mimik
48 https://www.youtube.com/watch?v=OW-Ey36MsoM
                                                          verbinden Festerlings Wutrede etwa mit der von
(letzter Zugriff: 18.11.2020).
49 https://www.facebook.com/DerSievi/ (letzter Zugriff:   Uli Hoeneß, sind hier aber bis ins Detail geplant.
18.11.2020).                                              Die Wut wird ganz gezielt als solche inszeniert
50 https://www.youtube.com/watch?v=e68-oPtCBfE            und, anders als bei den Fußballfans, wo der
(letzter Zugriff: 18.11.2020).                            Unterhaltungscharakter im Vordergrund steht, ist
51 https://www.youtube.com/watch?v=bOigXb_9L28
                                                          die ganze Inszenierung Teil einer agitatorischen
(letzter Zugriff: 18.11.2020).
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021                                                                 73

Strategie, die Wut zum politischen Programm             ruktiv ordnet. Das Neologismenwörterbuch OWID
macht. Ähnlich wie bei Donald Trump und sei-            definiert Shitstorm als „unkontrollierte[n] virtuel-
nen affektgesättigten Auftritten on- und offline        le[n] Sturm der Entrüstung als Reaktion auf die
wird Wut zur Leitemotion der öffentlichen Selbst-       Äußerung einer bekannten Person in Form von
inszenierung und zielt dabei auf die „Schaffung         massenweise versendeten beleidigenden und
exklusiver Solidarität“.52 Und gerade die indirekte     bedrohlichen E-Mails oder Facebook-Nachrichten,
Adressierung, welche die Kritik an dem ‚lachhaf-        der von den Medien aufgegriffen wird“.53 Gerade
ten Schwachsinn‘ und den ‚schalen Illusionen‘ an        die abschließende Einschränkung macht deutlich,
die im Video Angesprochenen zu richten scheint,         dass die Medienresonanz und die benennende
tatsächlich aber die Rezipierenden als Teil einer       Kategorisierung als Shitstorm diesem Diskurs-
Erregungsgemeinschaft von eben dieser Kritik            phänomen wesentlich sind. Typischerweise wer-
ausnimmt, trägt hierzu bei und unterstreicht in         den in der Berichterstattung einzelne Tweets oder
ihrer rhetorischen Kunstfertigkeit den Inszenie-        Facebook-Kommentare herausgegriffen und ver-
rungscharakter des Videos.                              dichtend so rekontextualisiert, dass die Katego-
    Derartige Formen der Aneignung der Kate-            risierung als Shitstorm gerechtfertigt erscheint,
gorie ‚Wutrede‘ zeigen, dass der Diskurs über           auch wenn im tatsächlichen Diskurs die Shitpos-
die Wutreden die alltagsweltlich verfügbare Gat-        tings womöglich in der Minderheit sind.54 Als gat-
tungssystematik und die entsprechenden Erwar-           tungstypologische Kategorie wird der Shitstorm
tungshorizonte schon so weit transformiert hat,         also auch durch (inter-)mediale Praktiken des
dass auch Wutreden wie die von Tatjana Festerling       Doing Genre konturiert.
als Medienprodukte nicht nur möglich, sondern               Neuere Entwicklungen zeigen nun, dass sich
auch erfolgreich und kommunikativ anschlussfä-          Akteure diese retrospektive und typischerweise
hig sind. Die gezielte Funktionalisierung affekt-       anklagende Kategorisierung selbst zu eigen
grundierter Rede in den als solche inszenierten         machen können. So wird das Verb shitstormen
Wutreden wird dabei insbesondere in den Dienst          nunmehr auch als fremdes wie eigenes Verhal-
invektiver Zwecke gestellt, die manchmal in             ten bezeichnendes Kommunikationsverb verwen-
spielerischer Rahmung eher Unterhaltungsfunk-           det: „wenn ich shitstormen oder mich aufregen/
tion haben, aber eben auch, wie bei Festerling,         ärgern würde…dann sähe das ganz anders aus.“55
politische Dimension haben und gesellschaftliche        Und auch parodistische Anleitungen für gelunge-
Ein- und Ausschlüsse verhandeln können. Die             nes Shitstormen finden sich inzwischen im Netz.56
Wutrede konsolidiert sich somit zu einer benenn-            Eine andere Form der Aneignung zeigt sich
baren und auch produktiv verfügbaren Gattung,           dagegen in einem Facebook-Post des Grünen-
welche auf invektive Dynamiken zurückwirkt und          Politikers Boris Palmer, in dem er einen Screen-
ihnen Form gibt.                                        shot der Startseite der Deutschen Bahn, auf dem
                                                        Fahrgäste verschiedener ethnischer Hintergründe
                                                        abgebildet sind, postet und mit folgendem Kom-
6 Ein Blick auf verwandte Fälle                         mentar versieht:

                                                            Der shitstorm wird nicht vermeidbar sein. Und
Die eben nachgezeichnete Wendung von der                    dennoch: Ich finde es nicht nachvollziehbar, nach
Rezeption hin zur Produktion über die bewusste
Aneignung einer primär rekonstruktiven Katego-          53 https://www.owid.de/artikel/402347 (letzter Zugriff:
rie wird am Beispiel der Wutrede zwar besonders         18.11.2020).
deutlich, lässt sich in ähnlicher Form aber auch an     54 Meier/Marx (2019) Doing genre, S. 205; Marx (2019)
                                                        Von Schafen im Wolfspelz, S. 146.
anderen Fällen aufzeigen, in denen sich Formen
                                                        55 http://swtorcantina.de/paketoeffnen-neu-gestaltet/
herabsetzender Rede zu Gattungen verdichten.
                                                        (letzter Zugriff: 18.11.2020); Dieser und weitere Belege
    Zu nennen wäre etwa die Kategorie des Shit-         lassen sich im Webkorpus 2016c im Digitalen Wörterbuch
storms, welche kollektive und allein schon des-         der Deutschen Sprache dwds.de recherchieren: https://
halb höchst disparate Diskursereignisse rekonst-        www.dwds.de/r?q=shitstormen&corpus=ibk_web_2016c
                                                        (letzter Zugriff: 18.11.2020).
                                                        56 Gogl/Lebersorger (2016) Shitstormen auf Österrei-
52 Koch/Nanz/Rogers (2020) The Great Disruptor, S. 7.   chisch #oidaRP.
74                                                                                     10.2478/kwg-2021-0012 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 63–78

      welchen Kriterien die „Deutsche Bahn“ die Personen
      auf der Eingangsseite ausgewählt hat. Welche Gesell-
                                                                                       ihr euch dann so auf?“ kritische Kommentare als
      schaft soll das abbilden?57                                                      unbegründet zurückweist. Nicht der eigene Ras-
                                                                                       sismus erscheint hier als das Problem, sondern
                                                                                       seine Thematisierung, welche ‚uns‘ spalte. Zwar
Durch seine abschließende Frage scheint Palmer
                                                                                       finden sich tatsächlich zahlreiche beleidigende und
zu insinuieren, dass die Bebilderung der DB-
                                                                                       verhöhnende Kommentare, wenn Palmer etwa
Homepage einer identitätspolitischen Agenda
                                                                                       „verbaler Brechdurchfall“ attestiert wird. Dass
folge, die in einer Überbetonung von Multikul-
                                                                                       aber viele der Kommentare sehr wohl ihre Kritik
turalität den eigentlichen ethnischen Charakter
                                                                                       begründen, wird dabei ebenso ausgeblendet wie
der deutschen Gesellschaft in den Hintergrund
                                                                                       die vielen Kommentare, die sich um Vermittlung
rückt – eine implizit rassistische Position, die so
                                                                                       bemühen oder gar ausdrücklich unterstützend
auch von rechtsextremen Akteuren wie der Iden-
                                                                                       argumentieren. Die Kategorisierung als ‚Shit-
titären Bewegung vertreten wird.58 Die erwarte-
                                                                                       storm‘ hat angesichts des sehr ausdifferenzierten
ten Reaktionen auf diese Stellungnahme katego-
                                                                                       kommunikativen Geschehens in den Kommenta-
risiert Palmer nun vorgreifend als ‚Shitstorm‘ und
                                                                                       ren ordnende und akzentuierende Kraft und das
delegitimiert sie somit als problematische, einer
                                                                                       Doing Genre wird als rhetorisches Mittel im politi-
unheilvollen Entrüstungslogik folgende Praxis.
                                                                                       schen Diskurs nutzbar.
In typisch rechtspopulistischer Manier inszeniert
                                                                                           In eine ähnliche Richtung zielt der in Politi-
sich Palmer als Tabubrecher, der sich dem Diktat
                                                                                       cal Correctness-kritischen Kontexten etablierte
der politischen Korrektheit nicht beugt, und ver-
                                                                                       Begriff der ‚Hate Facts‘ im Sinne von angeblich
schiebt so die Aufmerksamkeit weg von der
                                                                                       tabuisierten Wahrheiten, die aus der Perspek-
eigenen rassistischen Äußerung hin zu der ver-
                                                                                       tive des Mainstream-Diskurses als ‚Hate Speech‘
meintlichen Überreaktion des Publikums.59 Diese
                                                                                       kategorisiert würden. Der rechtskonservative
Reaktionen aber werden durch ihre Kategorisie-
                                                                                       Blog National Association of Scholars etwa defi-
rung als ‚Shitstorm‘ in einen vereinheitlichenden
                                                                                       niert Hate Facts wie folgt:
Deutungsrahmen gestellt. Das zunächst vorgrei-
fende Doing Genre setzt Palmer dann übrigens                                              Hate facts are truths that must not be spoken among
parallel zu den tatsächlich einsetzenden Reaktio-                                         the intelligentsia any more because doing so could
nen fort, wenn er nach etwa einer Stunde seinen                                           offend some “protected” group. Academics (and
Facebook-Post ergänzt:                                                                    anyone else who wants to survive in the public realm)
                                                                                          learn to steer a safe course away from hate facts.60
      PS: Eine Stunde später tobt der Shitstorm. Wie vor-
      hergesehen. Alle, die mich jetzt fragen, warum ich                               Auch Hate Speech ist zuvorderst eine rekons-
      dieses Thema aufgreife, frage ich zurück: Wenn die                               truktive Kategorie, die sich nicht zuletzt in den
      Auswahl dieser Bilder vollkommen belanglos, normal,                              Sozialen Medien durch metadiskursive Thema-
      unbedeutend ist, warum regt ihr euch dann so auf?
                                                                                       tisierungen diskriminierender Rede in den und
      Was wir hier diskutieren, ist Identitätspolitik. Und zwar
      von Recht [sic!] wie Links. Die einen sagen, man wisse                           außerhalb der digitalen Medien etabliert hat. Der
      nicht mehr, in welchem Land man lebt, die anderen                                Terminus ‚Hate Speech‘ selbst ist dabei typischer-
      bekämpfen alte weiße Männer. Und gemeinsam haben                                 weise „nicht Teil des sprachlichen Materials […],
      die Identitätspolitiker es ziemlich weit damit gebracht,                         das er kategorisiert“.61 Insbesondere von rechter
      uns zu spalten.
                                                                                       Seite aus wird jedoch die im Hate Speech-Diskurs
                                                                                       oft formulierte Kritik an ehemals unhinterfrag-
Die Formulierung „tobt der Shitstorm“ rahmt die                                        ten sprachlichen Mustern der Ausgrenzung und
in den Kommentaren vorgebrachte Kritik als ein                                         Herabsetzung als übertriebene Political Correct-
blindes Wüten, das rationalen Argumenten kaum                                          ness kritisiert, welche die Meinungskorridore ver-
zugänglich ist, so wie auch die Frage „warum regt                                      enge.62 Gerade weil Hate Speech zunächst eine
                                                                                       Fremdkategorisierung ist, die jedoch für illegitim

5 7 h t t p s : / / w w w. f a c e b o o k . c o m / o b . b o r i s . p a l m e r /
posts/2381885385184313 (letzter Zugriff: 18.11.2020).                                  60 Leef (2014) Hate Facts.
58 Bruns/Glösel/Strobl (2017) Die Identitären; Boehnke                                 61 Marx (2017) Rekontextualisierung von Hate Speech,
(2019) Rechter Kulturkampf heute.                                                      S. 132.
59 Niehr/Reissen-Kosch (2018) Volkes Stimme?, S. 127.                                  62 Auer (2002) Political Correctness.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021                                                                         75

gehalten wird, können das gezielte Aussprechen                 Ein ganzer Diskurs von Fremd- und Selbstzu-
von Hate Speech und der affirmative Bezug auf                  schreibungen und -positionierungen im Wechsel
diese Kategorie geradezu als Akte des Wider-                   von Kritik und Gegenkritik verdichtet sich in der
stands erscheinen. „Ja – ich bin ein Rassist und               Rede von ‚Hate Facts‘. Die „kommunikativen Kas-
das ist gut so!“63 formuliert in trotzigem Ton ein             kaden wechselseitiger invektiver Adressierung“
Kommentierender auf der rechtsextremen Inter-                  und metainvektiver Thematisierung sowie die
netseite pi-news und bedient zuvor etwa mit der                hierbei oft zu beobachtenden Formen „diskursi-
Rede vom „Terror dieser Gutmenschen-Verbre-                    ve[r] Umcodierung“66 im Hate Speech-Diskurs
cher“ zielsicher den Topos der Meinungsdiktatur.               werden auf diese Weise geordnet und auch selbst
    Wie nun gerade die Rede von Hate Facts                     als invektive Ressource nutzbar.
diese vermeintliche Widerstandshaltung diskursiv
umsetzt, lässt sich an der folgenden Passage aus
Nils Wegners Editorial zur neurechten Zeitschrift              7 Schlussbemerkung
Sezession zeigen:

    Der Autor dieser Zeilen stellt die akademischen Ikono-     Die in diesem Beitrag eingenommene Perspektive
    klasten vor, die Aktivisten gegen Multikulturalismus-,     auf invektive Gattungen zeigt zum einen, wie die
    Vielfalt- und Schmelztiegellügen auf der ganzen Welt       im Konzept der Invektivität so zentral gesetzten
    mit (wie man heute so „schön“ sagt) Hate facts ver-        Anschlusskommunikationen und Deutungsmodi
    sorgen. Ihre wissenschaftliche Disziplin ist die Human
                                                               in einem diskurs- und rezeptionsorientierten Gat-
    biodiversity, kurz HBD, und ihr Anliegen ist relativ
    simpel: Das fortlaufende Ignorieren und Wegdiskutie-       tungsverständnis eingefangen werden können.
    ren der natürlichen Unterschiede zwischen ethnischen       Zum anderen veranschaulichen die besproche-
    und demographischen Gruppen befördert eine grund-          nen Fälle durch die prozessorientierte Perspek-
    legende Instabilität „bunter“ Gesellschaftskonstrukte,     tive auf Gattungskonstruktionen und -aneignun-
    die sich nicht dadurch aus der Welt schaffen läßt, daß
                                                               gen auf empirisch detaillierte Weise, wie vielfältig
    man sie durch Sozialleistungen und Förderprogramme
    mit Geld bewirft. Ein „Haßfakt“ auch das, doch nichts-
                                                               die Deutungsmöglichkeiten von Invektiv-Gesche-
    destoweniger ein Fakt.64                                   hen sein können, wie sie sich zu Erwartungsho-
                                                               rizonten verdichten und später auch produktive
                                                               Aneignungen ermöglichen. Gerade in den digita-
Die hier ganz offen vorgebrachte biologistisch-
                                                               len und Sozialen Medien, wo Rezeptionszeugnisse
rassistische Anschauung einer „Human biodiver-
                                                               verschriftlicht und dauerhaft sichtbar sind, lassen
sity“, welche die „natürlichen Unterschiede zwi-
                                                               sich diese Prozesse präzise nachvollziehen, und
schen ethnischen […] Gruppen“ verteidigt, aber
                                                               die dort herrschenden medialen Bedingungen
auch die Verächtlichmachung von Minderhei-
                                                               sind sicherlich prägend für die Ausbildung der
tenschutzprogrammen und ihren Subventionen
                                                               hier diskutierten invektiven Gattungen.
werden hier als ‚Hate Facts‘ eingeordnet. Im Vor-
                                                                   Die diskutierten Beispiele repräsentieren
griff auf die erwartbare Stigmatisierung solcher
                                                               dabei verschiedene Etappen oder auch Grade der
Positionen als Hass, die aber nur um den Preis
                                                               Gattungskonstruktion. Bei der Wutrede ist sie
„fortlaufende[n] Ignorieren[s] und Wegdiskutie-
                                                               schon weit fortgeschritten und durch den mono-
ren[s]“ zu haben sei, werden sie als der Wahrheit
                                                               logischen Charakter der Wutrede auch so fokus-
verpflichtete Positionen in einer Welt der Lügen
                                                               siert, dass längst gezielt neue Gattungsexemplare
legitimiert.65 Die eigentlich stigmatisierende Kate-
                                                               produziert werden können. Shitstorms als kol-
gorie ‚Hate Speech‘ wird so angeeignet und schon
                                                               lektiv hervorgebrachte Diskursereignisse entzie-
in der Produktion verfügbar gemacht. Zugleich
                                                               hen sich dagegen der gezielten Produktion. Doch
aber ist in die so kategorisierte Praxis auch schon
                                                               auch hier zeigen die diskutierten Möglichkeiten
ihre metadiskursive Thematisierung eingelassen.
                                                               der vorgreifenden Kategorisierung erwartbarer
                                                               Reaktionen, dass sich hier Erwartungshorizonte
63 http://www.pi-news.net/2013/06/video-hallo-mein-            verdichten und die vereinheitlichende Benen-
name-ist-paul-weston-und-ich-bin-ein-rassist/ (letzter Zu-
griff: 18.11.2020).
64 Wegner (2017) Sezession, S. 79.                             66 Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität,
65 Meier (2020) Selbstlegitimationen von Hate Speech, S. 140   S. 13.
Sie können auch lesen